Kapitel 14

Am Dienstagmorgen hob ich viermal den Telefonhörer ab, um meine Verabredung mit Lord White abzusagen. Einmal kam ich so weit, daß ich das Klingeln am andern Ende der Leitung hörte.

Viermal legte ich den Hörer auf und beschloß, daß ich gehen mußte. Ich hätte mich gern mit größerer Gewißheit, richtig zu handeln, auf den Weg gemacht, aber ich ging trotzdem.

Lord Whites Haus in Gloucestershire erwies sich als verwitterter Steinklotz, dem es keineswegs an Grandeur, aber sehr wohl an Gärtnern mangelte. Edle Fenster hoben ihre geschwungenen Brauen über liegengebliebenem Laub. Ein gelbbraunes Stoppelfeld stellte den Rasen dar. Eine Matte aus abgestorbenem Unkraut hielt den Kies zusammen. Ich klingelte an der Eingangstür und machte mir Gedanken über die Wirtschaftslage des Hochadels.

Der dritte Baron White empfing mich in einem kleinen Wohnzimmer, von dem man einen Blick auf verwilderte Rosenbüsche und eine nicht gestutzte Hecke hatte. Die Einrichtung war von ehrwürdigem Alter, abgestaubt und glänzend. Die Bezüge der Chintzsessel waren geflickt. Weniger Geld, als gebraucht wurde, diagnostizierte ich kurz, aber immer noch so viel, daß nicht der Abstieg ins Reihenhaus drohte.

Lord White schüttelte mir die Hand, bot mir in einer Mischung aus Verwunderung und Höflichkeit einen Sessel an und wartete darauf, daß ich ihm den Grund meines Kommens mitteilte. Und obwohl ich mir die ganze Fahrt über mögliche Eröffnungen zurechtgelegt hatte, fiel mir der Anfang entsetzlich schwer.

«Sir…«, sagte ich.»Es tut mir leid… sehr leid, Sir… aber ich fürchte, der Grund meines Besuchs wird ein großer Schock für Sie sein.«

Er runzelte leicht die Stirn.»Geht es um George Milla-ce?«sagte er.»Sie sagten, es hätte etwas mit George Milla-ce zu tun.«

«Ja… mit ein paar Aufnahmen, die er gemacht hat.«

Ich hielt inne. Zu spät wünschte ich mir inbrünstig, ich wäre nicht gekommen. Ich hätte doch der lebenslangen Gewohnheit der Nichteinmischung, des Abwartens treu bleiben sollen. Ich hätte mich niemals daranmachen sollen, Georges heimtückisches Arsenal zu benutzen. Aber ich hatte es getan. Ich war hier. Ich hatte die Entscheidung getroffen und handelte entsprechend. Wozu ich hier war. mußte getan werden.

Meine Aufgabe war, Schmerz zuzufügen. Vorsätzlich zu verletzen. Gegen jeden Instinkt von Mitgefühl zu handeln, den ich Samantha und Charlie und Margaret und Bill verdankte. Als Zerstörer zu fungieren, mit einer brutalen Axt aus Zelluloid.

«Fahren Sie fort, Nore«, sagte Lord White ruhig und nichtsahnend.

Mit ungutem Gefühl öffnete ich den großen Umschlag, den ich bei mir hatte. Ich nahm das erste der drei Fotos von dem Liebespaar heraus und legte es in seine ausgestreckte Hand. Und obwohl ich der Meinung war, daß er sich wegen Dana den Relgan lächerlich aufführte, tat er mir schrecklich leid.

Seine erste Reaktion war äußerste Wut. Was mir einfiele, sagte er und erhob sich zitternd, wie ich dazu käme, ihm etwas derart Schmutziges und Widerliches zu bringen.

Unter größten Schwierigkeiten, dachte ich, aber das hätte er nicht zu schätzen gewußt. Ich nahm das zweite und dritte Foto aus dem Umschlag, legte sie mit der Bildseite nach unten auf meine Sessellehne.

«Sie werden sehen«, sagte ich mit heiserer Stimme,»daß die anderen noch weit schlimmer sind.«

Ich glaube, es kostete ihn große Überwindung, die beiden anderen Bilder aufzunehmen. Er sah sie sich in verzweifeltem Schweigen an und sank langsam in seinen Sessel zurück.

Die Qual stand ihm ins Gesicht geschrieben. Die Fassungslosigkeit. Das Entsetzen.

Der Mann, der mit Dana den Relgan schlief, war Ivor den Relgan.

«Es heißt, daß man Fotos problemlos fälschen kann«, sagte Lord White. Seine Stimme bebte.»Kameras können lügen.«

«Diese nicht«, sagte ich bedauernd.

«Es kann nicht wahr sein.«

Ich nahm aus dem Umschlag einen Abzug des Briefs, den George Millace geschrieben hatte, und gab ihn ihm. Er brachte es kaum fertig, ihn zu lesen, so sehr erschütterte ihn sein Elend auch körperlich.

Der Brief, den ich auswendig kannte, lautete:

Lieber Ivor den Relgan,ich bin sicher, daß die beiliegenden Fotos, die ich zu meiner Freude vor ein paar Tagen in St. Tropez machen konnte, Sie interessieren.

Wie Sie feststellen werden, zeigen sie Sie in einer kompromittierenden Situation mit einer jungen Dame, die als Ihre Tochter gilt. (Es ist wirklich unklug, dergleichen auf einem Hotelbalkon zu tun, ohne sich zu vergewissern, daß man mit einem Teleobjektiv nicht gesehen werden kann.)

Es scheint zwei Möglichkeiten zu geben.

Erstens: Dana den Relgan IST Ihre Tochter, dann handelt es sich um Inzest.

Zweitens: Dana den Relgan ist NICHT Ihre Tochter. Warum aber geben Sie sie dann als solche aus? Könnte es möglicherweise mit der Umgarnung eines gewissen Mitglieds des Jockey Clubs zu tun haben? Hoffen Sie auf Eintritt in den Club und auf andere Gefälligkeiten?

Natürlich könnte ich diese Fotos dem bewußten Lord schicken. Ich werde Ihnen jedoch in Kürze telefonisch einen Alternativvorschlag machen.

Hochachtungsvoll George Millace

Lord White alterte vor meinen Augen, die Glut, die die Liebe ihm verliehen hatte, fiel grau zusammen, seine Falten vertieften sich. Ich wandte den Blick ab. Sah auf meine Hände, meine Füße, die dürren Rosenbüsche vor dem Fenster. Überallhin, nur nicht auf diesen vernichteten Mann.

Nach sehr langer Zeit sagte er:»Wo haben Sie sie her?«

«George Millaces Sohn hat mir eine Schachtel mit einigen Sachen seines Vaters überlassen, nach dessen Tod. Diese Bilder waren darin.«

Er quälte sich durch ein weiteres Schweigen und sagte dann:»Warum haben Sie sie mir gebracht? Um mich zu… demütigen?«

Ich schluckte und sagte so neutral wie möglich:»Sie werden es wahrscheinlich nicht bemerkt haben, Sir, aber die Leute machen sich Sorgen darüber, wieviel Macht Ivor den Relgan in letzter Zeit bekommen hat.«

Er schauderte leicht, als der Name fiel, hob jedoch die blauen Augen und bedachte mich mit einem langen prüfenden, unfreundlichen Blick.

«Und Sie haben es auf sich genommen, dem nach Möglichkeit Einhalt zu gebieten?«

«Sir. ja.«

Er sah grimmig drein, und als wollte er sich in Wut flüchten, sagte er gebieterisch:»Das geht Sie nichts an, Nore.«

Ich antwortete nicht sofort. Es war mir schwer genug gefallen, mich selbst davon zu überzeugen, daß es mich etwas anging. Aber schließlich sagte ich zaghaft:»Sir, wenn Sie persönlich sich ganz sicher sind, daß Ivor den Relgans plötzlicher Aufstieg zu unerhörter Macht nichts mit Ihrer Zuneigung zu Dana den Relgan zu tun hat, dann entschuldige ich mich in aller Form.«

Er starrte mich nur an.

Ich versuchte es noch einmal.»Wenn Sie ehrlich glauben, daß der Pferderennsport davon profitieren wird, wenn Ivor den Relgan bezahlte Stewards ernennt, bitte ich um Entschuldigung.«

«Gehen Sie bitte«, sagte er steif.

«Ja, Sir.«

Ich stand auf und ging zur Tür hinüber, aber als ich sie erreichte, hörte ich seine Stimme hinter mir.

«Warten Sie. Nore… Ich muß nachdenken.«

Ich drehte mich unschlüssig um.»Sir«, sagte ich,»Sie sind so geachtet. und beliebt. bei jedermann. Es war keine Freude, mitanzusehen, was sich da abgespielt hat.«

«Würden Sie bitte wieder herkommen und sich setzen?«Seine Stimme war immer noch streng, immer noch voller Anklage und Vorwurf. Immer noch voller Abwehr.

Ich ging zu meinem Sessel zurück, und er trat ans Fenster, blieb mit dem Rücken zu mir stehen und sah auf die welken Rosen hinaus.

Er brauchte lange zum Nachdenken. Mir wäre es in der gleichen Situation genauso gegangen. Das Ergebnis war eine vollständige Verwandlung seiner Stimme, sowohl im Tonfall als auch im Gehalt, denn als er endlich wieder sprach, klang sie nicht mehr erschüttert und wütend, sondern ganz normal. Aber er sprach, ohne sich umzudrehen.

«Wie viele Leute haben diese Fotos gesehen?«sagte er.

«Ich weiß nicht, wie vielen Leuten George Millace sie gezeigt hat«, sagte ich.»Ich habe sie jedenfalls nur einem Freund gezeigt. Er war dabei, als ich sie entdeckt habe. Aber er kennt die den Relgans nicht. Er geht nicht oft zu Pferderennen.«

«Sie haben sich demnach mit niemandem besprochen, bevor Sie hierherkamen?«

«Nein, Sir. «Wieder eine lange Pause. Aber ich war groß im Warten. Das Haus um uns herum war sehr still, hielt den Atem an, dachte ich phantasievoll, ähnlich wie ich.

«Haben Sie vor, auf der Rennbahn Witze darüber zu machen?«sagte er ruhig.

«Nein. «Ich war entsetzt.»Bestimmt nicht.«

«Und würden Sie…«, er stockte, fuhr dann aber fort,». würden Sie irgendeine Belohnung in Form einer Gefälligkeit… oder Geld… für Ihr Stillschweigen erwarten?«

Ich fuhr aus meinem Sessel hoch, als hätte er mich tatsächlich geschlagen und mir den Hieb nicht aus sechs Schritt Entfernung und mit dem Rücken zu mir versetzt.

«Das würde ich nicht«, sagte ich.»Ich bin nicht George Millace. Ich glaube… Ich glaube, ich gehe jetzt. «Und ich ging, aus dem Zimmer, aus dem Haus, fort von seinem unkrautbewachsenen Anwesen, getrieben von schwer verletzter Eitelkeit.

Am Mittwoch ereignete sich nichts Besonderes; sogar noch weniger als erwartet, da ich bei der Morgenarbeit mit der ersten Koppel überraschend erfuhr, daß Coral Key an diesem Tag nun doch nicht laufen würde.

«Das verdammte Vieh hat sich letzte Nacht in seiner Box festgelegen«, sagte Harold.»Ich bin aufgewacht und hab ihn schlagen hören. Weiß der Himmel, wie lange er da schon lag. Er war völlig erschöpft. Das wird Victor nicht gefallen.«

Da mir das Geld für den Ritt durch die Lappen gegangen war, lohnte es sich nicht, welches für Benzin aus-zugeben, um den Rennen zuzusehen, also blieb ich zu Hause und machte Lance Kinships Abzüge.

Am Donnerstag machte ich mich wegen eines einzigen Starts nach Kempton auf und dachte dabei, daß es finanziell eine sehr magere Woche war, aber ich war kaum durch das Tor, als mich ein finsterer kleiner Mann packte und mir mitteilte, sein Chef suche mich, und wenn ich als Ersatz reiten wolle, solle ich meinen Arsch bewegen.

Ich bewegte ihn und bekam die Ritte gerade noch, ehe der Trainer glaubte, ich käme nicht mehr rechtzeitig, und sie jemand anders gab.

«Sehr ärgerlich«, sagte er schnaufend, als wäre er außer Atem, obwohl er gewiß fünfzehn Minuten an einem Fleck auf mich gewartet hatte.»Mein Jockey hat gestern gesagt, er hätte von seinem Sturz neulich keine Beschwerden mehr. Und dann ruft er doch heute morgen seelenruhig an und sagt, er hat die Grippe.«

«Tja… ähm…«Ich unterdrückte ein Lachen.»Da kann er wohl nichts dafür.«

«Verdammt rücksichtslos ist das.«

Seine Pferde hatten, wie sich herausstellte, bessere Lungen als ihr Meister, waren ansonsten aber nicht weltbewegend. Eins brachte ich auf den dritten Platz in einem Sechserfeld; und mit dem anderen stürzte ich zwei Hindernisse vor dem Ziel. Ein ziemlicher Sturz, aber nichts gebrochen, weder bei ihm noch bei mir.

Das dritte Pferd, dessentwegen ich ursprünglich hergekommen war, war nicht viel besser: ein ungeschicktes, schlecht geschultes Pferdebaby, dessen Mumm in etwa seinem Können entsprach. Ich brachte es im Nachwuchs-

Hindernisrennen vorsichtig über die Runden, um ihm sein Geschäft beizubringen, und erntete keinerlei Dank von seinem Trainer, der behauptete, ich wäre nicht schnell genug geritten, um warm zu bleiben.

«Es waren noch sechs oder sieben hinter uns«, sagte ich sanft.

«Und sechs oder sieben vor euch.«

Ich nickte.»Er braucht Zeit. «Und Geduld und Wochen und Monate Springpraxis. Wahrscheinlich würde er beides nicht bekommen, und wahrscheinlich würde man ihn mir auch nicht mehr anbieten. Der Trainer würde rücksichtslos auf Schnelligkeit setzen, und das Pferd würde beim ersten offenen Graben stürzen, und das würde dem Trainer recht geschehen. Schade um das arme Pferd.

Für mich war die große Erleichterung des Nachmittags die Abwesenheit von Lord White.

Und die große Überraschung des Nachmittags war die Anwesenheit von Clare.

Sie wartete vor dem Waageraum, als ich meine Straßenkleidung wieder angezogen hatte und den Heimweg antreten wollte.

«Hallo«, sagte sie.

«Clare!«

«Dachte, ich komm mal vorbei und seh mir die Sache live an. «Ihre Augen lächelten.»War heute ein typischer Tag?«

Ich sah in den grauen, windigen Himmel und auf die kümmerliche Donnerstagszuschauermenge und dachte an meine drei unspektakulären Rennen.

«Ziemlich typisch«, sagte ich.»Wie bist du hergekommen?«

«Mit dem Rennzug. Sehr lehrreich. Und ich bin den ganzen Nachmittag mit Stielaugen durch die Gegend gelaufen. Ich hatte ja keine Ahnung, daß man Aal in Aspik tatsächlich essen kann.«

Ich lachte.»Ich hab nie einen aus der Nähe gesehen. Ähm… wonach steht dir der Sinn? Ein Drink? Eine Tasse Tee? Eine Fahrt nach Lambourn?«

Sie überlegte kurz.»Lambourn«, sagte sie.»Ich kann ja von dort mit dem Zug zurückfahren.«

Ich fuhr sie mit einem ungewohnten Gefühl der Zufriedenheit nach Berkshire. Es war ein gutes Gefühl, sie im Auto neben mir zu haben. Ganz natürlich. Vielleicht weil sie Samanthas Tochter war, dachte ich sachlich.

Das Haus war dunkel und kalt, aber bald erwärmt. Ich ging durch die Räume, schaltete Lampen und Heizung an und setzte Teewasser auf, und dann klingelte das Telefon. Ich ging in der Küche dran, wo es gerade eingestöpselt war, und mir platzte schier das Trommelfell, denn eine durchdringende Stimme schrie:»Bin ich die erste?«

«Hm«, sagte ich zusammenzuckend und hielt den Hörer von meinem Ohr weg.»Die erste was?«

«Die erste!«Eine sehr junge Stimme. Ein Kind. Weiblich.»Ich probier’s schon stundenlang, alle fünf Minuten. Bin ich jetzt die erste oder nicht? Bitte sagen Sie, daß ich die erste bin.«

Die Erkenntnis dämmerte.»Ja«, sagte ich.»Du bist die allererste. Hast du Horse and Hound gelesen? Die Nummer kommt erst morgen raus.«

«In den Buchladen von meiner Tante kommt sie donnerstags. «Es klang, als ob jeder halbwegs Normale so etwas wissen müßte.»Ich hol sie für Mammi auf dem Heimweg von der Schule. Und sie hat das Foto gesehen und mir gesagt, ich soll Sie anrufen. Krieg ich jetzt die zehn Pfund? Ganz bestimmt?«

«Ja natürlich, wenn du weißt, wo der Reitstall ist.«

«Mammi weiß es. Sie sagt es Ihnen. Reden Sie jetzt lieber mit ihr, aber vergessen Sie’s nicht, ja?«

«Auf keinen Fall«, sagte ich.

Man hörte Stimmen im Hintergrund und das Klacken des Hörers am anderen Ende der Leitung, und dann sagte eine freundliche, weit weniger aufgeregte Frauenstimme:

«Sind Sie Philip Nore, der Hindernisjockey?«

«Ja«, sagte ich.

Das schien als Referenz zu genügen, denn sie sagte ohne Vorbehalte:»Ich weiß, wo der Reitstall ist, aber ich fürchte, Sie werden enttäuscht sein, er wird nämlich nicht mehr für Pferde genutzt. Jane, meine Tochter, hat Angst, daß Sie ihr die zehn Pfund nicht schicken, wenn Sie das wissen, aber ich bin sicher, Sie tun es trotzdem.«

«Ich bin auch sicher«, bestätigte ich lächelnd.»Wo ist er?«

«Nicht weit von hier. In Horley, in Surrey. In der Nähe vom Flughafen Gatwick. Der Stall ist knapp einen Kilometer von unserm Haus entfernt. Er heißt immer noch >Zephyr Farm<, aber die Reitschule ist schon seit Jahren geschlossen.«

Ich seufzte.»Und die Leute, die sie betrieben haben?«

«Keine Ahnung«, sagte sie.»Ich nehme an, sie haben sie verkauft. Jedenfalls ist sie zum Wohnen hergerichtet worden. Wollen Sie die genaue Adresse?«

«Ja, gern«, sagte ich,»und Ihre bitte auch.«

Sie nannte mir beide Adressen, und ich notierte sie mir und sagte dann:»Wissen Sie zufällig, wie die Leute heißen, die jetzt dort wohnen?«

«Puh«, sagte sie verächtlich.»Die sind eine echte Plage. Ich fürchte, bei denen kommen Sie nicht weiter, egal, was Sie wollen. Sie haben praktisch eine Festung daraus gemacht, um sich wütende Eltern vom Leib zu halten.«

«Um… was?«sagte ich verblüfft.

«Eltern, die ihre Kinder dazu bringen wollen, nach Hause zurückzukehren. Es ist so eine Kommune. Religiöse Gehirnwäsche, so was in der Art. Sie nennen sich >Auser-wählte der Göttlichen Gnade<. Alles Unsinn. Schädlicher Unsinn.«

Mir blieb schier die Luft weg.

«Ich schicke Jane das Geld«, sagte ich.»Und vielen Dank.«

«Was war denn?«sagte Clare, als ich den Hörer langsam auflegte.

«Die erste echte Spur von Amanda.«

Ich erzählte ihr von der Anzeige in Horse and Hound und von den Bewohnern von Pine Woods Lodge.

Clare schüttelte den Kopf.»Wenn diese >Auserwählten< wissen, wo Amanda ist, werden sie es dir nicht sagen. Du hast doch sicher schon von ihnen gehört? Oder von andern von der Sorte. Nach außen hin sind sie freundlich und lächeln, aber hinter der Fassade verbergen sich stählerne Rattenfallen. Sie ködern Leute in meinem Alter mit Freundlichkeit und süßen Liedern und fangen sie im wahren Glauben, und wenn die armen Schweine erst mal drin sind, kommen sie nie mehr raus. Sie lieben ihr Gefängnis. Ihre Eltern haben kaum mehr eine Chance.«

«Ich hab mal von so was Ähnlichem gehört. Aber nie verstanden, worum es dabei geht.«

«Geld«, sagte Clare kurz und knapp.»All die lieben kleinen >Auserwählten< schwärmen mit frommen Gesichtern und Sammelbüchsen aus und bringen die Kohle rein.«

«Um davon zu leben?«

«Klar, um davon zu leben. Und um die Sache zu fördern, oder mit anderen Worten, um die Taschen ihres großen Führers zu füllen.«

Ich kochte Tee, und wir tranken ihn am Tisch.

Amanda in einem Reitstall in Horley; Caroline dreißig Kilometer davon entfernt in Pine Woods Lodge. >Auser-wählte der Göttlichen Gnade< in Pine Woods Lodge und >Auserwählte< in Horley. Diese enge Verbindung konnte kein Zufall sein. Selbst wenn ich nie herausfand, wie alles zusammenhing, stand fest, daß es eine logische Folge von Ereignissen gegeben hatte.

«Sie ist vielleicht nicht mehr dort«, sagte ich.

«Aber du gehst hin?«

Ich nickte.»Am besten morgen nach dem Rennen.«

Als wir mit T eetrinken fertig waren, sagte Clare, daß sie sich die >Jockeyleben<-Mappe noch einmal ansehen wollte, und wir nahmen sie mit nach oben, und ich projizierte für sie einige Bilder vergrößert an die Wand. Und wir redeten über ihr Leben und über meins und über nichts Bestimmtes, und später am Abend gingen wir in das gute Gasthaus nach Ashbury zum Steakessen.

«Ein toller Tag«, sagte Clare lächelnd beim Kaffee.»Wo fährt der Zug ab?«

«Swindon. Ich fahr dich hin… du kannst aber auch bleiben.«

Sie sah mich offen an.»Ist das die Art von Einladung, für die ich es halte?«

«Würde mich nicht wundern.«

Sie schlug die Augen nieder und hantierte mit ihrem Kaffeelöffel, wendete ihm ihre ganze Aufmerksamkeit zu. Ich sah den gebeugten, dunklen, nachdenklichen Kopf und wußte, daß sie nicht bleiben würde, wenn sie so lange überlegen mußte.

«Es gibt einen Schnellzug um halb elf«, sagte ich.»Den kannst du bequem erreichen. Etwas über eine Stunde bis Paddington.«

«Philip.«

«Schon gut«, sagte ich leichthin.»Wer nie fragt, bekommt nichts. «Ich zahlte die Rechnung.»Komm.«

Sie war ausgesprochen schweigsam auf der zehn Kilometer langen Fahrt zum Bahnhof und behielt ihre Gedanken für sich. Erst als ich (trotz ihres Protestes) ihre Fahrkarte gekauft hatte und wir auf dem Bahnsteig warteten, deutete sie an, was ihr im Kopf herumging, aber auch da nur indirekt.

«Im Büro ist morgen eine Vorstandssitzung«, sagte sie.»Die erste, an der ich teilnehme. Bei der letzten, vor einem Monat, bin ich zur Geschäftsführerin ernannt worden.«

Ich war überaus beeindruckt und sagte ihr das auch. Es war sicher nicht üblich, daß ein Verlag ein zweiundzwan-zigjähriges Mädchen in den Vorstand holte. Ich begriff auch, warum sie nicht bleiben wollte. Warum sie vielleicht nie bleiben würde. Das Bedauern, das ich verspürte, erschreckte mich durch seine plötzliche Heftigkeit, denn meine Einladung war keine verzweifelte Bitte, sondern nur ein Vorschlag für einen vorübergehenden Zeitvertreib gewesen. Ich hatte es als kleinere Geschichte gesehen, nicht als lebenslange Verpflichtung. Mein Verlustgefühl auf dem Bahnsteig schien völlig unangemessen.

Der Zug kam, sie stieg ein, und wir küßten uns in der offenen Tür. Kurze, leidenschaftslose Küsse, kein Fortschritt seit Montag an der Haustür.

Sie sagte, bis bald, und ich sagte ja. Wegen der Verträge, meinte sie. Viel zu besprechen.

«Komm doch am Sonntag«, sagte ich.

«Ich sag dir Bescheid. Wiedersehen.«

«Wiedersehen.«

Der ungeduldige Zug stampfte rasch schneller werdend davon, und ich fuhr heim in das leere Haus und fühlte mich ungewohnt einsam.

Newbury-Rennen, Freitag, Ende November.

Lord White war da, stand unter dem weiten Glasdach vor dem Waageraum und redete ernsthaft mit zwei anderen Stewards. Er sah aus wie immer, grauweißes Haar zum größten Teil unter dem Trilby-Hut versteckt, brauner Überzieher über dunkelgrauem Anzug, eine Ausstrahlung von gütiger Vernunft. Schwer vorstellbar, daß er bis über beide Ohren verknallt war. Unmöglich, wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte.

Wie immer in diesen Bereichen mußte ich dicht an ihm vorbei, um zur Tür des Waageraums zu gelangen. Er setzte standhaft seine Unterhaltung mit den Stewards fort und gab nur durch ein ganz leises Flackern seines Blicks in meine Richtung zu erkennen, daß er meine Anwesenheit bemerkt hatte.

Wenn er nicht mit mir reden wollte, war es mir nur recht. Weniger peinlich in jeder Hinsicht.

Im Waageraum stand Harold und erzählte einem alten Kumpel überschwenglich von einem Geschäft, wo man günstig neue Reifen bekam. Noch fast im gleichen Atemzug erzählte er mir, er würde auf meinen Sattel warten, wenn ich mich freundlicherweise schnell umziehen und wiegen würde, und als ich fertig umgezogen zu ihm zurückkam, war er immer noch bei Diagonal- und Gürtelreifen. Der Kumpel nutzte die Gelegenheit zu verduften, und Harold nahm meinen Sattel und das Aufgewicht und sagte mit hämischer Freude:»Hast du gehört, daß Dschingis-Khan rausgeflogen ist?«

Ich war ganz Ohr.

«Bist du sicher?«

Harold nickte.»Der alte Lanky…«, er zeigte auf den entschwindenden Kumpel,»hat’s mir, kurz bevor du gekommen bist, erzählt. Er sagt, sie haben heute morgen in London eine Art Krisensitzung des Jockey Clubs abgehalten. Er war dabei. Lord White hat sie gebeten, die Pläne für ein Komitee unter dem Vorsitz von den Relgan fallen zu lassen, und weil es in erster Linie ja die Idee vom Alten Schneesturm gewesen war, haben alle zugestimmt.«

«Immerhin etwas«, sagte ich.

«Immerhin?«Harold schaltete auf Empörung um.

«Mehr fällt dir dazu nicht ein? Das ist die beste Kehrtwendung seit dem Rückzug der Armada.«

Er stakste brummelnd und kopfschüttelnd mit meinem Sattel davon und ließ mich, ohne es zu wissen, überaus erleichtert zurück. Was immer mein Besuch bei Lord White bewirkt haben mochte, er hatte seinen wesentlichsten Zweck erfüllt. Zumindest hatte ich nicht ganz umsonst einen Mann, den ich mochte, in ein tiefes Chaos gestürzt, dachte ich dankbar.

Ich ritt einen Hurdler, der Zweiter wurde, was den Besitzer ungemein und Harold nicht sonderlich freute, und später ein Zwei-Meilen-Jagdrennen auf einer empfindlichen Stute, die eigentlich kein Herz für den Job hatte und gehätschelt werden mußte. Sie überhaupt über die Runden zu bringen war das Höchste, was man erwarten konnte; ein Erfolg, der von Harold mit einem Grunzen quittiert wurde. Da wir außerdem auf den vierten Platz kamen, deutete ich sein Grunzen als Anerkennung, aber da konnte man nie sicher sein.

Als ich meine Straßenkleidung wieder anzog, kam ein Offizieller in den großen, lärmenden Jockeyraum und brüllte nach hinten durch:»Nore, Sie werden verlangt.«

Ich zog mich fertig an, ging in den Waageraum hinüber und stellte fest, daß Lord White mich erwartete.

«Ich möchte mit Ihnen reden«, sagte er.»Kommen Sie hier in den Stewardraum. und schließen Sie bitte die Tür.«

Ich folgte ihm in das Zimmer neben dem Waageraum, das die Stewards für Untersuchungen an Ort und Stelle benutzten, und schloß wie gewünscht die Tür. Er stellte sich hinter einen der Stühle, die um den großen Tisch herum standen, und packte die Lehne mit beiden Händen, als wäre sie ein Schutzschild, eine Schranke, der Wall der Festung.

«Ich bedaure«, sagte er förmlich,»was ich Ihnen am Dienstag unterstellt habe.«

«Schon gut, Sir.«

«Ich war erregt… aber es war unentschuldbar.«

«Ich verstehe Sie gut, Sir.«

«Was verstehen Sie?«

«Nun. daß man ausschlagen will, wenn jemand einen verletzt.«

Er deutete ein Lächeln an.»Poetisch ausgedrückt, wenn ich so sagen darf.«

«Wäre das alles, Sir?«

«Nein. «Er zögerte nachdenklich.»Ich nehme an, Sie haben gehört, daß das Komitee abberufen ist?«

Ich nickte.

Er holte tief Luft.»Ich möchte den Relgan zum Austritt aus dem Jockey Club auffordern. Um ihn besser überreden zu können, habe ich vor, ihm diese Fotos zu zeigen, die er natürlich bereits kennt. Aber ich denke, daß ich Ihre Einwilligung dazu brauche, und um die möchte ich Sie hiermit bitten.«

Es geht also um Druckmittel, dachte ich und sagte:»Ich habe nichts dagegen. Bitte tun Sie damit, was Sie wollen.«

«Sind es. die einzigen Abzüge?«

«Ja«, sagte ich wahrheitsgetreu. Ich sagte ihm nicht, daß ich auch die Negative hatte. Er hätte sicher von mir verlangt, daß ich sie vernichtete, und dagegen wandte sich mein ganzer Instinkt.

Er ließ die Stuhllehne los, als brauchte er sie nicht mehr, und ging an mir vorbei zur Tür. Als er sie öffnete, hatte sein Gesicht wieder den vertrauten festen, untadeligen Ausdruck der Vor-Dana-Zeiten. Die grausame Kur war beendet, dachte ich.

«Ich kann Ihnen nicht gerade danken«, sagte er höflich,»aber ich stehe in Ihrer Schuld. «Er nickte mir flüchtig zu und verließ den Raum: Transaktion erledigt, Entschuldigung vorgebracht, Würde intakt. Schon bald würde er sich eifrig einreden, dachte ich, er hätte gar nicht empfunden, was er empfunden hatte, seine Vernarrtheit hätte gar nicht existiert.

Langsam verließ auch ich den Raum, zufrieden in vieler Hinsicht, auf vielen Ebenen, aber ob er das wußte, wußte ich nicht. Die größten Geschenke sind nicht immer die, die ausdrücklich gemacht werden.

Von Marie Millace erfuhr ich mehr.

Sie war nach Newbury gekommen, um Steve reiten zu sehen, dessen Schlüsselbein wieder verheilt war, obwohl sie, als ich sie zu einer Tasse Kaffee überredete, zugab, daß es eine Qual sei, den eigenen Sohn über Hürden rasen zu sehen.

«Alle Jockeyfrauen sagen, daß es schlimmer ist, wenn ihre Söhne anfangen«, sagte ich.»Töchter auch, möchte ich behaupten.«

Wir saßen an einem kleinen Tisch in einer Bar, umgeben von Leuten in schweren Mänteln, die nach kalter, feuchter Luft rochen und in der Wärme leicht zu dampfen schienen. Marie schob automatisch den Haufen aus Tas-sen und Sandwichpapieren beiseite, den die vorigen Gäste zurückgelassen hatten, und rührte nachdenklich in ihrem Kaffee.

«Sie sehen besser aus«, sagte ich.

Sie nickte.»Ich fühle mich auch besser.«

Sie war beim Friseur gewesen, wie ich sah, und hatte sich neue Kleidung zugelegt. Immer noch blaß, mit verschwommenen, kummervollen Augen. Immer noch zerbrechlich, dünnhäutig, mit zittriger Stimme, Tränen unter Kontrolle, aber nicht weit. Vier Wochen nach Georges Tod.

Sie nippte an dem heißen Kaffee und sagte:»Sie können vergessen, was ich Ihnen letzte Woche über die Whites und Dana den Relgan erzählt habe.«

«Ach ja?«

Sie nickte.»Wendy ist hier. Wir haben vorhin einen Kaffee zusammen getrunken. Sie ist sehr viel glücklicher.«

«Erzählen Sie mir davon«, sagte ich.

«Interessiert Sie das denn? Bin ich nicht zu geschwätzig?«

«Es interessiert mich sehr«, versicherte ich ihr.

«Sie sagte, daß ihr Mann letzten Dienstag, irgendwann letzten Dienstag, irgend etwas über Dana den Relgan erfahren hat, was ihm nicht gefiel. Sie weiß nicht, was. Er hat es ihr nicht erzählt. Aber sie sagt, er war den ganzen Abend wie ein Zombie, bleich und mit starrem Blick und völlig unansprechbar. Sie wußte nicht, was los war, da noch nicht, und war ziemlich erschrocken. Er schloß sich den ganzen Mittwoch ein, aber am Abend sagte er ihr, seine Affäre mit Dana den Relgan sei beendet, und er sei ein Narr gewesen und ob sie ihm verzeihen könnte.«

Ich hörte zu, erstaunt, daß Frauen solchen Klatsch so unbekümmert weitergaben, und erfreut, daß es so war.

«Und was dann?«sagte ich.

«Sind Männer nicht sonderbar?«sagte Marie Millace.»Danach hat er so getan, als wäre das Ganze nie passiert. Wendy sagt, daß er, nachdem er gebeichtet und sich entschuldigt hat, erwartet, daß sie so weitermacht wie vorher, als hätte er sie nie betrogen und mit diesem elenden Mädchen geschlafen.«

«Und ist sie dazu bereit?«

«Oh, ich glaube schon. Wendy sagt, daß alle Männer um fünfzig solche Probleme haben, weil sie sich beweisen wollen, daß sie noch jung sind. Sie versteht ihn offenbar.«

«Sie verstehen ihn offenbar auch«, sagte ich.

Sie lächelte liebenswürdig.»Aber ja doch. Man sieht das doch immer wieder.«

Als wir unsern Kaffee getrunken hatten, gab ich ihr eine kurze Liste von Agenten, bei denen sie es probieren könnte, und versicherte, daß ich ihr helfen würde, wo ich könne. Danach sagte ich ihr, daß ich ein Geschenk für sie mitgebracht habe. Ich hatte es Steve für sie mitgeben wollen, aber da sie selbst hier war, konnte ich es ihr direkt geben. Es war in meiner Tasche im Umkleideraum.

Ich holte es und gab ihr einen zwanzig mal fünfundzwanzig Zentimeter großen Pappumschlag mit der Aufschrift >Fotografien — nicht knicken< um den Rand.

«Machen Sie ihn erst auf, wenn Sie alleine sind«, sagte ich.

«Ausgeschlossen«, sagte sie und öffnete ihn auf der Stelle.

Er enthielt ein Foto, das ich einmal von George gemacht hatte. George sah mit seiner Kamera in der Hand in meine Richtung und lächelte sein sardonisches Lächeln. George in Farbe. George in einer typischen George-Pose: ein Bein vorgestellt, das Gewicht auf dem anderen, Kopf zurück, die Welt als einen schlechten Scherz betrachtend. George wie er leibte und lebte.

Auf der Stelle fiel Marie Millace mir in aller Öffentlichkeit um den Hals und drückte mich an sich, als wollte sie mich nie mehr loslassen, und ich spürte, wie ihre Tränen mir in den Kragen tropften.

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