Kapitel 7

Ivor den Relgan war immer noch das Thema, und mehr noch, er war persönlich anwesend.

Ich sah ihn sofort bei meiner Ankunft, da er direkt vor dem Waageraum stand, im Gespräch mit zwei Reportern. Für ihn war ich ein Gesicht unter vielen, aber für mich, wie für jeden, der im Rennsport tätig war, war er so klar zu erkennen wie eine Mohnblume im Kornfeld.

Er trug wie gewöhnlich einen teuren weichen Kamelhaarmantel, zugeknöpft und gegürtet. Er trug keinen Hut, sein graumeliertes Haar war ordentlich gebürstet. Ein stämmiger, etwas streitsüchtig wirkender Mann mit einer Miene, als erwarte er, daß die Leute seine Anwesenheit zur Kenntnis nahmen. Viele Leute sahen es als ein Plus an, in seiner Gunst zu stehen, aber ich fand sein Selbstbewußtsein aus irgendeinem Grunde abstoßend und widerstand instinktiv seiner starken Anziehungskraft.

Ich wäre mehr als glücklich gewesen, wenn ich nicht in sein Blickfeld geraten wäre, aber als ich an dem Grüpp-chen vorbeiging, streckte einer der Reporter die Hand aus und packte mich am Arm.

«Philip«, sagte er,»Sie können uns weiterhelfen. Sie sind doch ständig mit Ihrer Kamera zugange.«

«Weiterhelfen? Inwiefern?«sagte ich halb im Weitergehen.

«Wie fotografiert man ein wildes Pferd?«

«Anpeilen und abdrücken«, sagte ich freundlich.

«Nein, Philip«, sagte er gereizt.»Sie kennen doch Mr. den Relgan?«

Ich neigte leicht den Kopf und sagte:»Vom Sehen.«

«Mr. den Relgan, das ist Philip Nore. Jockey, versteht sich. «Der Reporter gab sich ungewöhnlich unterwürfig. Mir war aufgefallen, daß den Relgan häufig so ein Verhalten hervorrief.»Mr. den Relgan will alle seine Pferde fotografieren lassen, aber eins davon bäumt sich immer auf, wenn es eine Kamera sieht. Wie kann man es dazu bringen, stillzuhalten?«

«Ich kenne einen Fotografen«, sagte ich,»der ein wildes Pferd zum Stillhalten brachte, indem er ein Tonband von einer wilden Hetzjagd abspielte. Das Pferd stand einfach still und lauschte. Die Bilder wurden großartig.«

Den Relgan lächelte hochnäsig, als könnte er es nicht ertragen, gute Ideen zu hören, die nicht von ihm stammten, und ich nickte fast ebenso unterkühlt, setzte meinen Weg in den Waageraum fort und dachte im stillen, daß der Jockey Club verrückt gewesen sein mußte. Die derzeitigen Mitglieder des Jockey Clubs waren zum größten Teil fortschrittliche Leute, die ihre Aufgabe, ein großes Unternehmen gerecht zu leiten, mit den besten Absichten und viel Energie erfüllten. Da sie sich zudem selbst wählten, kamen die Mitglieder de facto fast alle aus dem Adel oder der Oberschicht, aber das Ideal der Pflichterfüllung, das man ihnen anerzogen hatte, wirkte sich außerordentlich günstig auf das Renngeschäft aus. Die alte autokratische Riege, die sich jedem Wandel widersetzt hatte, war ausgestorben, und heutzutage wurden weniger hämische Witze über die verknöcherten Köpfe an der Spitze gerissen. Um so mehr überraschte es, daß sie einen zwielichtigen Typen wie den Relgan in ihre Reihen aufgenommen hatten.

Harold war im Waageraum und redete mit Lord White, was mir einen Stich in der Magengegend versetzte, als stünde ein Polizist neben meinem falsch geparkten Auto. Aber allem Anschein nach erkundigte sich Lord White, der mächtige Steward des Jockey Clubs, nicht nach dem Ergebnis des Sandown Handicap-Hindernisrennens oder nach irgendwelchen anderen begangenen Sünden. Er erzählte Harold, daß ein Sonderpokal für Sharpeners Rennen ausgesetzt sei, und daß, falls er ihn gewinnen sollte, neben dem Besitzer auch Harold und ich erscheinen sollten, um unsere Gaben in Empfang zu nehmen.

«Es war nicht als ein gesponsertes Rennen angekündigt«, sagte Harold überrascht.

«Nein. aber Mr. den Relgan hat sich großzügigerweise zu dieser Geste bereitgefunden. Die Übergabe wird übrigens durch seine Tochter erfolgen. «Er sah mir ins Gesicht.»Nore, nicht wahr?«

«Ja, Sir.«

«Haben Sie alles mitbekommen? Gut. Schön. «Er nickte, drehte sich um und ging, um mit einem anderen Trainer zu sprechen, der ein Pferd im gleichen Rennen laufen hatte.

«Wie viele Pokale man wohl stiften muß, um sich in den Jockey Club einzukaufen?«sagte Harold mit gedämpfter Stimme. Und mit normaler Stimme fügte er hinzu:»Victor ist hier.«

Ich sagte besorgt:»Aber Sharpener wird sein Bestes geben.«

Harold sah belustigt drein.»Aber sicher. Diesmal. Gewinn den Pott, wenn du kannst. Es wäre Victor ein Hochgenuß, den Relgans Pokal zu holen. Sie können einander nicht ausstehen.«

«Ich wußte gar nicht, daß sie sich kennen.«

«Jeder kennt jeden«, sagte Harold achselzuckend.»Ich glaube, sie sind im selben Spielclub. «Sein Interesse erlahmte, er verließ den Waageraum, und ich stand einen Moment planlos herum und sah zu, wie Lord White noch zu einem anderen Trainer ging, um seine Anweisungen loszuwerden.

Lord White war ein gutaussehender, gutgebauter Mann in den Fünfzigern, mit dichtem hellgrauem Haar, das zunehmend die Farbe seines Namens annahm. Er hatte beunruhigend klare blaue Augen und eine Art, die jeden entwaffnete, der sich bei ihm beschweren wollte. Und obwohl er nicht der Senior Steward war, war er der wahre Kopf des Jockey Clubs, dazu geworden nicht durch Wahl, sondern durch seine natürliche Autorität.

Ein aufrechter Mann, allenthalben respektiert, dessen Spitzname >Schneesturm< (der nur hinter seinem Rücken ausgesprochen wurde) wohl nur teilweise aus Bewunderung geprägt worden war. In erster Linie wollte man sich wohl über sein offensichtliches Übermaß an Tugend lustig machen.

Ich ging zum Umkleideraum und zur Tagesordnung über, und war schlechten Gewissens erleichtert, Steve Mil-lace nicht vorzufinden. Keine flehenden Blicke und keine allgemeine Hilflosigkeit, die mich dazu verleiten könnten, auf ein neues irgend etwas zu holen und zu transportieren und die Kranken zu besuchen. Ich legte Tishoos Farben an und dachte nur an das Rennen, in dem er starten sollte. Es war ein Hürdenrennen für den Nachwuchs.

Das Ereignis brachte keine größeren Probleme, aber auch keine Wiederholung der gestrigen Freuden mit sich. Tishoo galoppierte in der Zielgeraden durchaus willig auf den vierten Platz, was seine Besitzerin freute. Und ich trug meinen Sattel zum Zurückwiegen zur Waage und ging dann an meinen Platz im Umkleideraum, um Victor Briggs’ Farben für Sharpener anzulegen. Ein weiteres Stück Tagewerk. Jeder Tag in sich einzigartig, aber im Grunde doch gleich. An die zweitausend Tage war ich in Umkleideräume gegangen, hatte Farben angelegt, das Gewicht prüfen lassen und war Rennen geritten. Zweitausend Tage voller Hoffnung und Anstrengung und Schweiß bei unangemessenem Lohn. Es war mehr als ein Job, es war ein Teil meines Wesens.

Ich zog eine Jacke über Victor Briggs’ Farben, weil vor Sharpeners Rennen noch zwei andere Rennen kamen, und ging für eine Weile hinaus, um zu schauen, was sich allgemein so abspielte. Was sich insbesondere abspielte, war Mrs. White mit einem finsteren Ausdruck auf ihrem schmalen, aristokratischen Gesicht.

Lady White kannte mich nicht direkt, aber ich hatte ihr, zusammen mit den meisten anderen Springreitern, auf zwei Partys, die sie für die Rennwelt gegeben hatte, die Hand geschüttelt, während sie elegant an Lord Whites Seite stand. Die Partys waren große Ereignisse gewesen, zu denen alle Welt eingeladen war, und hatten im Abstand von drei oder vier Jahren während der März-Meetings auf der Rennbahn in Cheltenham stattgefunden. Lord White hatte sie selbst angeregt, bezahlt und veranstaltet, weil er offenbar daran glaubte, daß alle, die am Springreitsport teilhatten, eine große brüderliche Gemeinschaft seien und sich bei solchen Ereignissen begegnen sollten, um sich zu amüsieren. Der Alte Schneesturm von seiner unschätzbar besten Seite. Und ich war, wie alle anderen auch, zu den Partys gegangen und hatte mich amüsiert.

Lady White hatte ihren Nerz um sich geschlungen und stierte fast unter ihrem breitkrempigen Hut hervor. Und zwar so durchdringend, daß ich ihrem Blick folgte und feststellte, daß er auf ihren mustergültigen Ehemann gerichtet war, der mit einem Mädchen sprach.

Lord White redete nicht einfach mit dem Mädchen, er genoß es geradezu und sprühte von den funkelnden Augen bis zu den gestikulierenden Fingerspitzen vor Koketterie. Ich wandte kühl den Blick ab von diesem Bild, das eine uralte Geschichte erzählte, stellte fest, daß Lady Whites Aufmerksamkeit immer noch erbost darauf gerichtet war, und dachte amüsiert: >Du liebe Güte<, wie man es eben so tut. Den reinen weißen Lord erwartete heute abend ein ganz unaristokratischer Anpfiff.

Ivor den Relgan hielt immer noch hof bei einer Horde von Journalisten, unter denen sich zwei Rennsportreporter und drei Klatschkolumnisten von den größeren Tageszeitungen befanden. Ivor den Relgan war eindeutig ein gefundenes Fressen für die Klatschspalten.

Bart Underfield erzählte lauthals einem älteren Ehepaar, daß Osborne eigentlich nicht so dumm sein sollte, Sharpener in einem Drei-Meilen-Rennen laufen zu lassen, wo doch jeder Idiot wüßte, daß das Pferd nicht mehr als zwei schaffte. Das ältliche Ehepaar nickte beeindruckt.

Mir wurde nach und nach bewußt, daß ein Mann, der in meiner Nähe stand, genau wie Lady White konzentriert Lord White und das Mädchen beobachtete. Der Mann in meiner Nähe war eine unauffällige Erscheinung; ein normaler Durchschnittsmensch, nicht mehr ganz jung, aber auch noch nicht sehr alt, mit dunklem schütterem Haar und einer schwarzrandigen Brille. Graue Hosen, olivgrünes Jackett, Wildleder, kein Tweed, gutgeschnitten. Als er bemerkte, daß ich ihn ansah, warf er mir einen raschen Blick zu und entfernte sich; und ich verlor ihn für die nächste Stunde aus dem Gedächtnis.

Victor Briggs war ausnehmend freundlich, als ich vor Sharpeners Rennen zu ihm in den Führring trat, und machte keinerlei Anspielungen auf die Angelegenheit, die zwischen uns stand. Harold hatte sich in einen zuversichtlichen Zustand hineingesteigert und stand da, die langen Beine gespreizt, den Hut zurückgeschoben, in einer Hand das rhythmisch schlenkernde Fernglas.

«Eine Formalität«, sagte er.»Sharpener war nie besser in Form, stimmt’s, Philip? Hast doch ein gutes Gefühl gehabt, draußen in den Downs, oder? Ging ab wie ein D-Zug. «Seine kräftige Stimme trug problemlos bis zu einigen Besitzer-Trainer-Jockey-Grüppchen in der Nähe, die alle unter ihrer Anspannung vor dem Rennen litten und gut ohne Harold ausgekommen wären.

«Springt geradezu aus seiner Haut«, tönte Harold.»Besser als je zuvor. Die andern werden sich die Beine aus dem Hals rennen, was, Victor?«

Das einzig Gute an Harolds Ausbrüchen von übertriebener Zuversicht war, daß sie nie in Bissigkeit und Trübsinn umschlugen, wenn die Realität dann anders aussah. Mißerfolge wurden überschwenglich damit verziehen, daß»das Gewicht ihm natürlich zu schaffen gemacht hat«, und nur selten wurde dem Jockey die Schuld gegeben, selbst wenn sie bei ihm zu suchen war.

Sharpener reagierte ausgesprochen positiv auf Harolds Optimismus und lief, vielleicht auch angespornt durch meine Zuversicht, die noch von den zwei gestrigen Siegen in mir steckte, ein fehlerloses Rennen voller Kraft und Mut, so daß zum dritten Mal bei diesem Meeting der Applaus meinem Pferd galt. Harold schwebte zu diesem Zeitpunkt buchstäblich einen halben Meter über dem Boden, und selbst Victor brachte ein kleines Lächeln über die Lippen.

Ivor den Relgan fand sich mannhaft damit ab, daß sein reichverzierter Pokal an einen Mann ging, den er nicht leiden konnte, und Lord White tänzelte um das Mädchen herum, mit dem er sich unterhalten hatte, und bahnte ihr einen Weg durch die Menge.

Ich ließ mich wiegen, übergab meinen Sattel meinem Burschen, kämmte mir die Haare und begab mich zur Preisverleihung. Die Szene gestaltete sich inzwischen folgendermaßen: Auf einem quadratischen Tisch mit einem blauen Tischtuch stand ein großer silberner Gegenstand zusammen mit zwei kleineren, und um den Tisch herum standen Lord White, das Mädchen, Ivor den Relgan, Victor und Harold.

Lord White erklärte der kleinen Zuschauermenge durch ein Handmikrofon, daß Dana den Relgan die Pokale überreichen werde, die ihr Vater freundlicherweise gestiftet hatte. Und sicher gingen nicht nur mir zynische Vermutungen durch den Kopf. Wollte Lord White den Vater im Jockey Club haben oder die Tochter? Gott bewahre! Lord White mit einer Freundin? Ausgeschlossen.

Bei genauerer Betrachtung war nicht zu übersehen, daß er über ein gesundes Maß hinaus engagiert war. Er berührte sie ständig unter dem Vorwand, jedermann für die Pokalübergabe zurechtstellen zu müssen, und gab sich überaus lebhaft und nicht gesetzt wie sonst. Alles konnte gerade noch als neckisches, onkelhaftes Verhalten durchgehen, aber diskret war es keinesfalls.

Dana den Relgan hatte das Zeug dazu, jeden Mann in Aufregung zu versetzen, auf dessen Annäherungsversuche sie eingehen wollte, und auf Lord White ging sie sehr liebenswürdig ein. Sie war schlank und graziös und nicht sehr groß, hatte üppiges blondmeliertes Haar, das ihr in Locken lässig auf die Schultern fiel. Dazu kamen geschwungene Lippen, sehr weit auseinanderstehende Augen und ein makelloser Teint, und sie hatte den Vorzug, daß ihr Puppenköpfchen nicht ganz hohl war. Sie verhielt sich deutlich zurückhaltender als Lord White, als fände sie seine Aufmerksamkeit zwar nicht unangenehm, aber doch zu eindeutig, und sie übergab die Pokale an Victor und Harold und mich, ohne viel dazu zu sagen.

Zu mir sagte sie nur:»Gut gemacht«, und überreichte mir den kleinen silbernen Gegenstand (der sich als Briefbeschwerer in Sattelform entpuppte) mit dem strahlenden, oberflächlichen Lächeln eines Menschen, der einen nicht wirklich ansieht und nach fünf Minuten schon wieder vergessen hat. Nach dem, was ich hörte, hatte sie denselben modifizierten amerikanischen Akzent wie ihr Vater, aber ohne den herablassenden Ton; für meine Ohren klang er attraktiv. Ein hübsches Mädchen, aber nicht meins. Das Leben wimmelte von ihnen.

Während Victor und Harold und ich unsere Pokale verglichen, erschien der Durchschnittstyp mit der Brille wieder. Er trat ruhig neben Dana den Relgan und sagte ihr leise etwas ins Ohr. Sie wandte sich vom Tisch für die Siegerehrung ab und ging langsam mit ihm davon, wobei sie nickend und leise lächelnd seinen Worten lauschte.

Dieser anscheinend harmlose Vorgang hatte eine außergewöhnliche Wirkung auf den Relgan, der in Nullkommanichts sein albernes, selbstgefälliges Verhalten fallen ließ und in Aktion trat. Er rannte förmlich hinter seiner Tochter her, packte den harmlos aussehenden Mann an der Schulter und riß ihn mit solcher Wut von ihr weg, daß er stolperte und auf die Knie fiel.

«Ich habe Ihnen gesagt, daß Sie die Finger von ihr lassen sollen«, sagte den Relgan, und man sah deutlich, daß er keinerlei Vorbehalte dagegen hatte, jemanden zu treten, der unten war. Und Lord White murmelte >So was< und >Du liebe Güte< und sah unbehaglich drein.

«Wer ist das?«fragte ich niemand bestimmten, und überraschenderweise antwortete Victor Briggs.

«Ein Filmregisseur. Bursche namens Lance Kinship.«

«Und warum die Aufregung?«

Victor Briggs wußte die Antwort, aber er mußte erst mit sich zu Rate gehen, bevor er sie preisgab.»Kokain«, sagte er schließlich.»Weißes Pulver, zieht man sich direkt durch die Nase rein. Sehr in Mode. Die ganzen dummen kleinen Mädchen… ihre Nase fällt zusammen, wenn der Knochen sich auflöst, und was dann?«

Harold und ich sahen ihn erstaunt an. Es war die längste Äußerung, die ich je von ihm gehört hatte, und zudem die einzige, in der er seine Privatmeinung kundtat.

«Lance Kinship beschafft es«, sagte er.»Man lädt ihn wegen seiner Mitbringsel zu Partys ein.«

Lance Kinship war wieder auf den Beinen, klopfte sich den Staub von der Hose, rückte seine Brille zurecht und sah mordlustig drein.

«Wenn ich mit Dana reden will, dann rede ich mit ihr«, sagte er.

«Nicht wenn ich dabei bin. Sie nicht.«

Den Relgans Jockey Club-Manieren waren in Fetzen gegangen, und unter der Tarnung kam deutlich der wahre Kern zum Vorschein. Ein Tyrann, dachte ich, ein übler Feind, selbst wenn er im Recht war.

Lance Kinship schien sich nicht einschüchtern zu lassen.»Kleine Mädchen haben nicht immer ihren Papi dabei«, sagte er giftig, und den Relgan schlug zu, ein harter, kräftiger, wirkungsvoller Schlag auf die Nase.

Nasen bluten schnell, und es floß eine Menge Blut. Lance Kinship versuchte es mit den Händen wegzuwischen und verschmierte es statt dessen übers ganze Gesicht. Es strömte ihm über Mund und Kinn und fiel in großen platschenden Tropfen auf seine olivgrüne Wildlederjacke.

Lord White, der die ganze Angelegenheit abscheulich fand, streckte einen Arm in Richtung Kinship aus und hielt ihm mit spitzen Fingern ein großes weißes Taschentuch hin. Kinship grabschte ohne ein Wort des Dankes danach und tränkte es scharlachrot bei dem Versuch, die Flut einzudämmen.

«Sollte er nicht auf die Erste-Hilfe-Station?«sagte Lord White sich umblickend.»Ähm… Nore«, sagte er und sein Blick hellte sich auf.»Sie wissen ja, wo die Erste-HilfeStation ist. Würden Sie diesen Herrn dorthin bringen? Furchtbar nett von Ihnen. «Er scheuchte mich händewedelnd los, aber als ich meine Hand nach dem olivgrünen Ärmel ausstreckte, um Kinship in Richtung kalte Kompressen und Beistand zu lotsen, zuckte er vor mir zurück.

«Dann bluten Sie eben weiter«, sagte ich.

Unfreundliche Augen funkelten mich hinter dem schwarzen Brillengestell an, aber er konnte nichts sagen, weil er sozusagen zu sehr mit Aufwischen beschäftigt war.

«Ich kann Sie führen«, sagte ich.»Kommen Sie mit, wenn Sie wollen.«

Ich ging los, hinterm Führring vorbei auf eine grüngestrichene Hütte zu, wo mütterliche Damen darauf warteten, die Verletzten zusammenzuflicken, und nicht nur Kinship folgte mir, sondern auch den Relgan. Ich hörte seine Stimme genauso deutlich wie Kinship, und die Botschaft war eindeutig.

«Wenn Sie noch einmal in Danas Nähe kommen, breche ich Ihnen das Genick.«

Kinship antwortete wieder nicht.

Den Relgan sagte:»Haben Sie verstanden, Sie mieser kleiner Zuhälter?«

Wir waren schon so weit weg, daß eine Menge Leute uns vor den Blicken der Gruppe vor dem Waageraum abschirmten. Ich hörte Handgemenge hinter mir, blickte über die Schulter zurück und sah gerade noch, wie Kinship zu einem kräftigen Karateschlag auf den Relgans Weichteile ausholte und mit voller Wucht traf. Kinship drehte sich wieder in meine Richtung und warf mir einen weiteren unfreundlichen Blick über sein immer röter werdendes Taschentuch hinweg zu, das er sich die ganze Zeit unter die Nase gehalten hatte.

Den Relgan gab erstickte Laute von sich und hielt sich den Unterleib. Der ganze Tumult war nicht eben das, was man sich unter dem Abschluß einer würdigen Preisverleihung auf der Rennbahn an einem Donnerstagnachmittag vorstellte.

«Da rein«, sagte ich mit einer knappen Kopfbewegung zu Kinship, und er bedachte mich mit einem letzten Reptilienblick, als die Tür der Erste-Hilfe-Station aufging. Den Relgan machte» Aaah. «und lief halb zusammengekrümmt im Kreis, eine Hand vorne unten unter seinem Kamelhaarmantel fest an sich gepreßt.

Zu schade, daß George Millace das Zeitliche gesegnet hatte, dachte ich. Er hätte das Theater als einziger genossen und wäre im Gegensatz zu allen andern zur Stelle gewesen, um alles mit seinem scharf eingestellten, genau in die richtige Richtung zeigenden Objektiv auf 3,5 Bildern pro Sekunde erbarmungslos festzuhalten. Den Relgan hatte es Georges Whiskys und einem Baum an der falschen Stelle zu verdanken, daß seine handfeste Auseinandersetzung mit Kinship nicht zur Illustration der erbaulichen

Meldung über seine Aufnahme in den Jockey Club in den Tageszeitungen erscheinen würde.

Harold und Victor Briggs waren noch da, wo ich sie zurückgelassen hatte, aber Lord White und Dana den Relgan waren gegangen.

«Seine Lordschaft hat sie fortgebracht, damit sie ihre Nerven beruhigen kann«, sagte Harold trocken.»Der alte Ziegenbock scharwenzelt ja nur so um sie herum, dieser Dummkopf.«

«Sie ist hübsch«, sagte ich.

«Um hübsche Mädchen sind schon Kriege geführt worden«, sagte Victor Briggs.

Ich sah ihn ein weiteres Mal erstaunt an und erhielt den üblichen, steinernen Ausdruck zurück. Victor hatte vielleicht ungeahnte verborgene Tiefen, aber genau das waren sie nach wie vor: verborgen.

Als ich später den Waageraum verließ, um nach Hause zu fahren, wurde ich mit einer Entschuldigung von Jeremy Folk aufgehalten, der dort in seiner ganzen Größe herumlungerte.

«Nicht zu fassen«, sagte ich.

«Ich… ich habe… ähm… Sie gewarnt.«

«Stimmt.«

«Könnte ich Sie… ähm… einen Moment sprechen?«

«Was wollen Sie?«

«Na ja. also.«

«Die Antwort lautet nein«, sagte ich.

«Aber Sie wissen ja gar nicht, was ich fragen will.«

«Es steht fest, daß es etwas ist, was ich nicht tun will.«»Hm«, sagte er.»Ihre Großmutter will, daß Sie sie besuchen.«

«Definitiv nein«, sagte ich.

Es entstand eine Pause. Die Leute um uns herum gingen nach Hause, wünschten sich gute Nacht. Es war vier Uhr. Die Nacht begann früh in der Rennwelt.

«Ich war bei ihr«, sagte Jeremy.»Ich habe ihr gesagt, daß Sie nicht für Geld nach Ihrer Schwester suchen würden. Ich habe ihr gesagt, daß sie Ihnen etwas anderes bieten muß.«

Ich war verblüfft.»Was denn?«

Jeremy blickte aus seiner großen Höhe unbestimmt in die Gegend und sagte:»Sie könnten sie doch finden, wenn Sie es versuchen würden?«

«Glaube ich nicht.«

«Aber es wäre möglich.«

Ich antwortete nicht, und seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich langsam wieder auf mein Gesicht.

«Ihre Großmutter hat zugegeben, daß sie einen Riesenkrach mit Caroline. Ihrer Mutter. hatte. und sie vor die Tür gesetzt hat, als sie schwanger war.«

«Meine Mutter war siebzehn«, sagte ich.

«Hm. Ganz recht. «Er lächelte.»Komisch nicht, sich vorzustellen, daß die eigene Mutter so jung gewesen ist.«

Armer, schutzloser kleiner Schmetterling…»Ja«, sagte ich.

«Ihre Großmutter sagt. hat sich bereit erklärt. Ihnen zu sagen, warum sie Caroline vor die Tür gesetzt hat, wenn Sie nach Amanda suchen. Und außerdem will sie Ihnen sagen, wer Ihr Vater ist.«»Mein Gott!«

Ich machte unwillkürlich zwei Schritte von ihm weg, hielt inne, drehte mich um und starrte ihn an.

«Haben Sie ihr das nahegelegt?«wollte ich wissen.»Sagen Sie ihm, wer sein Vater ist, und er macht, was Sie wollen?«

«Sie wissen nicht, wer Ihr Vater ist«, stellte er zutreffend fest.»Aber Sie wüßten es doch gerne, oder?«

«Nein«, sagte ich.

«Das glaube ich Ihnen nicht.«

Wir starrten uns an.

«Das müssen Sie einfach wissen wollen«, sagte er.»Das ist nur menschlich.«

Ich schluckte.»Hat sie Ihnen gesagt, wer er ist?«

Er schüttelte den Kopf.»Nein. Hat sie nicht. Sie hat es offenbar keinem Menschen erzählt. Keinem einzigen. Wenn Sie sich nicht auf die Suche machen, werden Sie es nie erfahren.«

«Sie sind ein richtiges Schwein, Jeremy«, sagte ich. Er wand sich in einer Verlegenheit, die er überhaupt nicht empfand. Das Leuchten in seinen Augen, das einem Schachspieler beim Mattsetzen gut angestanden hätte, zeigte sehr viel deutlicher, was in ihm vorging.

Ich sagte bitter:»Ich dachte, Anwälte hätten die Aufgabe, hinterm Schreibtisch zu sitzen und sich päpstlich zu gebärden, anstatt durch die Gegend zu sausen und alte Damen zu manipulieren.«

«Diese spezielle alte Dame ist… eine Herausforderung.«

Es kam mir so vor, als hätte er den Satz auf halbem Wege umgeformt, aber ich sagte nur:»Warum hinterläßt sie ihr Geld nicht ihrem Sohn?«

«Das weiß ich nicht. Sie will keine Gründe nennen. Sie hat meinem Großvater schlicht und einfach gesagt, daß sie ihr altes Testament, in dem sie alles ihrem Sohn vermacht hatte, aufheben und ein neues zugunsten von Amanda machen wollte. Der Sohn wird es natürlich anfechten. Wir haben ihr das gesagt, aber es ist ihr gleichgültig. Sie ist… ähm… stur.«

«Kennen Sie ihren Sohn?«

«Nein«, sagte er.»Sie?«

Ich schüttelte den Kopf. Jeremy blickte wieder verschwommen in die Gegend und sagte:»Warum machen wir uns nicht zusammen an die Arbeit? Wir könnten Amanda doch in Nullkommmanichts aufspüren. Dann könnten Sie in Ihr Schneckenhaus zurück und die ganze Sache vergessen, wenn Sie wollen.«

«Man kann. seinen Vater nicht vergessen.«

Sein Blick wurde sofort scharf.»Sie sind also dabei?«

Er würde nicht aufgeben, dachte ich, mit oder ohne meine Hilfe. Er würde mich belästigen, wann immer er wollte, mich bei den Rennen abfangen, wenn er sich die Mühe machte, die Programme in der Zeitung zu studieren, und er würde nie lockerlassen, weil er, wie er mir anfangs gesagt hatte, seinem Großvater und seinem Onkel beweisen wollte, daß eine Sache, die er sich zu erledigen vorgenommen hatte, erledigt wurde.

Und was mich betraf. mußten die Nebel um meine Geburt sich irgendwann lichten. Die Katastrophe, deren Nachhall wie ein am Horizont sich verziehendes Unwetter meine frühesten Erinnerungen durchdrang, könnte endlich erklärt und begriffen werden. Ich könnte erfahren, was das Geschrei hinter der weißgestrichenen Tür zu bedeuten gehabt hatte, damals, als ich in meinen neuen Kleidern in der Eingangshalle wartete.

Möglich, daß ich den Mann, der mich gezeugt hatte, im Endeffekt haßte. Möglich, daß ich entsetzt war. Möglich, daß ich mir wünschte, ich hätte nie etwas über ihn erfahren. Aber Jeremy hatte recht. Wenn man die Chance hatte. mußte man es wissen.

«Also?«sagte er.

«Gut.«

«Wir suchen sie gemeinsam?«

«Ja.«

Er war sichtlich erfreut.»Das ist großartig.«

Ich war mir da nicht so sicher, aber es war abgemacht.

«Können Sie heute abend hingehen?«sagte er.»Ich rufe an und sage ihr, daß Sie kommen. «Er stürzte schlaksig Richtung Telefonzelle, ging hinein und behielt mich während des ganzen Anrufs ängstlich im Auge, um sicherzugehen, daß ich es mir nicht anders überlegte und abhaute.

Der Anruf bereitete ihm allerdings keine Freude.

«Zu dumm«, sagte er, als er wieder zu mir trat.»Ich habe mit einer Schwester gesprochen. Mrs. Nore hatte einen schlechten Tag, und sie haben ihr eine Spritze gegeben. Sie schläft. Keine Besucher. Rufen Sie morgen wieder an.«

Ich war deutlich erleichtert, was ihm nicht entging.

«Für Sie ist das alles schön und gut«, sagte ich.»Aber wie wäre Ihnen zumute, wenn Sie kurz vor der Entdek-kung stünden, daß Ihre Existenz einer schnellen Nummer im Gebüsch mit dem Milchmann zu verdanken ist?«

«Glauben Sie das denn?«»Irgendwas in der Art muß es ja wohl sein, oder?«

«Trotzdem…«, sagte er zweifelnd.

«Trotzdem«, bestätigte ich resigniert,»will man es wissen.«

Ich ging in Richtung Parkplatz, da ich Jeremys Auftrag für abgeschlossen hielt, aber das war er offenbar nicht. Er folgte in meinem Kielwasser, aber so langsam, daß ich mich umsah und wartete.

«Was Mrs. Nores Sohn angeht«, sagte er.»Ihren Sohn James.«

«Was ist mit ihm?«

«Ich dachte nur, Sie könnten ihn besuchen. Finden Sie heraus, warum er enterbt wurde.«

«Sie dachten nur.«

«Wo wir doch zusammenarbeiten«, sagte er hastig.

«Sie könnten selbst hingehen«, schlug ich vor.

«Ähm, nein«, sagte er.»Als Mrs. Nores Anwalt würde ich Fragen stellen, die ich nicht stellen dürfte.«

«Und mir wird dieser Vogel James gerne alle Fragen beantworten.«

Er zog eine Karte aus seinem grauen Jackett.»Ich habe seine Adresse hier«, sagte er und hielt sie mir unter die Nase.»Und Sie haben versprochen, mitzuhelfen.«

«Und versprochen ist versprochen«, sagte ich und nahm die Karte.»Aber Sie sind trotzdem ein Arschloch.«

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