Kapitel 19

Harold begrüßte mich recht erleichtert auf der Veranda vor dem Waageraum in Sandown.

«Du siehst ja wieder besser aus. Warst du beim Arzt?«

Ich nickte.»Er hat mich gesund geschrieben. «Er hatte keinen Grund gehabt, es nicht zu tun. Nach seinen Maßstäben verhielt sich ein Jockey, der eine Woche aussetzte, weil er ein paar Tritte abbekommen hatte, übertrieben zimperlich. Er hatte mich aufgefordert, eine Kniebeuge zu machen und mich mit einem Nicken entlassen.

«Victor ist hier«, sagte Harold.

«Hast du ihm gesagt.?«

«Ja. Er hat gesagt, er will nicht auf der Rennbahn mit dir reden. Er sagt, er will sich seine Pferde bei der Arbeit in den Downs ansehen. Er kommt am Montag vorbei. Er will dann mit dir reden. Und Philip, überleg dir verdammt gut, was du sagst.«

«Mhm«, sagte ich unverbindlich.»Wie sieht’s aus mit Coral Key?«

«Wie soll’s aussehen? Er ist gut in Form.«

«Keine krummen Touren?«

«Victor kennt deine Einstellung«, sagte Harold.

«Meine Einstellung ist ihm egal. Läuft das Pferd korrekt?«

«Er hat nichts gesagt.«

«Dann sage ich’s«, sagte ich.»Wenn ich reite, reite ich korrekt. Da kann er im Führring sagen, was er will.«

«Du bist auf einmal verdammt aggressiv.«

«Nein… ich spar dir nur Geld. Dir persönlich. Setz nichts darauf, daß ich verliere, wie bei Daylight. Das ist alles.«

Er meinte, das würde er nicht tun. Er sagte auch, daß unsere Sonntagsbesprechung ausfallen könnte, wenn ich am Montag mit Victor sprach, und daß wir die Pläne für nächste Woche danach besprechen würden. Keiner von uns sprach aus, was uns durch den Kopf ging. daß es nach Montag vielleicht keine Pläne mehr gab.

Steve Millace beschwerte sich im Umkleideraum über einen Starter, der den Start freigegeben hatte, bevor er, Steve, bereit gewesen sei, was ihn so überrumpelt habe, daß die anderen Pferde schon hundert Meter Vorsprung gehabt hätten, bevor er überhaupt weggekommen sei… der Besitzer sei wütend und wolle fürs nächste Mal einen anderen Jockey haben, und Steve ritt endlos darauf herum, ob das vielleicht fair sei.

«Nein«, sagte ich.»Das ganze Leben ist nicht fair.«

«Sollte es aber sein.«

«Das Beste, was du erwarten kannst, ist ein Tritt in die Zähne«, sagte ich lächelnd.»Damit mußt du dich abfinden.«

«Deine Zähne sind aber in Ordnung«, sagte jemand.

«Ich hab Kronen drauf.«

«Schön wieder aufstehen, wenn man auf die Schnauze fällt, was? Willst du das damit sagen?«Ich nickte.

Steve, der diesem Gedankenaustausch nicht folgen konnte, sagte:»Man sollte Starter verwarnen, die den Start freigeben, bevor alle Pferde bereit sind.«

«Reg dich ab«, sagte jemand, aber Steve beschäftigte sich wie üblich noch Stunden später damit.

Als ich mich nach seiner Mutter erkundigte, sagte er, sie sei zur Erholung zu Freunden nach Devon gefahren.

Draußen vor dem Waageraum belehrte Bart Underfield einen leichtgläubigen Zeitungsreporter über ungewöhnliche Nährstoffe.

«Es ist Blödsinn, Pferden Bier und Eier und solche lächerlichen Sachen zu geben. Ich mache das nie.«

Der Reporter vermied es, darauf hinzuweisen — oder er wußte es nicht —, daß Trainer, die auf Eier und Bier schworen, insgesamt erfolgreicher waren als Bart.

Als Bart mich sah, verwandelte sich sein Gesichtsausdruck: aus überheblicher Besserwisserei wurde verbissener Trotz. Er ließ den Reporter stehen und stellte sich mir mit zwei energischen Schritten in den Weg, aber als er mich aufgehalten hatte, sagte er nichts.

«Wollen Sie was von mir, Bart?«sagte ich.

Er sagte immer noch nichts. Vielleicht fand er nicht die kräftigen Worte, die seine Gefühle zum Ausdruck bringen konnten. Ich gewöhnte mich langsam daran, gehaßt zu werden, dachte ich.

Er fand seine Stimme.»Warten Sie nur«, sagte er mit bitterer Ruhe,»ich krieg Sie noch.«

Wenn er einen Dolch gehabt hätte und wir allein gewesen wären, hätte ich ihm nicht den Rücken zugekehrt und mich entfernt, wie ich es jetzt tat.

Lord White war da, mit anderen Stewards in ein ernstes

Gespräch vertieft. Er streifte mich zusammenzuckend mit einem flackernden Blick. Er würde sich in meiner Gegenwart nie wieder wohl fühlen. Nie hundertprozentig sicher sein, daß ich nichts ausplauderte. Sich nie damit anfreunden, daß ich wußte, was ich wußte.

Er würde wohl eine Zeitlang damit leben müssen, dachte ich. So oder so würde die Welt des Pferderennsports stets ebenso meine wie seine Welt sein. Er würde mich sehen und ich ihn, Woche für Woche, bis einer von uns starb.

Victor Briggs wartete im Führring, als ich zum Rennen mit Coral Key herauskam. Eine schwere, grüblerische Gestalt in dem breitkrempigen Hut und dem langen blauen Mantel: ernst, verschlossen, finster. Als ich höflich an meine Kappe tippte, erhielt ich keinerlei Gegenreaktion, nur anhaltendes, ausdrucksloses Starren.

Coral Key war ein Sonderfall unter Victor Briggs’ Pferden ein sechs Jahre alter Neuling auf der Hindernisbahn, aus der Jagdreiterei herausgekauft, als er anfing, bei Geländeritten vielversprechende Leistungen zu zeigen. In der Vergangenheit hatten große Pferde wie Oxo und Ben Nevis einmal so angefangen, beide hatten das Grand National gewonnen, und wenn auch Coral Key diese Spitzenklasse nie erreichen würde, hatte ich doch den Eindruck, daß auch ihm eine vielversprechende Zukunft bevorstand. Ich würde ihm den Anfang seiner Karriere auf keinen Fall verpfuschen, egal was für Anweisungen ich bekam. Ich dachte mir — und brachte das wohl auch durch mein Verhalten zum Ausdruck —, daß sein Besitzer es bloß nicht wagen sollte, mir zu sagen, daß das Pferd nicht gewinnen sollte.

Er sagte es nicht. Er sagte überhaupt nichts. Er beobachtete mich, ohne mit der Wimper zu zucken, und hielt den Mund.

Harold wuselte herum, als könnte allein Bewegung die gespannte Atmosphäre zwischen seinem Besitzer und seinem Jockey lockern. Und ich saß auf und ritt zum Start und hatte dabei das Gefühl, mich in einem stark aufgeladenen elektrischen Feld zu bewegen.

Ein Funke… eine Explosion… stand im Raum. Harold spürte es. Harold war bis in die Tiefen seiner eigenen explosiven Seele beunruhigt.

Es konnte das letzte Rennen werden, das ich für Victor Briggs ritt. Ich stellte mich am Start auf und dachte, daß es nicht gut war, sich solche Gedanken zu machen, daß ich mich einzig und allein auf das bevorstehende Rennen konzentrieren sollte.

Ein kalter, windiger, wolkiger Tag. Gutes Geläuf. Sieben andere Pferde, keines davon Spitzenklasse. Wenn Coral Key so sprang, wie ich ihn zu Hause geschult hatte, hatte er eine gute Chance.

Ich rückte mir die Schutzbrille vor den Augen zurecht und ergriff die Zügel.

«Bereit machen zum Start, Jockeys«, sagte der Starter.

Die Pferde bewegten sich langsam in einer Reihe auf die Bänder zu und beschleunigten, als das Tor aufflog, mit der geballten Kraft der Hinterhand. Dreizehn Hindernisse; zwei Meilen. Es würde sich bald herausstellen, dachte ich kläglich, ob ich doch noch nicht fit war.

Wichtig, ihn dazu zu bringen, daß er gut sprang, dachte ich. Darin lag meine größte Stärke. Es machte mir am meisten Spaß. Sieben Hindernisse folgten dicht hintereinander am anderen Ende der Bahn… Wenn man das erste genau richtig traf, paßten sie alle, ritt man es aber mit gezogener Handbremse an, lief es oft auf sieben verpatzte Sprünge und etliche Längen Rückstand hinaus.

Nach dem Start kamen zwei Hindernisse, dann die Steigung an der Tribüne vorbei, dann der obere Bogen, dann das Hindernis auf dem Gefälle, wo ich von Daylight abgestiegen war. Kein Problem auf Coral Key, er schaffte es spielend. Dann der Bogen zu den sieben tückischen Hindernissen, und wenn ich eine Länge verlor, um Coral Key in die richtige Position für das erste zu bringen, hatte ich nach dem siebten zehn gewonnen.

Noch war nichts entschieden; in dem langen unteren Bogen lag Coral Key auf dem zweiten Platz, legte eine Verschnaufpause ein. Noch drei Hindernisse. und die lange Steigung zum Ziel.

Zwischen den letzten beiden Hindernissen holte ich den Führenden ein. Wir sprangen nebeneinander über das letzte Hindernis, nichts zwischen uns. Jagten die Steigung hinauf, streckten uns, flogen. ich gab mein Bestes.

Das andere Pferd gewann mit zwei Längen.

Harold sagte ein bißchen besorgt:»Er ist gut gelaufen«, und klopfte Coral Key auf dem Absattelplatz den Hals; und Victor Briggs sagte nichts.

Ich zog den Sattel herunter und ging zum Zurückwiegen. Ich sah keine Möglichkeit, wie ich das Rennen hätte gewinnen können. Das andere Pferd war mit meiner Herausforderung fertig geworden. Es war stärker gewesen als Coral Key, und schneller. Ich hatte mich nicht schwach gefühlt. Ich hatte nichts durch Springfehler verschenkt. Ich hatte bloß nicht gewonnen.

Ich hätte für mein Gespräch mit Victor Briggs eine starke Position gebraucht, und ich hatte sie nicht bekommen.

Wenn dir das Leben die Zähne einschlägt, leg dir Kronen zu.

Ich gewann das andere Rennen, das für mich nicht so wichtig war, wohl aber für die Besitzer, ein munteres Quartett von Geschäftsleuten.

«Verdammt gute Leistung«, sagten sie strahlend.»Verdammt gut geritten.«

Ich sah Victor Briggs aus zehn Schritt Entfernung zuschauen, mit starrem, unheilvollem Blick. Ich fragte mich, ob er wußte, wieviel ich darum gegeben hätte, die zwei Ergebnisse umzukehren.

Clare sagte:»Mir scheint, du hast das falsche gewonnen.«

«Tja.«

«Ist das schlimm?«

«Das werde ich am Montag herausfinden.«

«Gut… vergessen wir’s.«

«Das wird nicht schwer sein«, sagte ich. Ich sah auf den adretten dunklen Mantel, die weiße Bommelmütze, die hohen glänzenden Stiefel. Sah die großen grauen Augen und den freundlichen Mund. Unglaublich, dachte ich, daß so jemand vor dem Waageraum auf mich wartete. Was ganz schön anderes, als sich alleine auf den Heimweg zu machen. Wie ein Feuer in einem kalten Haus. Wie Zucker auf Erdbeeren.

«Würde es dir viel ausmachen, wenn wir einen Umweg machen?«sagte ich.»Ich möchte nämlich gerne kurz bei meiner Großmutter vorbeischauen.«

Der alten Frau ging es deutlich schlechter. Sie war nicht mehr aufrecht gebettet, sondern lag kraftlos zurückgesunken in ihren Kissen, und sogar ihre Augen schienen den Kampf aufzugeben und versprühten nichts mehr von der wachen Aggressivität.

«Hast du sie mitgebracht?«sagte sie.

Immer noch keine Begrüßung, keine Einleitung. Es war vielleicht falsch, von dem äußerlichen Wandel auf einen Wandel ihrer inneren Einstellung zu schließen. Vielleicht hatte sich meine Einstellung zu ihr gewandelt. und unverändert waren nur ihre Haßgefühle mir gegenüber geblieben.

«Nein«, sagte ich.»Ich habe sie nicht mitgebracht. Sie ist verschollen.«

«Du hast gesagt, du findest sie.«

«Sie ist verschollen.«

Sie hustete schwächlich, die schmale Brust zuckte. Ihre Augenlider schlossen sich ein paar Sekunden und öffneten sich dann wieder. Eine schwache Hand zupfte an dem Laken.

«Vermach James dein Geld«, sagte ich.

Mit einem schwachen äußerlichen Echo ihrer inneren Sturheit schüttelte sie den Kopf.

«Dann vermach einen Teil einem Wohltätigkeitsverein«, sagte ich.»Vermach es einem Hundeasyl.«

«Ich kann Hunde nicht ausstehen. «Ihre Stimme war schwach. Ihre Überzeugungen nicht.

«Wie wär’s mit der Lebensrettungsgesellschaft für Seeleute?«

«Kann das Meer nicht ausstehen. Werde seekrank.«

«Medizinische Forschung?«

«Hat mir nicht gerade weitergeholfen.«

«Also dann«, sagte ich zögernd,»könntest du es vielleicht einer religiösen Vereinigung hinterlassen.«

«Bist du verrückt? Ich kann Religion nicht ausstehen. Verursacht nur Ärger. Führt zu Kriegen. Keinen Pfennig bekommen die von mir.«

Ich nahm unaufgefordert im Sessel Platz.

«Kann ich irgend etwas für dich tun?«fragte ich.»Außer Amanda finden, natürlich. Soll ich dir irgendwas besorgen? Möchtest du irgend etwas haben?«

Sie ließ ein schwaches Schnauben hören.»Glaub nur nicht, daß du dich bei mir einschmeicheln kannst, damit ich dir Geld vermache, denn das tue ich nicht.«

«Ich würde einer sterbenden Katze Wasser geben, selbst wenn sie mir ins Gesicht spuckt.«

Ihr Mund öffnete sich und erstarrte angesichts dieser Beleidigung.

«Was. fällt dir. ein?«

«Was fällt dir ein, immer noch zu glauben, ich würde für dein Geld auch nur einen Finger krumm machen?«

Die Lippen schlossen sich zu einem dünnen Strich.

«Kann ich dir etwas besorgen?«wiederholte ich ruhig.»Willst du irgend etwas haben?«

Sie antwortete zunächst nicht und sagte dann:»Geh.«

«Ja, gleich«, sagte ich.»Aber ich möchte dir zuerst noch etwas anderes vorschlagen. «Ich wartete kurz, aber da sie nicht sofort widersprach, fuhr ich fort:»Willst du nicht vielleicht einen Treuhänderfonds für Amanda einrichten, für den Fall, daß sie doch noch gefunden wird? Leg das Kapital fest, und setz massenhaft gute Treuhänder ein. Regle es so, daß sie selbst nicht an das Geld herankann. und auch kein anderer, der… vielleicht… hinter ihrem Geld her ist. Regle es so, daß niemand außer Amanda davon profitieren kann. durch ein Einkommen, das nur auf Anordnung der Treuhänder ausgezahlt wird.«

Sie beobachtete mich mit halb gesenkten Augenlidern.

«Wo immer sie auch sein mag«, sagte ich,»fest steht, daß Amanda nicht älter als siebzehn oder achtzehn ist. Zu jung, um ohne Absicherung eine Menge Geld zu erben. Hinterlaß es ihr. mit einer eisernen Absicherung.«

«Ist das alles?«

«Mhm.«

Sie lag ruhig und unbeweglich da.

Ich wartete. Ich hatte mein ganzes Leben darauf gewartet, daß meine Großmutter mir etwas anderes als Bosheit entgegenbrachte. Ich konnte ewig warten.

«Geh jetzt«, sagte sie.

Ich stand auf und sagte:»Wie du willst.«

Ging zur Tür und legte die Hand auf die Klinke.

«Schick mir ein paar Rosen«, sagte meine Großmutter.

Wir fanden in der Stadt einen Blumenladen, der noch offen hatte, wenn sie auch schon am Saubermachen waren, weil sie zumachen wollten.

«Ist ihr denn nicht klar, daß wir Dezember haben?«sagte Clare.»Rosen kosten zur Zeit ein Vermögen.«

«Glaubst du, du würdest dir darüber Gedanken machen, wenn du im Sterben lägst und gern Rosen hättest?«

«Vielleicht nicht.«

Alles, was wir in dem Blumenladen bekommen konnten, waren fünfzehn sehr kleine rosa Knospen auf sehr langen, dünnen Stengeln. Rosen seien im Moment nicht sehr gefragt. Diese seien von einer Hochzeit übriggeblieben.

Wir fuhren zum Pflegeheim zurück und übergaben sie einer Schwester, mit der Bitte, sie sofort zu übergeben, zusammen mit einer Karte, auf der stand, daß ich nächste Woche schönere besorgen würde.

«Sie hat es nicht verdient«, sagte Clare.

«Arme alte Frau.«

Wir übernachteten in einem Gasthaus an der Themse, mit alten Balken, gutem Essen und Zimmerfenstern, die auf kahle Weiden und träges braunes Wasser hinausgingen.

Niemand kannte uns. Wir trugen uns als Mr. und Mrs. ein, aßen ausgedehnt zu Abend und zogen uns unauffällig auf unser Zimmer zurück. Es sei nicht das erste Mal für sie, sagte sie, ob es mir etwas ausmache? Ich sagte, es sei mir sogar lieber. Keine Vorliebe für Jungfrauen? Überhaupt keine Ticks, soweit ich wüßte. Gut, meinte sie.

Es begann freundschaftlich und wurde immer leidenschaftlicher. Endete in Atemlosigkeit und Gelächter, ebbte ab in Gemurmel und Schlaf. So schön hatte ich es noch nie erlebt. Wie es für sie war, konnte ich nicht sagen. Aber sie hatte nichts gegen eine Wiederholung am Morgen.

Am Nachmittag besuchten wir in friedlichem Einklang Jeremy.

Er lag in einem Einzelzimmer auf einem hohen Bett, eine gewaltige Ausrüstung zur künstlichen Beatmung neben sich. Aber er atmete aus eigenen Kräften, mit seinen eigenen Lungen. Eine Vorsorgemaßnahme, schätzte ich, da während unseres Besuches alle zehn Minuten eine Schwester hereinkam, um sich zu vergewissern, daß der Klingelknopf auch die ganze Zeit unter seinem Finger war.

Er wirkte noch magerer als sonst und blaßgrau, aber sein Verstand hatte nicht gelitten. Die Augen blickten so intelligent wie eh und je, und die Trottelmasche wurde heftig bemüht zur Überspielung seiner unwürdigen Lage. Bei jedem Kontrollgang mußte die Schwester eine Ladung ermüdendes Geschwafel über sich ergehen lassen.

Ich versuchte, mich für das, was er durchgemacht hatte, zu entschuldigen. Er wollte nichts davon hören.

«Vergessen Sie nicht, daß ich aus freien Stücken da war«, sagte er.»Niemand hat mich dazu genötigt. «Er sah mich prüfend von oben bis unten an.»Ihr Gesicht sieht gut aus. Wieso heilt das bei Ihnen so schnell?«

«Das tut’s immer.«

«Immer…«Er lachte kurz auf.»Komisches Leben führen Sie. Ständig am Heilen.«

«Wie lange müssen Sie noch hier bleiben?«

«Drei oder vier Tage.«

«Länger nicht?«sagte Clare überrascht.»Sie sehen. ähm…«

Er sah weißer aus als das Kissen, auf dem sein Kopf lag. Aber er nickte und sagte:»Ich kann viel besser atmen. Wenn keine Gefahr mehr besteht, daß die Nerven noch einmal versagen, kann ich gehen. Sonst ist alles in Ordnung.«»Ich fahre Sie nach Hause, wenn Sie einen Fahrer brauchen«, sagte ich.

«Ich komme darauf zurück.«

Wir blieben nicht lange, weil das Reden ihn sichtlich ermüdete, aber kurz bevor wir gingen, sagte er:»Dieses Gas hat unheimlich schnell gewirkt. Nicht so langsam wie das Gas beim Zahnarzt. Mir blieb keine Zeit zu reagieren. als hätte ich eine Backsteinmauer eingeatmet.«

In die kurze nachdenkliche Stille hinein sagte Clare:»Keiner hätte das überlebt, wenn er allein gewesen wäre.«

«Woraus man schließen kann. «, sagte Jeremy fröhlich.

Als wir zum Gasthaus zurückfuhren, sagte Clare:»Du hast ihm nicht von Amanda erzählt.«

«Das hat Zeit.«

«Er ist am Sonntag vorbeigekommen, weil er die Nachricht bekommen hatte, daß du sie gefunden hast. Er hat’s mir erzählt. Er hat gesagt, daß dein Telefon nicht in Ordnung war und er deshalb gekommen ist.«

«Ich hatte den Stecker rausgezogen.«

«Sonderbar, wie das Leben so spielt.«

«Mhm.«

Unsere zweite Nacht war eine Bekräftigung der ersten. Ziemlich ähnlich und doch neu und anders. Prickelnd, wild, sanft, intensiv, turbulent. Und es schien ihr genauso zu gefallen wie mir.

«Wo bleibt der Katzenjammer, den man angeblich kriegt?«sagte sie spät in der Nacht.»Die post. wie heißt das doch gleich?«

«Der kommt am Morgen, wenn du fährst.«

«Das ist noch Stunden hin.«

«Genau.«

Der Morgen kam wie immer. Ich fuhr sie zum Bahnhof, damit sie einen Zug nehmen konnte, und machte mich selbst nach Lambourn auf. Als ich dort ankam, schaute ich, bevor ich zu Harold ging, erst einmal bei meinem Haus vorbei. Alles schien ruhig. Alles kalt. Alles seltsam fremd, als ob mein Zuhause nicht mehr die natürliche Zufluchtstätte war, die es sein sollte. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie kahl es war, sah ich die emotionale Kälte, die Jeremy bei seinem ersten Besuch sofort aufgefallen war. Es schien nicht mehr zu mir zu passen. Der Mensch, der dieses Zuhause geschaffen hatte, war am Verschwinden, entfernte sich in die Vergangenheit. Ich empfand eine seltsame Nostalgie. aber er ließ sich nicht zurückrufen. Der Reifungsprozeß war schon zu weit fortgeschritten.

Leicht fröstelnd breitete ich verschiedene Fotos von verschiedenen Leuten auf dem Küchentisch aus und bat dann meine Nachbarin, hereinzukommen und sie sich anzusehen.

«Nach was soll ich suchen, Mr. Nore?«

«Nach jemand, den Sie kennen.«

Gehorsam sah sie sich ein Bild nach dem anderen an und hielt ohne zu zögern bei einem Gesicht inne.

«Wie sonderbar!«rief sie aus.»Das ist der Mann, der wegen der Steuer hier war. Der, den ich hier reingelassen hab. Die Polizei war ziemlich sarkastisch deswegen, aber ich hab denen gesagt, daß man wirklich nicht damit rechnet, daß jemand sagt, er ist der Steuerbeamte, wenn er gar keiner ist.«»Sie sind sicher, daß das der Mann ist?«

«Ganz sicher«, sagte sie nickend.»Er hatte genau denselben Hut auf und alles.«

«Schreiben Sie das dann bitte hinten auf das Foto drauf, Mrs. Jackson?«Ich gab ihr einen schwarzen Filzstift, mit dem man gut auf das Fotopapier schreiben konnte, und diktierte ihr den Text, der besagte, daß dieser Mann, am Freitag, den siebenundzwanzigsten November, beim Haus von Philip Nore aufgetaucht war und sich als Steuerbeamter ausgegeben hatte.

«Ist das alles?«fragte sie.

«Noch Ihre Unterschrift, Mrs. Jackson. Und würden Sie bitte die ganze Aussage auch auf die Rückseite dieses Fotos hier schreiben?«

Sie schrieb konzentriert.»Geben Sie die der Polizei?«sagte sie.»Ich will eigentlich nicht mehr von denen belästigt werden. Kommen die nochmal mit ihren Fragen?«

«Ich glaube kaum«, sagte ich.

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