Sie saß in einem Sessel, mit einer andern Frau ins Gespräch vertieft, in der ich zu meiner Überraschung Lady White erkannte.
«Ich komme später wieder«, sagte ich und wollte mich zurückziehen.
«Nein, nein«, sagte Lady White und erhob sich.»Ich weiß, daß Marie mit Ihnen reden will. «Sie lächelte, wobei sich in ihren Kummerfalten ihre sämtlichen Sorgen zeigten und ihre Augen wie in anhaltendem Schmerz zusammengekniffen waren.»Sie hat mir erzählt, daß Sie ihr sehr geholfen haben.«
«Nicht der Rede wert«, sagte ich kopfschüttelnd.
«Da ist sie anderer Meinung.«
Die zwei Frauen lächelten und küßten sich zum Abschied auf die Wangen, und Lady White verließ die Bar mit einem Nicken und einem vagen Lächeln zu mir hin. Ich blickte ihr nach. Eine schmächtige, geschlagene Lady, die sich so zu verhalten suchte, als wüßte nicht die ganze Rennwelt von ihrer Niederlage, und der das nicht recht gelang.
«Wir sind zusammen zur Schule gegangen«, sagte Marie Millace.»Wir haben dort in den letzten drei Jahren zusammen in einem Zimmer gewohnt. Ich mag sie sehr.«
«Sie wissen von… ähm.?«
«Von Dana den Relgan? Ja. «Sie nickte.»Möchten Sie etwas trinken?«
«Ich hole uns etwas.«
Ich holte ein Glas Gin-Tonic für sie und eine Cola für mich und setzte mich in den Sessel, den Lady White verlassen hatte.
Die Bar, ein hübscher Raum mit Korbmöbeln und grünweißen Farben, war selten überfüllt und oft beinahe leer, so wie heute. Weit weg vom Führring und den Buchmachern hoch oben auf der Tribüne versteckt, war sie besser zum Reden als zum Verfolgen der Rennen geeignet, und außerdem war es hier warm, was für die meisten Tribünenplätze nicht galt. Halbinvalide verbrachten hier sehr viel Zeit, während ihre Neffen und Nichten mit Wettscheinen hin und her hasteten.
Marie Millace sagte:»Wendy. Wendy White. hat mich gerade gefragt, ob ich glaube, daß die Affäre ihres Mannes mit Dana den Relgan irgendwann von selbst vorübergeht. Aber ich weiß es nicht. Ich konnte es ihr nicht sagen. Wie sollte ich auch? Ich habe gesagt, ich sei davon überzeugt…«Sie hielt inne, und als ich nichts sagte, fragte sie:»Glauben Sie, daß sich das einfach gibt?«
«Vorläufig nicht, würde ich sagen.«
Sie ließ mit düsterer Miene das Eis in ihrem Glas kreisen.»Wendy sagt, er sei mit ihr weggewesen. Er hat sie über Nacht zu Bekannten mitgenommen. Er hat Wendy erzählt, er ginge zur Jagd, was sie langweilig findet. Sie ist schon seit Jahren nicht mehr mit ihm zur Jagd gegangen. Aber diese Woche hat er Dana den Relgan mitgenommen, und Wendy sagt, ihr Mann sei mit Dana den Relgan im
Haus geblieben, als die ganze Gesellschaft mit den Gewehren loszog… Ich sollte Ihnen das alles eigentlich gar nicht erzählen. Sie hat es von jemand gehört, der dabei war. Erzählen Sie bitte nicht weiter, was ich Ihnen gerade gesagt habe. Versprechen Sie mir das?«
«Natürlich.«
«Es ist so schrecklich für Wendy«, sagte Marie Millace.»Sie hat gedacht, alles wäre längst vorbei.«
«Vorbei? Ich dachte, es hätte gerade erst angefangen.«
Sie seufzte.»Wendy sagt, ihr Mann hätte sich schon vor Monaten unsterblich in diese Dana verliebt, aber dann ist das Luder von der Bildfläche verschwunden und nicht mehr auf den Rennbahnen aufgetaucht, und Wendy dachte, er sähe sie nicht mehr. Und jetzt steht sie wieder im Blickpunkt, und niemand kann es übersehen. Wendy sagt, ihr Mann sei hoffnungsloser verliebt denn je und auch noch stolz darauf. Wendy tut mir so leid. Das Ganze ist so gräßlich. «Sie zerfloß vor Mitleid, dabei waren ihre eigenen Sorgen in jeder Hinsicht viel schlimmer.
«Kennen Sie Dana den Relgan persönlich?«fragte ich.
«Nein, überhaupt nicht. George kannte sie wohl. Wenigstens vom Sehen. Er kannte jeden. Als wir letzten Sommer in St. Tropez waren, hat er sie dort eines Nachmittags angeblich gesehen, aber ich weiß nicht, ob er das ernst gemeint hat, er hat nämlich gelacht, als er es erzählte.«
Ich trank ein paar Schlucke Cola und fragte sie unverbindlich, ob es ihr und George in St. Tropez gefallen habe und ob sie öfter dort gewesen seien. Ja, es habe ihnen sehr gefallen, aber sie seien nur dieses eine Mal da gewesen. George habe wie gewöhnlich die meiste Zeit wie angewachsen hinter seiner Kamera verbracht, aber er und Marie hätten jeden Nachmittag auf dem Balkon mit Meeresblick gelegen und seien wunderbar braun geworden.
«Aber darüber wollte ich natürlich nicht mit Ihnen reden«, sagte sie.»Ich wollte Ihnen für Ihre Freundlichkeit danken und Sie wegen der Ausstellung fragen, die Sie vorgeschlagen haben… und wie ich mit den Fotos etwas Geld verdienen kann. Weil… und ich weiß, das ist ein unerfreuliches Thema… ich brauche nämlich… ähm.«
«Jeder braucht es«, sagte ich beruhigend.»Hat denn George nichts hinterlassen, Versicherungspolicen oder dergleichen?«
«Doch. Etwas. Und ich bekomme das Geld für das Haus, wenn auch unglücklicherweise nicht den vollen Wert. Aber es wird nicht reichen zum Leben, nicht bei der Inflation und so weiter.«
«Hatte George«, fragte ich behutsam,»denn keine… nun ja. Ersparnisse. auf irgendwelchen Sonderkonten?«
Ihr freundlicher Gesichtsausdruck wurde mißtrauisch.»Fragen Sie mich das gleiche wie die Polizei?«
«Marie. Denken Sie an die Einbrüche und an Ihr Gesicht und an die Brandstiftung.«
«So einer war er nicht«, brach es aus ihr hervor.»George hätte nie. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Glauben Sie mir nicht?«
Ich seufzte, gab keine Antwort und fragte sie, ob sie wisse, bei welchem Freund George auf dem Rückweg von Doncaster auf einen Drink vorbeigeschaut habe.
«Natürlich weiß ich das. Es war kein Freund. Nicht einmal ein Bekannter. Ein Mann namens Lance Kinship.
George hat mich an dem Morgen aus Doncaster angerufen. Das tat er oft, wenn er über Nacht wegblieb. Er meinte, er käme etwa eine halbe Stunde später als üblich, er wolle noch bei dem Mann vorbeischauen, es läge ohnehin auf seinem Heimweg. Dieser Lance Kinship wollte, daß George ein paar Aufnahmen von ihm bei der Arbeit machte. Er ist Regisseur oder so etwas. George sagte, er sei ein widerlicher, sich selbst in die Tasche lügender, kleiner Egoist, aber wenn er ihm schmeichle, würde er gut bezahlen. Das war praktisch das letzte, was er zu mir gesagt hat.«
Sie holte tief Luft und bemühte sich, die Tränen zu unterdrücken, die ihr plötzlich in den Augen standen.»Verzeihung…«Sie schniefte und zwang sich, ihre Gesichtszüge zu straffen, und suchte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch.
«Es ist ganz natürlich zu weinen«, sagte ich. Schließlich waren erst drei Wochen vergangen seit Georges Tod.
«Ja, aber. «Sie bemühte sich zu lächeln,»nicht auf der Rennbahn. «Sie tupfte sich mit dem Zipfel ihres Taschentuchs die Augen und schniefte noch einmal.»Als allerletztes hat er gesagt«, brachte sie mit größter Anstrengung hervor,»ich soll für ihn Ajax Fensterreiniger kaufen. Ist das nicht albern? Abgesehen von einem >Bis bald<, hat George als letztes zu mir gesagt: >Kauf bitte Ajax flüssig<, und ich weiß nicht einmal. «Sie schluckte heftig. Die Tränen siegten.»Ich weiß nicht einmal, wofür er es brauchte.«
«Marie…«Ich streckte ihr die Hand entgegen, und sie griff so heftig danach wie im Krankenhaus.
«Es heißt, daß man die letzten Worte, die jemand, den man liebt, zu einem gesagt hat, nie vergißt. «Ihre Lippen zitterten hoffnungslos.
«Denken Sie jetzt nicht daran«, sagte ich.
«Nein.«
Sie wischte sich wieder die Augen und hielt meine Hand fest, aber nach und nach legte sich der Aufruhr, sie lockerte ihren Griff und lachte kurz verlegen auf, und ich fragte sie, ob eine Autopsie vorgenommen worden sei.
«Ach so. wegen Alkohol, meinen Sie? Ja, sie haben eine Blutprobe genommen. Sie sagten, er hätte unter der zulässigen Grenze gelegen. Er hatte bei diesem Kinship nur zwei kleine Whiskys getrunken. Die Polizei hat ihn befragt. Lance Kinship., nachdem ich ihnen erzählt hatte, daß George dort vorbeischauen wollte. Er hat mir einen Brief geschrieben, mir sein Beileid ausgesprochen. Aber es war nicht seine Schuld. Ich hatte George tausendmal gesagt, daß er vorsichtig sein soll. Er wurde oft schläfrig, wenn er lange Strecken fuhr.«
Ich erzählte ihr, wie es dazu gekommen war, daß ich jetzt die Fotos von Lance Kinship gemacht hatte, die George hatte machen sollen, und das interessierte sie mehr, als ich erwartet hatte.
«George hat immer gesagt, Sie würden eines Tages aufwachen und ihm den Markt streitig machen. «Sie brachte ein wackeliges Lächeln zuwege, um es als Scherz hinzustellen, was es zweifellos auch war.»Wenn er es doch erfahren könnte. Wenn er doch. Mein Gott, mein Gott.«
Wir saßen eine Weile still da, bis die neue Tränenflut versiegt war, und sie entschuldigte sich noch einmal dafür, und ich brachte noch einmal mein Verständnis zum Ausdruck.
Ich fragte sie nach ihrer Adresse, damit ich sie mit einem Agenten für Georges Werk in Verbindung setzen konnte, und sie sagte, sie halte sich bei Freunden auf, die in der Nähe von Steve wohnten. Sie wisse nicht, wo sie danach hin solle, meinte sie verzweifelt. Wegen der Brandstiftung besäße sie keine Kleider, bis auf die neuen, die sie trug. Keine Möbel. Nichts, um sich ein Heim zu schaffen. Schlimmer noch. viel schlimmer. sie habe kein Foto von George.
Zu dem Zeitpunkt, als ich Marie Millace verließ, war das fünfte Rennen bereits gelaufen. Ich ging direkt zum Auto, um Lance Kinships Bilder zu holen, und kehrte zum Waageraum zurück, wo ich Jeremy Folk vorfand, der dort auf einem Bein vor der Tür stand.
«Sie werden umfallen«, sagte ich.
«Oh… ähm…«Er setzte vorsichtig den Fuß auf, als würde seine Gegenwart durch das Stehen auf zwei Beinen unumstößlicher.»Ich dachte… ähm…«
«Sie dachten, daß ich vielleicht nicht tue, was Sie wollen, wenn Sie nicht hier erscheinen.«
«Ähm… ja.«
«Da mögen Sie recht haben.«
«Ich bin mit dem Zug gekommen«, sagte er zufrieden.»Können Sie mich nach St. Albans mitnehmen?«
«Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben.«
Lance Kinship sah mich und kam herüber, um seine Fotos in Empfang zu nehmen. Aus reiner Gewohnheit machte ich ihn mit Jeremy bekannt, und fügte Jeremy zuliebe hinzu, daß George Millace in Lance Kinships Haus seinen letzten Drink zu sich genommen hatte.
Während er die Lasche des steifen Umschlags herauszog, warf Lance Kinship jedem von uns einen scharfen Blick zu, dem ein kummervolles Kopfschütteln folgte.
«Ein großartiger Bursche, dieser George«, sagte er.»Ein Jammer.«
Er zog die Bilder aus dem Umschlag und sah sie durch, wobei er die Augenbrauen bis über den Brillenrand hochzog.
«Schön, schön«, sagte er.»Sie gefallen mir. Was wollen Sie dafür?«
Ich nannte eine Summe, die mir ungeheuer erschien, aber er nickte nur, zog eine pralle Brieftasche hervor und zahlte auf der Stelle in bar.
«Weitere Abzüge?«sagte er.
«Sicher. Die sind dann billiger.«
«Machen Sie mir noch zwei Serien«, sagte er.»Klar?«
Wie immer blieb ihm das >r< irgendwo im Hals stecken.
«Komplett?«sagte ich überrascht.»Alle?«
«Natürlich. Alle. Sind sehr hübsch. Wollen Sie mal sehen?«
Er schlenkerte sie auffordernd Jeremy entgegen, der meinte, er würde sie sehr gerne sehen. Und auch er betrachtete Sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
«Sie müssen ein bedeutender Regisseur sein«, sagte er zu Kinship.
Kinship strahlte regelrecht und verstaute seine Fotos wieder in dem Umschlag.»Das Ganze noch zweimal«, sagte er.»Klar?«
«Klar.«
Er nickte und entfernte sich, und bevor er zehn Schritt gemacht hatte, zog er die Bilder wieder hervor, um sie jemand anderem zu zeigen.
«Er wird Ihnen viel zu tun geben, wenn Sie nicht aufpassen«, sagte Jeremy, der ihm nachsah.
Ich wußte nicht, ob ich ihm glauben wollte oder nicht, aber es beschäftigte mich nicht weiter, da meine Aufmerksamkeit von etwas weit Außergewöhnlicherem in Anspruch genommen wurde. Ich stand reglos da, mit starrem Blick.
«Sehen Sie die beiden Männer«, sagte ich zu Jeremy,»die sich da drüben unterhalten?«
«Natürlich sehe ich sie.«
«Einer von ihnen ist Bart Underfield, Trainer in Lam-bourn. Und der andere ist einer der Männer auf dem Foto von dem Cafe in Frankreich. Das ist Elgin Yaxley… aus Hongkong heimgekehrt.«
Drei Wochen nach Georges Tod, zwei Wochen nach dem Brand seines Hauses; und Elgin Yaxley war wieder im Lande.
Ich hatte zwar schon einmal voreilige Schlüsse gezogen, aber jetzt durfte man mit Recht annehmen, daß Elgin Yaxley glaubte, das belastende Foto habe sich glücklich in Rauch aufgelöst.
Wenn man ihn da stehen sah, breit lächelnd und voller Selbstvertrauen, durfte man wohl annehmen, daß er sich befreit und sicher fühlte.
Wenn ein Erpresser und sein gesamter Besitz eingeäschert waren, jubilierten die Opfer.
Jeremy sagte:»Das kann kein Zufall sein.«
«Nein.«
«Er sieht ganz schön selbstzufrieden aus.«»Ein Fiesling.«
Jeremy warf mir einen Blick zu.»Haben Sie das Foto noch?«
«Natürlich.«
Wir sahen eine Weile zu, wie Elgin Yaxley Bart Underfield auf die Schulter klopfte und wie ein Krokodil grinste, und Bart Underfield sah so glücklich aus wie seit kurz nach dem Prozeß nicht mehr.
«Was haben Sie damit vor?«
«Einfach abwarten, denke ich«, sagte ich.»Sehen, was passiert.«
«Ich denke, ich lag falsch«, sagte Jeremy nachdenklich,»als ich Ihnen geraten habe, den ganzen Kram aus der Schachtel zu verbrennen.«
«Mhm. «Ich lächelte schwach.»Morgen mach ich mich an die blauen Rechtecke.«
«Sie haben also rausbekommen, wie?«
«Tja, ich hoffe es. Mal sehen.«
«Wie denn?«
Er wirkte echt interessiert, denn sein üblicherweise die Umgebung absuchender Blick wandte sich geschlagene zehn Sekunden in meine Richtung.
«Hm. wollen Sie einen Vortrag über die natürlichen Eigenschaften des Lichts hören oder nur die geplanten Schritte?«
«Keinen Vortrag.«
«O.k. Wenn ich die orangenen Negative durch blaues Licht auf sehr kontrastreiches Schwarzweißpapier vergrößere, müßte ich meiner Schätzung nach ein Bild bekommen.«
Er blinzelte.»Schwarzweiß?«
«Wenn ich Glück habe.«
«Woher bekommen Sie blaues Licht?«
«Da wäre jetzt doch der Vortrag fällig«, sagte ich.»Wollen Sie das letzte Rennen sehen?«
Ein kleiner Rückfall zu eckigen Ellbogenbewegungen und Stehen auf einem Bein und stockendem Gefasel war zu verzeichnen — wahrscheinlich, weil es galt, das Anwaltsgewissen mit der Duldung von Pferdewetten in Übereinstimmung zu bringen.
Ich hatte ihm jedoch Unrecht getan. Als wir auf der Tribüne auf den Start des Rennens warteten, sagte er:»Ich habe… äh… ehrlich gesagt… ähm… Sie reiten sehen… heute nachmittag.«
«Ach wirklich?«
«Ich dachte… es, äh, könnte lehrreich sein.«
«Und, hat Sie’s mitgerissen?«
«Um ehrlich zu sein«, sagte er,»wohl eher Sie als mich.«
Während wir Richtung St. Albans fuhren, erzählte er mir von seinen Nachforschungen bei der Fernsehgesellschaft.
«Ich habe mir die Liste der Mitwirkenden zeigen lassen, wie Sie es vorgeschlagen haben, und ich habe gefragt, ob sie mich mit jemandem zusammenbringen könnten, der bei der Produktion in Pine Woods Lodge dabei war. Da wurde übrigens nur ein einziger Film gedreht. Die Truppe war nur ungefähr sechs Wochen dort.«
«Nicht sehr vielversprechend«, sagte ich.
«Nein. Trotzdem haben sie mir gesagt, wo der Regisseur zu finden ist. Arbeitet immer noch fürs Fernsehen. Sehr mürrischer, deprimierender Mann, der nur aus Gebrummel und einem gewaltigen Schnurrbart besteht. Er saß am Straßenrand in Streatham und sah einigen Elektrikern zu, die eine Gewerkschaftsversammlung abhielten und dann in Streik traten und sich weigerten, die Szene zu beleuchten, die er in einem Kirchenportal drehen wollte. Seine Laune war, kurz gesagt, scheußlich.«
«Kann ich mir vorstellen.«
«Leider war er keine große Hilfe«, sagte Jeremy bedauernd.»Vor dreizehn Jahren? Wie zum Teufel er sich an miese sechs Wochen vor dreizehn Jahren erinnern solle? Wie zum Teufel er sich an irgendein mieses Weib mit einem miesen Balg erinnern solle? Und so weiter in diesem Sinne. Allerdings konnte er mir mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, daß garantiert keine miesen Typen irgendwo in der Nähe von Pine Woods Lodge herumgelungert hätten, als er dort drehte. Er könne bei der Arbeit keine herumlungernden Laien vertragen, und ich solle mich bitte ebenfalls zum Teufel scheren.«
«Schade.«
«Danach habe ich einen Hauptdarsteller der Produktion aufgespürt, der zur Zeit in einer Kunstgalerie arbeitet, und fast die gleiche Antwort bekommen. Dreizehn Jahre? Mädchen mit kleinem Kind? Nichts zu machen.«
Ich seufzte.»Ich hatte große Hoffnung auf die Fernsehleute gesetzt.«
«Ich könnte weitermachen«, sagte Jeremy.»Sie sind nicht schwer ausfindig zu machen. Ich habe einfach ein paar Agenturen angerufen, um an den Schauspieler heranzukommen.«
«Das überlasse ich ganz Ihnen.«
«Das müßte gehen.«
«Wie lange waren die Musiker da?«sagte ich.
Jeremy kramte ein inzwischen ziemlich abgegriffen aussehendes Blatt Papier hervor und sah nach.
«Drei Monate, plus minus eine Woche.«
«Und nach ihnen?«
«Die religiösen Fanatiker. «Er schnitt eine Grimasse.»Ihre Mutter war doch wohl nicht religiös?«
«Heidin.«
«Es ist alles so lange her.«
«Mhm«, sagte ich.»Warum versuchen wir es nicht anders? Wir könnten Amandas Foto in der Zeitschrift Horse and Hound abdrucken lassen, mit der Frage, ob jemand den Reitstall erkennt. Diese Gebäude stehen wahrscheinlich heute noch und sehen noch genauso aus.«
«Wäre ein ausreichend großes Foto nicht sehr teuer?«
«Im Vergleich zu Privatdetektiven nicht. «Ich überlegte.»Ich glaube, Horse and Hound berechnet nach Platz, egal, um was es sich handelt. Fotos kosten nicht mehr als Text. Ich könnte einen guten scharfen Schwarzweißabzug von Amanda machen. und dann sehen wir einfach mal.«
Er seufzte.»O.k., gut. Aber mir schwant schon, daß die finanziellen Unkosten für die Suche letztendlich größer sein werden als das Erbe.«
Ich warf ihm einen Blick zu.»Wie reich ist sie denn… meine Großmutter?«
«Sie kann genausogut pleite sein, was weiß ich. Sie gibt sich unglaublich geheimnisvoll. Möglicherweise hat ihr Steuerberater eine Ahnung, aber der schweigt wie ein Grab.«
Wir kamen nach St. Albans und fuhren zum Pflegeheim; und während Jeremy im Warteraum alte Ausgaben von The Lady las, redete ich im ersten Stock mit der sterbenden alten Frau.
Sie saß von Kissen gestützt im Bett und beobachtete, wie ich ihr Zimmer betrat. Das harte strenge Gesicht war immer noch voll störrischen Lebens, die Augen blickten unerbittlich finster wie eh und je. Sie sagte nichts Nettes wie» Hallo «oder» Guten Abend«, sondern schlicht und einfach:»Hast du sie gefunden?«
«Nein.«
Sie preßte die Lippen zusammen.»Versuchst du es?«
«Ja und nein.«
«Was heißt das?«
«Das heißt, daß ich einen Teil meiner Freizeit dazu verwende, sie zu suchen, aber nicht mein ganzes Leben.«
Sie starrte mich mit zusammengekniffenen Augen an, und ich ließ mich im Besuchersessel nieder und starrte zurück.
«Ich habe deinen Sohn besucht«, sagte ich. Ihr Gesicht zerfloß einen flüchtigen Moment lang zu einer unkontrollierten, entlarvenden Mischung aus Wut und Abscheu. Ihre leidenschaftliche Enttäuschung überraschte mich etwas. Mir war bereits klar gewesen, daß ein nicht heiratender, keine Kinder zeugender Sohn sie nicht in erster Linie um eine Schwiegertochter und Enkel brachte, die sie vielleicht ohnehin nach bekanntem Muster tyrannisiert hätte, sondern vielmehr um ihren eigenen Fortbestand. Aber mir war nicht bewußt gewesen, daß ihre Suche nach Amanda ihrer Besessenheit entsprang, und nicht ihrem Groll.
«Dein Erbgut soll sich fortpflanzen«, sagte ich langsam.»Geht es dir darum?«
«Sonst hat der Tod keinen Sinn.«
Ich dachte, daß das Leben selbst ziemlich sinnlos war, aber ich sagte es nicht. Man erwachte lebendig, tat, was man konnte, und starb. Vielleicht hatte sie ja recht… daß der Sinn des Lebens darin bestand, sein Erbgut weiterzugeben. Erbgut überlebte durch Generationen von Körpern.
«Ob es dir gefällt oder nicht«, sagte ich,»dein Erbgut wird vielleicht durch mich weitergegeben.«
Der Gedanke mißfiel ihr immer noch. Die Muskeln an ihrem Kiefer spannten sich, und schließlich sagte sie mit harter, unfreundlicher Stimme:»Dieser junge Anwalt meint, ich soll dir sagen, wer dein Vater ist.«
Ich erhob mich schlagartig, unfähig, Ruhe zu bewahren. Obwohl ich gekommen war, um genau das zu erfahren, wollte ich es jetzt nicht mehr wissen. Ich wollte fliehen. Den Raum verlassen. Nichts hören. Ich war auf eine Weise nervös wie seit Jahren nicht mehr. Und mein Mund war klebrig und trocken.
«Willst du’s nicht wissen?«fragte sie.
«Nein.«
«Hast du Angst?«sagte sie verächtlich. Höhnisch.
Ich stand einfach da und antwortete nicht, wollte es wissen und doch nicht wissen, hatte Angst und doch keine Angst, war völlig durcheinander.
«Ich habe deinen Vater schon vor deiner Geburt gehaßt«, sagte sie bitter.»Ich kann deinen Anblick noch heute kaum ertragen, weil du aussiehst wie er. wie er in deinem Alter. Schlank… und kräftig… und die gleichen Augen.«
Ich schluckte und wartete und war wie betäubt.
«Ich habe ihn geliebt«, sagte sie, die Worte ausspeiend, als seien sie ihr widerwärtig.»Ich habe ihn abgöttisch geliebt. Er war dreißig und ich war vierundvierzig. Ich war seit fünf Jahren Witwe… Ich war einsam. Dann kam er. Er hat mit mir zusammengelebt. Wir wollten heiraten. Ich habe ihn angebetet. Ich war dumm.«
Sie hielt inne. Es gab auch keinen Grund, fortzufahren. Ich wußte den Rest bereits. Der ganze Haß, den sie all die Jahre für mich empfunden hatte, war endlich geklärt. So einfach erklärt. und verstanden. und vergeben. Entgegen aller Erwartung empfand ich plötzlich Mitleid mit meiner Großmutter.
Ich holte tief Luft. Ich sagte:»Lebt er noch?«
«Ich weiß es nicht. Ich habe seitdem nie mehr mit ihm gesprochen oder von ihm gehört.«
«Und wie. wie hieß er?«
Sie starrte mir ins Gesicht, nicht das geringste hatte sich an ihrem tiefsitzenden Haß geändert.»Das sage ich dir nicht. Ich will nicht, daß du ihn ausfindig machst. Er hat mein Leben zerstört. Er hat unter meinem eigenen Dach mit meiner siebzehnjährigen Tochter geschlafen, und er war hinter meinem Geld her. So ein Mensch war dein Vater. Seinen Namen sage ich dir nicht, das ist der einzige Gefallen, den ich dir tue. Also sei zufrieden.«
Ich nickte. Ich machte eine unbestimmte Handbewegung und sagte verlegen:»Es tut mir leid.«
Ihre Miene wurde nur noch finsterer.
«Jetzt such Amanda für mich«, sagte sie.»Dieser Anwalt hat gesagt, du tust es, wenn ich dich aufkläre. Also geh und tu es. «Sie schloß die Augen und sah sofort kranker, verwundbarer aus.»Ich mag dich nicht«, sagte sie.»Also geh!«
«Und?«sagte Jeremy unten.
«Sie hat’s mir gesagt.«
«Der Milchmann?«
«So ungefähr. «Ich berichtete ihm das Wesentliche, und er reagierte genauso wie ich.
«Arme alte Frau.«
«Ich könnte einen Drink vertragen«, sagte ich.