Kapitel 11

Ich fuhr nach Swindon, um die Filme abzuholen, die ich dort am vorigen Morgen auf dem Weg nach Wincanton zum Entwickeln gegeben hatte, und verbrachte den restlichen Freitag damit, Abzüge von den Aufnahmen von Lance Kinship und seiner Mannschaft zu machen.

Abgesehen von den Bildern, die deutlich das Mißbehagen der Truppe in seiner Gegenwart offenbarten und die ich ihm auf keinen Fall zeigen wollte, hielt ich es für durchaus wahrscheinlich, daß sie ihm gefallen würden. Zu meinem Glück hatte sich die Truppe oft ganz natürlich aufgebaut, und Kinship, der in seiner Rennbahnkluft mit aller Kraft einen auf feiner Herr machte, dirigierte sie mit großen Gesten, und auf einer Bildfolge preschten die Pferde hinter der Truppe sehr schön frontal aufs Ziel zu.

Es waren auch einige Nahaufnahmen von Kinship dabei, auf denen seine Truppe verschwommen den Hintergrund bildete, und ein paar leicht surrealistische Perspektiven, die ich direkt hinter dem Kameramann stehend aufgenommen hatte: im Vordergrund ragte groß die Kamera auf, und Kinships Gestalt hob sich in der Bildmitte in einem Bündel von Sonnenstrahlen scharf ab. Alles in allem zeugten die Bilder von einem bedeutenden Regisseur, der sein Handwerk beherrschte, und das war es vermutlich, was er wollte. Es spielte keine Rolle, daß nur zwei Sekunden Werbefilm produziert wurden, die Produktion selbst sah nach einem Monumentalfilm aus.

Am Abend versah ich die getrockneten Abzüge mit getippten Bildlegenden auf dünnen Papierstreifen, die ich mit Tesafilm auf die Rückseite klebte, und kam mir etwas albern vor, als ich die Worte Copyright Philip Nore hinzufügte, wie ich es vor Jahren bei Charlie gesehen hatte. Charlie schien mir fast über die Schulter zu schauen und mich daran zu erinnern, gut auf mein Werk aufzupassen.Werk.

Das bloße Wort machte mich unruhig. Es war das erste Mal, daß ich diesen Begriff im Zusammenhang mit meinen Fotos anwandte.

Nein, dachte ich, ich bin Jockey.

Als ich früh am Samstagmorgen aufwachte, wartete ich darauf, daß Harold mich anrief, um mir durchzugeben, daß ich krank werden sollte, und das wäre mir nicht besonders schwer gefallen, da ich vom Warten schon ganz krank war.

Er rief Viertel vor zehn an.

«Geht’s dir gut?«sagte er.

«Himmel nochmal!«

«Würde sich empfehlen«, sagte er.»Victor hat gerade angerufen. Ich hab ihn nicht zu Wort kommen lassen, hab ihm sofort gesagt, daß Chainmail nur eine Zukunft hat, wenn er bei jedem Rennen richtig geführt wird.«

«Und dann?«

«Victor meinte, ein leichtes Rennen könnte ihm nicht weh tun, da hab ich ihm erzählt, was du gesagt hast. Wort für Wort. Und ich hab ihm erzählt, daß du gesagt hast, du würdest dir für ihn die Seele aus dem Leib reiten, solange es darum geht zu gewinnen. «Harolds Stimme dröhnte munter durch die Leitung.»Und weißt du, was Victor dazu meinte? Er meinte, sagen Sie diesem frommen Scheißkerl, daß ich genau das von ihm erwarte.«

«Heißt das.«

«Das heißt, daß er seine Meinung geändert hat«, bellte Harold.»Du kannst auf Chainmail gewinnen, wenn du’s kannst. Es würde sich sogar empfehlen.«

«Aber Chainmail ist kein.«

«Verdammt nochmal, willst du das Pferd reiten oder nicht?«

«Ich will.«

«Na also. Wir sehen uns in Ascot. «Er knallte den Hörer auf und brachte damit zum Ausdruck, daß er fand, ich sei ihm für seine Bemühungen bei Victor nicht angemessen dankbar. Aber wenn er Victor versprochen hatte, daß Chainmail gewinnen würde — und es sah ganz so aus, als hätte er das —, steckte ich übler in der Klemme als je zuvor.

In Ascot machte ich mich auf die Suche nach Harolds erstem Pferdepfleger, der wie üblich mit den Pferden mitgekommen war, und fragte ihn, in was für einer Verfassung Chainmail sei.

«Bockt und tritt wie ein Wahnsinniger.«

«Und Daylight?«

«Sanft wie eine alte Kuh.«

«Auf wen haben die Burschen ihr Geld gesetzt?«

Er sah mich scharf von der Seite an.»Auf beide ein bißchen. Warum, spricht was dagegen?«

«Nein«, sagte ich beiläufig.»Überhaupt nicht. Aber Sie wissen ja, wie das ist… manchmal wissen die Burschen mehr über die Chancen der Pferde als ihre Trainer.«

Er grinste.»Sie sagen es. Aber heute…«Er zuckte die Achseln.»Ein bißchen auf beide. Nicht den Wochenlohn, versteht sich. Grade bißchen Biergeld, würd ich sagen.«

«Danke. «Ich nickte und ging zum Waageraum, zumindest nicht stärker beunruhigt als zuvor. Die Burschen würden nicht einmal ihr Biergeld verwetten, wenn es in ihren Augen keinen guten Grund dafür gab. Beine, Mägen und Verstand beider Pferde waren demnach in normalem Zustand. Mehr konnte man nicht verlangen.

Ich sah Victor Briggs allein auf dem Rasenfleck vor dem Waageraum stehen. Immer dieselbe Kleidung: breitkrempiger Hut, dicker, marineblauer Mantel, schwarze Lederhandschuhe. Immer derselbe Gesichtsausdruck: eine

blankgewischte Tafel. Er sah mich, und zweifellos bemerkte er auch das Stocken in meinem Schritt, als ich überlegte, ob ich wohl an ihm vorbeigehen konnte, ohne etwas zu sagen.

Es ging nicht.

«Guten Morgen, Mr. Briggs.«

«Morgen. «Er war kurz angebunden, aber mehr nicht. Er schien nicht zu erwarten, daß ich stehenblieb, um mit ihm zu plaudern, also ging ich nach leichtem Zögern weiter Richtung Waageraum. Als ich an ihm vorbeiging, sagte er barsch:»Ich will sehen, wie Sie sich die Seele aus dem Leib reiten.«

Ich blieb stehen und wandte den Kopf. Sein Gesicht war immer noch ausdruckslos. Sein Blick war kalt und hart. Ich zwang mich, nicht zu schlucken, sagte nur» In Ordnung«, ging weiter und wünschte mir, ich hätte nie dieses dämliche großartige Versprechen gegeben.

Im Umkleideraum erzählte jemand einen Witz über zwei Statuen, und Steve Millace beugte und streckte seinen verheilenden Arm und beklagte sich, daß der Arzt ihn nicht für reitfähig erklärte, und jemand anders verkündete die ersten Gerüchte über eine große Umwälzung im Pferderennsport. Ich zog meine Straßenkleidung aus und hörte allen dreien gleichzeitig zu.

«Die zwei nackten Statuen, der Mann und die Frau, stehen also schon hundert Jahre in diesem Park und sehen sich an.«

«Ich hab ihm gesagt, daß ich ihn wieder voll bewegen kann. Es ist nicht fair.«

«Es stimmt wirklich, daß der Jockey Club dabei ist, ein neues Komitee zu bilden.«

«Da besucht sie ein Engel und sagt, weil sie all die Jahre im Sommer und Winter geduldig dagestanden haben, werden sie jetzt zur Belohnung für eine halbe Stunde zu menschlichem Leben erweckt, damit sie das tun können, was sie schon immer am allerliebsten tun wollten…«

«Ich kann meinen Arm im Kreis herumschwingen, schaut doch. Was meint ihr dazu?«

«Ein Komitee, das bezahlte Stewards ernennen soll, oder so was.«

«Die zwei Statuen werden also lebendig, gucken sich an, lachen ein bißchen, sagen >Sollen wir?< und >Au ja<, und dann verschwinden sie im Gebüsch und es gibt ein Mordsgeraschel.«»Ich kann jedes Pferd halten. Ich hab’s ihm gesagt, aber der Blödmann hat nicht auf mich gehört.«

«… daß der Senior Steward ein Gehalt kriegen soll.«

«Nach einer Viertelstunde kommen sie aus dem Gebüsch, total verschwitzt und aufgeregt und glücklich, und der Engel sagt, ihr habt erst die Hälfte der Zeit verbraucht, ihr dürft ruhig noch mal…«

«Wie lang braucht so ein Schlüsselbeinbruch eigentlich?«

«Lord White hat der Regelung angeblich zugestimmt.«

«Die Statuen kichern ein bißchen, und die männliche Statue sagt zur weiblichen Statue: >O.k., machen wir’s nochmal, aber diesmal andersrum. Ich halt die dämliche Taube fest, und du kackst drauf.<«

Mitten in der Lachsalve hörte ich den Gerüchteerzähler sagen:». und Ivor den Relgan wird Vorsitzender.«

Ich wandte mich zu ihm.»Was hast du gesagt?«

«Ich weiß nicht, ob es stimmt… aber einer von den Klatschreportern hat mir erzählt, daß Ivor den Relgan beauftragt worden ist, ein Komitee zu bilden, das bezahlte Stewards ernennen soll.«

Ich runzelte die Stirn.»Das verleiht den Relgan aber mit einem Schlag verdammt viel Macht.«

Er zuckte die Schultern.»Keine Ahnung.«

Er hatte vielleicht keine Ahnung, aber andere sehr wohl.

Im Laufe des Nachmittags konnte man förmlich sehen, wie sich das Gerücht als unangenehme Überraschung von einem Jockey Club-Gesicht zum nächsten fortpflanzte. Die einzige Gruppe, die von der allgemeinen Reaktion nicht betroffen schien, war eine schlecht zusammenpas-sende Gesellschaft von vier Leuten, die die Blicke aller an-dern auf sich zog.

Lord White, Lady White, Ivor den Relgan, Dana den Relgan.

Sie standen vor dem Waageraum in der schwachen Novembersonne, beide Frauen in Nerz gekleidet, Lady White, schlank wie immer, sah abgezehrt, unansehnlich und unglücklich aus. Dana den Relgan strotzte vor Gesundheit, lachte strahlend, zwinkerte Lord White zu und warf gönnerhafte Blicke auf seine Lady.

Lord White sonnte sich im Licht von Danas Lächeln und streifte die Jahre ab wie Schlangenhäute. Ivor den Relgan bedachte die Umwelt mit seinem süffisanten Grinsen und rauchte seine Zigarre mit einem gebieterischen Gehabe, als wäre er der Besitzer der Rennbahn von Ascot. Er trug wieder den Kamelhaarmantel mit Gürtel, sein graues Haar war zurückgekämmt, und er sah es als sein natürliches Recht an, daß man ihm stets Aufmerksamkeit schenkte.

Harold tauchte an meinem Ellbogen auf und folgte meinem Blick.

«Dschingis-Khan macht sich auf, die Welt zu erobern«, sagte er.

«Das Komitee?«

«Würdest du nicht auch sagen, daß es etwas dick aufgetragen ist, wenn man jemand wie den Relgan den Vorsitz über ein von ihm selbst ernanntes Komitee gibt?«

«Kosmetik oder Tarnung?«

«Beides. Im Klartext heißt das doch: >O.k., du suchst dir die Stewards aus, die dir passen, und wir bezahlen sie.< Es ist nicht zu fassen.«

«Das kann man wohl sagen.«

«Der Alte Schneesturm ist dermaßen verrückt nach diesem Mädchen«, sagte Harold,»daß er ihrem Vater alles geben würde.«

«War das Ganze Lord Whites Idee?«

Harold grinste wölfisch.»Sei nicht kindisch, Philip. Wer hat denn jahrelang versucht, im Jockey Club mitzumischen? Und wer hat eine umwerfende Tochter, die jetzt alt genug ist, dem Alten Schneesturm den Kopf zu verdrehen? Ivor den Relgan hat endlich einen Fuß in der Tür zur Macht im Pferderennsport, und wenn er erstmal in die Festung eingedrungen ist und Entscheidungen treffen kann, wird die alte Garde sich vergeblich bemühen, ihn wieder rauszuschmeißen.«

«Du machst dir ja echt Sorgen«, sagte ich verwundert.

«Natürlich, verdammt nochmal. Es ist ein großartiger Sport, und noch ist er unabhängig. Wer zum Teufel will schon, daß das Topmanagement des Pferderennsports aufgespalten und manipuliert und verkauft und korrumpiert wird wie etliche andere Sportarten, die ich jetzt nicht nennen will. Die Sauberkeit des Pferderennsports wird dadurch garantiert, daß unbezahlte Aristokraten aus Liebe zur Sache tätig sind. Natürlich bauen sie gelegentlich fürchterlichen Mist, aber das kann man wieder zurechtbiegen. Wenn den Relgan bezahlte Stewards ernennt, für wen werden die dann wohl arbeiten? Für uns? Für den Pferderennsport? Oder für die Interessen von diesem Scheiß Ivor den Relgan?«

Ich hörte mir seinen leidenschaftlichen Ausbruch und seine Überzeugungen an und konnte seinen bebenden Abscheu spüren.

«Das wird doch der Jockey Club sicher nicht zulassen«, sagte ich.

«Es passiert doch schon. Die Typen an der Spitze sind dermaßen an Lord Whites Führung gewöhnt, daß sie alle seinem Vorschlag für das Komitee zugestimmt haben, ohne darüber nachzudenken. Sie gehen fest davon aus, daß er tugendhaft ist und wohlmeinend und grundehrlich. Und das ist er auch. Aber er ist auch verknallt. Und das ist verdammt gefährlich.«

Wir beobachteten das Vierergrüppchen. Lord White machte unablässig kleine Gesten, die ihm erlaubten, seine Hand auf Danas Arm, um ihre Schultern oder an ihre Wange zu legen. Ihr Vater beobachtete sie mit nachsichtigem Lächeln und sichtlicher Befriedigung, und die arme Lady White schien noch mehr zu schrumpfen und noch grauer zu werden in ihrem Nerz. Als sie sich schließlich entfernte, schien es keiner der andern zu bemerken.

«Irgend jemand muß was unternehmen«, sagte Harold grimmig,»um dem Ganzen Einhalt zu gebieten. Und zwar bevor es zu spät ist.«

Er sah Victor Briggs, der wie immer allein abseits stand, und entfernte sich, um ihm Gesellschaft zu leisten, und ich beobachtete, wie Lord White und Dana miteinander flirteten wie zwei fröhliche Kolibris, und dachte, daß sie heute mit erheblich weniger Zurückhaltung auf ihn reagierte als in Kempton.

Ich wandte mich besorgt ab und sah Lance Kinship langsam auf mich zukommen. Sein Blick huschte rasch von mir zu den den Relgans und zurück. Ich begriff, daß er mit mir reden wollte, ohne daß die den Relgans seine

Anwesenheit bemerkten, und ging ihm mit einem innerlichen Lächeln entgegen.

«Ich habe Ihre Bilder im Auto«, sagte ich.»Ich habe sie für alle Fälle mitgebracht.«

«Ah ja? Gut, gut. Ich möchte mit dem Mädchen da sprechen. «Er warf wieder einen raschen Blick hinüber.»Können Sie an sie ran? Ihr was ausrichten? Ohne daß der Mann da es hört? Ohne daß einer von den beiden es hört? Geht das?«

«Ich kann’s versuchen«, sagte ich.

«Gut. Schön. Sagen Sie ihr, daß ich sie nach dem dritten Rennen in einer der Privatlogen erwarte. «Er nannte mir die Nummer.»Sagen Sie ihr, daß sie dahin kommen soll. Klar?«

«Ich werd’s versuchen«, wiederholte ich.

«Gut. Ich werde Sie im Auge behalten. Von da drüben. «Er wies mir die Richtung.»Wenn Sie’s ihr ausgerichtet haben, kommen Sie rüber und sagen Bescheid. Klar?«

Ich nickte, und mit einem weiteren raschen Seitenblick auf Dana trippelte er davon. Er trug heute fast dieselbe Kleidung wie in Newbury, nur hatte er den waschechten Gesamteindruck durch ein Paar blaßgrüne Socken verdorben. Ein jämmerlicher Mann, dachte ich. Versucht etwas darzustellen, was er nicht ist. Weder ein bedeutender Filmproduzent noch blaublütig. Laut Victor Briggs wurde er wegen seiner Mitbringsel zu Parties eingeladen. Ein trauriger, erfolgloser Mann, der sich den Weg in die Große Welt mit kleinen Päckchen mit weißem Puder erkaufte.

Ich sah von ihm zu den Relgan, der Dana zu einem ganz ähnlichen Zweck benutzte. Allerdings war nichts

Trauriges oder Jämmerliches an den Relgan. Ein brutaler Kerl auf dem Vormarsch, machthungrig und selbstgefällig, einer, der auf kleinen Leuten herumtrampelte.

Ich ging zu ihm hinüber und dankte ihm mit einer schmeichlerischen Stimme, die ich nach all den Jahren, in denen ich Besitzern um den Bart gehen mußte, bedauerlicherweise überzeugend beherrschte, noch einmal für die Gaben, die er in Kempton verteilt hatte.

«Der silberne Sattel… wollte es Ihnen nur noch einmal sagen«, sagte ich,»ist wirklich hübsch anzusehen.«

«Freut mich«, sagte er und streifte mich mit einem uninteressierten Blick.»Meine Tochter hat ihn ausgesucht.«

«Hervorragender Geschmack«, sagte Lord White stolz, und ich sagte direkt an Dana gewandt:»Herzlichen Dank.«

«Gern geschehen«, murmelte sie fast ebenso uninteressiert.

«Verraten Sie mir bitte«, sagte ich,»ob es ein Einzelstück ist, oder nur eins von vielen.«

Ich machte ein paar Schritte zur Seite, so daß sie sich von den beiden Männern abwenden mußte, um mir zu antworten, und noch ehe sie richtig geantwortet hatte, daß sie nur dieses Exemplar gesehen habe, aber natürlich nicht mit Sicherheit sagen könne…, sagte ich schnell zu ihr:»Lance Kinship ist hier und will Sie sprechen.«

«Oh. «Sie warf schnell einen Blick auf die beiden Männer, erwiderte Lord Whites automatisches Lächeln mit einem strahlenden Lächeln ihrerseits und sagte leise zu mir:»Wo?«

«Nach dem dritten Rennen in einer Privatloge. «Ich gab ihr die Nummer.

«Freut mich sehr, daß Ihnen der Sattel gefällt«, sagte sie klar und deutlich und wandte sich wieder Lord White zu.»Macht es nicht Spaß, andern Freude zu machen?«sagte sie zu ihm.

«Meine Beste«, sagte er schelmisch,»Sie schenken durch Ihre bloße Gegenwart Freude. «Es könnte schier die Engel zu Tränen rühren, dachte ich. Ich schlenderte davon und gelangte über einen Umweg zu Lance Kinship.

«Sie hat die Nachricht bekommen«, sagte ich, und er sagte:»Gut«, und wir verabredeten, daß ich ihm die Bilder während des letzten Rennens vor dem Waageraum geben würde.

Daylights Rennen war das dritte auf der Liste, und Chainmails das vierte. Als ich zum dritten hinausging, wurde ich auf dem Weg vom Waageraum zum Führring von einer freundlichen Frau aufgehalten, bei der es sich, wie ich mit verzögertem Schrecken bemerkte, um Marie Millace handelte.

Marie Millace, in deren Gesicht kaum mehr Spuren der Zerstörung zu sehen waren. Mrs. Millace wieder auf den Beinen, braungekleidet, blaß und krank aussehend, aber geheilt.

«Sie haben gesagt, daß keine Narben zurückbleiben würden«, sagte sie,»und Sie hatten recht.«

«Sie sehen großartig aus.«

«Kann ich mit Ihnen reden?«

Ich sah zu der Stelle, wo die andern Jockeys, mit denen ich herausgekommen war, bereits in den Führring einritten.»Tja… später vielleicht. Wie wäre es… ähm… nach dem vierten Rennen? Wenn ich mich umgezogen habe. Irgendwo im Warmen.«

Sie nannte eine bestimmte Bar, und wir einigten uns darauf, und ich ging zum Führring, wo Harold und Victor Briggs warteten. Keiner von beiden sagte etwas zu mir, und ich sagte auch nichts. Alles Wesentliche war bereits gesagt, und nach Unwesentlichem stand keinem der Sinn. Harold half mir auf Daylight, und ich nickte ihm und Victor zu und bekam ein leeres Briggs-Starren ersten Grades zurück.

Heute bestand keinerlei Gewißheit, daß Daylight gewinnen würde. Bei diesen erheblich stärkeren Gegnern war er nicht einmal Favorit, geschweige denn hoch gewettet.

Ich ritt im Aufgalopp zum Start und machte mir dabei Gedanken über Mut, ein Begriff, der mir normalerweise nicht sehr häufig im Kopf herumging. Der Vorgang, ein Pferd schnell über Hindernisse zu bringen, war für mich etwas ziemlich Normales und etwas, was ich sehr gern tat. Theoretisch wußte man, daß Stürze und Verletzungen nicht ausblieben, aber dieses Risiko wirkte sich nur selten auf meinen Reitstil aus. Ich machte mir nicht unentwegt Sorgen um meine Sicherheit.

Auf der anderen Seite war ich auch nie leichtsinnig, wie zum Beispiel Steve Millace, und vielleicht immer etwas zu sehr darauf bedacht gewesen, mich und das Pferd vereint zurückzubringen, statt mein Herz über das Hindernis zu werfen und es dem Pferd zu überlassen, es einzufangen, wenn es dazu in der Lage war.

Und genau diesen letzteren Reitstil würde Victor Briggs heute erwarten. Mein eigener Fehler, dachte ich. Und dann mußte ich es auch noch zweimal tun.

Auf Daylight war es ziemlich leicht, da er seinen Spring-stil gut durchhielt, wenn ich auch seine Überraschung über den Geisteswandel seines Reiters spüren konnte. Pferde haben telepathische Fähigkeiten, und mit diesem siebten Sinn erfaßte er meine Verbissenheit sofort, und obwohl ich wußte, daß Pferde so veranlagt sind, war ich aufs neue verwundert. Man gewöhnte sich an eine gewisse Reaktionsweise der Pferde, weil sie auf einen selbst reagierten. Wenn die eigene Einstellung sich radikal änderte, änderte sich auch die Reaktion des Pferdes.

Daylight und ich lieferten also eine ganz und gar untypische Vorstellung, bei der wir mehr dem Glück als dem Verstand überließen. Er war es gewohnt, seinen Abstand zu einem Hindernis zu taxieren und seine Gangart entsprechend zu ändern; aber angesteckt von meinem Drängen, ließ er das diesmal sein und drückte einfach ab, wenn er ungefähr in der richtigen Entfernung zum Absprung war. Dreimal trafen wir hart die Oberseite des Hindernisses, was für ihn etwas ganz Neues war, und als wir zum letzten kamen und es richtig erwischten, setzten wir darüber hinweg, als wäre es nur ein Schatten auf dem Boden.

Trotz unseres großen Einsatzes gewannen wir das Rennen nicht. Obwohl wir bis zuletzt nicht aufgaben, wurden wir von einem stärkeren, schnelleren, fiteren (oder was auch immer) Pferd um drei Längen geschlagen und auf den zweiten Platz verwiesen.

Am Absattelplatz schnallte ich die Sattelgurte auf, während Daylight keuchte und stieg, in einem überaus erregten Zustand, der meilenweit entfernt war von seinem Image als >sanfte Kuh<; und Victor Briggs sah ohne sichtbare Gefühlsregung zu.

«Tut mir leid«, sagte ich zu Harold, als er mit mir zum Wiegen hineinging.

Er grunzte und sagte nur:»Ich warte auf deinen Sattel.«

Ich nickte, ging in den Umkleideraum, um die Bleigewichte im Sattel zu wechseln, und kam dann zur Kontrolle für Chainmail zur Waage zurück.

«Bring dich nicht um«, sagte Harold und nahm meinen Sattel.»Das würde nichts weiter beweisen, als daß du ein verdammter Idiot bist.«

Ich lächelte ihn an.»Manch einer stirbt beim Überqueren der Straße.«

«Was du anstellst, hat nichts mit Unfall zu tun.«

Er entfernte sich mit dem Sattel, und mir wurde bewußt, daß er mir nicht ausdrücklich nahegelegt hatte, bei seinem zweiten Pferd zu einem nüchterneren Stil zurückzukehren. Vielleicht war auch ihm daran gelegen, daß Victor seine Pferde ehrlich laufen ließ, und wenn das nur auf diese Weise zu erreichen war. bitte sehr.

Bei Chainmail lagen die Dinge insofern anders, als der Vierjährige an sich schon labil war, und was ich mit ihm machte, war ungefähr so, als würde man einen jugendlichen Straftäter zu einem Überfall nötigen. Seine innere Wut, die ihn dazu trieb, gegen seinen Jockey zu kämpfen, an den Hindernissen auszubrechen und andere Pferde zu beißen, mußte mit kühlem Kopf und fester Hand gezügelt werden: so hatte ich das jedenfalls immer gesehen.

An diesem Tag war das nicht der Fall. Er hatte einen Reiter, der bereit war, jede Aggressivität bis auf das Ausbrechen zu übersehen, und als er am dritten Hindernis den Versuch dazu machte, kassierte er einen so derben

Schlag mit der Gerte, daß ich fast spüren konnte, wie er ärgerlich dachte: >He, das sieht dir aber gar nicht ähnlich<; und das stimmte auch.

Er kämpfte und rackerte und stürmte und flog. Ich trieb ihn gegen jeden gesunden Menschenverstand zu seiner höchsten Geschwindigkeit an. Ich ritt mir für Victor Briggs die Seele aus dem Leib.

Es reichte nicht. Chainmail wurde Dritter von vierzehn. Keine Schande. Vielleicht besser, als man realistischerweise hatte erwarten können. Nur um eine Länge und einen Hals geschlagen. Aber trotzdem Dritter.

Victor Briggs sah ohne ein Lächeln zu, wie ich den Sattel von seinem zweiten stampfenden, aufgeputschten Pferd abnahm. Ich wickelte die Gurte um den Sattel und blieb einen Moment lang vor ihm stehen. Er sagte kein Wort, und ich auch nicht. Wir sahen uns sekundenlang mit der gleichen Leere in die Augen, und dann ging ich an ihm vorbei zum Wiegen.

Als ich nach dem Umziehen wieder herauskam, war er nicht mehr zu sehen. Ich hätte zwei Siege gebraucht, um meinen Job zu behalten, und hatte keinen errungen. Draufgängertum war nicht genug. Er wollte Siege. Wenn er bestimmte Siege nicht bekommen konnte, würde er bestimmte Niederlagen verlangen. Wie früher. Wie vor drei Jahren. Wie damals, als ich und meine Seele noch jung waren.

Mit einem tiefen Gefühl von Müdigkeit machte ich mich zu meiner Verabredung mit Marie Millace in der bewußten Bar auf.

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