Kapitel 8

James Nore lebte in London, und da ich schon mehr als halbwegs dort war, fuhr ich gleich von der Rennbahn zu dem Haus in Camden Hill. Auf der ganzen Fahrt dorthin hoffte ich, daß er nicht zu Hause war, aber als ich die Straße und die Hausnummer gefunden und den richtigen Klingelknopf gedrückt hatte, wurde die Tür von einem Mann um die Vierzig geöffnet, der bestätigte, daß er James Nore hieß.

Er war begreiflicherweise baß erstaunt, einen unbekannten Neffen unangekündigt auf der Matte stehen zu haben, bat mich aber nach leichtem Zögern herein und führte mich in ein Wohnzimmer, das mit viktorianischen Nippes vollgestopft war und vor Farben flimmerte.

«Ich dachte, Caroline hätte dich abgetrieben«, sagte er unverblümt.»Mutter hat gesagt, man wäre das Kind losgeworden.«

Er ähnelte seiner Schwester, soweit ich mich erinnern konnte, nicht im geringsten. Er war ein plumper, schlaffer Typ mit schmalen Lippen und einem trübsinnigen Zug um die Augen. Nichts von ihrer kichernden Munterkeit, ihrer Grazie oder ihrem hektischen Tempo konnte je in diesem schlaffen Körper gesteckt haben. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart auf Anhieb unbehaglich, und mein Auftrag gefiel mir mit jeder Minute weniger.

Er schürzte die schmalen Lippen, als er hörte, daß ich auf der Suche nach Amanda war, und regte sich zunehmend auf.

«Die alte Schachtel redet schon seit Monaten davon, daß sie mich enterben will«, sagte er wütend.»Seit sie hier war. «Er blickte sich im Zimmer um, aber ich konnte nichts darin entdecken, was eine Mutter befremden könnte.»Alles war in Ordnung, solange ich hin und wieder nach Northamptonshire ging. Dann ist sie hierhergekommen. Uneingeladen. Die alte Schachtel.«

«Sie ist jetzt krank«, sagte ich.

«Weiß ich. «Er fuchtelte aufgebracht mit den Armen.»Ich wollte sie besuchen. Sie war dagegen. Wollte mich nicht sehen. Stures altes Weib.«

Eine Messinguhr auf dem Kaminsims schlug sanft zur halben Stunde, und mir fiel auf, daß alles hier sehr erlesen und sorgfältig abgestaubt war. Bei James Nores Nippessammlung handelte es sich nicht um Trödelkram, sondern um Antiquitäten.

«Ich wäre ja ein schöner Idiot, wenn ich dir bei der Suche nach dem elenden zweiten Fehltritt von Caroline helfen würde«, sagte er.»Wenn niemand sie aufspüren kann, fällt das ganze Erbe an mich, Testament hin oder her. Aber ich werde Jahre darauf warten müssen. Lange Jahre. Meine Mutter ist schlichtweg gemein.«

«Warum?«sagte ich sanft.

«Sie hat Noel Coward geliebt«, sagte er vorwurfsvoll, und es klang so, als wollte er damit sagen, wenn sie Noel Coward geliebt hatte, hätte sie auch ihn lieben müssen.

«Das Abstrakte ist nicht immer mit dem Konkreten gleichzusetzen«, sagte ich erleuchtet.

«Ich wollte nicht, daß sie hierherkommt. Der ganze Ärger wäre uns erspart geblieben, wenn sie es nicht getan hätte. «Er zuckte die Achseln.»Gehst du jetzt wieder? Ich sehe keinen Grund, daß du noch bleibst.«

Er ging auf die Tür zu, aber bevor er sie erreichte, wurde sie von einem Mann in einer Plastikschürze geöffnet, der geziert einen Kochlöffel hielt. Er war erheblich jünger als James und eindeutig schwul.

«Oh, hallo Süßer«, sagte er, als er mich sah.»Bleibst du zum Abendessen?«

«Er ist gerade dabei zu gehen«, sagte James schroff.»Er ist kein… ähm.«

Sie traten beide zur Seite, um mich durchzulassen, und als ich in die Diele hinausging, fragte ich den Mann in der Schürze:»Haben Sie Mrs. Nore kennengelernt, als sie hier war?«

«Und ob mein Lieber«, sagte er bekümmert, sah dann aber, wie James heftig den Kopf schüttelte und ihm signalisierte, den Mund zu halten.

Ich lächelte halbherzig an ihren Köpfen vorbei in die Luft und ging zur Haustür.

«Ich wünsche dir viel Pech«, sagte James.»Diese ekelhafte Caroline, wie eine Wilde Kinder in die Welt zu setzen. Ich konnte sie nie leiden.«

«Erinnerst du dich an sie?«

«Hat mich ständig ausgelacht und aufs Glatteis geführt. Ich war froh, als sie weg war.«

Ich nickte und öffnete die Tür.

«Warte«, sagte er plötzlich.

Er kam durch die Diele auf mich zu, und ich sah ihm an, daß er eine Idee hatte, die ihm gefiel.

«Dir würde Mutter natürlich nie etwas vermachen«, sagte er.

«Warum nicht?«sagte ich.

Er runzelte die Stirn.»Es hat doch ein fürchterliches Drama gegeben, als Caroline schwanger war. Entsetzliche Szenen. Ein Riesengezeter. Ich erinnere mich noch… aber niemand wollte mir je erklären, was los war. Ich weiß nur, daß sich wegen dir alles geändert hat. Caroline ist gegangen, und meine Mutter hat sich in eine verbitterte alte Schachtel verwandelt, und ich habe verflucht schlechte Jahre mit ihr zusammen in dem großen Haus verbracht, bevor ich ausgezogen bin. Sie hat dich gehaßt… Schon den Gedanken an dich. Weißt du, wie sie dich genannt hat? >Carolines widerlichen Fötus<, genau so. Carolines widerlichen Fötus.«

Er fixierte mich erwartungsvoll, aber ich fühlte in Wahrheit gar nichts. Der Haß der alten Frau machte mir schon seit Jahren nichts mehr aus.

«Ich werde dir trotzdem was von dem Geld abgeben«, sagte er,»wenn du beweisen kannst, daß Amanda tot ist.«

Am Samstagmorgen rief Jeremy Folk an.

«Sind Sie morgen zu Hause?«fragte er.

«Ja, aber.«

«Gut, ich werde kurz vorbeischauen. «Er legte auf, ohne mir die Chance zu geben zu protestieren. Es war immerhin ein Fortschritt, überlegte ich, daß er seinen Besuch angekündigt hatte und nicht einfach so auftauchte.

Ebenfalls am Samstag lief mir auf der Post Bart Underfield über den Weg, und statt unserer üblichen kühlen Begrüßung stellte ich ihm eine Frage.

«Wo ist eigentlich Elgin Yaxley zur Zeit, Bart?«

«Hongkong«, sagte er.»Warum?«

«Urlaub?«sagte ich.

«Unsinn. Er lebt dort.«

«Aber zur Zeit ist er doch hier, oder?«

«Nein. Das hätte er mir mitgeteilt.«

«Aber er muß hier sein«, sagte ich hartnäckig.

Bart sagte irritiert:»Warum denn? Er ist nicht hier. Er arbeitet für eine Vollblutzucht, und die geben ihm nicht viel Urlaub. Was geht Sie das überhaupt an?«

«Ich dachte nur… ich hätte ihn gesehen.«

«Unmöglich. Wann?«

«Och… letzte Woche. Gestern vor einer Woche.«

«Tja, da irren Sie sich«, sagte Bart triumphierend.»Da war George Millaces Beerdigung, und Elgin hat mir ein Telegramm geschickt. «Er zögerte und seine Augen flackerten, aber er fuhr fort:». und das Telegramm war aus Hongkong.«

«War es ein Beileidstelegramm?«

«George Millace war ein Scheißer«, sagte Bart haßerfüllt.

«Demnach sind Sie nicht zur Beerdigung gegangen?«

«Sind Sie verrückt? Ich hätte auf seinen Sarg gespuckt.«

«Hat Sie wohl schief vor die Kamera gekriegt, was, Bart?«

Er kniff die Augen zusammen und gab keine Antwort.

«Na ja«, sagte ich schulterzuckend,»ich würde sagen, daß ziemlich viele Leute erleichtert sind, daß er nicht mehr da ist.«

«Die danken dem Himmel auf den Knien.«

«Haben Sie in letzter Zeit mal was von dem Burschen gehört, der Elgins Pferde erschossen hat? Wie hieß er nochmal… Terence O’Tree?«

«Der sitzt noch im Gefängnis«, sagte Bart.

«Aber«, sagte ich, an den Fingern abzählend,»März, April, Mai. der müßte jetzt wieder draußen sein.«

«Er hat seinen Strafnachlaß verloren«, sagte Bart.»Hat einen Wärter geschlagen.«

«Woher wissen Sie das?«fragte ich neugierig.

«Ich… ähm… hab’s gehört. «Plötzlich war ihm die Unterhaltung lästig, und er trat langsam den Rückzug an.

«Haben Sie auch gehört, daß George Millaces Haus abgebrannt ist?«sagte ich.

Er nickte.»Natürlich. Hab’s auf der Rennbahn gehört.«

«Und daß es Brandstiftung war?«

Er hielt mitten im Schritt inne.»Brandstiftung?«sagte er völlig überrascht.»Warum sollte jemand…? Ach so!«In dem Moment fiel der Groschen, und ich dachte, daß diese plötzliche Erleuchtung unmöglich gespielt sein konnte.

Er hatte nichts gewußt.

Elgin Yaxley war in Hongkong und Terence O’Tree war im Gefängnis, und weder die beiden noch Bart Underfield waren eingebrochen, hatten Prügel verteilt oder Feuer gelegt.

Die einfachen Erklärungen waren allesamt falsch.

Ich hatte vorschnelle Schlüsse gezogen, dachte ich zerknirscht.

Nur weil ich George Millace nicht leiden konnte, war ich bereit, schlecht von ihm zu denken. Er hatte das belastende Foto gemacht, aber es gab nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, daß er es benutzt hatte, außer daß Elgin Yaxley einen bezahlten Job in Hongkong angenommen hatte, statt seine Versicherungsprämie in Rennpferde zu reinvestieren. Dazu hatte jeder Mann das Recht. Das machte ihn noch nicht zum Kriminellen.

Trotzdem war er ein Krimineller. Er hatte geschworen, daß er Terence O’Tree nie begegnet war, und doch war er ihm begegnet. Und es mußte auf jeden Fall vor der Gerichtsverhandlung im Februar gewesen sein, da O’Tree seitdem im Gefängnis saß. In den Wintermonaten direkt vor der Verhandlung konnte es auch nicht gewesen sein, denn es hatte ein Wetter geherrscht, bei dem man draußen sitzen konnte; und auf dem Tisch… Ich hatte es unbewußt registriert und erinnerte mich jetzt… auf dem Tisch vor dem Franzosen hatte eine Zeitung gelegen, auf der vielleicht das Datum zu erkennen war.

Ich ging langsam und nachdenklich nach Hause und projizierte meinen neuen großen Abzug mit einem Epi-skop an die Wohnzimmerwand.

Die Zeitung des Franzosen lag zu flach auf dem Tisch. Weder das Datum noch irgendeine aufschlußreiche Schlagzeile war zu erkennen.

Enttäuscht suchte ich den Rest des Bildes nach etwas ab, was Aufschluß über den Zeitpunkt geben konnte, und im Hintergrund, neben Madame an der Kasse im Innern des Cafes, hing ein Kalender an einem Haken. Buchstaben und Zahlen waren zwar nicht gestochen scharf, aber anhand ihrer groben Umrisse zu entziffern und besagten, daß es >Avril< im vergangenen Jahr war.

Elgin Yaxleys Pferde waren Ende April auf die Weide gekommen, und am vierten Mai erschossen worden.

Ich schaltete den Projektor aus und fuhr zur Rennbahn nach Windsor. Ich rätselte an den Ungereimtheiten herum und hatte ein Gefühl, als wäre ich in der sicheren Erwartung, das Zentrum erreicht zu haben, in einen Irrgarten um die Ecke getreten, nur um festzustellen, daß ich in einer Sackgasse gelandet war, umgeben von drei Meter hohen Hecken.

In Windsor erwartete mich ein mittelmäßiger Renntag, da alles, was Rang und Namen hatte, bei einem bedeutenderen Meeting in Cheltenham war, und wegen der schwachen Konkurrenz hatte eines von Harolds langsamsten alten Jagdpferden seinen großen Tag. Die Hälfte der übrigen, genauso alten Pferde stürzte netterweise, und mein altersschwacher Kumpel lief nach dreieinhalb Meilen Schinderei in großen Sätzen mit vor Erschöpfung gesenktem Kopf als Erster ins Ziel.

Er stand mit bebender Brust auf dem Absattelplatz, während ich, kaum weniger erschöpft, an den Gurtschnallen zerrte und meinen Sattel losmachte, aber angesichts der erfreuten Überraschung seiner hoffnungsfrohen älteren Besitzerin schien es die Mühe wert gewesen zu sein.

«Ich wußte, daß er es eines Tages schaffen würde«, sagte sie überschwenglich.»Ich wußte es. Ist er nicht ein großartiger alter Knabe?«

«Großartig«, stimmte ich zu.

«Es ist seine letzte Saison, wissen Sie. Ich muß ihn in den Ruhestand versetzen. «Sie klopfte ihm den Hals und sagte zu seinem Kopf hin:»Wir werden alle nicht jünger, alter Knabe, stimmt’s? Es kann nicht ewig so weitergehen, traurig aber wahr. Alles hat ein Ende, stimmt’s, alter Junge? Aber heute war ein großer Tag.«

Ich ging hinein und ließ mich wiegen, und ihre Worte begleiteten mich: Alles hat ein Ende, aber heute war ein großer Tag. Zehn Jahre waren großartig gewesen, aber alles hatte ein Ende.

Mein Inneres sträubte sich noch gegen den Gedanken an ein Ende, insbesondere an ein Ende, das von Victor Briggs diktiert wurde, aber irgendwo streckte der zarte Keim der Akzeptanz sein erstes Blättchen in die Dunkelheit. Das Leben änderte sich, alles hatte ein Ende. Ich selbst änderte mich. Ich wollte es nicht, aber es passierte einfach. Lange Zeit hatte ich mich treiben lassen, nun zog es mich an den Strand.

Außerhalb des Waageraums wäre keiner darauf gekommen. Ich hatte diese Woche untypischerweise vier Rennen gewonnen. Ich war der Jockey in Höchstform. Ich hatte eine Niete zum Sieg geführt. Verschiedene Trainer hatten mir für die nächste Woche fünf Rennen angeboten. Das >Erfolg zieht Erfolg nach sich Syndrom< war Trumpf. Überall Hochstimmung, Lächeln ringsumher. Und das alles knapp sieben Tage nach der Katastrophe mit Daylight. Kaum zu glauben.

Ich genoß die Glückwünsche und verscheuchte die Zweifel, und wenn jemand in diesem Moment von Aus-steigen geredet hätte, hätte ich gesagt:»Na sicher. in fünf Jahren.«

Es war keine Rede davon. Niemand erwartete, daß ich ausstieg. Aussteigen war ein Wort, das in meinem Kopf herumspukte, nicht in den Köpfen der anderen.

Jeremy Folk erschien wie angekündigt am folgenden Morgen, wand seine Storchengestalt schüchtern durch meine Haustür und folgte mir in die Küche.

«Champagner?«sagte ich und holte eine Flasche aus dem Kühlschrank.

«Es ist… ähm… erst zehn Uhr«, sagte er.

«Vier Siege müssen gefeiert werden«, sagte ich.»Wollen Sie lieber Kaffee?«

«Ähm… eigentlich… nicht.«

Trotzdem nahm er den ersten Schluck so, als würde seine Lasterhaftigkeit ihn überwältigen, und ich dachte, daß er trotz seiner raffinierten Tour tief im Herzen ein Konformist war.

Er hatte den Versuch gemacht, sich locker zu kleiden: kariertes Baumwollhemd, Baumwollkrawatte, hübscher hellblauer Pullover. Was immer er über meinen offenen Kragen, meine offenen Manschetten und mein unrasiertes Kinn denken mochte, er sagte es nicht. Er ließ seinen Blick wie gewohnt aus höchster Höhe prüfend umherschweifen und konzentrierte ihn wie gewohnt auf mein Gesicht, als seine Frage Gestalt angenommen hatte.

«Waren Sie… ähm… bei James Nore?«

«Ja.«

Ich bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich auf die ledergepolsterte Eckbank am Küchentisch zu setzen, und gesellte mich zu ihm, die Flasche in Reichweite.

«Er führt eine glückliche Ehe in Camden Hill.«

«Ach«, sagte Jeremy.»Aha.«

Ich lächelte.»Mrs. Nore hat ihn eines Tages überraschend besucht. Sie war vorher nie dagewesen. Sie hat James’ Freund kennengelernt, und sie hat wohl zum ersten Mal bemerkt, daß ihr Sohn hundertprozentig schwul ist.«

«Ach«, sagte Jeremy; der Groschen war gefallen.

Ich nickte.»Keine Nachkommen.«

«Und da kam sie auf Amanda. «Er seufzte und trank etwas blaßgoldenen Schampus.»Sind Sie sicher, daß er homosexuell ist? Ich meine… hat er das gesagt?«

«Mehr oder weniger. Aber ich kenne mich mit Homosexuellen aus, ich habe eine Zeitlang mit zwei Schwulen zusammengelebt. Man kriegt das irgendwie ins Gespür.«

Er schien leicht schockiert zu sein und überspielte es mit einem Rückfall in sein trottelhaftes Gestottere.

«Ach ja? Ich… sind Sie.? Ähm… Ich… Also… Leben Sie alleine.? Es geht mich nichts an. Entschuldigung.«

«Wenn ich mit jemand ins Bett gehe, ist dieser jemand weiblich«, sagte ich sanft.»Ich mag nur nichts Dauerhaftes.«

Er vergrub seine Nase und seine Verlegenheit in seinem Glas, und ich dachte an Duncan und Charlie, die sich drei Jahre lang in meiner Gegenwart umarmt, geküßt und geliebt hatten. Charlie war älter als Duncan gewesen, ein gestandener Mann in den Vierzigern, solide, fleißig und freundlich. Charlie war für mich Vater, Onkel und Beschützer zugleich gewesen. Duncan war geschwätzig und streitsüchtig und ein sehr guter Kumpel gewesen, und keiner von den beiden hatte versucht, mich in seiner Richtung zu beeinflussen.

Duncan war langsam weniger geschwätzig und dafür streitsüchtiger und ein weniger guter Kumpel geworden, und eines Tages hatte er sich in einen anderen verliebt und war ausgezogen. Charlies Kummer war leichenblaß und hoffnungslos tief gewesen. Er hatte seinen Arm um meine Schulter gelegt und mich an sich gedrückt und geweint; und ich hatte geweint, weil Charlie unglücklich war.

Meine Mutter war binnen einer Woche aufgekreuzt, hereingestürmt wie ein Wirbelwind. Riesige Augen, hohle Wangen, flatternde Seidenschals.

«Aber Charlie, Liebling, du mußt doch einsehen, daß ich Philip nicht bei dir lassen kann«, sagte sie.»Jetzt, wo Duncan weg ist. Schau ihn dir an, Lieber, er hat sich ganz schön herausgemacht. Charlie, Liebling, du mußt einsehen, daß er nicht hier bleiben kann. Jetzt nicht mehr. «Sie hatte zu mir hinübergesehen, strahlend, aber zerbrechlicher, als ich sie in Erinnerung hatte, und weniger hübsch.»Pack deine Sachen, Philip, mein Liebling. Wir gehen aufs Land.«

Charlie war in das kleine Kabuff gekommen, das er und Duncan in einer Ecke des Ateliers für mich gebaut hatten, und ich hatte ihm gesagt, daß ich ihn nicht verlassen wollte.

«Deine Mutter hat recht, Junge«, sagte er.»Es ist Zeit, daß du gehst. Wir müssen tun, was sie sagt.«

Er hatte mir beim Packen geholfen und mir zum Abschied eine seiner Kameras geschenkt, und noch am selben Tag wurde ich aus dem alten Leben in ein neues katapul-tiert. Am gleichen Abend lernte ich, wie man eine Pferdebox ausmistet, und am nächsten Morgen fing ich an zu reiten.

Nach einer Woche hatte ich an Charlie geschrieben, um ihm mitzuteilen, daß ich ihn vermißte, und er hatte ermutigend geantwortet, daß ich bald darüber hinwegkommen würde. Und ich kam darüber hinweg, während Charlie sich schrecklich nach Duncan verzehrte und zweihundert Schlaftabletten schluckte. Eine Woche vor den Pillen hatte Charlie ein Testament gemacht, in dem er mir seinen ganzen Besitz, einschließlich seiner anderen Kameras und der Dunkelkammerausrüstung vermachte. Er hinterließ auch einen Brief, in dem er sich entschuldigte und mir Glück wünschte.

«Paß auf Deine Mutter auf«, schrieb er.»Ich glaube, sie ist krank. Mach weiter mit dem Fotografieren. Du hast das Auge dafür. Du kommst schon klar, Junge. Mach’s gut, Charlie.«

Ich trank etwas Champagner und sagte zu Jeremy:»Haben Sie die Liste der Mieter von Pine Woods Lodge von den Maklern bekommen?«

«Ach Gott, ja«, erwiderte er, erleichtert, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.»Ich habe sie hier irgendwo. «Er klopfte etliche Taschen ab, steckte aber zwei Finger treffsicher in die, in der er den Zettel, den er suchte, verstaut hatte, und ich fragte mich, wieviel Energie er wohl täglich für seine Ablenkungsmanöver verschwendete.

«Da haben wir’s. «Er breitete den Zettel aus und zeigte darauf.»Wenn Ihre Mutter vor dreizehn Jahren dort war, müßte sie entweder mit den Pfadfindern, der Fernsehgesellschaft oder den Musikern zusammengewesen sein.

Aber die Fernsehleute haben nicht dort gewohnt, sagt der Makler. Sie haben nur tagsüber dort gearbeitet. Die Musiker allerdings haben dort auch gelebt. Es waren… ähm… experimentelle Musiker, was immer das heißen mag.«

«Mehr Seele als Erfolg.«

Er warf mir einen kurzen, scharfen Blick zu.»Einer aus dem Maklerbüro sagt, er erinnert sich, daß sie das ganze Stromnetz ruiniert haben und angeblich ständig high waren von irgendwelchen Drogen. Hört sich irgendwas davon nach… ähm… nach Ihrer Mutter an?«

Ich überlegte.

«Pfadfinder hören sich ganz und gar nicht nach ihr an«, sagte ich.»Die können wir außer acht lassen. Drogen hören sich sehr nach ihr an, aber Musiker nicht. Schon gar nicht erfolglose Musiker. Sie hat mich nie bei erfolglosen Leuten gelassen… oder bei musikalischen, wenn ich’s recht bedenke. «Ich überlegte weiter.»Ich denke, wenn sie in der Zeit wirklich drogensüchtig war, war es ihr vielleicht egal. Aber sie liebte Komfort. «Ich hielt wieder inne.»Man sollte sich wohl als erstes die Fernsehgesellschaft vornehmen. Die könnten uns zumindest sagen, an was für einer Produktion sie damals gearbeitet haben, und wer daran beteiligt war. Bestimmt haben sie noch irgendwo die Angaben.«

An Jeremys ungläubiger bis verwirrter Miene konnte man ablesen, wie seine Gefühle durcheinandergingen.

«Ähm…«, sagte er.»Ja, also…«

«Hören Sie«, unterbrach ich ihn,»stellen Sie einfach Fragen. Wenn sie mir nicht gefallen, beantworte ich sie nicht.«

«Sie sind so furchtbar direkt«, klagte er.»Also gut. Was soll das heißen, Ihre Mutter hat Sie bei Leuten gelassen, und was hat Ihre Mutter mit Drogen zu tun?«

Ich erläuterte ihm die Abladeprozedur und was ich den Deborahs, Samanthas und Chloes zu verdanken hatte. Allein Jeremys erschütterter Gesichtsausdruck machte mir deutlich, daß ich keine durchschnittliche Kindheit verlebt hatte.

«Mit den Drogen ist es etwas komplizierter«, sagte ich.»Ich wußte nichts von den Drogen, bis ich größer war, und nach meinem zwölften Geburtstag habe ich sie nur noch einmal gesehen. an dem Tag, an dem sie mich von den Homosexuellen weggeholt und zu dem Rennstall gebracht hat. Aber sicher hat sie, soweit ich zurückdenken kann, Drogen genommen. Manchmal hat sie mich eine Woche bei sich behalten, und da war so ein Geruch, ein beißender, unverwechselbarer Geruch. Jahre später habe ich ihn wieder gerochen… Ich muß über zwanzig gewesen sein… und es war Marihuana. Cannabis. Ich hab’s geraucht, als ich klein war. Einer der Freunde meiner Mutter hat es mir gegeben, als sie weg war, und sie war schrecklich wütend. Wissen Sie, sie hat sich auf ihre Weise bemüht, dafür zu sorgen, daß ich in geordneten Bahnen aufwuchs. Ein andermal hat ein Mann, mit dem sie liiert war, mir Acid gegeben. Sie war fuchsteufelswild.«

«Acid«, sagte Jeremy.»Meinen Sie LSD?«

«Genau. Ich habe das Blut durch meine Adern strömen sehen, als wäre die Haut durchsichtig. Ich konnte die Knochen sehen, wie auf einem Röntgenbild. Es war umwerfend. Man wird sich der Grenzen unsrer alltäglichen

Wahrnehmung bewußt. Ich konnte Geräusche dreidimensional wahrnehmen. Das Ticken einer Uhr. Unglaublich. Meine Mutter kam ins Zimmer und erwischte mich dabei, wie ich gerade aus dem Fenster fliegen wollte. Ich konnte auch ihr Blut kreisen sehen. «Ich konnte mich an alles sehr plastisch erinnern, obwohl ich damals erst fünf Jahre alt war.»Ich wußte nicht, warum sie so böse war. Der Mann hat gelacht, und sie hat ihn geschlagen. «Ich hielt inne.»Sie hat mich von Drogen ferngehalten. Sie ist an Heroin gestorben, glaube ich, aber sie hat dafür gesorgt, daß ich nie etwas davon zu sehen bekam.«

«Warum glauben Sie, daß sie an Heroin gestorben ist?«

Ich goß uns Champagner nach.

«Die Leute vom Rennstall haben davon gesprochen. Margaret und Bill. Bald nachdem ich dort hingekommen war, bin ich eines Tages ins Wohnzimmer gegangen, als sie sich gerade gestritten haben. Ich habe zunächst nicht begriffen, daß es um mich ging, aber sie sind verstummt, sowie sie mich gesehen haben, da war es mir klar. Bill hatte gesagt: >Er gehört zu seiner Mutter<, und Margaret unterbrach ihn und sagte: >Die hängt an der Nadel<, und dann sah sie mich und verstummte. Ich begriff gar nichts, fand nur die Vorstellung lustig. «Ich lächelte schief.»Erst Jahre später begriff ich, was Margarets Worte bedeutet hatten. Ich habe sie später darauf angesprochen, und sie hat mir erzählt, daß sie und Bill wußten, daß meine Mutter Heroin nahm, aber sie wußten genauso wenig wie ich, wo sie zu finden war. Sie vermuteten wie ich, daß sie gestorben war, und natürlich ahnten sie auch lange vor mir, woran. Sie haben es mir nicht erzählt, um mir den Schmerz zu ersparen. Nette Leute. Sehr nett.«

Jeremy schüttelte den Kopf.»Es tut mir leid«, sagte er.

«Nicht nötig. Es ist lange her. Ich habe nie um meine Mutter getrauert. Jetzt denke ich, daß das vielleicht nicht ganz in Ordnung war, aber ich habe nicht getrauert.«

Aber um Charlie hatte ich getrauert. Kurz, aber intensiv, im Alter von fünfzehn Jahren. Und vage trauerte ich heute immer noch von Zeit zu Zeit. Ich benutzte Charlies Vermächtnis fast jeden Tag: ganz konkret in Form seiner Fotografenausrüstung, und abstrakt in der Anwendung des Wissens, das er mir vermittelt hatte. Mit jeder Aufnahme, die ich machte, dankte ich Charlie.

«Ich versuche es also mit den Fernsehleuten«, sagte Jeremy.

«O.k.«

«Und Sie besuchen Ihre Großmutter.«

«Ich denke schon«, sagte ich ohne Begeisterung.

Jeremy schmunzelte.»Wo können wir sonst noch suchen? Nach Amanda, meine ich. Wenn Ihre Mutter Sie überall abgeladen hat, dann hat sie es mit Amanda wahrscheinlich ebenso gemacht. Haben Sie daran schon gedacht?«

«Ja.«

«Und?«

Ich schwieg. All diese Leute. Alles so lange her. Chloe, Deborah, Samantha… alles Schatten ohne Gesichter. Ich würde keine erkennen, wenn sie ins Zimmer käme.

«Woran denken Sie?«wollte Jeremy wissen.

«Von den Leuten, bei denen ich abgegeben wurde, hatte niemand ein Pony. An ein Pony würde ich mich erinnern. Da, wo das Foto von Amanda gemacht wurde, war ich nie.«

«Aha, ich verstehe.«

«Und ich glaube nicht, daß sie dieselben Freunde genötigt hätte, auf ein zweites Kind aufzupassen. Ich selbst bin nur selten an denselben Ort zurückgekehrt. Meine Mutter hat die Last zumindest verteilt.«

Jeremy seufzte.»Das ist alles äußerst ungewöhnlich.«

Ich sagte langsam und widerstrebend:»Vielleicht finde ich einen Ort, wo ich mal gelebt habe. Ich könnte es versuchen. Aber selbst dann. wohnen da jetzt möglicherweise andere Leute, und außerdem wissen sie wohl kaum etwas über Amanda.«

Jeremy stürzte sich darauf.»Das ist eine Chance.«

«Eine sehr magere.«

«Aber einen Versuch wert.«

Ich trank etwas Champagner und sah nachdenklich durch die Küche zu George Millaces Abfallschachtel hinüber, die auf der Anrichte stand, und plötzlich nahm eine verschwommene Idee Gestalt an. Es war einen Versuch wert. Warum nicht?

«Sie sind ganz woanders«, sagte Jeremy.

«Ja. «Ich sah ihn an.»Sie können gern bleiben, aber ich möchte mich heute mit einem anderen Rätsel beschäftigen. Hat nichts mit Amanda zu tun. Eine Art Schatzsuche… aber vielleicht gibt es gar keinen Schatz. Ich will’s ganz einfach herausfinden.«

«Ich… ähm…«, setzte er zögernd an, und ich stand auf und nahm die Schachtel und stellte sie auf den Tisch.

«Sagen Sie mir, was Sie von dem Zeug hier halten«, sagte ich.

Er öffnete die Schachtel und wühlte sich durch den Inhalt, nahm Sachen heraus und legte sie wieder zurück. Seine erwartungsvolle Miene wurde immer enttäuschter, und er sagte:»Das ist… einfach nichts.«

«Mm. «Ich streckte die Hand aus und fischte den scheinbar leeren Filmstreifen heraus, der ungefähr sechs Zentimeter breit und achtzehn Zentimeter lang war.»Halten Sie den mal gegens Licht.«

Er nahm den Filmstreifen und hielt ihn hoch.»Da sind Flecken drauf«, sagte er.»Ganz schwache. Man kann sie kaum sehen.«

«Es sind Bilder«, sagte ich.»Drei Bilder auf einem Einszwanziger-Film.«

«Also. man kann nichts erkennen.«

«Nein«, stimmte ich zu.»Aber wenn ich behutsam vorgehe. und Glück habe. wird man vielleicht etwas erkennen.«

Er war erstaunt.»Wie das?«

«Mit chemischen Verstärkern.«

«Aber wozu? Was soll das bringen?«

Ich saugte an meinen Zähnen.»Ich habe etwas höchst interessantes in dieser Schachtel gefunden. All diese Sachen wurden von einem großen Fotografen aufbewahrt, der außerdem ein komischer Kauz war. Ich denke mir einfach, daß möglicherweise noch mehr von dem Zeug hier nicht der Abfall ist, nach dem es aussieht.«

«Aber… was davon?«

«Das ist die Frage. Was davon… wenn überhaupt.«

Jeremy nahm einen Schluck Champagner.»Bleiben wir doch bei Amanda.«

«Sie bleiben bei Amanda. Ich kenne mich besser mit Fotos aus.«

Er sah dennoch interessiert zu, wie ich in einem Schrank in der Dunkelkammer herumkramte.

«Das sieht alles schrecklich professionell aus«, sagte er und ließ seinen Blick über die Vergrößerungsapparate und den Color-Prozessor schweifen.»Ich hatte keine Ahnung, daß Sie sich mit so was beschäftigen.«

Ich erzählte ihm kurz von Charlie und fand schließlich, was ich suchte: eine etwas verstaubte Flasche, die ich vor drei Jahren bei einem Urlaub in Amerika erstanden hatte. Auf dem Etikett stand >Negativ-Verstärker<, darunter die Gebrauchsanweisung. Sehr hilfreich. Viele Hersteller druckten ihre Anweisungen auf dünne Extrazettel, die naß wurden oder verlorengingen. Ich trug die Flasche zum Ausgußbecken hinüber, wo am Wasserhahn ein Wasserfilter befestigt war.

«Was ist das?«fragte Jeremy und zeigte auf das bauchige Ding.

«Zum Entwickeln von Fotos braucht man extrem sauberes, weiches Wasser. Und die Wasserleitung darf nicht aus Eisen sein, sonst gibt es massenhaft kleine schwarze Flecken auf dem Abzug.«

«So was Verrücktes.«

«Nicht verrückt, gut durchdacht.«

In einem Plastikmeßbecher mischte ich Wasser und Verstärker in dem Lösungsverhältnis, das auf der Gebrauchsanweisung angegeben war, und schüttete die Flüssigkeit in die Entwicklerschale.

«Ich habe so was noch nie gemacht«, sagte ich zu Jeremy.»Vielleicht funktioniert es nicht. Möchten Sie zusehen, oder wollen Sie lieber bei dem Schampus in der Küche bleiben?«

«Ich bin… äh… total gefesselt, muß ich zugeben. Was genau haben Sie vor?«

«Ich will von diesem leeren Filmstreifen mit den kaum sichtbaren Flecken Kontaktabzüge auf ganz normales Schwarzweißpapier machen, um zu sehen, was dabei herauskommt. Und dann werde ich das Negativ ins Verstärkerbad legen und anschließend noch einen Schwarzweißabzug machen, um zu überprüfen, ob ein Unterschied zu sehen ist. Und dann… tja, das müssen wir abwarten.«

Er sah zu, wie ich im schwachen roten Licht arbeitete, und steckte die Nase dabei fast in den Entwickler.

«Da scheint sich nichts zu tun«, sagte er.

«Man muß ein bißchen herumprobieren«, gab ich zu. Viermal versuchte ich, einen Abzug von dem leeren Film zu machen, mit unterschiedlicher Belichtungszeit, aber auf dem Papier erschien nur ein einheitliches Schwarz oder ein einheitliches Grau oder ein einheitliches Weiß.

«Da ist nichts drauf«, sagte Jeremy.»Hat keinen Sinn.«

«Warten Sie, bis wir den Verstärker benutzt haben.«

Mit mehr Hoffnung als Zuversicht legte ich den durchsichtigen Filmstreifen ins Verstärkerbad und bewegte ihn erheblich länger darin als die angegebene Mindestzeit. Dann wässerte ich ihn und hielt ihn gegen das Licht: die kaum sichtbaren Flecken waren immer noch kaum sichtbar.

«Nichts geworden?«fragte Jeremy enttäuscht.

«Weiß ich nicht. Ich weiß eigentlich nicht, was passieren soll. Vielleicht ist auch der Verstärker zu alt. Manche Fotochemikalien verlieren mit der Zeit ihre Wirksamkeit. Haltbarkeitsdatum und so weiter.«

Ich machte weitere Abzüge von dem Negativ mit denselben Belichtungszeiten wie zuvor, und wie zuvor war das Ergebnis ein einheitliches Schwarz und ein einheitliches Grau, aber auf dem hellgrauen Abzug sah man diesmal fleckige Stellen, und auf dem fast weißen Abzug verschwommene Formen.

«Ha«, sagte Jeremy.»Das wär’s dann wohl.«

Wir gingen in die Küche zurück, um nachzudenken und uns zu stärken.

«Zu dumm«, sagte er.»Machen Sie sich nichts draus, es war von vorneherein aussichtslos.«

Ich nahm ein paar prickelnde Schlückchen und ließ sie um meine Zähne perlen.

«Ich schätze, daß wir weiterkommen«, sagte ich,»wenn wir das Negativ nicht auf Papier, sondern auf einen anderen Film abziehen.«

«Auf einen Film abziehen? Meinen Sie auf so ein Ding, das man in den Fotoapparat tut? Ich wußte gar nicht, daß das geht.«

«Klar geht das. Man kann auf alles Abzüge machen, was mit einer Fotoemulsion beschichtet ist. Und man kann praktisch alles mit einer Fotoemulsion beschichten. Das heißt, es muß nicht unbedingt Papier sein, wenn das auch das übliche ist; man denkt natürlich an die Fotos im Familienalbum und den ganzen Kram. Aber man kann Leinwand mit der Emulsion beschichten und Bilder darauf abziehen. Oder Glas. Oder Holz. Oder sogar Ihren Handrücken, wenn Sie eine Zeitlang in der Dunkelheit stehen wollen.«

«Du liebe Güte.«

«Schwarzweiß natürlich«, sagte ich.»Nicht farbig.«

Ich ließ noch etwas Schampus sprudeln.

«Probieren wir es also nochmal«, sagte ich.

«Sie haben eindeutig eine Schwäche für so was«, sagte Jeremy.

«Eine Schwäche? Meinen Sie für Fotografie… oder für Rätsel?«

«Für beides.«

«Na ja. stimmt wahrscheinlich.«

Ich stand auf und ging zurück in die Dunkelkammer, und er folgte mir wieder als Zuschauer. Im trüben roten Licht nahm ich einen neuen, hochempfindlichen 2556er Film von Kodak und entrollte ihn zu einem langen Streifen, den ich in fünf Stücke schnitt. Auf jedes einzelne Stück machte ich unter dem weißen Licht des Vergrößerers einen Abzug von dem fast leeren Negativ mit jeweils unterschiedlicher Belichtungszeit, von einer Sekunde bis zu zehn Sekunden. Nach dem Belichten kam jedes Stück des hochempfindlichen Films ins Entwicklerbad, und Jeremy schwenkte sie in der Flüssigkeit herum und beugte sich tief hinab, um zu sehen, was herauskam. Und heraus kamen — nachdem wir jeden Filmstreifen im richtigen Moment aus dem Entwickler genommen und ins Fixierbad gelegt und schließlich gewässert hatten — fünf Positive. Mit diesen Positiven wiederholte ich die ganze Prozedur und erhielt auf diese Weise wieder Negative. Bei hellem Licht betrachtet, zeigte sich, daß alle neuen Negative eine erheblich dichtere Struktur hatten als die Ausgangsnegative. Zwei zeigten ein erkennbares Bild. die Flecken waren zum Leben erwacht.

«Warum lächeln Sie?«wollte Jeremy wissen.

«Schauen Sie mal«, sagte ich.

Er hielt den Negativstreifen, den ich ihm gab, ins Licht und sagte:»Ich stelle fest, Sie haben deutlichere Flecken herausbekommen. Aber es sind trotzdem immer noch Kleckse.«

«Stimmt nicht. Es sind drei Bilder von einem Mädchen und einem Mann.«

«Woher wissen Sie das?«

«Man bekommt mit der Zeit Übung im Negativlesen.«

«Sie sehen so selbstzufrieden aus«, meinte Jeremy vorwurfsvoll.

«Um ehrlich zu sein«, sagte ich,»ich bin verdammt zufrieden mit mir. Trinken wir doch den Champagner aus und machen dann weiter.«

«Wieso weitermachen?«sagte er, als wir wieder bei un-sern Gläsern in der Küche saßen.

«Abzüge von den neuen Negativen. Schwarzweißbilder. Die Enthüllung des Ganzen.«

«Was ist daran so komisch?«

«Das Mädchen ist nackt, mehr oder weniger.«

Er verschüttete fast sein Getränk.»Sind Sie sicher?«

«Man kann ihre Brüste erkennen. «Ich lachte ihn an.»Die sind sogar das Deutlichste auf dem Negativ.«

«Und… was… und ihr Gesicht?«

«Das werden wir gleich besser sehen. Sind Sie hungrig?«

«Du lieber Himmel. Es ist schon ein Uhr.«

Wir aßen Schinken und Tomaten und Vollkorntoast, machten den Schampus leer und gingen dann wieder in die Dunkelkammer.

Es war immer noch eine kitzlige Angelegenheit, von so schwachen Negativen Abzüge zu machen. Man mußte die richtige Belichtungszeit wählen und den Abzug genau im richtigen Moment aus dem Entwickler nehmen und ins Fixierbad legen, andernfalls bekam man nur ein mattes hell- oder dunkelgraues Blatt ohne Tiefe und Glanzlichter. Ich mußte mit den beiden besten neuen Streifen mehrere Versuche machen, bis ich wirklich sichtbare Ergebnisse bekam, aber zu guter Letzt hatte ich drei Bilder, die ziemlich scharf waren und mehr als scharf genug, um zu enthüllen, was George fotografiert hatte. Ich sah sie mir im hellen Licht unter einem Vergrößerungsglas an, und jeder Irrtum war ausgeschlossen.

«Was ist los?«sagte Jeremy.»Sie sind phantastisch. Unglaublich. Warum blasen Sie keinen Tusch und klopfen sich selber auf die Schulter?«

Ich legte die fertigen Bilder in den Trockner und spülte schweigend die Entwicklerschalen aus.

«Was haben Sie denn?«fragte Jeremy.»Was ist denn los?«

«Das ist das reinste Dynamit«, sagte ich.

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