Als ich am nächsten Tag nach Sandown Park zurückkehrte, hatte ich den Brief und das Foto immer noch in der Tasche, aber die Gefühlswallungen, die sie verursacht hatten, waren abgeebbt. Ich konnte ohne kindische Wut an meine Halbschwester denken, und ein weiteres Bruchstück hatte sich in meine Vergangenheit eingefügt.
Aber im Moment beanspruchte die Gegenwart, in Gestalt von Steve Millace, jedermanns Aufmerksamkeit. Er kam eine halbe Stunde vor dem ersten Rennen in die Jok-key-Stube gefegt, das Haar feucht vom Nieselregen und heiligen Zorn in den Augen.
Während alle bei der Beerdigung seines Vaters waren, sei in das Haus seiner Mutter eingebrochen worden, sagte er.
Wir saßen aufgereiht auf den Bänken, halb umgezogen, und hörten ihm entgeistert zu. Ich sah mir die Szene an — Jockeys in allen Stadien der Entkleidung, in Unterhosen, mit nacktem Oberkörper, im Hemd und beim Anziehen der enganliegenden Reithosen und Stiefel, und alle waren schlagartig verstummt und lauschten mit offenen Mündern, die Augen auf Steve gerichtet.
Fast automatisch griff ich nach meiner Nikon, wählte die richtige Einstellung und machte ein paar Aufnahmen, und was ich tat, war allen so vertraut, daß niemand es groß beachtete.
«Es war schrecklich«, sagte Steve,»absolut widerlich. Sie hatte ein paar Kuchen und so was gebacken, meine Mutter, für die Tanten und so, für später, nach der Einäscherung, und die waren überall verteilt, plattgequetscht, Marmelade und so was an die Wände geschmiert und in den Teppich getreten. Und wo man hinsah, die gleiche Sauerei, in der Küche. im Bad. Es hat ausgesehen, als wäre eine Horde verrückter Kinder durchs Haus getobt und hätte es mit aller Kraft verwüstet. Aber es waren keine Kinder. Kinder hätten nicht gestohlen, was alles gestohlen wurde, sagt die Polizei.«
«Deine Mutter hat wohl ’n Haufen Schmuck?«witzelte jemand.
Der eine oder andere lachte, die erste Anspannung hatte sich gelöst, aber alle empfanden echtes Mitleid mit Steve, und er redete weiter davon, erzählte es jedem, der es hören wollte. Und ich hörte zu, nicht nur weil sein Kleiderhaken in Sandown direkt neben meinem war, so daß mir kaum etwas anderes übrig blieb, sondern weil wir uns auf eine alltägliche, oberflächliche Art gut verstanden.
«Sie haben Vaters Dunkelkammer ausgeräumt«, sagte er.»Einfach alles rausgerissen. Und es war sinnlos. ich hab’s der Polizei erzählt. weil sie nicht nur Sachen mitgenommen haben, die man verkaufen kann, wie Vergrößerungsapparat und Entwickler und das Zeug, sondern sein ganzes Werk, die ganzen Bilder, die er in all den Jahren gemacht hat, alle weg. Es ist zum Heulen. Meine Mutter mitten in dem Chaos, und mein Vater tot, und jetzt bleibt ihr nicht mal mehr das, womit er sich sein Leben lang beschäftigt hat. Einfach nichts. Und sie haben ihre
Pelzjacke mitgenommen und sogar das Parfüm, das er ihr zum Geburtstag geschenkt hat und das sie noch gar nicht aufgemacht hatte, und da sitzt sie jetzt und heult.«
Er hielt plötzlich inne und schluckte, als wäre alles zuviel für ihn. Obwohl er nicht mehr zu Hause lebte, war er mit seinen dreiundzwanzig Jahren noch ganz das Kind seiner Eltern und hielt, so schwierig das manchmal war, stets zu ihnen, was die meisten Leute bewunderten. George Millace war zwar allgemein unbeliebt gewesen, aber sein Sohn hatte nie etwas auf ihn kommen lassen.
Steve war schmal gebaut, hatte leuchtende dunkle Augen und gab mit seinen abstehenden Ohren eine leicht komische Figur ab, war von seiner Veranlagung her aber eher verbissen als humorvoll, und neigte dazu, zwanghaft auf allem herumzureiten, was ihn aufregte, selbst wenn er nicht soviel Grund dazu hatte wie heute.
«Die Polizei sagt, Einbrecher machen das aus purer Boshaftigkeit«, sagte Steve,». den Leuten die Häuser versauen und ihre Fotos stehlen. Sie haben Mutter gesagt, das käme ständig vor. Sie meinen, wir könnten froh sein, daß nicht alles vollgepißt und vollgeschissen sei, das passierte nämlich oft, und sie hätte Glück gehabt, daß sie die Sessel und Sofas nicht aufgeschlitzt hätten und die ganzen Möbel verkratzt. «Jedem Neuankömmling berichtete er zwanghaft, was passiert war, aber ich kleidete mich fertig um und ging hinaus zum ersten Rennen, und für den Rest des Nachmittags vergaß ich den Millace-Einbruch mehr oder weniger.
Auf den heutigen Tag freute ich mich seit fast einem Monat, obwohl ich mich dagegen gewehrt hatte. Heute lief Daylight im Sandown Handicap-Hindernisrennen. Ein großes Rennen, ein gutes Pferd, mäßige Gegner und große Gewinnchancen. Mit einer solchen Konstellation hatte ich es äußerst selten zu tun und wußte sie daher zu schätzen, aber ich wagte nie richtig daran zu glauben, bis ich nicht wirklich auf dem Weg zum Zielpfosten war. Man hatte mir mitgeteilt, daß Daylight gesund und munter auf der Rennbahn eingetroffen war, und ich mußte nur noch das erste Rennen, ein Hindernisrennen für Pferde, die gerade erst eingesprungen worden waren, überstehen, und könnte dann, vielleicht, das große HandicapHindernisrennen gewinnen, worauf ein halbes Dutzend Leute sich gegenseitig über den Haufen rennen würde, um mir den Favoriten für den Gold Cup anzubieten.
Ich ritt im Durchschnitt zwei Rennen pro Tag, und wenn ich am Ende der Saison unter den ersten Zwanzig auf der Jockey-Rangliste stand, war ich glücklich. Jahrelang war es mir gelungen mir selbst weiszumachen, daß mein mäßiger Erfolg darauf zurückzuführen war, daß ich größer und schwerer war, als es für meinen Job günstig ist. Obwohl ich ständig halb am Verhungern war wog ich unbekleidet fünfundsechzigeinhalb Kilo und kam folglich nicht an die unzähligen Pferde heran, die mit fünfundsechzig Kilo oder weniger ins Rennen gingen. Fast in jeder Saison ritt ich ungefähr zweihundert Rennen mit etwa vierzig Siegen, und ich wußte, daß ich allgemein als >stark<, >zuverlässig<, >gut am Hindernis< und >nicht erstklassig bei einem langen Finish< galt.
In jungen Jahren glauben die meisten Leute, daß sie in ihrer selbstgewählten Welt einmal ganz an die Spitze ge-langen werden, und daß der Aufstieg nur eine Formalität ist. Ohne diesen Glauben würde man wohl gar nicht erst anfangen. Irgendwo auf der Strecke hebt man dann den Blick zum Gipfel und sieht ein, daß man ihn nie erreichen wird; und Glück bedeutet dann, hinunterzuschauen und die Aussicht zu genießen, die man hat, und nicht die herbeizuwünschen, die man nicht hat. So etwa mit sechsundzwanzig hatte ich mich mit der Aussicht zufriedengegeben, die ich gewonnen hatte, hatte akzeptiert, daß ich nicht weiterkommen würde, und seltsamerweise hatte mich diese Erkenntnis ganz und gar nicht bedrückt, sondern vielmehr erleichtert. Ich war nie extrem ehrgeizig, aber immer bestrebt, mein Bestes zu leisten. Und besser ging es dann eben nicht. Es ging nicht, und damit basta. Trotzdem hätte ich sozusagen nicht direkt was dagegen, wenn man mir Gold Cup-Gewinner aufdrängte.
An diesem Nachmittag in Sandown brachte ich das Hürdenrennen der Frischlinge ereignislos hinter mich (>brauchbar, aber ohne Feuer<) und lief als Fünfter von achtzehn ein. Nicht übel. Eben das Beste, was ich und das Pferd an diesem Tag leisten konnten, wie üblich.
Ich legte die Farben von Daylight an und ging zu gegebener Zeit hinaus in den Führring, ganz erfüllt von der Vorfreude auf das bevorstehende Rennen. Daylights Trainer, für den ich regelmäßig ritt, erwartete mich dort, desgleichen sein Besitzer.
Daylights Besitzer tat mein freundliches» Wunderbar, daß es nicht mehr nieselt «mit einer Handbewegung ab und sagte ohne Einleitung:»Sie werden heute verlieren, Philip.«
Ich lächelte.»Nicht, wenn ich es verhindern kann.«
«Sie werden es verhindern«, sagte er scharf.»Sie verlieren. Mein Geld läuft auf der andern Schiene.«
Vermutlich sah man mir meine Bestürzung und meine Wut deutlich an. Ich hatte so was früher schon gemacht, aber das war etwa drei Jahre her, und er wußte, daß es mir nicht paßte.
Victor Briggs, der Besitzer von Daylight, war ein stämmig gebauter Mann in den Vierzigern, über dessen Job und Herkunft ich so gut wie nichts wußte. Ungesellig und verschlossen, tauchte er mit abweisendem, finsterem Gesicht bei den Rennen auf und wechselte kaum ein Wort mit mir. Er trug stets einen schweren marineblauen Mantel, einen schwarzen breitkrempigen Hut und dicke schwarze Lederhandschuhe. Er war früher ein aggressiver Wetter gewesen, und als sein Reiter war mir nichts anderes übrig geblieben, als zu tun, was er wollte, sonst hätte ich meinen Job bei dem Rennstall verloren. Harold Osborne, der Trainer, hatte mir schon bald, nachdem ich bei ihm angefangen hatte, offen gesagt, daß ich weg vom Fenster war, wenn ich nicht tat, was Victor Briggs wollte.
Ich hatte Rennen für Victor Briggs verloren, die ich hätte gewinnen können. So lief das nun mal. Ich mußte essen und die Hypothek auf meinem Haus abbezahlen. Deshalb brauchte ich einen guten, großen Rennstall, für den ich reiten konnte, und wenn ich den einen, bei dem man mir eine Chance gegeben hatte, verlassen hätte, hätte ich vielleicht keinen anderen gefunden. So groß war die Auswahl auch wieder nicht, und einmal abgesehen von Victor Briggs waren die Bedingungen bei Osborne ganz in Ord-nung. Also hatte ich, wie viele andere Reiter, die in der gleichen Klemme steckten, getan, was man mir befahl, und den Mund gehalten.
Ganz zu Anfang hatte Victor Briggs mir ein ordentliches Sümmchen geboten fürs Verlieren. Ich hatte es nicht angenommen. Ich würde verlieren, wenn ich mußte, aber kassieren würde ich dafür nicht. Er sagte, ich sei ein aufgeblasener junger Idiot, aber als ich sein Angebot zum zweiten Mal ausgeschlagen hatte, behielt er seine Mäuse und seine Meinung über mich für sich.
«Warum nehmen Sie’s nicht an?«hatte Harold Osborne gesagt.»Immerhin verlieren Sie die zehn Prozent, die Sie für einen Sieg bekämen. Mr. Briggs entschädigt Sie dafür, mehr nicht.«
Ich hatte den Kopf geschüttelt, und er hatte nicht insistiert. Ich dachte, daß ich vielleicht wirklich ein Idiot war. Aber irgendwann hatte wohl Samantha oder Chloe oder wer auch immer mir die unwillkommene, unbequeme Einstellung vermittelt, daß man für seine Sünden büßen mußte. Drei Jahre lang oder mehr war ich nicht mehr in der prekären Lage gewesen; um so ärgerlicher war es, jetzt wieder damit konfrontiert zu sein.
«Ich kann nicht verlieren«, protestierte ich.»Daylight ist eindeutig der beste von allen. Mit Abstand. Das wissen Sie ganz genau.«
«Trotzdem tun Sie’s«, sagte Victor Briggs.»Und reden Sie nicht so laut, oder wollen Sie, daß die Stewards Sie hören?«
Ich sah zu Harold Osborne hinüber. Er beobachtete angelegentlich die Pferde, die im Ring herumtrotteten, und tat so, als hörte er nicht, was Victor Briggs sagte.
«Harold«, sagte ich.
Er warf mir einen kurzen, emotionslosen Blick zu.»Victor hat recht. Das Geld läuft auf der anderen Schiene. Du wirst uns ’ne ganze Stange kosten, wenn du gewinnst, also tu’s nicht.«
«Uns?«
Er nickte.»Uns. Genau das. Fall runter, wenn’s sein muß. Mach den zweiten, wenn du willst. Aber nicht den ersten. Kapiert?«
Ich nickte. Ich kapierte. Wieder in der alten Klemme, nach drei Jahren.
Ich ritt Daylight in lockerem Galopp zum Start, und wie früher siegte der Realismus über die Auflehnung. Wenn ich es mir mit dreiundzwanzig nicht leisten konnte, den Job zu verlieren, konnte ich es mit dreißig erst recht nicht. Ich war als Osbornes Jockey bekannt. Sieben Jahre war ich jetzt bei ihm. Wenn er mich rausschmiß, bekäme ich bei anderen Reitställen nur noch Kleinkram, wäre zweite Garnitur neben anderen Jockeys, auf der Einbahnstraße in Richtung Vergessen. Er würde der Presse nicht erzählen, daß er mich gefeuert hatte, weil ich nicht mehr auf Anweisung verlieren wollte. Er würde ihnen erzählen (mit Bedauern natürlich), daß er sich nach jemand Jüngerem umsähe. tun müsse, was im Sinne seiner Besitzer war… schrecklich traurig, aber einmal sei jede JockeyKarriere zu Ende. natürlich tue es ihm leid und so weiter, aber die Zeit bleibe nicht stehen, das wisse doch jeder.
Verdammt noch mal, dachte ich. Ich wollte dieses Rennen nicht verlieren. Ich haßte Betrug. und mit den zehn Prozent würde ich diesmal eine ordentliche Summe verlie-ren, was meine Wut noch schürte. Warum zum Teufel zog Briggs nach so langer Zeit wieder diese Masche ab? Ich hatte gedacht, er hätte damit Schluß gemacht, weil ich es als Jockey bei ihm schon so weit gebracht hatte, daß er mit meiner Weigerung rechnen mußte. Ein Jockey, der auf der Gewinnerliste so weit oben stand, war gegen derartigen Druck gefeit, weil er jederzeit bei einem anderen Rennstall unterkommen konnte, wenn sein eigener so dumm war, ihn zu feuern. Vielleicht dachte Briggs, ich sei über dieses Stadium hinaus, weil ich jetzt älter war und damit wieder in der Gefahrenzone — und er hatte recht.
Wir gingen im Kreis, während der Starter die Namen aufrief, und ich sah mir beunruhigt die andern vier Pferde an, die gegen Daylight antraten. Es war nicht ein gutes darunter. Wenn alles mit rechten Dingen zuging, konnte nichts meinen kraftvollen Wallach am Sieg hindern; und genau aus diesem Grund setzten die Leute jetzt vier Pfund auf Daylight.
Vier zu eins, die Wette läuft…
Weit davon entfernt, sein eigenes Geld bei dieser Quote aufs Spiel zu setzen, hatte Victor Briggs auf irgendwelchen zwielichtigen Wegen Wetten von anderen Leuten angenommen, die er auszuzahlen hatte, wenn sein Pferd gewann. Und Harold offenbar auch, und ihm gegenüber hatte ich gewisse Verpflichtungen, egal, wie mir zumute war.
Nach sieben Jahren beruflicher Zusammenarbeit, die enger war als zwischen Jockey und Trainer üblich, brachte ich ihm zwar keine warme, persönliche Zuneigung, aber doch freundschaftliche Gefühle entgegen. Er konnte ent-setzlich wütend und überaus charmant sein, tief deprimiert und ausgelassen heiter, tyrannisch und großzügig. Mit seiner Stimme überschrie und überfluchte er jeden in den Berkshire Downs, und zartbesaitete Stallburschen verließen reihenweise seinen Stall. Als ich das allererste Mal für ihn ritt, posaunte er seine vernichtende Meinung über meine Reitkünste so lautstark heraus, daß man es von Wantage bis Swindon hören konnte, und kurz darauf öffnete er dann in seinem Haus um zehn Uhr morgens eine Flasche Champagner, und wir tranken auf unsere zukünftige Zusammenarbeit.
Er hatte mir jederzeit vollständig vertraut und mich gegen Kritik verteidigt, was manch ein Trainer nicht getan hätte. Jeder Jockey hat Pechsträhnen, hatte er gepoltert, und mich ohne Unterbrechung durch meine Tiefs hindurch beschäftigt. Für ihn stand außer Frage, daß ich mich ihm und seinem Rennstall hundertprozentig verpflichtet fühlte, und in den letzten drei Jahren war das leicht gewesen.
Der Starter rief die Pferde an die Startlinie, und ich lenkte Daylight herum, bis seine Nase in die richtige Richtung zeigte.
Keine Startboxen. Sie waren bei Hindernisrennen nicht üblich. Statt dessen gab es elastische Startbänder.
Voll kalter wütender Trauer überlegte ich mir, daß das Rennen aus Daylights Sicht möglichst bald nach dem Start zu Ende sein mußte. Tausend Ferngläser waren auf uns gerichtet, Fernsehaugen und Kontrollkameras und sachkundige Reporter beobachteten mich genauestens. Unter diesen Bedingungen war es ohnehin schwer genug zu verlieren, und es war praktisch selbstmörderisch, wenn ich es hinauszögerte, bis klar war, daß Daylight gewinnen würde. Wenn ich in der letzten halben Minute ohne ersichtlichen Grund runterfiel, gäbe es eine Untersuchung, und ich konnte meine Lizenz verlieren; und es wäre kein Trost zu wissen, daß ich es verdient hatte.
Der Starter legte die Hand an den Hebel, die Startbänder schnellten hoch, und ich trieb Daylight an. Keiner von den anderen Jockeys wollte die Pace machen, und folglich schlugen wir eine gemäßigte Gangart ein, was meine Sorgen erhöhte. Da Daylight alle Zeit der Welt hatte, würde er an keinem einzigen Hindernis stolpern. Er war schon immer ein eleganter Springer und stürzte so gut wie nie. Manche Pferde konnten beim Anreiten eines Hindernisses nie in die richtige Position gebracht werden, Daylight war in keine falsche zu bringen. Er akzeptierte nur ganz minimale Anweisungen von seinem Jockey, den Rest erledigte er selbst. Ich hatte ihn schon oft geritten. Hatte sechs Rennen auf ihm gewonnen. Kannte ihn gut.
Das Pferd betrügen. Die Zuschauer betrügen.
Betrügen.
Verdammt noch mal, dachte ich. Verdammt, verdammt, verdammt.
Ich machte es am dritten Hindernis. Dort ging es von der Hügelkuppe abwärts in die scharfe Kurve, weg von den Tribünen. Im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit war es die bestmögliche Stelle, weil sie von den Zuschauermassen am schlechtesten zu übersehen war und man sich dem Hindernis über ein starkes Gefälle näherte — einem Hindernis, das jedes Jahr seine Opfer forderte.
Daylight war verwirrt, weil er die falschen Hilfen von mir bekam, vielleicht auch, weil er auf telepathischem Wege, wie Pferde das an sich haben, etwas von meinem inneren Aufruhr und meiner Wut spürte, und kam leicht aus dem Schritt, bevor er abdrückte, machte einen kleinen ruckartigen Schritt zuviel.
Mein Gott, Junge, dachte ich, tut mir schrecklich leid, aber jetzt gehst du runter, wenn ich dich dazu bringen kann. Ich trieb ihn im falschen Moment an, zerrte mitten im Sprung hart an seiner Gebißstange und verlagerte mein Gewicht nach vorn auf seine Schultern.
Er kam ungünstig auf und stolperte leicht, senkte den Kopf, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Es war nicht hundertprozentig gelungen. aber es mußte reichen. Ich schwang den rechten Fuß aus dem Steigbügel und über seinen Rücken, so daß ich nur noch auf der linken Seite hing, aus dem Sattel, an seinen Hals geklammert.
Es ist so gut wie unmöglich, in dieser Position oben zu bleiben. Ich hing noch etwa drei bockende Schritte an ihm, rutschte dann an seiner Brust hinunter, ließ endgültig los und knallte ins Gras zwischen seinen Beinen. Ein Hagel von Hufschlägen, ein, zwei Purzelbäume, und weg war der Lärm und das Getrappel der galoppierenden Pferde.
Ich saß auf dem ruhigen Boden, schnallte meinen Helm ab und fühlte mich hundsmiserabel.
«Pech«, sagten sie kurz und bündig im Waageraum.»Verdammtes Pech«, und weiter ging’s im Tagesablauf. Ich fragte mich, ob jemand was ahnte. Vermutlich nicht. Nie-mand stieß mich an oder zwinkerte mir zu oder grinste süffisant. Daß ich die Augen fast ständig gesenkt hielt, lag daran, daß ich mich selbst so schämte.
«Kopf hoch«, sagte Steve Millace, während er seine orangeblaue Bluse zuknöpfte.»Ist doch kein Weltuntergang. «Er griff nach seiner Peitsche und seinem Helm.»Das nächste Mal läuft’s besser.«
«Klar.«
Er ging zu seinem Rennen, und ich stieg düster in meine Straßenkleidung. Das war’s dann also, dachte ich: aus und vorbei mit der Aufregung, in der ich hergekommen war. Aus und vorbei mit dem Sieg und dem halben Dutzend fiktiver Trainer, die sich gegenseitig über den Haufen rannten, um mich für den Gold Cup zu verpflichten. Aus und vorbei mit der hübschen Aufbesserung meiner Finanzen, die etwas im argen lagen, nachdem ich mir ein neues Auto gekauft hatte. Depression auf allen Ebenen.
Ich ging hinaus, um mir das Rennen anzusehen.
Steve Millace ritt sein Pferd mit mehr Mut als Verstand in einem die Beine verheddernden Tempo in das letzte Hindernis hinein und ging krachend zu Boden. Ein harter, schneller Sturz, von der Sorte, bei der leicht ein Knochen draufgehen kann, und man sah sofort, daß Steve in Not war. Er kämpfte sich auf die Knie und hockte dann auf seinen Fersen, mit gesenktem Kopf, die Arme um den Körper geschlungen, als würde er sich selbst umarmen. Arm, Schulter, Rippen. irgend etwas war hinüber.
Sein Pferd stand auf und galoppierte unverletzt davon, und ich sah eine Weile zu, wie zwei Sanitäter Steve behutsam in einen Rettungswagen halfen. Auch für ihn ein schlechter Tag, dachte ich, wo er doch schon genug Probleme mit seiner Familie hatte. Was um alles in der Welt trieb uns dazu? Was brachte uns dazu durchzuhalten, allen Kränkungen, Enttäuschungen und Risiken zum Trotz? Was verlockte uns immer wieder zu rasender Geschwindigkeit, wo wir mit einem ruhigen Bürojob genausoviel verdienen konnten?
Ich ging zum Waageraum zurück und spürte, wie sich an den Stellen meines Körpers, die Daylight traktiert hatte, die Blutergüsse verhärteten. Morgen würde ich rot und blau sein, aber das war ganz normal. Die Knüffe und Püffe meines Handwerks hatten mir nie viel ausgemacht, und meine diversen Brüche waren bislang nie so schlimm gewesen, daß ich vor dem nächsten Mal Angst hatte. Normalerweise hatte ich eigentlich das Gefühl, körperlich topfit zu sein, einen kräftigen, geschmeidigen Körper zu besitzen, ein leistungsfähiges, koordiniertes, athletisches Ganzes darzustellen. Nichts Weltbewegendes. Ich fühlte mich einfach so. Gesund.
Desillusion wäre mein Untergang, dachte ich. Wenn der Job es nicht mehr wert war, wenn Leute wie Victor Briggs ihn bis zur Unerträglichkeit vermiesten, dann würde ich aufgeben. Aber noch nicht. Es war noch immer ein Leben nach meinem Geschmack; ein Leben, das ich noch lange nicht aufgeben wollte.
Steve kam in den Umkleideraum, in Stiefeln, Reithose, Unterhemd, Rucksackverband und Armschlinge, den Kopf steif zu einer Seite geneigt.
«Schlüsselbein«, sagte er verärgert.»So ein Mist. «Vor Schmerzen wirkte sein schmales Gesicht ausgemergelt, an den Wangen und um die Augen wie ausgehöhlt, aber sein vorherrschendes Gefühl war eindeutig Wut.
Sein Bursche half ihm beim Umziehen, behutsam, wie es ihn langjährige Erfahrung gelehrt hatte, zog ihm vorsichtig die Stiefel aus, um die Schulter nicht zu erschüttern. Um uns herum drängelten sich die Jockeys, man sang, riß Witze, trank Tee und aß Früchtekuchen, schlüpfte aus dem Dress und zog Hosen an, lachte und fluchte und hatte es eilig. Feierabend, Ende einer Arbeitswoche, Montag ging’s weiter.
«Sag mal, könntest du mich vielleicht nach Hause fahren?«sagte Steve zu mir. Es klang zögerlich, als wäre er sich nicht sicher, ob unsere Freundschaft so weit ging.
«Warum nicht?«sagte ich.
«Zum Haus meiner Mutter? Bei Ascot.«
«O.k.«
«Ich werde jemand organisieren, der morgen mein Auto holt«, sagte er.»Verdammter Mist.«
Ich machte ein Foto von ihm und seinem Burschen, der ihm gerade den zweiten Stiefel auszog.
«Was machen Sie eigentlich mit den ganzen Bildern?«sagte der Bursche.
«In die Schublade legen.«
Er verdrehte die Augen.»Zeitverschwendung.«
Steve warf einen Blick auf die Nikon.»Mein Vater hat mal gesagt, er hätte ein paar Bilder von dir gesehen. Er hat gemeint, du würdest ihn noch mal arbeitslos machen.«
«Er hat sich über mich lustig gemacht.«
«Möglich. Kann sein. Weiß nicht. «Er schob langsam einen Arm in sein Hemd und ließ es sich von dem Burschen über dem anderen Arm zuknöpfen.»Aua«, sagte er zusammenzuckend.
George Millace hatte einige Fotos gesehen, die ich im Auto gehabt hatte. Er hatte mich dabei ertappt, wie ich sie am Ende eines sonnigen Frühlingstages auf dem Parkplatz durchsah, während ich vor der Rennbahn auf einen Freund wartete, den ich mitnehmen wollte.
«Ein richtiger kleiner Cartier Bresson«, hatte George mit einem leichten Lächeln gesagt.»Darf ich mal sehen?«Er hatte den Arm durch das offene Fenster gestreckt und den Stapel genommen, und weil ich mich nicht auf ein Tauziehen einlassen wollte, konnte ich ihn nicht daran hindern.»Schön, schön«, sagte er und sah sie sorgfältig durch.»Pferde in den Downs, aus dem Nebel auftauchend. Romantischer Mist. «Er gab sie zurück.»Nicht nachlassen, Junge. Vielleicht springt ja mal ein Foto dabei raus.«
Er war quer über den Parkplatz davongegangen, die schwere Kameratasche geschultert, an der er von Zeit zu Zeit ruckte, um das Gewicht zu verlagern. Der einzige mir bekannte Fotograf, mit dem ich nicht zurechtkam.
Duncan und Charlie hatten mir in den drei Jahren, die ich bei ihnen verbrachte, geduldig alles beigebracht, was ich lernen konnte. Ich war zwar erst zwölf, als ich bei ihnen abgeladen wurde, aber Charlie hatte gleich zu Anfang gesagt, daß ich den Fußboden wischen und die Dunkelkammer saubermachen könnte, wo ich nun mal da sei, und ich hatte es gern getan. Den Rest hatte ich mir nach und nach von Grund auf angeeignet, bis ich schließlich regelmäßig Duncans Abzüge und die Routinearbeit von Charlie machte.»Unser Laborassistent«, hatte Charlie im-mer gesagt.»Mischt unsere Chemikalien. Kann hervorragend mit der Spritze umgehen. Denk dran, Philip, nur 1,4 Milliliter Benzolalkohol. «Und ich zog dann die winzigen Mengen exakt auf die Spritze auf, gab sie in den Entwickler und hatte das Gefühl, daß ich vielleicht doch zu irgend etwas nütze war auf dieser Welt.
Der Bursche half Steve in die Jacke und gab ihm Uhr und Brieftasche, und wir gingen in Steves behutsamer Gangart zu meinem Auto hinaus.
«Ich habe meiner Mutter versprochen, ihr bei der Beseitigung der Sauerei zu helfen, wenn ich zurückkomme. Fehlanzeige.«
«Sie hat doch bestimmt Nachbarn. «Ich half ihm in den modernen Ford und ging zur Fahrerseite hinüber. Startete in der aufkommenden Dämmerung den Motor, machte die Scheinwerfer an, und los ging’s Richtung Ascot.
«Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, daß mein Vater nicht mehr da ist«, sagte Steve.
«Wie ist es eigentlich passiert?«fragte ich.»Du hast gesagt, daß er gegen einen Baum gefahren ist.«
«Ja. «Er seufzte.»Er ist eingeschlafen. Das nimmt man jedenfalls allgemein an. Kein anderes Auto weit und breit. Da war eine Kurve oder so was, und anstatt sie zu nehmen, ist er einfach gradeaus weitergefahren. Er muß den Fuß auf dem Gas gehabt haben. Das Auto war vorne völlig eingedrückt. «Er schauderte.»Er war auf dem Weg nach Hause, von Doncaster. Meine Mutter hat ihm immer davon abgeraten, nachts auf der Autobahn zu fahren nach einem langen Tag, aber er war gar nicht auf der Autobahn… Er war schon fast zu Hause.«
Er klang müde und deprimiert, was er zweifellos auch war, und mit kurzen Seitenblicken konnte ich feststellen, daß die Erschütterungen des Autos trotz all meiner Vorsicht seiner Schulter weh taten.
«Er hatte für eine halbe Stunde bei einem Freund hereingeschaut«, sagte Steve.»Und sie haben ein paar Whiskys getrunken. Es war alles so dumm. Einfach eingeschlafen.«
Wir fuhren lange Zeit schweigend dahin, er mit seinen Problemen, ich mit meinen.
«Letzten Samstag«, sagte Steve.»Vor einer Woche erst.«
Eben noch am Leben, gleich darauf tot… so ging es jedem.
«Bieg hier links ab«, sagte Steve.
Wir bogen ein paarmal links und rechts und wieder links ab und landeten schließlich in einer Straße, die auf der einen Seite von einer Hecke gesäumt war und auf der anderen von hübschen Einfamilienhäusern in schattigen Gärten.
Auf halber Höhe der Straße war irgend etwas los. Lichter und Leute. Ein Rettungswagen mit offenen Türen und rotierendem Blaulicht. Ein Polizeiauto. Polizisten. Ein ständiges hastiges Kommen und Gehen bei einem Haus. Aus allen Fenstern strömte Licht, alle Vorhänge waren zurückgezogen.
«Mein Gott«, sagte Steve.»Das ist das Haus von Mutter und Vater. «Ich hielt davor an, und er blieb reglos sitzen, geradeaus starrend, wie gelähmt.
«Meine Mutter«, sagte er.»Es ist bestimmt meine Mutter. «Die Stimme versagte ihm fast. Sein Gesicht war von
panischer Angst verzerrt, und im Lichtschein wirkten seine Augen riesengroß und sehr jung.»Bleib hier«, sagte ich sachlich.»Ich schau nach, was los ist.«