Kapitel 4

Ich drehte den Kopf zum Fenster und sah auf die kahlen und ruhigen Umrisse der Downs hinaus. Geraume Zeit herrschte Stille. Die Downs würden ewig weiterbestehen.

Ich sagte:»Ich möchte nicht in die Angelegenheiten einer Familie verstrickt werden, der ich mich nicht zugehörig fühle. Ich will mich nicht in ihren Fäden verfangen wie in einem Spinnennetz. Die alte Frau kann mich nicht einfach krallen, nur weil es ihr nach all den Jahren in den Kram paßt.«

Jeremy Folk sagte nichts darauf, und als er aufstand, lag wieder etwas von der üblichen Tölpelhaftigkeit in seinen Bewegungen, wenn auch nicht in seiner Stimme.

«Ich habe die Berichte dabei, die wir von den drei Detektivbüros bekommen haben«, sagte er.»Ich lasse sie Ihnen hier.«

«Nicht nötig.«

«Hat alles keinen Zweck«, sagte er. Er sah sich wieder im Zimmer um.»Mir ist durchaus klar, daß Sie sich aus allem heraushalten wollen. Aber ich fürchte, ich muß Ihnen so lange auf den Wecker fallen, bis Sie mitmachen.«

«Machen Sie Ihre Dreckarbeit alleine.«

Er lächelte.»Die Dreckarbeit wurde ja wohl vor dreißig Jahren gemacht. Bevor wir beide auf der Welt waren. Jetzt haben wir es nur mit dem Dreck zu tun, der mit der Flut wieder angespült wird.«

«Danke für die Blumen.«

Er zog einen großen dicken Umschlag aus der Tasche und legte ihn behutsam auf den Tisch.»Keine sehr langen Berichte. Wollen Sie nicht wenigstens einen Blick darauf werfen?«

Er erwartete keine Antwort, und er bekam auch keine. Er bewegte sich zögernd Richtung Tür, um anzudeuten, daß er gehen wollte. Ich ging mit ihm nach unten und begleitete ihn zu seinem Auto.

Beim Einsteigen hielt er verlegen inne und sagte:»Mrs. Nore stirbt übrigens wirklich bald. Sie hat Wirbelsäulenkrebs. Metastasen, wie es heißt. Nichts mehr zu machen. Sie kann noch sechs Wochen leben oder sechs Monate. Man weiß es nicht. Sie… äh… Sie dürfen also keine Zeit verlieren.«

Ich verbrachte den größten Teil des Tages zufrieden in der Dunkelkammer mit dem Entwickeln und Abziehen der Schwarzweißfotos von Mrs. Millace und ihren Problemen. Sie wurden so gestochen scharf, daß man sogar lesen konnte, was in den Zeitungen stand, die auf dem Boden lagen, und ich fragte mich nebenbei, wo eigentlich die Grenze lag zwischen Eitelkeit und schlichter Freude über eine optimal ausgeführte Arbeit. Vielleicht hatte ich die Silberbirken aus Eitelkeit gerahmt und aufgehängt. aber abgesehen von der Bildkomposition war das große Format des Abzugs ein technisches Problem gewesen, und es war sehr gut geworden. und außerdem: Stülpte ein Bildhauer etwa einen Sack über seine beste Skulptur?

Jeremy Folks Umschlag lag immer noch oben auf dem

Tisch, wo er ihn hingelegt hatte; ungeöffnet, ungelesen. Als ich Hunger bekam, aß ich ein paar Tomaten und etwas Müsli und räumte die Dunkelkammer auf. Um sechs Uhr verschloß ich mein Haus und ging die Straße hinunter zu Harold Osborne.

Er erwartete mich jeden Sonntag um sechs Uhr zu einem Drink, und jeden Sonntag besprachen wir zwischen sechs und sieben, was in der letzten Woche passiert war und was für die nächste Woche auf dem Programm stand. Trotz seiner unberechenbaren Stimmungsschwankungen war Harold ein methodischer Mensch und konnte es auf den Tod nicht leiden, wenn die Sitzung, die er als unsere Lagebesprechung bezeichnete, durch irgend etwas gestört wurde. In dieser Zeit ging immer seine Frau ans Telefon und nahm Nachrichten für ihn entgegen, damit er zurückrufen konnte, wenn es erforderlich war. Und einmal hatten sie in meiner Gegenwart einen Riesenkrach gekriegt, weil sie hereingeplatzt kam, um ihm zu sagen, daß man ihren Hund überfahren hatte.

«Das hättest du mir auch in zwanzig Minuten erzählen können«, fuhr er sie an.»Wie soll ich mich jetzt verdammt nochmal auf Philips Anweisungen für das Schweppes konzentrieren?«

«Aber der Hund«, jammerte sie.

«Zum Teufel mit dem Hund. «Er hatte noch minutenlang über sie gegeifert, und dann war er auf die Straße hinausgegangen und hatte sich weinend über seinen plattgewalzten Hund geworfen. Harold war vermutlich alles, was ich nicht war. Er war launisch, emotional, bombastisch, berstend vor überschäumenden Gefühlen, voller

Zorn und Liebe und Tücke und Begeisterung. Wir hatten nur eins gemeinsam: unsere grundsätzliche Vorstellung davon, wie man die Dinge richtig anpackte, und diese stillschweigende Übereinkunft bewirkte, daß wir im Grunde ein stabiles, friedliches Verhältnis hatten. Er konnte mich wild anschreien, erwartete aber, daß mir das nichts ausmachte, und weil ich ihn gut kannte, machte es mir nichts aus. Andere Jockeys und Trainer und etliche Zeitungsreporter hatten schon oft in unterschiedlichen Abstufungen von Empörung oder Humor zu mir gesagt:»Wie halten Sie das bloß aus?«, und sie bekamen die einzig wahre Antwort:»Ohne Schwierigkeiten«.

An diesem bewußten Sonntag war die heilige Stunde schon gestört, bevor sie überhaupt anfangen konnte, denn Harold hatte Besuch. Ich betrat sein Haus von der Stalltür her und ging in das gemütlich überladene WohnzimmerBüro, und dort saß Victor Briggs in einem Sessel.

«Philip!«Harold begrüßte mich mit einem Lächeln.»Schenk dir einen Drink ein. Wir wollten uns gerade das Video von gestern ansehen. Setz dich. Bist du soweit? Ich schalte ein.«

Victor Briggs nickte mir mehrmals anerkennend zu und schüttelte mir die Hand. Keine Handschuhe, dachte ich. Kalte, bleiche, trockene Hände, ein Händedruck ohne jede Aggressivität. Da er keinen Hut aufhatte, sah man sein dichtes, schwarzes, glattes Haar, auf der Stirn deuteten sich Geheimratsecken an. Seinen schweren blauen Mantel hatte er abgelegt, und darunter trug er einen schlichten schwarzen Anzug. Auch im Haus behielt er seine verschlossene Miene bei, als fürchtete er, man könnte ihm seine Gedanken ansehen, aber insgesamt strahlte er eine spürbare Zufriedenheit aus. Er lächelte nicht, es war nur eine Stimmung.

Ich riß eine Coladose auf und goß mir etwas in ein Glas.

«Trinken Sie keinen Alkohol?«fragte Victor Briggs.

«Champagner«, sagte Harold.»Den trinkt er, stimmt’s, Philip?«Er war blendender Laune. Seine Stimme und Gegenwart verstärkte die warmen rotbraunen Töne des Zimmers, brachte sie förmlich zum Klingen.

Harolds rotbraunes Haar stand in drahtigen Locken von seinem Kopf ab, so ungebändigt wie seine Natur. Er war zweiundfünfzig Jahre alt und sah zehn Jahre jünger aus, ein ein Meter achtzig großes, stämmiges, Muskelpaket, beherrscht von einem markanten, aber mehrdeutigen Gesicht, das eher rundlich als kantig war.

Er schaltete den Videorecorder ein und lehnte sich in seinen Sessel zurück, um sich Daylights Debakel beim Sandown Handicap-Hindernisrennen anzusehen, so zufrieden, als hätte er das Grand National gewonnen. Nur gut, daß keiner von der Rennleitung das mitkriegte, dachte ich. Die Freude des Trainers am Versagen seines Pferdes war nicht zu übersehen.

Die Aufzeichnung zeigte mich auf Daylight auf dem Weg zum Start, beim Aufstellen und Starten. Die Wetten stehen vier zu eins für den Favoriten, sagte der Kommentator; einmal um den Parcours, und er hat den Sieg. Tadellose Sprünge über die ersten beiden Hindernisse. Sicher und kraftvoll auf der Steigung an den Tribünen vorbei. Daylight knapp in Führung, das Tempo bestimmend, aber alle fünf Pferde dicht gedrängt. Oben in die Kurve, ganz hart an den Rails. schneller bergab. Anreiten des dritten Hindernisses. alles sieht gut aus. dann die seitliche Drehbewegung in der Luft, das Stolpern bei der Landung, und die Gestalt im rotblauen Dress rutscht am Hals des Pferdes herunter und landet zwischen seinen Beinen. Ein gewaltiges Aufstöhnen der Menge und die unbeteiligte Stimme des Reporters:»Daylight ist gefallen und Little Moth hat die Führung übernommen.«

Das Rennen ging über in ein schwerfälliges, mäßiges Finish, dann sah man eine Wiederholung von Daylights Ausscheiden, dazu der nachträgliche Kommentar des Reporters:»Sie sehen, wie das Pferd einen zusätzlichen Schritt einlegt und damit Philip Nore nach vorne schleudert. beim Aufkommen duckt das Pferd den Kopf und läßt dem Jockey keine Chance… der arme Philip Nore klammert sich fest… aber es ist hoffnungslos… Pferd und Jockey unverletzt.«

Harold stand auf und schaltete den Apparat aus.»Meisterhaft«, sagte er und strahlte mich an.»Ich hab es mir zwanzig Mal angesehen. Man merkt absolut nichts.«

«Keiner hat Verdacht geschöpft«, sagte Victor Briggs.»Einer der Stewards hat zu mir gesagt: >Was für ein verdammtes Pech.<«Innerlich lachte Victor Briggs, ein Lachen, das nicht an die Oberfläche kam, aber in seiner Brust bebte. Er nahm einen großen Umschlag, der neben seinem Gin Tonic gelegen hatte, und hielt ihn mir hin.»Hier ist mein Dankeschön, Philip.«

Ich sagte trocken:»Nett von Ihnen, Mr. Briggs, aber es hat sich nichts geändert. Ich will fürs Verlieren nicht bezahlt werden. Tut mir leid.«

Victor Briggs legte den Umschlag kommentarlos wieder hin, und nicht er, sondern Harold regte sich auf.

«Nun spiel hier bloß nicht den Tugendbold«, sagte er und baute sich vor mir auf.»In dem Umschlag ist eine Menge Geld. Victor ist sehr großzügig. Nimm es und bedank dich bei ihm und halt die Klappe.«

«Ich habe… meine Prinzipien.«

«Deine dämlichen Prinzipien können mir gestohlen bleiben. Wenn’s darum geht, das Verbrechen zu begehen, bist du nicht so zimperlich, aber für die dreißig Silberlinge bist du dir zu fein. Du kotzt mich an. Und jetzt nimmst du das verdammte Geld, und wenn ich’s dir in die Fresse stopfen muß.«

«Nur zu«, sagte ich.

«Nur zu was?«

«Stopf s mir in die Fresse.«

Victor Briggs mußte tatsächlich lachen; allerdings waren seine Lippen fest zusammengepreßt, als ich einen Blick auf ihn warf, als wäre ihm der Laut gegen seinen Willen entfahren.

«Außerdem«, sagte ich zögernd,»bin ich nicht bereit, so etwas noch einmal zu machen.«

«Du machst, was man dir sagt, verdammt und zugenäht«, sagte Harold.

Victor Briggs erhob sich entschlossen, und plötzlich standen beide schweigend vor mir und sahen auf mich herab.

Es dauerte einige Zeit, bis Harold mit ruhiger Stimme, die weit furchteinflößender war als sein Geschrei, sagte:»Du wirst tun, was man dir sagt, Philip.«

Ich erhob mich jetzt ebenfalls. Mein Mund war trok-ken, aber ich sagte so unbeteiligt, so ruhig und so wenig provozierend wie möglich:

«Bitte. verlangen Sie nie wieder so etwas von mir wie gestern.«

Victor Briggs kniff die Augen zusammen.»Hat das Pferd Sie verletzt? Es hat Sie getreten… man sieht es auf dem Video.«

Ich schüttelte den Kopf.»Darum geht es nicht. Es geht ums Verlieren. Sie wissen, daß ich es hasse. Und ich möchte nicht, daß Sie… das noch einmal von mir verlangen.«

Wieder Schweigen.

«Hören Sie«, sagte ich.»Es gibt Unterschiede. Natürlich werde ich ein Pferd nicht überfordern, wenn es nicht hundertprozentig in Form ist und ein hartes Rennen es für die nächste Zeit ausschalten würde. Das ist keine Frage, das versteht sich von selbst. Aber so was wie gestern mit Daylight — nie wieder. Ich weiß, daß ich’s früher gemacht habe… aber gestern war das letzte Mal.«

Harold sagte kalt:»Du gehst jetzt besser, Philip. Wir sehen uns morgen früh. «Und ich nickte und ging, und diesmal blieb der warme Händedruck aus, mit dem man mich begrüßt hatte.

Was würden sie machen, fragte ich mich. Ich ging in der windigen Dunkelheit die Straße entlang von Harolds Haus zu meinem, wie ich es schon an hundert Sonntagen getan hatte, und fragte mich, ob es vielleicht das letzte Mal war. Wenn er wollte, konnte er jederzeit andere Jockeys auf seine Pferde setzen. Er war nicht verpflichtet, mir

Rennen zu verschaffen. Ich galt als Selbständiger, weil ich pro Rennen von den Besitzern bezahlt wurde und nicht wöchentlich vom Trainer; und so was wie Untersuchungen wegen >ungerechtfertigter Entlassung< gab es bei Selbständigen nicht.

Ich konnte wohl kaum hoffen, daß sie mir das durchgehen ließen. Allerdings hatten sie Briggs’ Pferd drei Jahre lang ehrlich laufen lassen, warum also nicht auch in Zukunft? Und wenn sie auf Betrug bestanden, konnten sie sich ja irgendeinen armen jungen Trottel suchen, der am Anfang seiner Karriere stand, und ihn unter Druck setzen, wenn sie ein Rennen verlieren wollten. Alles törichte Wünsche. Ich hatte ihnen meinen Job wie einen Fußball vor die Füße gelegt, und wahrscheinlich kickten sie ihn jetzt gerade ins Aus.

Es war schon komisch. Ich hatte nicht gewußt, daß ich sagen würde, was ich gesagt hatte. Es hatte sich herausgedrängt wie Wasser aus einer neuen Quelle.

Ich hatte früher so viele Rennen geschmissen, nicht gern, aber ich hatte es getan. Warum war jetzt alles anders? Warum war mein Widerwillen jetzt so groß, daß es mir ausgeschlossen schien, einen Fall Daylight zu wiederholen, selbst wenn diese Weigerung praktisch das Ende meiner Jockey-Laufbahn bedeutete?

Wann hatte ich mich verändert. Und wie hatte das geschehen können, ohne daß ich es gemerkt hatte? Ich hatte keine Ahnung, ich spürte nur, daß ich schon zu weit gegangen war, als daß ich noch umkehren konnte. Zu weit auf einem Weg, den ich gar nicht gehen wollte.

Ich ging nach oben und las die drei Detektivberichte über Amanda, weil das auf jeden Fall besser war, als über Briggs und Harold nachzudenken.

Zwei Berichte stammten von ziemlich großen Büros, und einer von einem Einmannbetrieb, und alle drei hatten mit großem Geschick ihre dürftigen Ergebnisse aufgebauscht. Zweifellos, um ihr Honorar zu rechtfertigen. Ausführlich wurde erläutert, wieviel Zeit sie darauf verwandt hatten, nichts herauszufinden. Und alle drei hatten — wen wundert’s — fast dasselbe nicht herausgefunden.

Es fing damit an, daß keiner einen Hinweis auf eine Geburtsurkunde fand. Alle äußerten ihre Zweifel und ihren Unglauben angesichts dieser Entdeckung, aber mich wunderte das überhaupt nicht. Als ich einen Paß haben wollte, hatte sich herausgestellt, daß keine Geburtsurkunde von mir existierte, und es hatte ein monatelanges Hin und Her gegeben.

Ich wußte meinen Namen, den Namen meiner Mutter, mein Geburtsdatum, und daß ich in London geboren war. Offiziell allerdings existierte ich nicht.»Aber ich bin doch da«, hatte ich protestiert, und man hatte mich belehrt:»Ja schon, aber Sie haben keine Papiere, um es zu beweisen. «Tonnenweise eidesstattliche Erklärungen hatten einen gewaltigen Papierkrieg ausgelöst, und als ich endlich die Ausreiseerlaubnis bekam, war das Rennen, zu dem ich nach Frankreich eingeladen war, bereits gelaufen.

Alle drei Detektive hatten die Personenstandsregister im Somerset House nach Unterlagen über Amanda Nore durchstöbert, Alter zwischen zehn und fünfundzwanzig, möglicherweise in Sussex geboren. Trotz des reichlich ausgefallenen Namens waren sie auf der ganzen Linie gescheitert.

Ich saugte an meinen Zähnen und dachte, daß ich ihr Alter besser bestimmen könnte.

Sie konnte nicht vor meiner Zeit bei Duncan und Charlie geboren sein, denn davor hatte ich meine Mutter ziemlich häufig gesehen, fünf- bis sechsmal im Jahr und oft eine ganze Woche lang, und ich hätte es gewußt, wenn sie ein Kind bekommen hätte. Die Leute, bei denen sie mich zurückließ, redeten über sie, wenn sie dachten, ich würde nicht zuhören, und nach und nach begriff ich, wovon sie redeten, wenn auch manchmal erst Jahre später; aber niemand hatte je erwähnt, daß sie schwanger war.

Das heißt, daß ich mindestens zwölf war, als Amanda geboren wurde, und folglich konnte sie jetzt nicht älter als achtzehn sein.

Andererseits konnte sie auch nicht jünger als zehn sein. Ich war mir sicher, daß meine Mutter irgendwann zwischen Weihnachten und meinem achtzehnten Geburtstag gestorben war. Vielleicht war sie zu dieser Zeit so verzweifelt, daß sie an ihre Mutter schrieb und ihr das Foto schickte. Auf dem Foto war Amanda drei… also war Amanda, wenn sie noch lebte, jetzt mindestens fünfzehn.

Sechzehn oder siebzehn höchstwahrscheinlich. In den drei Jahren geboren, in denen ich meine Mutter überhaupt nicht gesehen hatte, als ich bei Duncan und Charlie lebte.

Ich nahm mir wieder die drei Berichte vor…

Alle drei Detektive hatten die letzte bekannte Adresse von Caroline Nore, Amandas Mutter, bekommen: Pine

Woods Lodge, Mindle Bridge, Sussex. Alle drei waren hingepilgert, um >Nachforschungen anzustellen<.

Sie wußten recht klagend zu berichten, daß Pine Woods Lodge mitnichten ein kleines Privathotel war, wie man vermuten mochte, dessen komplettes Gästebuch samt Nachsendeadressen zig Jahre zurückreichte. Pine Woods Lodge war ein zerfallenes, abbruchreifes, altes georgiani-sches Landhaus. Wo einst der Ballsaal war, wuchsen jetzt Bäume. Viele Teile hatten kein Dach mehr.

Es hatte einer Familie gehört, die vor fünfundzwanzig Jahren weitgehend ausgestorben war. Die entfernten Erben hatten weder Lust noch Geld gehabt, es instand zu halten. Zunächst hatten sie das Haus an verschiedene Organisationen vermietet (vom Makler erstellte Liste anbei), aber später war es von Hausbesetzern und Landstreichern bewohnt worden. Der Verfall war mittlerweile so weit fortgeschritten, daß selbst sie ausgezogen waren, und die fünf Morgen, auf denen das Haus stand, sollten binnen drei Monaten versteigert werden. Aber weil potentielle Käufer des Grundstücks das Haus abreißen mußten, konnte man mit keiner besonders hohen Summe rechnen.

Ich ging die Liste der Mieter durch, keiner hatte es lange ausgehalten. Ein Pflegeheim. Ein Nonnenorden. Eine Künstlerkommune. Ein Jugendklub — Abenteuerprojekt für Jungen. Eine Fernsehgesellschaft. Eine Musikerkooperative. Die >Auserwählten der Göttlichen Gnade<. Ein Pornoversand.

Einer der Detektive war besonders gründlich gewesen und hatte, soweit es möglich war, Nachforschungen über die Mieter angestellt und wenig schmeichelhafte Kommentare beigefügt:

Pflegeheim — Euthanasie für alle. Von Amts wegen geschlossen Nonnen — wegen Zwistigkeiten aufgelöst

Künstler — widerliche Wandgemälde hinterlassen

Jungen — alles kaputtgemacht, was noch ganz war

TV — brauchten Ruine für Film

Musiker — sämtliche Leitungen durchgebrannt

>Auserwählte< — religiöse Spinner

Versandfirma — Vergnügen für Perverse

Datumsangaben zu den Mietverhältnissen waren nicht beigefügt, aber wenn die Makler die Liste noch liefern konnten, hatten sie sicher auch noch ein paar andere Details. Wenn ich richtig lag bezüglich des Zeitpunkts, zu dem meine Mutter ihren verzweifelten Brief geschrieben hatte, sollte ich zumindest in der Lage sein herauszufinden, mit welchem Haufen Spinner sie zusammengelebt hatte.

Falls ich das wollte, natürlich.

Seufzend las ich weiter.

Abzüge von Amanda Nores Foto waren im Umkreis der kleinen Stadt Mindle Bridge an zahlreichen öffentlichen Orten (in Schaufenstern von Zeitschriftenläden) ausgehängt worden, aber es hatte sich niemand gemeldet, der das Kind oder den Reiterhof oder das Pony identifizieren konnte.

Man hatte Anzeigen in verschiedene Zeitschriften und (sechs Wochen lang) in eine überregionale Sonntagszeitung gesetzt (Belege anbei), in denen stand, daß Amanda

Nore an Folk, Langley, Sohn und Folk, Anwälte in St. Albans, Herts, schreiben sollte, wenn sie eine erfreuliche Nachricht hören wollte.

Der Detektiv, der sich so gründlich mit den Mietern befaßt hatte, hatte in seinem Eifer auch beim Nationalen Pony Club nachgefragt, aber ohne Erfolg. Sie hatten nie ein Mitglied namens Amanda Nore gehabt. Er hatte darüber hinaus auch an die Britische Vereinigung der Springreiter geschrieben, mit demselben Ergebnis.

Bei einer Überprüfung von Schulen im größeren Umkreis von Mindle Bridge wurde niemand mit dem Namen Amanda Nore ausfindig gemacht, weder in früheren noch in aktuellen Klassenverzeichnissen.

Sie war nicht mit der öffentlichen Fürsorge von Sussex in Berührung gekommen. Sie stand in keinem wie auch immer gearteten amtlichen Register. Kein Arzt oder Zahnarzt hatte von ihr gehört. Sie war nicht konfirmiert worden in dieser Grafschaft, nicht getraut, nicht beerdigt oder eingeäschert.

Die Berichte kamen zu demselben Schluß: Daß sie andernorts aufgezogen worden war oder noch wurde (möglicherweise unter einem anderen Namen) und sich nicht mehr für Pferde interessierte.

Ich raffte die betippten Blätter zusammen und steckte sie in den Umschlag zurück. Sie hatten sich bemüht, das mußte man zugeben. Sie hatten sich auch bereit erklärt, die Suche auf sämtliche Grafschaften des Landes auszudehnen, wenn man ihnen vorab die erheblichen Kosten bewilligte. Aber für einen Erfolg konnten sie auf keinen Fall garantieren.

Ihr Gesamthonorar mußte bereits eine schwindelerregende Höhe erreicht haben. Die Bewilligung jedenfalls war ausgeblieben. Ich fragte mich zynisch, ob die alte Dame auf die Idee gekommen war, mich auf die Suche nach Amanda zu schicken, weil sie das billiger kam. Ein Versprechen, eine Bestechung. wie bei einem unerprobten Zuchthengst: ohne Fohlen keine Decktaxe.

Ich konnte ihr spätes Interesse an ihren Enkeln, die sie so lange ignoriert hatte, nicht verstehen. Sie hatte selbst einen Sohn, der bei meiner Mutter immer nur >mein unausstehlicher kleiner Bruder< geheißen hatte. Er war ungefähr zehn Jahre alt, als ich zur Welt kam, also war er jetzt vierzig, hatte möglicherweise selbst Kinder.

Onkel. Kusinen. Halbschwester. Großmutter.

Ich wollte sie nicht. Ich wollte sie nicht kennenlernen oder in ihr Leben hineingezogen werden. Nichts konnte mich dazu bringen, Amanda zu suchen.

Ich stand entschlossen auf und ging hinunter in die Küche, um mir etwas aus Eiern und Käse zu machen; und um den Gedanken an Harold noch etwas länger zu verdrängen, holte ich George Millaces Abfallschachtel aus dem Auto, stellte sie auf den Küchentisch, machte sie auf, nahm die Stücke heraus und sah mir eins nach dem anderen an.

Auch bei näherer Betrachtung wurde nicht einsichtig, warum er ausgerechnet diese Reste behalten hatte. Nichts sah nach einem interessanten oder einmaligen Fehler aus. Bei der Durchsicht kam ich verärgert zu dem Schluß, daß es Zeitverschwendung gewesen war, sie nach Hause mitzunehmen.

Ich nahm den Aktendeckel in die Hand, der den dunklen Abzug von dem am Tisch sitzenden schemenhaften Mann enthielt, und dachte zerstreut, daß es seltsam war, daß jemand sich die Mühe gemacht hatte, so einen überentwickelten Schrott in ein Passepartout zu tun.

Achselzuckend nahm ich den dunklen Abzug in die Hand. und in dem Moment fand ich Georges ganz persönliche Goldgrube.

Загрузка...