Kapitel 18

Ich erbat mir für eine weitere Nacht ein Bett bei Harolds Frau und rief am nächsten Morgen wieder im Krankenhaus in Swindon an.

Jeremy war am Leben. Keine Änderung.

Ich saß in Harolds Küche und trank Kaffee, geradezu selbstmörderisch deprimiert.

Harold ging etwa zum zehnten Mal an diesem Vormittag an sein klingelndes Telefon, und übergab mir den Hörer.

«Diesmal ist es kein Besitzer«, sagte er.»Es ist für dich.«

Es war Jeremys Vater. Mir wurde schummrig.

«Wir wollten es Ihnen mitteilen… er ist aufgewacht.«»Oh…«

«Er wird immer noch künstlich beatmet. Aber sie sagen, daß er über den Berg ist, weil er so lange durchgehalten hat. Es geht ihm immer noch sehr schlecht… aber sie sagen, daß er durchkommen wird. Wir dachten, Sie sollten es wissen.«

«Ich danke Ihnen«, sagte ich.

Die Erlösung war fast noch schwerer zu ertragen als die Furcht. Ich gab Harold den Hörer, sagte ihm, daß es aufwärts gehe mit Jeremy, und ging auf den Hof hinaus, um nach den Pferden zu sehen. An der frischen Luft verschlug es mir fast den Atem. Von Erleichterung überwältigt. Ich stand im Wind, wartete darauf, daß sich der innere Sturm legte, und verspürte nach und nach ein ungeheures Gefühl der Befreiung. Ich war buchstäblich befreit worden. Befreit von einer lebenslänglichen Strafe. Jeremy, du Mistkerl, dachte ich, mir so einen Schrecken einzujagen.

Clare rief an.

«Es geht ihm besser. Er ist aufgewacht«, sagte ich.

«Gott sei Dank.«

«Darf ich dich um einen Gefallen bitten?«sagte ich.»Kann ich mich für ein, zwei Tage bei Samantha einquartieren?«

«Wie in alten Tagen?«

«Bis Samstag.«

Sie verschluckte ein Lachen. Warum nicht, meinte sie, und wann ich denn kommen wolle.

«Heute abend«, sagte ich,»wenn’s geht.«

«Wir erwarten dich zum Abendessen.«

Harold wollte wissen, wann ich meiner Meinung nach wieder einsatzbereit war.

«Ich werde mich in der Unfallklinik in London behandeln lassen«, sagte ich.»Samstag stehe ich wieder zur Verfügung.«

«So siehst du aber gar nicht aus.«

«In vier Tagen bin ich wieder fit.«

«Dann klemm dich mal dahinter.«

Zum Autofahren fühlte ich mich beileibe nicht fit, aber es war immer noch besser, als allein in meinem Haus zu übernachten. Ich packte das Nötigste zusammen, holte

Georges Abfallschachtel aus der Küche und machte mich nach Chiswick auf den Weg, wo man mich trotz meiner Sonnenbrille mit Entsetzen begrüßte. Dunkelblaue Flek-ken, genähte Rißwunden, Dreitagebart. Nicht gerade ein berauschender Anblick.

«Es ist ja schlimmer geworden«, sagte Clare, mich aus der Nähe betrachtend.

«Sieht schlimmer aus, aber fühlt sich besser an. «Ein Glück, daß sie sonst nichts von mir sehen konnte. An meinem ganzen Unterleib zeigten sich die dunkelblauen Spuren der inneren Blutungen. Die Verletzung, die meiner Schätzung nach die Krämpfe verursacht hatte.

Samantha machte sich Sorgen.»Clare hat erzählt, daß jemand Sie verprügelt hat. aber ich hätte nie gedacht.«

«Ich kann gern woanders hingehen«, sagte ich.

«Seien Sie nicht albern. Setzen Sie sich. Das Abendessen ist fertig.«

Sie redeten nicht viel und erwarteten offenbar auch nicht, daß ich es tat. Ich war keine angenehme Gesellschaft. Zu sehr geschwächt. Beim Kaffee fragte ich, ob ich in Swindon anrufen könne.

«Jeremy?«sagte Clare. Ich nickte.

«Ich mach das. Sag mir die Nummer.«

Ich sagte sie ihr, und sie rief an und fragte nach.

«Wird immer noch künstlich beatmet«, sagte sie,»aber es geht weiter bergauf.«

«Wenn Sie müde sind, gehen Sie ins Bett«, sagte Samantha ruhig.

«Na ja.«

Beide kamen mit nach oben. Ich ging automatisch, oh-ne nachzudenken, in das kleine Schlafzimmer neben der Badezimmertür.

Beide lachten.»Wir haben uns gefragt, ob Sie das tun würden«, sagte Samantha.

Clare ging zur Arbeit, und ich döste fast den ganzen Mittwoch in dem schaukelnden Korbsessel in der Küche vor mich hin. Samantha kam und ging, am Vormittag zu ihrem Halbtagsjob, am Nachmittag zum Einkaufen. Ich wartete in überaus friedlicher Stimmung darauf, daß die Energie in meinen Verstand und meine Glieder zurückkehrte, und fand, daß ich Glück hatte, daß mir so ein Tag zur Regeneration vergönnt war.

Am Donnerstag hatte ich zwei lange Behandlungen in der Unfallklinik, Elektrotherapie, Massage und allgemeine Physiotherapie, und vereinbarte zwei weitere Termine für Freitag.

Zwischen den Behandlungen am Donnerstag rief ich bei vier Fotografen und einem Bekannten an, der für eine Fachzeitschrift arbeitete, und fand keinen, der wußte, wie man aus Plastikfolie oder Schreibmaschinenpapier Bilder herausholen konnte. Frag mich was Leichteres, alter Knabe, meinte der Fachjournalist müde.

Als ich nach Chiswick zurückkam, stand die Sonne niedrig am winterlichen Horizont, und Samantha putzte in der Küche die Scheiben der großen Flügeltür.

«Sie sehen immer so schmutzig aus, wenn die Sonne draufscheint«, sagte sie, während sie emsig mit einem Tuch hantierte.»Tut mir leid, wenn’s kalt ist, aber ich brauche nicht mehr lange.«

Ich setzte mich in den Korbstuhl und sah zu, wie sie das flüssige Reinigungsmittel aus einer weißen Plastikflasche spritzte. Sie machte die Flügeltür von außen fertig, kam herein, zog sie hinter sich zu und schloß die Riegel. Die Plastikflasche stand auf dem Tisch neben ihr.

AJAX stand in großen Buchstaben darauf.

Ich starrte stirnrunzelnd auf die Schrift und versuchte, mich zu erinnern, wo ich das Wort Ajax gehört hatte.

Ich erhob mich aus dem schaukelnden Sessel, um die Flasche aus der Nähe zu betrachten. Ajax Fensterreiniger< stand in kleineren, roten Buchstaben auf dem weißen Plastik. Mit Ammoniak. Ich nahm die Flasche in die Hand und schüttelte sie. Flüssig. Ich hielt sie mir unter die Nase und schnupperte daran. Seifig. Süß parfümiert. Nicht ätzend.

«Was ist los?«sagte Samantha.»Was schauen Sie sich da an?«

«Diesen Reiniger.«

«Was ist damit?«

«Warum würde ein Mann seine Frau beauftragen, ihm Ajax zu besorgen?«

«Was für eine Frage«, sagte Samantha.»Keine Ahnung.«

«Sie hatte auch keine Ahnung«, sagte ich.»Sie wußte nicht, warum.«

Samantha nahm mir die Flasche aus der Hand und fuhr mit ihrer Arbeit fort.»Man kann damit jedes Glas reinigen«, sagte sie.»Badezimmerkacheln, Spiegel. Ziemlich nützliches Zeug.«

Ich ging zu dem Korbsessel zurück und schwang mich sachte darin hin und her. Samantha warf mir lächelnd einen Seitenblick zu.

«Vor zwei Tagen haben Sie wie der Tod ausgesehen«, sagte sie.

«Und jetzt?«

«Jetzt würde man sich’s zweimal überlegen, bevor man den Leichenbestatter ruft.«

«Morgen rasiere ich mich«, sagte ich.

«Wer hat Sie verprügelt?«sagte sie beiläufig. Ihr Blick und ihre Aufmerksamkeit galten dem Fenster. Trotzdem war die Frage ernst gemeint. Sie wollte nicht mit einer knappen Antwort abgespeist werden, es ging um ihr persönliches Engagement in der Sache. Sie erwartete eine Art Gegenleistung für die Zuflucht, die sie mir ohne zu fragen gewährt hatte. Wenn ich es ihr nicht erzählte, würde sie mich nicht drängen. Aber wenn ich es ihr nicht erzählte, war unsere Beziehung an ihren Grenzen angelangt.

Was wollte ich in dem Haus, dachte ich, in dem ich mich zunehmend zu Hause fühlte. Ich hatte nie eine Familie gewollt, Menschen, die immer nah waren, Beständigkeit. Ich hatte keine liebevollen Fesseln gewollt. Keine erdrückenden emotionalen Abhängigkeiten. Wenn ich mich also gemütlich einnistete, mich in dem Leben, das in diesem Haus gelebt wurde, verankerte, würde ich dann nicht nach kurzer Zeit den Drang verspüren auszubrechen, mit wild schlagenden Flügeln meine Freiheit zu suchen? Ob man sich je grundlegend ändern konnte?

Samantha las aus meinem Schweigen genau das ab, was ich erwartet hatte, und in ihrem Verhalten war eine leichte Veränderung zu spüren. Sie wurde nicht unfreundlicher, aber die Vertrautheit war dahin. Noch bevor sie mit dem

Fenster fertig war, war ich ihr Gast, nicht ihr… ihr was? Ihr Sohn, Bruder, Neffe… ein Teil von ihr.

Sie schenkte mir ein kurzes oberflächliches Lächeln und setzte Teewasser auf.

Clare kam von der Arbeit zurück, erschöpft, aber fröhlich, und auch sie war voller Erwartung, wenn sie auch keine Fragen stellte.

Das Abendessen war noch nicht halb vorüber, als ich mich dabei ertappte, wie ich ihnen von George Millace erzählte. Letztendlich war es überhaupt keine schwere Entscheidung. Nichts fertig Durchdachtes. Es ergab sich ganz natürlich.

«Es wird euch nicht gefallen«, sagte ich.»Ich habe da weitergemacht, wo George aufgehört hat.«

Sie hörten zu, die Gabeln in der Luft, aßen mit langen Pausen zwischen den einzelnen Bissen bedächtig Erbsen und Lasagne.

«Ihr seht also, es ist noch nicht zu Ende«, sagte ich abschließend.»Es gibt kein Zurück, auch wenn ich mir noch so sehr wünsche, daß ich gar nicht erst begonnen hätte… Ich weiß nicht, ob ich mir das wirklich wünsche… aber ich habe euch gebeten, mich für ein paar Tage aufzunehmen, weil ich mich in meinem Haus nicht sicher fühle, und ich gehe erst wieder auf Dauer dorthin zurück, wenn ich weiß, wer versucht hat, mich zu töten.«

Clare sagte:»Vielleicht erfährst du es nie.«

«Sag doch so was nicht«, sagte Samantha scharf.»Wenn er es nicht herausfindet. «Sie verstummte.

Ich redete für sie weiter:»… werde ich mich nicht schützen können.«

«Vielleicht kann die Polizei…«, sagte Clare.

«Vielleicht.«

Den Rest des Abends verbrachten wir eher in nachdenklicher als in deprimierter Stimmung, und aus Swindon gab es gute Neuigkeiten. Jeremys Lungen erholten sich von der Lähmung. Immer noch am Atemgerät, aber einschneidende Besserung in den letzten vierundzwanzig Stunden. Die nüchterne Stimme, die den Bericht vorlas, klang gelangweilt. Ich fragte, ob ich Jeremy schon selbst sprechen könnte. Man würde nachfragen. Die nüchterne Stimme meldete sich wieder. Nicht auf der Intensivstation. Versuchen Sie es am Sonntag.

Am Freitagmorgen verbrachte ich lange Zeit im Badezimmer, um mir den Bart abzurasieren und die nicht aufgelösten Enden des feinen Fadens abzuschnippeln, den die Schwester auf der Unfallstation zum Nähen benutzt hatte. Sie hatte gute Arbeit geleistet, das mußte ich zugeben. Die Risse waren alle geheilt und würden wahrscheinlich keine Narben hinterlassen. Die Schwellungen waren auch zurückgegangen. Ein paar blaue Flecken, die langsam gelb wurden, waren noch übrig, und die abgebrochenen Zähne. Aber was mir schließlich aus dem Spiegel entgegensah, war eindeutig ein Gesicht und kein Alptraum.

Samantha war erleichtert, daß ich wieder einigermaßen zivilisiert aussah, und bestand darauf, ihren Zahnarzt anzurufen.»Sie brauchen Kronen«, sagte sie.»Und Sie werden Kronen bekommen. «Und am späten Nachmittag bekam ich Kronen. Provisorische, bis Porzellankronen angefertigt werden konnten.

Zwischen den zwei Behandlungen in der Klinik fuhr ich von London Richtung Norden nach Basildon in Essex, wo eine britische Firma Fotopapier herstellte. Ich fuhr hin, statt anzurufen, weil ich dachte, daß es ihnen schwerer fallen würde, mich abzuspeisen, wenn ich leibhaftig vor ihnen stand; und so war es auch.

Im Empfangsbüro sagten sie mir höflich, daß ihnen kein Fotomaterial bekannt sei, das wie Plastikfolie oder Schreibmaschinenpapier aussah. Ob ich das Material dabeihätte?

Nein, hatte ich nicht. Ich wollte nicht, daß es untersucht wurde, falls es lichtempfindlich sei. Könnte ich noch jemand anderen sprechen?

Schwierig, meinten sie.

Ich machte keinerlei Anstalten zu gehen. Vielleicht könnte Mr. Christopher mir weiterhelfen, überlegten sie schließlich, wenn er nicht zu beschäftigt sei.

Mr. Christopher war etwa neunzehn, mit einem asozialen Haarschnitt und einer chronischen Erkältung. Dennoch hörte er aufmerksam zu.

«Ist das Papier oder die Plastikfolie nicht beschichtet?«

«Ich glaube nicht.«

Er zuckte die Achseln.»Dann ist ja alles klar.«

«Was ist klar?«

«Keine Bilder.«

Ich saugte an meinen abgebrochenen Zähnen und stellte ihm eine scheinbar unsinnige Frage:

«Wofür könnte ein Fotograf Ammoniak brauchen?«

«Für nichts. Nicht für Fotos. Ich kenne keinen Entwickler oder Bleicher oder Fixierer, der reines Ammoniak enthält.«»Gibt es hier jemand, der sich in so was auskennen könnte?«fragte ich.

Er warf mir einen mitleidigen Blick zu, der besagte, daß niemand etwas wissen konnte, was er nicht wußte.

«Vielleicht könnten Sie mal fragen«, versuchte ich ihn zu überreden.»Denn wenn es ein Verfahren gibt, bei dem Ammoniak verwendet wird, würden Sie es doch sicher gern wissen.«

«Klar. Ich denke schon.«

Er nickte mir kurz zu und verschwand, und ich wartete eine Viertelstunde und fragte mich, ob er essen gegangen war. Aber er kam mit einem grauhaarigen älteren Mann mit Brille zurück, der nicht gerade begeistert wirkte, aber die gewünschte Information lieferte.

«Ammoniak wird bei fototechnischen Arbeiten in Ingenieurbüros benutzt«, sagte er.»Zur Herstellung von Blaupausen, wie man es im Volksmund nennt. Genaugenommen ist es natürlich ein Diazoverfahren.«

«Könnten Sie mir das bitte erläutern?«sagte ich unterwürfig und voller Dankbarkeit.

«Was ist mit Ihrem Gesicht passiert?«sagte er.

«Hab bei einem Streit den Kürzeren gezogen.«

«Puh.«

«Diazoverfahren«, sagte ich,»was ist das?«

«Sie bekommen eine Zeichnung. eine technische Zeichnung, meine ich. von einem technischen Zeichner. Sagen wir mal von einem Maschinenteil. Eine Zeichnung mit exakten Angaben zur Herstellung. Können Sie mir folgen?«

«Ja.«

«Der Betrieb braucht mehrere Kopien von der Originalzeichnung. Also macht man Blaupausen davon. Oder besser gesagt, eben nicht.«

«Ähm…«

«Bei Blaupausen wird das Papier blau«, belehrte er mich streng,»und die gezeichneten Linien bleiben weiß. Heutzutage ist das Papier weiß und die Linien erscheinen schwarz oder dunkelrot.«

«Erzählen Sie bitte weiter.«

«Von Anfang an?«sagte er.»Die Originalzeichnung, die natürlich auf Transparentpapier ist, wird auf Diazopapier, also Lichtpauspapier, gelegt und mit einer Glasplatte angepreßt. Diazopapier ist auf der Rückseite weiß und auf der Seite, die mit dem ammoniakempfindlichen Farbstoff beschichtet ist, gelb oder grünlich. Die Originalzeichnung wird für eine genau bemessene Zeitspanne mit starkem Karbonbogenlicht durchleuchtet. Dieses Licht bleicht sämtlichen Farbstoff auf dem darunterliegenden Diazopa-pier aus, nur nicht unter den Linien der Originalzeichnung. Das Diazopapier wird dann in heißem Ammoniakdampf entwickelt, und die Farblinien werden sichtbar, werden dunkel. Wollten Sie das wissen?«

«Genau das«, sagte ich voller Ehrfurcht.»Sieht Diaz-opapier wie Schreibmaschinenpapier aus?«

«Das ist möglich, wenn es auf die entsprechende Größe zugeschnitten ist.«

«Und wie sieht es mit einer leer aussehenden Plastikfolie aus?«

«Hört sich nach Diazofilm an«, sagte er ruhig.»Um den zu entwickeln, braucht man keinen heißen Ammoniakdampf. Da kann man mit kalter Flüssigkeit arbeiten. Aber passen Sie auf. Ich habe von Karbonbogenlicht gesprochen, weil man in Ingenieurbüros damit arbeitet, aber eine längere Bestrahlung mit Sonnenlicht oder irgendeiner anderen Lichtquelle hat den gleichen Effekt. Wenn das Stück Film, das Sie da haben, leer aussieht, bedeutet das, daß der gelbe Farbstoff bereits zum größten Teil ausgeblichen ist. Wenn da eine Zeichnung drauf ist, dürfen Sie es nicht noch weiterem Licht aussetzen.«

«Ab wieviel Licht wird’s gefährlich?«sagte ich besorgt.

Er schürzte die Lippen.»Im Sonnenlicht würden Sie alle Spuren des Farbstoffs in dreißig Sekunden auf immer verlieren. Bei normaler Zimmerbeleuchtung… in fünf bis zehn Minuten.«

«Es ist in einem lichtundurchlässigen Umschlag.«

«Dann könnten Sie Glück haben.«

«Und die Papierbögen. die sehen auf beiden Seiten weiß aus.«

«Dasselbe in Grün«, sagte er.»Sie waren Licht ausgesetzt. Vielleicht ist eine Zeichnung drauf, vielleicht nicht.«

«Wie produziere ich heißen Ammoniakdampf, um es herauszubekommen?«

«Ganz einfach«, sagte er, als würde jeder sich mit so etwas auskennen.»Sie gießen etwas Ammoniak in einen Topf und erhitzen ihn. Dann halten Sie das Papier darüber. Es darf nicht naß werden. Nur mit Dampf in Berührung kommen.«

«Möchten Sie vielleicht Champagner zum Mittagessen?«fragte ich zögernd.

Ich kehrte gegen sechs Uhr mit einem billigen Topf und zwei Flaschen Ajax zu Samanthas Haus zurück. Meine Oberlippe war betäubt, und ein paar Muskeln waren durch Drücken, Kneten und Trainieren bis zu einem gewissen Grade wiederbelebt. Außerdem war ich todmüde, kein gutes Vorzeichen für den nächsten Tag, wo ich wieder fit sein mußte, weil laut Harolds telefonischer Benachrichtigung in Sandown Park zwei Pferde meiner Dienste harrten.

Samantha war ausgegangen. Clare, die ihre Arbeit auf dem ganzen Küchentisch ausgebreitet hatte, unterzog mich einer raschen abschätzenden Musterung und schlug einen doppelten Brandy vor.

«Er ist im Schrank neben Salz, Mehl und Gewürzen. Brandy zum Kochen. Schenk mir bitte auch einen ein.«

Ich setzte mich eine Weile zu ihr an den Tisch, nippte hübsch artig an dem widerlichen Zeug und fühlte mich danach erheblich besser. Ihr dunkler Kopf war über das Buch gebeugt, an dem sie arbeitete. Die fähige Hand griff dann und wann nach dem Glas, ihre Gedanken waren ganz bei der Arbeit.

«Würdest du gern mit mir zusammenleben?«sagte ich.

«Hast du gefragt.?«

Sie sah zerstreut auf und runzelte fragend die Stirn.

«Ja, genau das«, sagte ich.»Willst du mit mir zusammenleben?«

Sie wandte endlich die Aufmerksamkeit von ihrer Arbeit ab. Mit einem Lächeln in den Augen sagte sie:»Ist das eine akademische Frage oder ein ernstgemeintes Angebot?«

«Ein Angebot.«

«Ich könnte nicht in Lambourn wohnen«, sagte sie.»Zu weit zum Pendeln. Du könntest nicht hier wohnen. zu weit weg von den Pferden.«

«Irgendwo in der Mitte.«

Sie sah mich fragend an.»Ist das wirklich dein Ernst?«

«Ja.«

«Aber wir haben doch…«, sie stockte, und es war klar, was sie meinte.

«Noch nicht zusammen geschlafen.«

«Na ja.«

«Prinzipiell«, sagte ich.»Was hältst du davon?«

Um Zeit zu gewinnen, nippte sie an ihrem Glas. Ich hatte das Gefühl, eine halbe Ewigkeit zu warten.

«Man sollte es auf einen Versuch ankommen lassen«, sagte sie schließlich.

Ich lächelte zutiefst befriedigt.

«Schau nicht so selbstgefällig drein«, sagte sie.»Trink deinen Brandy, ich mache inzwischen mein Buch fertig.«

Sie senkte wieder den Kopf, kam aber nicht weit mit Lesen.

«Es hat keinen Sinn«, sagte sie.»Wie soll ich hier arbeiten…? Komm, wir machen uns was zu essen.«

Es dauerte eine Ewigkeit, bis wir die gefrorenen Fischfilets fertig hatten, weil ich ihr beim Kochen die Arme um die Taille legte und mein Kinn auf ihrem Haar ruhte. Ich schmeckte nichts von dem Zeug, als wir aßen. Mein Kopf schwebte in den Wolken. Ich hatte tief im Innern nicht zu hoffen gewagt, daß sie ja sagte, und ich hatte schon gar nicht erwartet, daß mich nach ihrer Einwilligung eine so unglaubliche Abenteuerlust packen würde. Jemanden zu lieben, erschien mir nicht länger als Belastung, die man vermeiden mußte, sondern als Privileg.

Erstaunlich, dachte ich benebelt, das Ganze ist erstaunlich. War es das, was Lord White für Dana den Relgan empfunden hatte?

«Wann kommt Samantha zurück?«sagte ich.

Clare schüttelte den Kopf.»Zu früh.«

«Kommst du morgen mit mir mit?«sagte ich.»Zur Rennbahn. und dann bleiben wir irgendwo über Nacht?«

«Ja.«

«Samantha hat nichts dagegen?«

Sie warf mir einen amüsierten Blick zu.»Nein, ich glaube kaum.«

«Warum lachst du?«

«Sie ist ins Kino gegangen. Ich hab sie gefragt, warum sie ausgerechnet an deinem letzten Abend hier gehen wollte. Sie hat gesagt, daß sie den Film unbedingt sehen wollte. Ich fand’s komisch… Sie hat mehr begriffen als ich.«

«Mein Gott«, sagte ich.»Frauen.«

Während sie erneut versuchte, ihre Arbeit zu beenden, holte ich die Abfallschachtel und nahm den schwarzen lichtundurchlässigen Umschlag heraus.

Ich borgte mir ein flaches Glasgefäß aus dem Schrank. Nahm das Stück Plastikfilm aus dem Umschlag, legte es in das Gefäß. Dann goß ich sofort >Ajax flüssig< darüber. Hielt den Atem an.

In Null Komma nichts wurden dunkle braunrote Linien sichtbar. Ich schwenkte das Gefäß, damit sich die Flüs-sigkeit über die gesamte Oberfläche der Plastikfolie verteilte, darauf bedacht, daß aller Farbstoff, der noch übrig war, mit dem Ammoniak in Berührung kam, bevor das Licht ihn wegbleichte.

Es war keine technische Zeichnung, sondern ein handgeschriebener Text.

Es sah sonderbar aus.

Während sich mehr und mehr entwickelte, stellte ich fest, daß die Plastikfolie unter dem Gesichtspunkt der Lesbarkeit verkehrt herum lag.

Ich drehte sie um. Ließ wieder Ajax darüberlaufen, schwenkte das Gefäß hin und her, konnte die hervorgetretenen Wörter so deutlich lesen, als wären sie frisch geschrieben.

Es war das. es mußte das sein. was Dana den Rel-gan auf die Zigarettenhülle geschrieben hatte.

Heroin, Kokain, Cannabis. Mengen, Daten, Preise, Lieferanten. Kein Wunder, daß sie es zurückhaben wollte.

Clare sah von ihrer Arbeit auf.

«Was hast du gefunden?«

«Was diese Dana wollte, die letzten Sonntag aufgekreuzt ist.«

«Zeig mal. «Sie trat zu mir, sah in das Gefäß und las.»Das ist aber verdammt belastend.«

«Mhm.«

«Aber wie ist es so. herausgekommen?«

Ich sagte anerkennend:»Der schlaue George Millace. Er hat sie dazu gebracht, mit rotem Filzstift auf eine Zellophanhülle zu schreiben. Das erschien ihr sicherer, weil eine Zigarettenschachtelhülle so empfindlich ist, so leicht

kaputtgeht. und wahrscheinlich waren die Wörter über der bedruckten Packung schlecht zu sehen. Aber George brauchte nur deutliche Linien auf transparentem Material, damit er eine Lichtpause anfertigen konnte.«

Ich erklärte ihr alles, was ich in Basildon gelernt hatte.»Er muß die Hülle vorsichtig weggeschnitten und sie flach unter ein Glas auf dieses Stück Diazofilm gepreßt haben, und dann hat er das ganze belichtet. Sobald er die Drogenliste sicher reproduziert hatte, war es egal, ob die Hülle kaputtging. und die Liste war versteckt, wie alles andere auch.«

«Er war ein außergewöhnlicher Mann.«

Ich nickte.»Außergewöhnlich. Aber eins steht fest, seine Rätsel waren nicht dazu gedacht, daß irgend jemand anders sich damit herum schlug. Er hat sie zu seinem eigenen Vergnügen gemacht. und um seine Aufzeichnungen vor Diebstahl zu sichern.«

«Was ihm gelungen ist.«

«Zweifellos.«

«Was ist mit deinen ganzen Fotos?«sagte sie plötzlich ganz aufgeregt.»Die in deinem Aktenschrank. Angenommen.«

«Keine Sorge«, sagte ich.»Selbst wenn jemand sie gestohlen hat oder verbrannt, sind immer noch die Negative da. Der Fleischer in meiner Straße hat sie in seinem Gefrierraum.«

«Mir scheint, alle Fotografen haben einen Tick«, sagte sie.

Es dauerte einige Zeit, bis mir klar wurde, daß ich ihrer Klassifizierung nicht widersprochen hatte. Ich hatte nicht einmal gedacht: >Ich bin ein Jockey.<

Ich fragte sie, ob sie was dagegen hätte, wenn ich die Küche mit Ammoniakdämpfen erfüllte.

«Ich gehe mir die Haare waschen«, sagte sie.

Als sie weg war, goß ich das Ajax aus dem Gefäß in den Topf, schüttete den Rest aus der Flasche dazu, und öffnete, während sich die Flüssigkeit erwärmte, die Flügeltüren, um nicht zu ersticken. Dann hielt ich das erste Blatt, das wie Schreibmaschinenpapier aussah, über den kochenden Reiniger und sah Georges Worte hervortreten, als hätte er sie mit Geheimtinte notiert. Ammoniak verflüchtigt sich offensichtlich sehr schnell, denn ich brauchte die ganze zweite Flasche für das zweite Blatt, aber auch darauf zeigten sich Worte, wie auf dem ersten.

Zusammen ergaben sie einen handgeschriebenen Brief, zweifellos in Georges eigener Handschrift. Er mußte selbst auf irgendein transparentes Material geschrieben haben… das konnte alles mögliche gewesen sein, ein Plastikbeutel, Transparentpapier, ein Stück Glas, Film ohne jede Beschichtung. alles. Nachdem er seinen Brief geschrieben hatte, hatte er ihn über Lichtpausenpapier gelegt und Licht darauf fallen lassen, dann hatte er das belichtete Papier sofort in den lichtundurchlässigen Umschlag gesteckt.

Und was dann? Hatte er sein transparentes Original verschickt? Hatte er es noch einmal auf normales Papier geschrieben? Hatte er es getippt? Das blieb im Verborgenen. Aber eins war sicher, auf die eine oder andere Art hatte er seinen Brief abgeschickt.

Die Folgen seiner Ankunft waren mir nicht unbekannt.

Ich konnte mir denken, wer mich töten wollte.

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