Auf den ersten Blick erschien es nicht weiter aufregend.
Auf der Rückseite des Fotos war mit Tesafilm ein Umschlag aus schwefelfreiem Spezialpapier befestigt, wie umsichtige Fachleute es zur längeren Aufbewahrung von entwickelten Filmen benutzten. Im Umschlag war ein Negativ.
Es war das Negativ, von dem der Abzug stammte, aber während der Abzug bis auf ein paar dunkelgraue Stellen fast völlig schwarz war, war das Negativ gestochen scharf, mit vielen Einzelheiten und Glanzlichtern.
Ich hielt Abzug und Negativ nebeneinander.
Mein Puls beschleunigte sich nicht. Ich hatte keinen Verdacht, keine Theorien, nur meine Neugier. Da ich außerdem über die Mittel und Zeit verfügte, ging ich in die Dunkelkammer zurück und machte vier Abzüge im Format zwölf mal zehn, die ich unterschiedlich lang belichtete, von einer bis acht Sekunden.
Nicht einmal der am längsten belichtete Abzug sah genau wie Georges dunkles Foto aus. Also fing ich noch einmal von vorne an, mit der günstigsten Belichtungszeit von sechs Sekunden, und ließ das Foto so lange im Entwickler, bis die scharfen Umrisse zunächst dunkel wurden und dann weitgehend verschwanden, so daß ein grauer Mann übrigblieb, der vor einem schwarzen Hintergrund an einem Tisch saß. Dann nahm ich das Papier aus dem
Entwickler und legte es ins Fixierbad; und ich erhielt einen Abzug, der dem von George fast aufs Haar glich.
Daß man einen Abzug zu lange im Entwickler ließ, war einer der banalsten Fehler, die man machen konnte. Wenn Georges Aufmerksamkeit abgelenkt gewesen wäre und er den Abzug zu lange im Entwickler gelassen hätte, hätte er einfach geflucht und das verdorbene Bild weggeworfen. Warum also hatte er es behalten? Und mit einem Passepartout versehen? Und das gestochen scharfe Negativ auf die Rückseite geklebt?
Erst als ich Licht machte und den besten der vier Abzüge, die ich zuerst gemacht hatte, genauer unter die Lupe nahm, fiel der Groschen. Und ich stand reglos in der Dunkelkammer und wollte nicht wahrhaben, was sich mir da offenbarte.
Mit einer Art Pfiff rührte ich mich schließlich wieder. Ich machte das Licht aus, und als sich meine Augen wieder an das rote Dunkelkammerlicht gewöhnt hatten, machte ich einen weiteren Abzug, viermal so groß und auf kontrastreicherem Papier, um das bestmögliche Ergebnis zu bekommen.
Dann machte ich das Licht wieder an, schob den fertigen Abzug in den Trockner und sah mir an, was herausgekommen war.
Herausgekommen war ein Foto von zwei in ein Gespräch vertieften Personen, die vor Gericht geschworen hatten, daß sie sich nie zuvor begegnet waren.
Jeder Irrtum war ausgeschlossen. Der schemenhafte Mann war jetzt als Cafe-Besucher erkennbar, der irgendwo in Frankreich an einem Tisch vor einem Cafe saß. Es handelte sich um einen Franzosen mit Schnurrbart, der zufällig dort saß, einen Teller und ein Glas vor sich. Das Cafe hatte einen Namen: Le Lapin d’Argent. Man sah Reklamen für Bier und Lotto im Fenster mit den Halbgardinen, und im Eingang stand ein Kellner mit Schürze. Drinnen saß eine Frau an einer Kasse vor einem Spiegel und sah auf die Straße hinaus. Jede Einzelheit war deutlich zu erkennen, mit bemerkenswerter Tiefenschärfe. George Millace wie gewohnt auf der Höhe seiner Kunst.
Zwei Männer saßen an einem Tisch vor dem Cafe, beide mit dem Gesicht zur Kamera, aber die Köpfe einander zugewandt, eindeutig in ein Gespräch vertieft. Jeder hatte ein halbvolles Weinglas vor sich, die Flasche stand auf einer Seite. Außerdem standen da Kaffeetassen und ein Aschenbecher, auf dessen Rand eine halbgerauchte Zigarette balancierte. Alles deutete auf ein längeres Treffen hin.
Die beiden Männer waren in eine Affäre verwickelt gewesen, die die Welt des Pferderennsports vor achtzehn Monaten wie ein Donnerschlag erschüttert hatte.
Elgin Yaxley, der Mann links auf dem Foto, war der Besitzer von fünf teuren Hindernispferden gewesen, die in Lambourn trainiert worden waren. Am Ende der Rennsaison waren alle fünf zu einem Farmer in der Nähe gebracht worden, wo sie in der Sommerpause ein paar Wochen auf die Weide sollten. Und dann waren sie allesamt auf freiem Feld mit einem Gewehr erschossen worden. Terence O’Tree, der Mann rechts auf dem Foto, hatte sie erschossen.
Die Polizei hatte saubere Arbeit geleistet (unterstützt von zwei kleinen Jungen, die in der Dämmerung unter-wegs waren, während ihre Eltern sie im Bett wähnten), O’Tree aufgespürt und vor Gericht gebracht.
Alle fünf Pferde waren hoch versichert gewesen. Die Versicherungsgesellschaft hatte mißtrauisch aufheulend alles Menschenmögliche versucht, um zu beweisen, daß Yaxley selbst O’Tree für die Erschießung angeheuert hatte, aber beide Männer hatten das hartnäckig abgestritten, und man hatte keine Verbindung zwischen ihnen herstellen können.
O’Tree behauptete, er hätte die Pferde einfach erschossen, weil er dazu Lust hatte,»… bißchen Zielschießen üben, Euer Ehren, wie sollt ich wissen, daß das wertvolle Rennpferde sind…«, und bekam neun Monate und die Empfehlung, einen Psychiater aufzusuchen.
Elgin Yaxley, der entrüstet seine Unschuld beteuerte und der Versicherungsgesellschaft drohte, sie wegen Verleumdung zu verklagen, wenn sie nicht umgehend zahlte, hatte die volle Versicherungssumme aus ihr herausgequetscht und war dann von der Rennszene verschwunden. Die Versicherungsgesellschaft hätte George Millace für sein Foto sicher eine ordentliche Summe bezahlt, wenn sie gewußt hätte, daß es existierte. Wahrscheinlich zehn Prozent von dem, was sie Yaxley nicht hätte zahlen müssen. Ich hatte die genauen Zahlen nicht mehr im Kopf, aber ich wußte, daß der gesamte Versicherungswert der Pferde an die hundertfünfzigtausend betragen hatte. Und gerade die Höhe der Prämie hatte die Versicherung einen Betrug wittern lassen. Warum also hatte George keinen Anspruch auf eine Belohnung erhoben… und warum hatte er das Negativ sorgsam versteckt… und warum hatte man dreimal in seinem Haus eingebrochen? Ich hatte George Millace nie besonders gemocht, aber die naheliegende Antwort auf diese Frage bewirkte, daß ich ihn jetzt noch viel weniger leiden konnte.
Am nächsten Tag ging ich zu den Ställen und ritt wie üblich zur Morgenarbeit aus. Harold legte sein normales stürmisches Verhalten an den Tag und übertönte mit lauter Stimme den pfeifenden Novemberwind. Die Stallburschen sahen finster drein und schmollten, wenn der verbale Peitschenschlag sie traf, und ich dachte im stillen, daß es am Wochenende ein oder zwei weniger sein würden. Wenn heutzutage Burschen den Stall wechselten, blieben sie einfach eines Morgens weg und erschienen nie wieder. Sie verdrückten sich einfach zu einem anderen Stall, und ihre alten Arbeitgeber hörten erst wieder von ihnen, wenn die neuen Referenzen haben wollten. Für die meisten der neuen Stallburschengeneration war Kündigung ein Fremdwort. Kündigung gab nur Stunk und Streit, und wer wollte das schon, Mann, wenn man sich problemlos abseilen konnte? Die Stallburschen strömten in den britischen Reitställen ein und aus wie ein nimmer endender rauschender Strom, und wenn einer länger blieb, war das eher die Ausnahme als die Regel.
«Frühstück«, bellte mir Harold irgendwann zu.»Bei uns!«
Ich nickte. Normalerweise ging ich zum Frühstück nach Hause, selbst wenn ich auch die zweite Trainingsrunde ritt, was ich nur an Tagen ohne Rennen tat und auch dann nicht immer. Unter Frühstück verstand Harolds
Frau Pfannen voller Gebratenem, dazu Berge von Toast, mit Großzügigkeit und Wärme an dem großen Küchentisch serviert. Es duftete und mundete stets köstlich, und ich konnte nie widerstehen.
«Noch eine Bratwurst, Philip?«sagte Harolds Frau und tat mir direkt aus der Pfanne üppig auf.»Und ein paar heiße Bratkartoffeln?«
«Du ruinierst ihn, Frau«, sagte Harold, während er nach der Butter griff.
Harolds Frau schenkte mir ihr ganz spezielles Lächeln. Sie war der Meinung, daß ich zu dünn war und daß ich eine Frau brauchte. Das sagte sie mir oft. Ich widersprach ihr stets in beiden Punkten, aber ich fürchte, sie hatte recht.
«Wir haben gestern abend den Wochenplan nicht durchgesprochen«, sagte Harold.
«Stimmt.«
«Da wäre Pamphlet am Mittwoch in Kempton«, sagte er.»Im Zwei-Meilen-Hindernisrennen; und Tishoo und Sharpener am Donnerstag…«
Er redete eine Zeitlang über die Rennen, immerzu heftig mampfend, so daß ich meine Instruktionen zusammen mit den Krümeln aus seinen Mundwinkeln erhielt.
«Verstanden?«sagte er abschließend.
«Ja.«
Es sah ganz so aus, als hätte ich meine fristlose Entlassung nun doch noch nicht bekommen, und ich war erleichtert darüber und dankbar, aber es war dennoch klar, daß der Abgrund nicht weit entfernt war.
Harold warf einen Blick durch die große Küche zu sei-ner Frau hinüber, die Geschirr in den Geschirrspüler räumte, und sagte:»Victor gefällt deine Haltung nicht.«
Ich sagte nichts darauf.
Harold sagte:»Das erste, was man von einem Jockey verlangt, ist Loyalität.«
Das war Blödsinn. Das erste, was man von einem Jok-key verlangte, war, daß man etwas bekam für sein Geld.
«Führer befiehl, wir folgen dir?«sagte ich.
«Besitzer halten nichts von Jockeys, die ihnen moralische Vorhaltungen machen.«
«Dann sollten Besitzer die Öffentlichkeit nicht betrügen.«
«Bist du fertig mit dem Essen?«wollte er wissen.
Ich seufzte bedauernd:»Ja.«
«Dann komm in mein Büro.«
Er ging voran in das rotbraune Zimmer, das von bläulich kühlem Morgenlicht erfüllt war; im Kamin brannte noch kein Feuer.
«Mach die Tür zu«, sagte er.
Ich machte sie zu.
«Du wirst dich entscheiden müssen, Philip«, sagte er. Er stand beim Kamin, einen Fuß auf der Kaminsohle, ein großer Mann in Reitkleidung, der nach Pferden, frischer Luft und Spiegeleiern roch.
Ich wartete unverbindlich.
«Victor möchte möglicherweise ein weiteres Rennen verlieren. Garantiert nicht sofort, das wäre zu auffällig. Aber irgendwann sicher. Er sagt, wenn du es allen Ernstes nicht machen willst, müssen wir uns einen anderen suchen.«
«Nur für die bewußten Rennen?«
«Sei nicht blöd. Du bist doch nicht blöd. Du bist schlauer, als es dir guttut, verdammt nochmal.«
Ich schüttelte den Kopf.»Warum fängt er wieder mit diesen krummen Touren an? Er hat in den letzten drei Jahren eine Menge Geld kassiert, auf die ehrliche Tour.«
Harold zuckte die Achseln.»Weiß ich nicht. Ist ja auch egal. Er hat mir am Samstag bei unsrer Ankunft in San-down erzählt, er hätte Wetten auf sein Pferd angenommen und für mich wäre ein großer Teil vom Gewinn drin. Wir haben das schon früher gemacht. warum nicht wieder? Was ist bloß in dich gefahren, Philip, daß du wegen einem kleinen krummen Ding in Ohnmacht fällst wie eine bescheuerte Jungfrau?«
Ich konnte es ihm nicht sagen. Er setzte seinen Redeschwall ohnehin fort, bevor ich mir eine Antwort überlegt hatte.»Nun überleg doch mal, Junge. Wer hat die besten Pferde im Stall? Victor. Wer kauft gute neue Pferde als Ersatz für die alten? Victor. Wer bezahlt pünktlich seine Trainingsrechnungen, normalerweise für fünf Pferde gleichzeitig? Victor. Wem gehören mehr Pferde in diesem Stall als irgend jemand sonst? Victor. Und auf welchen Besitzer kann ich am wenigsten verzichten? Wo er zudem noch seit mehr als zehn Jahren mit mir zusammenarbeitet und mir einen Großteil der Sieger gestellt hat, die ich früher trainiert habe. Und mir vermutlich die meisten stellt, die ich noch trainieren werde. Was glaubst du also, mit wem steht und fällt mein Geschäft?«
Ich starrte ihn an. Mir war bis dahin wohl nie bewußt gewesen, daß er vielleicht in derselben Lage war wie ich. Tun, was Victor verlangte, oder — aus.
«Ich möchte dich nicht verlieren, Philip«, sagte er.»Du bist ein widerborstiger Scheißkerl, aber wir sind all die Jahre gut klargekommen. Obwohl es nicht ewig so weitergehen kann. Du reitest jetzt… wieviel… zehn Jahre?«
Ich nickte.
«Also noch drei oder vier. Wenn’s hochkommt, fünf. Ziemlich bald wirst du nach einem Sturz nicht mehr so leicht hochkommen wie jetzt. Und einer von der üblen Sorte kann dich jederzeit endgültig außer Gefecht setzen. Also mach dir nichts vor, Philip. Wen brauche ich langfristig mehr? Dich oder Victor?«
Leicht melancholisch gingen wir auf den Hof hinaus, wo Harold ein paar herumtrödelnde Stallburschen anbrüllte, aber nur halbherzig.
«Sag mir Bescheid«, sagte er zu mir gewandt.
«Gut.«
«Ich möchte, daß du bleibst.«
Ich war überrascht, aber auch erfreut.
«Danke«, sagte ich.
Er gab mir einen unbeholfenen Klaps auf die Schulter, eine Geste, in der sich deutlicher als je zuvor eine leise Andeutung von Zuneigung offenbarte. Mehr als alle Drohungen und alles Geschrei der Welt hatte das zur Folge, daß ich ihm seinen Wunsch erfüllen wollte; eine archaische Reaktion, dachte ich flüchtig. Es passierte häufig, daß Freundlichkeit den Geist des Gefangenen brach, nicht Folter. Die eigene Abwehr richtete sich immer trotzig nach außen, um einer Aggression standzuhalten; Freundlichkeit schlich sich hinten herum und stach einen in den Rücken, so daß die eigene Willenskraft sich in Tränen und Dankbarkeit auflöste. Es war viel schwerer, sich gegen Freundlichkeit zu wappnen. Ich hatte nie gedacht, daß ich bei Harold mit diesem Problem konfrontiert werden könnte.
Instinktiv versuchte ich, das Thema zu wechseln, und das naheliegendste war George Millace und sein Foto.
«Hm«, sagte ich, während wir etwas verlegen dastanden.»Erinnerst du dich an die fünf Pferde von Elgin Yaxley, die erschossen wurden?«
«Was?«Er sah verwirrt drein.»Was hat das mit Victor zu tun?«
«Überhaupt nichts«, sagte ich.»Es ist mir nur gestern wieder eingefallen.«
Verärgerung vertrieb sofort die vorübergehend aufgekommenen Gefühle, worüber wir beide erleichtert waren.
«Herrgott nochmal«, sagte er scharf.»Ich meine es ernst. Deine Karriere steht auf dem Spiel. Du kannst verdammt nochmal tun, was dir Spaß macht. Du kannst dich von mir aus zum Teufel scheren. Es ist deine Sache.«
Ich nickte.
Er wandte sich abrupt ab und machte zwei entschlossene Schritte. Dann blieb er stehen, sah sich noch einmal um und sagte:»Wenn du dich so für Elgin Yaxleys Pferde interessierst, frag doch mal Kenny. «Er zeigte auf einen der Burschen, der gerade zwei Eimer am Wasserhahn füllte.»Er hat sich um sie gekümmert.«
Er drehte mir wieder den Rücken zu und schritt energisch davon, mit jedem Schritt Wut und Zorn herausstampfend.
Ich ging unentschlossen zu Kenny hinüber, ohne recht zu wissen, was ich ihn fragen sollte, oder ob ich ihn überhaupt etwas fragen sollte.
Kenny war ein Typ, dessen Abwehrverhalten gerade andersherum funktionierte: unempfänglich für Freundlichkeit, zu erschüttern durch Furcht. Kenny bewegte sich von Natur aus am Rande der Kriminalität, und er war von so überaus verständnisvollen Sozialarbeitern betreut worden, daß er jede freundliche Annäherung mit einem geringschätzigen Achselzucken abtat.
Er sah mir entgegen, mit einem bewußt leeren, an Unverschämtheit grenzenden Gesichtsausdruck — sein üblicher Gesichtsausdruck. Vom Wind gerötete Haut, leicht wässrige Augen, Sommersprossen.
«Mr. Osborne sagt, daß du für Bart Underfield gearbeitet hast«, sagte ich.
«Na und?«
Das Wasser schwappte über den Rand des ersten Eimers. Er bückte sich, um ihn wegzuziehen, und stieß mit dem Fuß den zweiten unter den Wasserhahn.
«Und du hast dich um die Pferde von Elgin Yaxley gekümmert?«
«Na und?«
«Hat’s dir leid getan, als sie erschossen wurden?«
Er zuckte die Achseln.»Kann sein.«
«Was hat Mr. Underfield dazu gesagt?«
«Hä?«Er glotzte mich quadratisch an.»Gar nix hat er gesagt.«
«War er wütend?«
«Hab nix davon gemerkt.«
«Muß er doch wohl«, sagte ich.
Kenny zuckte wieder die Achseln.
«Immerhin hat er fünf Pferde weniger gehabt«, sagte ich.»Und kein Trainer mit einem Stall, der nicht größer ist als seiner, kann sich das leisten.«
«Gesagt hat er nix. «Der zweite Eimer war fast voll, und Kenny drehte den Wasserhahn ab.»Hat ihn wohl nich’ weiter gekratzt, daß er die verloren hat. Bißchen später hat ihm aber irgendwas gestunken.«
«Was denn?«
Kenny sah gelangweilt drein und ergriff die Eimer.»Weiß nich’. Er war total muffelig. Paar von den Besitzern haben es satt gekriegt und sind gegangen.«
«Und du auch«, sagte ich.
«Logisch. «Er lief quer über den Hof, und bei jedem Schritt schwappte das Wasser aus den Eimern. Ich ging neben ihm her, sorgsam darauf bedacht, nicht naß zu werden.»Hat kein’ Sinn, in ’nem Laden zu bleiben, der den Bach runtergeht.«
«Waren Yaxleys Pferde gut in Form, als sie zur Farm gekommen sind?«fragte ich.
«Klar. «Er war etwas erstaunt.»Warum fragen Sie?«
«Einfach so. Jemand hat die Pferde erwähnt — und Mr. Osborne hat gesagt, daß du sie versorgt hast. Hat mich einfach interessiert.«
«Ach so. «Er nickte.»Der Tierarzt war auch beim Prozeß, wissen Sie, und der hat gesagt, daß die Pferde am Tag, bevor sie hops gegangen sind, völlig fit waren. Er war auf der Farm, um eins von ihnen gegen Tetanus zu impfen, und er hat gesagt, er hätte alle untersucht, und sie wären alle o.k. gewesen.«
«Warst du bei der Gerichtsverhandlung?«
«Nein. Hab im Sporting Life was drüber gelesen.«
Er kam bei den Boxen an und stellte die Eimer vor einer Tür ab.»Sonst noch was?«
«Nein. Vielen Dank, Kenny.«
«Ich will Ihnen was sagen…«Er schien fast erstaunt über sein plötzliches Entgegenkommen.
«Was?«
«Dieser Mr. Yaxley«, sagte er.»Eigentlich hätte der ja zufrieden sein können, wo er die ganze Kohle gekriegt hat, auch wenn seine Pferde hops waren, aber der ist eines Tages stinksauer zu Underfields Farm gekommen. Wenn ich mir’s recht überlege, war’s danach, wo Underfield sauer geworden ist. Und Yaxley, der hat sich natürlich aus dem Rennsport verpißt; von dem haben wir nie wieder was gesehen.«
Ich machte mich nachdenklich auf den Heimweg, und als ich zu Hause ankam, klingelte das Telefon.
«Jeremy Folk«, sagte eine vertraute Stimme.
«Nein, nicht schon wieder«, protestierte ich.
«Haben Sie die Berichte gelesen?«
«Ja, habe ich. Und ich werde nicht nach ihr suchen.«
«Nun seien Sie nicht so«, sagte er.
«Nein. «Ich hielt inne.»Um Sie loszuwerden, werde ich Ihnen ein bißchen helfen. Aber suchen müssen Sie.«
«Na ja. «Er seufzte.»Wie sieht die Hilfe aus?«
Ich berichtete ihm meine Schlußfolgerungen über Amandas Alter und schlug ihm vor, sich die Daten der verschiedenen Mietverhältnisse von Pine Woods Lodge von den Maklern zu besorgen.
«Meine Mutter war wahrscheinlich vor dreizehn Jahren dort«, sagte ich.»Und jetzt liegt es nur noch an Ihnen.«
«Aber hören Sie mal…«Er jammerte fast.»Sie können doch jetzt nicht einfach aufhören.«
«Kann ich sehr wohl.«
«Ich komme wieder auf Sie zurück.«
«Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte ich.
Ich fuhr nach Swindon, um den Farbfilm zum Entwickeln ins Labor zu bringen, und unterwegs dachte ich über Tun und Treiben von Bart Underfield nach. Ich kannte ihn so gut, wie man jeden aus der Welt des Pferderennsports kannte, wenn man lange genug in Lambourn lebte. Wir trafen uns hin und wieder in den Geschäften des Ortes, bei anderen Leuten und natürlich bei den Rennen. Wir grüßten uns, wünschten uns Hals- und Beinbruch oder nickten uns flüchtig zu. Ich war nie für ihn geritten, weil er mich nie darum gebeten hatte; und er hatte mich nie darum gebeten, weil er mich, wie ich annahm, nicht mochte.
Er war ein kleiner, geschäftiger, wichtigtuerischer Mann, der sich darin gefiel, Leuten vertraulich mitzuteilen, was andere, erfolgreichere Trainer falsch machten.»Natürlich hätte Walwyn den und den nie für Ascot nominieren dürfen«, sagte er zum Beispiel.»Der hatte die Distanz überhaupt nicht drauf, das konnte doch ein Blinder sehen. «Fremde hielten ihn für einen Kenner. In Lam-bourn hielt man ihn für einen Esel. Und Peter Walwyn war einer der Stars unter den Trainern.
Niemand jedoch hatte ihn für einen solchen Esel gehal-ten, daß er seine fünf besten Pferde an den Schlächter auslieferte. Zweifellos hatten alle Mitleid mit ihm gehabt, besonders da Elgin Yaxley die Versicherungsprämie nicht dazu verwendet hatte, neue, gleichwertige Pferde zu kaufen, sondern sich statt dessen endgültig verabschiedet hatte, wodurch Bart erheblich schlechter dastand als vorher.
Diese Pferde waren zweifellos gut gewesen, überlegte ich mir, und hatten sicher jederzeit mehr eingebracht, als ihre Haltung kostete, und man hätte sie teuer verkaufen können. Sie waren zwar über ihrem Marktwert versichert gewesen, aber so hoch nun auch wieder nicht, wenn man bedachte, welche Preise dem Besitzer entgingen, wenn sie tot waren. Eben die Tatsache, daß ihre Tötung eigentlich keinen besonderen Vorteil brachte, hatte schließlich die mißtrauische Versicherung so verwirrt, daß sie zur Zahlung bereit war.
Das… und keinerlei Hinweis auf eine Verbindung zwischen Elgin Yaxley und Terence O’Tree.
Im Fotolabor in Swindon, wo man mich gut kannte, hieß es, ich hätte Glück, sie seien gerade dabei, einen ganzen Schwung durchlaufen zu lassen, und wenn es mir nichts ausmachte, einige Zeit zu warten, könnte ich meine Negative in ein paar Stunden zurückhaben. Ich kaufte ein paar Kleinigkeiten ein, holte zu gegebener Zeit meine entwickelten Filme ab und fuhr nach Hause.
Am Nachmittag machte ich die Farbabzüge von Mrs. Millace und schickte sie zusammen mit den Schwarzweißfotos an die Polizei, und am Abend kämpfte ich — vergebens — gegen meine Gedanken an, die ständig um Amanda und Victor Briggs und George Millace kreisten.
Bei weitem das Schlimmste war das Ultimatum von Victor Briggs und Harold. Das Jockey-Leben sagte mir in jeder Hinsicht zu, körperlich, geistig, finanziell. Ich hatte den Gedanken, daß ich mir eines schönen Tages etwas anderes suchen mußte, jahrelang verdrängt. Dieser bewußte Tag hatte immer im Nebel der Zukunft gelegen und mir nie brutal ins Gesicht gestarrt.
Von Pferden abgesehen, verstand ich nur noch etwas vom Fotografieren. Aber es wimmelte überall nur so von Fotografen. jeder machte Fotos, jede Familie hatte eine Kamera, die ganze westliche Welt war von Fotografen überschwemmt. und wenn man davon leben wollte, mußte man außergewöhnlich gut sein.
Außerdem war es eine extrem harte Arbeit. Die Fotografen, die ich von der Rennbahn kannte, rannten ständig durch die Gegend, hasteten vom Start zum letzten Hindernis und von dort zum Absattelplatz, bevor die Sieger dort ankamen, und dann zur Bahn zurück zum nächsten Rennen, das ganze mindestens sechsmal pro Nachmittag, fünf oder sechs Tage pro Woche. Ein paar von ihren Fotos schickten sie umgehend an Nachrichtenagenturen, die sie dann vielleicht Zeitungen anboten, ein paar sandten sie an Zeitschriften, und ein paar verscherbelten sie an die Besitzer der Pferde und ein paar an Sponsoren, die Pokale überreichten.
Wenn man ein Rennbahnfotograf war, flogen einem die Bilder nicht zu, man mußte sie suchen. Und wenn man sie hatte, standen die Abnehmer nicht scharenweise vor der Tür, man mußte losziehen und sie verkaufen. Bei Duncan und Charlie hatte das ganz anders ausgesehen, da sie hauptsächlich Stilleben wie Töpfe und Pfannen und Uhren und Gartenmöbel für die Werbung fotografiert hatten.
Es gab nur sehr wenige erfolgreiche Full-time-Foto-grafen, die auf Pferderennen spezialisiert waren. Sicher weniger als zehn. Davon waren vielleicht vier herausragend. Und einer von den vieren war George Millace gewesen.
Wenn ich in ihre Reihen eintreten wollte, würden die andern mich nicht daran hindern, aber helfen würden sie mir auch nicht. Ich wäre ganz auf mich allein gestellt, auf Gedeih und Verderb.
Die Lauferei würde mir nichts ausmachen, dachte ich: es war das Verkaufenmüssen, das mich abschreckte. Selbst wenn ich meine Bilder für gut genug hielt, ich könnte nie die Trommel für sie rühren.
Was blieb mir sonst noch?
Als Trainer konnte ich mich nicht niederlassen. Es fehlte mir an Kapital, und das Trainieren von Rennpferden war nichts für jemanden, der ein Bedürfnis nach Ruhe und Alleinsein hatte. Trainer redeten von morgens bis abends mit Leuten und lebten in ständigem Trubel.
Ich wollte unbedingt selbständig bleiben, mir war instinktiv klar, daß sich das nie ändern würde. Eine regelmäßige Lohntüte sah nach Fesseln aus. Ein unlogisches Gefühl, aber überwältigend. Was immer ich machen würde, ich mußte unabhängig sein.
Ich mußte meine Gewohnheit, nie Entscheidungen zu treffen, ablegen. Mir war klar, daß ich in Jobs landen konnte, die nichts von der enormen Befriedigung des Jok-key-Lebens boten. Bis jetzt hatte ich Glück gehabt, aber wenn das nächste Kapitel mich auch befriedigen sollte, blieb mir nichts anderes übrig, als einmal Entschlossenheit zu zeigen.
Dieser verfluchte Victor Briggs, dachte ich wütend.
Wer Jockeys dazu anstiftete, Rennen zu schmeißen, riskierte einen Verweis, aber selbst wenn ich erreichte, daß Victor Briggs einen Verweis bekam, war Harold der Hauptleidtragende. Und meinen Job wäre ich auf jeden Fall los, weil Harold mich danach kaum behalten würde, selbst wenn wir nicht beide wegen der Rennen, die ich früher geschmissen hatte, unsere Lizenz verloren. Ich konnte Victor Briggs’ Gaunerei nicht beweisen, ohne Harolds und meinen Anteil an der Sache zuzugeben.
Betrug oder Ende der Karriere. Eine krasse Wahl… absolut mörderisch.
Am Dienstag lief alles wie üblich, aber als ich am Mittwoch nach Kempton kam, um Pamphlet zu reiten, herrschte im Waageraum prickelnde Spannung: es gab zwei neue Gerüchte.
Ivor den Relgan war in den Jockey Club aufgenommen worden, und das Haus von Steves Mutter war abgebrannt.