Kapitel 20

Victor Briggs war mit seinem Mercedes gekommen, aber er fuhr mit Harold im Landrover hinauf in die Downs. Ich ritt auf einem Pferd. Die Morgenarbeit wurde zur allgemeinen Zufriedenheit absolviert, und jeder kehrte auf seine Weise zum Hof zurück.

Als ich in den Hof ritt, stand Victor Briggs wartend bei seinem Auto. Ich glitt vom Pferd und übergab es der Obhut eines Stallburschen.

«Steigen Sie ein«, sagte Victor.

Wortkarg wie immer. Er trug seine übliche Kleidung, seine Handschuhe gegen den kühlen Wind, und verfinsterte den Tag. Wenn ich in der Lage wäre, seine Aura wahrzunehmen, wäre sie schwarz, dachte ich.

Ich setzte mich vorne auf den Beifahrersitz, wo er hinzeigte, und er selbst schob sich neben mich hinters Steuer. Er ließ den Motor an, löste die Handbremse, stellte die Automatik auf Fahrt. Das ruhige Metallgehäuse glitt langsam aus Lambourn hinaus, zurück in die Downs.

Er hielt auf einem breiten Grasstreifen an. Von hier aus konnte man halb Berkshire überblicken. Er stellte den Motor ab, lehnte sich in seinem Sitz zurück und sagte:»Also?«

«Wissen Sie, wovon ich reden werde?«fragte ich.

«Mir kommt manches zu Ohren«, sagte er.»Mir kommt viel zu Ohren.«

«Das weiß ich.«

«Mir ist zu Ohren gekommen, daß den Relgan seine Schläger auf Sie losgelassen hat.«

«Ach ja?«Ich sah ihn interessiert an.»Wo haben Sie das gehört?«

«Spielclub«, sagte er mit verkniffenem Mund.

«Was haben Sie denn gehört?«

«Es stimmt doch?«sagte er.»Man hat die Spuren am Samstag noch gesehen.«

«Haben Sie was über die Gründe gehört?«

Er verzog den Mund zu einem unterdrückten Lächeln.

«Mir ist zu Ohren gekommen«, sagte er,»daß Sie den Relgan erheblich schneller aus dem Jockey Club hinausbefördert haben, als er hineinkam.«

Als er sah, wie ich erschrak, zuckte er wieder mit den Lippen, in einem weniger gelungenen Versuch, seine Heiterkeit zu verbergen.

«Haben Sie gehört, wie?«

Er sagte leicht bedauernd:»Nein. Nur, daß Sie es getan haben. Die Schläger haben geredet. Dumme, holzköpfige Muskelprotze. Den Relgan muß mit Ärger rechnen, wenn er sie anheuert. Die können nie den Mund halten.«

«Sind die… ähm… kann man sich die mieten?«

«Rausschmeißer in einem Spielclub. Käufliche Gorillas. Sie sagen es.«

«Sie haben George Millaces Frau zusammengeschlagen. Haben Sie davon auch gehört?«

Nach einer Pause nickte er, gab aber keinen Kommentar ab.

Ich sah in sein verschlossenes Gesicht, die weißliche

Haut, die schwarzen Bartschatten. Ein verschwiegener, massiger, schwerfälliger Mann, mit Zugang zu einer Welt, von der ich wenig wußte. Spielclubs, gedungene Schläger, Unterweltklatsch.

«Die Schläger haben gesagt, sie hätten Sie halbtot geschlagen«, sagte er.»Eine Woche später gewinnen Sie ein Rennen.«

«Sie haben übertrieben«, sagte ich trocken.

Wieder ein Zucken in den Mundwinkeln, aber auch ein Kopfschütteln.»Einer von ihnen hatte Angst. Eine Heidenangst. Sagte, daß sie zu weit gegangen wären… mit den Stiefeln.«

«Sie kennen sie wohl gut?«sagte ich.

«Sie reden.«

Wieder eine Pause, dann sagte ich ohne besondere Betonung:»George Millace hat Ihnen einen Brief geschickt.«

Er bewegte sich in seinem Sitz, schien sich fast zu entspannen, stieß einen langen Seufzer aus. Darauf hatte er gewartet, dachte ich. Hatte geduldig gewartet, Antworten gegeben, Entgegenkommen gezeigt.

«Seit wann haben Sie ihn?«sagte er.

«Seit drei Wochen.«

«Sie können ihn nicht nutzen. «In dieser Feststellung schwang leichter Triumph mit.»Sie bekämen selbst Ärger.«

«Woher wußten Sie, daß ich ihn habe?«sagte ich.

Er blinzelte. Er preßte die Lippen zusammen. Er sagte langsam:»Ich habe gehört, Sie hätten George Millaces…«

«George Millaces was?«

«Unterlagen.«

«Ah«, sagte ich.»Hübsches nichtssagendes Wort, >Unterlagen<. Woher haben Sie gehört, daß ich sie hätte? Von wem?«

«Ivor«, sagte er.»Dana. Unabhängig voneinander.«

«Erzählen Sie’s mir?«

Er dachte darüber nach, während er mich ausdruckslos musterte, und sagte dann widerwillig:»Ivor war so wütend, daß er es nicht für sich behalten konnte. Er hat zuviel über Sie geredet… Sie wären ein Giftzwerg… Sie wären zehnmal schlimmer als George Millace. Und Dana dann. an einem anderen Abend. Sie hat mich gefragt, ob ich wüßte, daß Sie etliche Erpresserbriefe haben und auch benutzen, die George Millace früher verschickt hatte. Sie hat mich gefragt, ob ich ihr helfen könnte, ihren wiederzubekommen.«

Jetzt lächelte ich.»Was haben Sie gesagt?«

«Ich habe gesagt, daß ich ihr nicht helfen kann.«

«Haben Sie Ihre Gespräche in Spielclubs geführt?«sagte ich.

«Ja.«

«Sind es. Ihre Spielclubs?«

«Geht Sie nichts an«, sagte er.

«Warum wollen Sie’s mir nicht erzählen?«sagte ich.

Nach einer Pause sagte er:»Ich habe zwei Partner. Vier Spielclubs. Die meisten Kunden wissen nicht, daß ich der Inhaber bin. Ich zeige mich mal hier, mal da. Ich spiele. Ich halte die Ohren offen. Ist Ihre Frage damit beantwortet?«

Ich nickte.»Ja, danke. Sind diese Schläger Ihre Schläger?«

«Ich habe sie als Rausschmeißer angestellt«, sagte er ernst,»nicht, damit sie Frauen und Jockeys zusammenschlagen.«

«Bißchen Schwarzarbeit, wie? So nebenbei.«

Er äußerte sich nicht dazu, sondern sagte:»Ich habe erwartet, daß Sie Forderungen an mich stellen, wenn Sie den Brief haben«, sagte er.»Ein paar Antworten… können doch nicht alles sein.«

Ich dachte an den Brief, den ich Wort für Wort auswendig kannte:

Lieber Victor Briggs,

ich bin sicher, es interessiert Sie, daß ich über die folgenden Informationen verfüge: Sie haben sich in den letzten sechs Monaten bei fünf verschiedenen Gelegenheiten mit einem Buchmacher zusammengetan, um das Wettpublikum zu täuschen, indem Sie dafür gesorgt haben, daß Ihre Favoriten die Rennen nicht gewonnen haben.

Es folgte eine Liste der fünf Rennen, komplett mit den Summen, die Victor von seinem Freund, dem Buchmacher, bekommen hatte. Dann hieß es weiter:

Ich habe eine unterzeichnete eidesstattliche Erklärung des bewußten Buchmachers in Händen.

Wie Sie sehen, wurden alle fünf Pferde von Philip Nore geritten, der sicher wußte, was er tat.

Ich könnte diese Erklärung an den Jockey Club schicken, was bedeuten würde, daß Sie beide gesperrt werden. Ich werde Ihnen jedoch in Kürze telefonisch einen Alternativvorschlag machen.

Der Brief war vor mehr als drei Jahren abgeschickt worden. Drei Jahre hatte Victor seine Pferde ehrlich laufen lassen. Genau eine Woche nach George Millaces Tod hatte Victor sein altes Spiel wieder aufgenommen. Hatte es wieder aufgenommen… und feststellen müssen, daß auf seinen wehrlosen Jockey kein Verlaß mehr war.

«Ich wollte gar nichts mit dem Brief unternehmen«, sagte ich.

«Bis heute hatte ich nicht vor, Ihnen zu sagen, daß ich ihn habe. Bis heute nicht.«

«Warum nicht? Sie wollten doch auf Sieg reiten. Sie hätten ihn dazu benutzen können, mein Einverständnis zu erzwingen. Man hatte Ihnen klar gemacht, daß Sie Ihren Job verlieren, wenn Sie nicht so reiten, wie ich es wünsche. Sie wußten, daß es für mich untragbar war, gesperrt zu werden. Trotzdem haben Sie den Brief nicht dazu benutzt. Warum nicht?«

«Ich wollte… daß Sie die Pferde um der Pferde willen ehrlich laufen lassen.«

Er warf mir wieder einen langen, starren, nichtssagenden Blick zu.

«Ich erzähle Ihnen was«, sagte er schließlich.»Gestern habe ich alle Siegprämien, die ich seit Daylights Rennen in Sandown gewonnen habe, zusammengezählt. Die für die zweiten und dritten Plätze und für Sharpeners Siege. Ich habe meine Wettgewinne, Sieg und Platz, zusammengezählt. Ich habe im letzten Monat mit Ihrem ehrlichen Einsatz mehr Geld verdient als mit Ihrem Sturz von Daylight. «Er hielt inne und wartete auf eine Reaktion, aber ich folgte seinem Beispiel und starrte ihn nur an.»Mir war klar«, fuhr er fort,»daß Sie keine krummen Touren mehr machen würden. Das habe ich begriffen. Ich weiß, daß Sie sich verändert haben. Sie sind ein anderer Mensch geworden. Älter. Stärker. Wenn Sie weiter für mich reiten, werde ich Sie nie wieder auffordern, ein Rennen zu verlieren. «Er machte wieder eine Pause.»Reicht das? Wollten Sie das hören?«

Ich wandte den Blick von ihm ab und ließ ihn über die windige Landschaft schweifen.

«Ja.«

Nach einer Weile sagte er:»George Millace wollte übrigens kein Geld. Nur.«

«Eine Spende für die verletzten Jockeys?«

«Sie wissen wohl alles?«

«Ich bin dahintergekommen«, sagte ich.»George wollte kein Geld für sich selbst erpressen… Sein Ziel war…«, ich suchte nach dem Wort,». Vereitelung.«

«Wie viele Leute waren betroffen?«

«Ich weiß von sieben. Möglicherweise acht, wenn Sie Ihren Buchmacher fragen.«

Er staunte.

«George Millace machte es Spaß, Leute zum Kuschen zu bringen«, sagte ich.»In gewisser Weise hat er das bei jedem versucht. Wenn er Leute bei Fehltritten erwischt hat, war es ihm ein besonderer Genuß. Er hatte für jeden einen Alternativvorschlag. Enthüllung, oder tun, was George wollte. Und George wollte, allgemein gesagt, Dinge vereiteln. Ivor den Relgans Machtspiele unterbinden. Dana daran hindern, Drogen zu nehmen. Andere Leute an anderen Sachen hindern.«

«Mich daran hindern, gesperrt zu werden«, sagte Victor mit einem Anflug von trockenem Humor. Er nickte.»Sie haben natürlich recht. Als George Millace mich anrief, habe ich knallharte Erpressung erwartet. Dann hat er gesagt, daß er nur wollte, daß ich mich benahm. So hat er sich ausgedrückt. Solange Sie sich benehmen, Victor, sagte er, solange passiert nichts. Victor. Er hat Victor zu mir gesagt. Ich hatte ihn nie persönlich kennengelernt. Wußte natürlich, wer er war, aber mehr auch nicht. Victor, hat er gesagt, als wäre ich ein kleiner Schoßhund, solange wir schön brav sind, passiert nichts. Aber wenn ich Verdacht schöpfe, Victor, werde ich Philip Nore mit meiner motorisierten Kamera per Teleobjektiv verfolgen, bis ich ihn erwischt habe, und dann Victor, dann geht’s euch beiden an den Kragen.«

«Erinnern Sie sich nach all der Zeit Wort für Wort an das, was er gesagt hat?«fragte ich überrascht.

«Ich habe es auf Band aufgenommen. Ich habe seinen Anruf ja erwartet. Ich wollte Beweise für die Erpressung. Alles was ich bekam, war eine Moralpredigt und der Vorschlag, dem Fonds für verletzte Jockeys tausend Pfund zu spenden.«

«Und damit war’s erledigt? Endgültig?«

«Er hat mir bei den Rennen immer zugezwinkert«, sagte Victor.

Ich lachte.

«Ja, sehr komisch«, sagte er.»Ist das jetzt alles?«

«Nicht ganz. Sie könnten noch etwas für mich tun, wenn Sie wollen. Sie wissen etwas, was Sie mir sagen könnten. Etwas, worüber Sie mir künftig berichten könnten.«

«Um was geht’s?«

«Um Danas Drogen.«

«Dummes Stück. Sie will einfach nicht hören.«

«Das wird sich bald ändern. Sie ist immer noch… zu retten. Und außer ihr noch.«

Ich erzählte ihm, was ich wollte. Er hörte aufmerksam zu. Als ich fertig war, erntete ich ein verkniffenes Lächeln.»Neben Ihnen ist George Millace der reinste Anfänger«, sagte er.

Victor fuhr mit seinem Auto davon, und ich ging zu Fuß über die Downs nach Lambourn zurück.

Ein sonderbarer Mann, dachte ich. Ich hatte in einer halben Stunde mehr über ihn erfahren als in sieben Jahren, und wußte immer noch so gut wie nichts. Trotzdem hatte ich von ihm bekommen, was ich wollte. Ganz freiwillig. Er hatte mir meinen Job gelassen, ohne jede Bedingung, solange ich ihn haben wollte. und mir in einer anderen Angelegenheit weitergeholfen, die genauso wichtig war. Das war nicht nur geschehen, weil ich den Brief besaß, dachte ich.

Während ich über die windigen, kahlen Hügel nach Hause ging, dachte ich an alles, was in den letzten paar Wochen passiert war. Nicht an George und seinen Sprengstoff, sondern an Jeremy und Amanda.

Weil Jeremy so hartnäckig war, hatte ich nach Amanda gesucht, und weil ich nach Amanda gesucht hatte, hatte ich eine Großmutter, einen Onkel und eine Schwester kennengelernt. Ich wußte jetzt etwas über meinen Vater. Ich hatte ein Gefühl für meine Herkunft, das ich vorher nicht besessen hatte.

Ich hatte Angehörige. Angehörige wie jeder andere auch. Sie waren nicht unbedingt liebevoll oder lobenswert oder erfolgreich, aber sie existierten. Ich hatte sie nicht gewollt, aber jetzt, da ich sie hatte, waren sie fest wie Grundsteine in meinem Kopf verankert.

Weil ich nach Amanda gesucht hatte, hatte ich Samantha gefunden und damit ein Gefühl der Kontinuität, der Zugehörigkeit. Ich sah das Muster meiner Kindheit aus einer anderen Perspektive, nicht als zerstückeltes Kaleidoskop, sondern als Kurve. Ich kannte einen Ort, wo ich gelebt hatte, eine Frau, die mich als Kind gekannt hatte, und von da aus schien ein glatter Weg zu Charlie zu führen.

Ich trieb nicht länger mit der Flut.

Ich hatte Wurzeln.

Ich erreichte die Stelle auf dem Hügel, von der aus ich auf mein Haus hinuntersehen konnte, den Vorsprung, den ich von meinem Wohnzimmerfenster aus sah. Ich blieb stehen. Ich sah fast ganz Lambourn vor mir liegen. Ich konnte Harolds Haus und den Hof sehen. Konnte die ganze Häuserreihe sehen, mit meinem Haus in der Mitte.

Ich hatte zu diesem Dorf gehört, war ein Teil davon gewesen, hatte sieben Jahre lang seine Intrigen geatmet. Hatte glückliche Zeiten durchgemacht, unglückliche, normale. Es war das, was ich mein Zuhause genannt hatte. Aber nun war ich im Herzen und im Geist dabei, den Ort zu verlassen. und bald würde ich mich auch körperlich entfernen. Ich würde an einem anderen Ort leben, mit Clare. Ich würde Fotograf werden.

Die Zukunft lag in mir; sie wartete, ich hatte sie angenommen. Der Tag war nicht fern, an dem ich in sie eintreten würde.

Ich würde bis zum Ende dieser Saison Rennen reiten, dachte ich. Noch fünf oder sechs Monate. Im Mai oder Juni, wenn der Sommer kam, würde ich dann meine Stiefel an den Nagel hängen. Abtreten, wie jeder Jockey es früher oder später tun mußte.

Ich würde es Harold bald erzählen, damit er Zeit hatte, bis zum Herbst einen anderen zu finden. Ich würde die letzte Zeit genießen, und vielleicht eine letzte Chance beim Grand National bekommen. Alles war möglich. Man konnte nie wissen.

Ich hatte immer noch Appetit, immer noch die Konstitution. Besser abtreten, bevor sich beides verflüchtigte, fand ich.

Ich ging ohne jedes Bedauern den Hügel hinab.

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