Von der Mittagsstunde an, wo ich, ohne ein Ergebnis vorweisen zu können, den Deckel auf die letzte Schachtel zurückgelegt hatte, in der sich Regenbogenopale aus Oregon von sanft wechselnder Farbe befanden, saß ich in Grevilles Büro, las den von June ausgedruckten Schnellkurs in Betriebswirtschaft durch und fing an, das Muster eines Cash-flows zu erkennen, das keinen unmittelbaren Anlaß zu Besorgnis gab. Annette, die ganz routinemäßig alle Zahlungseingänge täglich zur Bank gegeben hatte, legte mir ein ganzes Bündel von Schecks zur Unterschrift vor, und ich erledigte dies, allerdings mit dem Gefühl, daß der falsche Name dort auf der entsprechenden Linie stand. Danach brachte sie mir die Tagespost wegen einiger Entscheidungen, die ich mir mühselig abrang.
Etliche Leute aus der Edelsteinbranche riefen an, reagierten damit auf die Anzeige von Grevilles Tod, die an diesem Morgen in den Zeitungen erschienen war. Annette, die allen versicherte, daß die Show weitergehen werde, klang dabei sehr viel zuversichtlicher, als sie aussah.»Sie beklagen alle, daß Ipswich zu weit entfernt sei, versichern aber, daß sie im Geiste dort sein würden«, berichtete sie.
Um vier kam ein Anruf von Elliot Trelawney, der mitteilte, daß er die Nummer der Dame entschlüsselt habe, die sich dagegen verwahrt hatte, daß der Name Grevilles in ihrem Hause noch einmal genannt werde.
«Es ist eigentlich höchst traurig«, sagte er mit einem Kichern.
«Wahrscheinlich sollte ich auch nicht lachen. Diese Dame kann und wird Greville nicht verzeihen, denn er hat ihre hochwohlgeborene Tochter für drei Monate in den Knast geschickt, weil sie Kokain an einen Freund verkauft hat. Die Mutter war bei der Verhandlung anwesend, ich erinnere mich an sie, und sprach hinterher mit den Zeitungsleuten. Sie wollte einfach nicht glauben, daß der Verkauf von Kokain an einen Freund ein Vergehen sei. Drogenhändler, die seien verabscheuungswürdig, natürlich, aber das sei doch wohl nicht dasselbe wie der Verkauf an Freunde.«
«Wenn sich Gesetze als störend erweisen, dann ignoriere sie, sie gelten nicht für dich.«
«Wie bitte?«
«Ein Satz, den Greville in sein Notizbuch geschrieben hat.«
«O ja. Es scheint so, daß Greville sich die Telefonnummer der Mutter hat geben lassen, um mit ihr über Rehabilitationsmaßnahmen für die Tochter zu sprechen, aber Mama wollte ihn nicht anhören. Sagen Sie…«Er zögerte.»Melden Sie sich hin und wieder mal? Treffen wir uns gelegentlich zu einem Drink im >Rook and Castle«
«Sehr gern, ja.«
«Und sollten Sie diese Aufzeichnungen finden, dann lassen Sie’s mich bitte wissen.«
«Natürlich«, sagte ich.
«Wir möchten diesen Vacarro gern stoppen, verstehen Sie?«
«Ich werde überall nachschauen«, versprach ich.
Den Hörer auflegend, befragte ich Annette.
«Aufzeichnungen zu seinen Fällen?«sagte sie.»O nein, die brachte er nie mit in die Firma.«
Wie er ja auch nie Diamanten gekauft hat, dachte ich trocken. Keine Spur von ihnen, weder in den Aufbewahrungshüllen noch in den Büchern.
Der leise, drängende Weckton war wieder gedämpft in der Schreibtischschublade zu hören. Meine Uhr zeigte zwanzig nach vier. Ich zog das Fach an seinem Griff heraus — und der Wecker hörte wie beim vorigen Mal auch sofort auf zu piepsen.
«Suchen Sie etwas?«fragte June, die gerade hereingeweht kam.
«Irgend etwas mit einer Weckvorrichtung wie beispielsweise eine Digitaluhr.«
«Das kann nur diese Weltuhr sein«, sagte sie.»Mr. Franklin pflegte sie sich zu stellen, um sich selbst daran zu erinnern, daß er Lieferanten in Tokio und so weiter anrufen wollte.«
Ich dachte bei mir, daß ich den Wecker eigentlich nicht brauchte, wo ich doch gar nicht wußte, was ich den Lieferanten sagen sollte.
«Möchten Sie, daß ich ein Fax nach Tokio schicke und mitteile, daß die Perlen gut hier eingetroffen sind?«fragte sie.
«Tun Sie das sonst denn auch?«
Sie nickte.»Sie machen sich leicht Sorgen.«
«Dann bitte.«
Als sie gegangen war, erschien Jason mit seinem orangefarbenen Haar in der Tür und erzählte mir ohne jede Spur frecher Überheblichkeit, daß er das Zeug zu Prospero Jenks geschafft, einen Scheck wieder mitgebracht und diesen Annette übergeben habe.
«Danke«, sagte ich unbewegt.
Er warf mir einen nicht zu deutenden Blick zu und meinte:»Annette hat gesagt, ich sollte Ihnen das mitteilen«, und entfernte sich. Eine erstaunliche Wandlung zum Besseren, dachte ich.
Ich blieb an diesem Abend noch im Büro, nachdem alle anderen gegangen waren, und durchmaß langsam Grevilles Reich — auf der Suche nach Verstecken, die listig und tückisch und höchst irreführend waren.
Es war gänzlich unmöglich, die ungezählten flachen Schubladen in den Lagerräumen zu durchsuchen, und ich kam zu dem Schluß, daß er die wohl auch kaum gewählt haben würde, hätten doch Lily oder einer von den anderen da zu leicht finden können, was sie oder er nicht finden sollten. Das war überhaupt das Problem dieser ganzen Räumlichkeiten, dachte ich schließlich. Greville hatte sich in das Bemühen, die Entstehung persönlicher Nischen zu verhindern, selbst einbezogen, waren doch offensichtlich alle seine Mitarbeiter höchst zutraulich in seinem Büro ein- und ausgegangen, wann immer ihnen dies erforderlich erschienen war.
Ständig präsent war auch der unangenehme Gedanke, daß, wenn Greville irgendeinen Hinweis auf die Diamanten in seinem Büro hinterlassen hatte, dieser leicht mit dem artistischen Einbrecher verschwunden sein konnte, das heißt gar nichts mehr da war, was ich hätte finden können — und in der Tat fand ich nichts, was auch nur annähernd brauchbar gewesen wäre. Nach einer Stunde ohne jedes Ergebnis schloß ich alles zu, was nur zuzuschließen war, und ging in den Hof hinunter zu Brad, damit er mich nach Hause fahre.
Der Tag von Grevilles Bestattung brach kalt und klar an, und wir bewegten uns schon ostwärts, als die Sonne aufging. Da die Fahrt nach Ipswich insgesamt nur drei Stunden beanspruchte, hatten wir bei unserer Ankunft in der Stadt noch ausreichend Zeit, uns nach Grevilles Wagen umzusehen.
Nachfragen bei der Polizei hatten zu keinem positiven Ergebnis geführt. Sie hatten keinen uralten Rover abgeschleppt, mit Krallen bewegungsunfähig gemacht oder mit Strafzetteln verziert. Sie hatten die Autonummer in keiner Straße und auf keinem Parkplatz entdecken können, aber das besagte noch nichts Endgültiges, wie sie mir versichert hatten. Für sie habe die Fahndung nach dem Wagen keinerlei Priorität, da er ja nicht als gestohlen gemeldet worden sei, aber sie würden mir natürlich Bescheid geben, wenn, ja, wenn.
Ich erklärte Brad unterwegs den Autosucher und hatte auch einen Stadtplan dabei, der unbedingt dazugehörte.
«Es scheint, daß die Scheinwerfer des Autos angehen und ein Pfeifton hörbar wird, wenn man auf diese rote Taste hier drückt«, sagte ich.»Sie fahren also, und ich drük-ke, okay?«
Er nickte, schien belustigt, und wir machten uns daran, auf diese etwas absonderliche Art und Weise nach dem Auto zu suchen. Wir fingen im Stadtzentrum in der Nähe der Stelle an, wo Greville gestorben war, und fuhren von dort aus sehr langsam die Straßen ab, zuerst die in nördlicher Richtung, dann die nach Süden, und ich markierte auf dem Stadtplan die, die wir erledigt hatten. In den Wohnvierteln standen die Autos oft Stoßstange an Stoßstange geparkt, aber nirgends ertönte ein Pfeifton. Es gab öffentliche Parkplätze und Parkplätze von Geschäften und den Parkplatz am Bahnhof, aber nirgendwo ließen wir Lichter angehen. Rover des Modells 3500 waren in jedem Falle nicht sehr häufig vertreten, und wenn wir einen sahen, dann hielten wir an, um uns das Kennzeichen anzusehen, auch wenn die Farbe des Wagens nicht grau war — aber der von Greville war nicht darunter.
Bedrückende Enttäuschung machte sich breit. Ich hatte ernsthaft vorgehabt, das Auto zu finden. Als sich die Mittagszeit näherte, es auf zwei Uhr zuging, fing ich an zu glauben, daß ich nicht so lange hätte warten sollen, daß ich sofort nach Grevilles Tod die Suche hätte aufnehmen müssen. Aber am vergangenen Sonntag, so dachte ich dann auch, war ich nicht in der Verfassung dazu gewesen, und ich wußte ja auch überhaupt erst seit Dienstag, daß es da etwas Wertvolles zu suchen gab. Selbst jetzt noch war ich mir sicher, daß er die Diamanten niemals ungeschützt hätte herumliegen lassen, aber irgendeinen Grund dafür, daß er in Ipswich gewesen war… bei etwas Glück, warum nicht?
Das Krematorium lag in einem Garten mit säuberlich gepflanzten Rosenbäumen — Brad setzte mich am Eingang ab und fuhr weiter, um sich etwas zu essen zu suchen. Zwei schwarzgewandete Herren begrüßten mich, beide mit angemessenem Gesichtsausdruck, und stellten sich mir als der Bestatter, dem ich den Auftrag erteilt hatte, und als einer der für das Krematorium zuständigen Angestellten vor. Eine Fülle von Blumen sei gekommen, sagten sie, und erkundigten sich, welche davon ich auf den Sarg gelegt haben wolle.
Ein wenig verwirrt ließ ich mir die Blumen zeigen, die in einem langen, überdachten Gang neben dem Gebäude lagen. Ein oder zwei Gruppen weinender Menschen besahen sich dort Kränze, die für ihre Trauerfeier bestimmt waren.
«Dies hier sind die für Mr. Franklin«, sagte der Krematoriumsangestellte und wies auf zwei lange Reihen leuchtender Sträuße, die an diesem Ort des Todes bunte Lebendigkeit ausstrahlten.
«Die alle?«sagte ich erstaunt.
«Sie sind den ganzen Vormittag über gekommen. Welche wollen Sie drin haben, auf dem Sarg?«
Ich sah, daß Kärtchen an den Sträußen steckten.
«Ich habe selbst auch welche geschickt, für meine Schwestern und mich«, sagte ich zweifelnd.»Auf dem Kärtchen steht Susan, Miranda und Derek. Die hätte ich gern.«
Der Bestattungsunternehmer und der Angestellte hatten wegen meiner Krücken Mitleid mit mir und halfen, den richtigen Strauß zu suchen. Ich stieß dabei nicht gleich auf die Karte, nach der ich fahndete, sondern auf eine andere, die mir den Atem nahm.
Ich werde täglich um vier Uhr zwanzig an Dich denken.
Gruß, C.
Die dazugehörigen Blumen waren samtig-rote Rosen, die zusammen mit Farnkraut in einer dunkelgrünen Schale steckten. Zwölf süß duftende Rosen. >Dozen Roses<, schoß mir durch den Kopf. Grundgütiger Himmel!
«Ich hab sie«, rief der Bestatter und nahm einen großen, sehr aufwendigen Strauß rosa und bronzefarbener Chrysanthemen auf.»Das sind Ihre.«
«Großartig. Also, wir werden auch diese Rosen hier dazunehmen und auch diese Blumen gleich daneben, die seine Mitarbeiter geschickt haben. Geht das?«
Offensichtlich ging es. Annette und June hatten sich nach quälenden Besprechungen und Telefonaten für rein weiße Blüten entschieden, und ich hatte ihnen versprechen müssen, sie mir anzuschauen und ihnen zu bestätigen, daß sie hübsch waren. Wir hatten beschlossen, daß alle Mitar-beiter in London bleiben und das Geschäft in Gang halten sollten, weil so viel zu tun war — obwohl ich geglaubt hatte, von Junes niedergeschlagenem Gesichtsausdruck ablesen zu können, daß sie die Reise hierher gern gemacht hätte.
Ich fragte den Angestellten, wo die anderen Blumen alle hergekommen seien, und er sagte, zumeist von Geschäften und Firmen, und er werde die Karten nachher alle einsammeln und mir dann geben.
Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, daß ich Greville vielleicht besser mit nach London hätte nehmen sollen, damit ihm Freunde und Kollegen das letzte Geleit hätten geben können, verspürte dann aber während der nun folgenden, sehr stillen halben Stunde kein Bedauern mehr darüber, es nicht getan zu haben. Der Geistliche, den das Beerdigungsinstitut engagiert hatte, fragte mich, ob ich die vollständige Liturgie wünsche, sei ich doch, wie es scheine, der einzige anwesende Leidtragende, und ich sagte, ja, die ganze, das sei wohl angemessen.
Seine Stimme war ein bißchen monoton. Halb hörte ich ihm zu, halb beobachtete ich, wie die Sonnenstrahlen durch eines der hohen seitlichen Fenster auf den Sarg fielen, und dachte dabei zumeist nicht an Greville, wie er im Leben gewesen war, sondern daran, welche Bedeutung er im Verlauf der vergangenen Woche für das meine gewonnen hatte.
Sein Leben hatte sich um meine Schultern gelegt wie ein Umhang. Am Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag hatte ich soviel von seinem Geschäft gelernt, daß ich es nie wieder vergessen würde. Menschen, die ihm vertraut hatten, hatten dieses Vertrauen auf mich übertragen, so nicht zuletzt auch sein Freund Elliot Trelawney, der mich zum Ersatz-Greville ernannt hatte, mit dem er sich auf ein Bier treffen konnte. Clarissa Williams hatte ihre Blumen in dem Wissen geschickt, daß ich sie sehen würde, wollte also, daß ich mich ihrer entsann — als ob ich das nicht auch so getan hätte. Nicholas Loder war darauf aus, mich für seinen Stall und seine Ziele einzuspannen. Pro-spero Jenks würde schon bald sehr entschieden die Diamanten für sein Phantasiestück anmahnen, und der Bankkredit hing wie eine schwarze Gewitterwolke über all meinen Gedanken.
Greville, der dort kalt in seinem Sarg lag, hatte wohl nicht gewollt, daß dies alles so geschähe.
Ein Mann von Ehre, dachte ich. Ich wiederholte im Stillen sein Gebet für ihn, da es ein guter Augenblick dafür zu sein schien. Laß mich mein Geschäft ehrenhaft betreiben. Laß mich mutig handeln. Laß mich demütig werden. Ich vermochte nicht zu sagen, ob er das letztere geschafft hatte — ich wußte nur, daß ich es nie schaffen würde.
Der Geistliche brachte seine Leierei zum Abschluß. Der Angestellte nahm die drei Blumengebinde vom Sarg, legte sie auf den Boden, und dann glitt der Sarg unter surrenden und leise quietschenden Geräuschen, die in der Stille sehr laut klangen, nach vorn und aus meinem Gesichtskreis hinaus, dem Feuer entgegen.
Adieu, mein Freund, sagte ich unhörbar. Adieu — nur daß du mir jetzt um vieles näher bist als jemals zuvor.
Ich trat in die kalte, frische Luft hinaus und dankte allen und bezahlte alles und veranlaßte, daß die Blumen ins St. Catherine’s Hospital gebracht würden, was kein Problem zu sein schien. Der Angestellte übergab mir die abgelösten Kärtchen und fragte mich, was ich mit der Asche meines Bruders zu tun gedächte, und ich verspürte den Drang, albern zu lachen, was wohl, wie ich seinem todernsten Gesicht ansah, höchst unziemlich gewesen wäre. Die Sache mit der Asche war mir schon immer als etwas erschienen, was einen nur in Verlegenheit bringen konnte.
Er wartete geduldig auf meine Entscheidung.»Wo Sie hier so schöne, große Rosenbäume haben«, sagte ich schließlich,»wäre es, denke ich, sehr schön, wenn Sie noch einen pflanzen und die Asche dazugeben würden.«
Ich bezahlte den Rosenbaum, dankte ihm nochmals und wartete eine Weile darauf, daß Brad zurückkehre, was er auch tat — mit einem selbstgefälligen Gesicht und ein deutlich erkennbares Lächeln zur Schau stellend.
«Ich hab’s gefunden«, sagte er.
«Was?«Ich war in Gedanken noch immer bei Greville.
«Den fahrbaren Untersatz Ihres Bruders.«
«Nicht möglich!«
Er nickte, in höchstem Maße mit sich zufrieden.
«Wo?«
Das wollte er nicht verraten. Er wartete, bis ich im Auto saß, fuhr dann im Triumph ins Stadtzentrum und hielt knapp dreihundert Meter von der Stelle entfernt, wo das Baugerüst zusammengebrochen war. Dann deutete er mit der ihm eigenen Sparsamkeit auf den Vorplatz eines Gebrauchtwarenhändlers, wo unter Schnüren mit flatternden Fähnchen lange Reihen von Angeboten standen, die Preise in großen weißen Zahlen auf ihre Windschutzscheiben gemalt.
«Eins davon?«fragte ich ungläubig.
Brad gluckste — es gab kein anderes Wort für das Entzücken in seiner Kehle.»Hinten aufm Hof.«
Er fuhr auf den Vorplatz, dann hinter den Autos entlang und um eine Ecke — und wir befanden uns vor den weit geöffneten Toren einer Werkstatt, die Reparaturen, Ölwechsel, TÜV-Abnahme sowie Damen und Herren bot. Brad hielt den Autosucher aus dem offenen Wagenfenster, drückte auf die rote Taste, und irgendwo in den schattigen
Tiefen der Werkstatt blendete ein Paar Scheinwerfer auf und wieder ab. Gleichzeitig ertönte ein durchdringendes Pfeifen.
Ein böse dreinblickender Mechaniker in einem ölverschmierten Arbeitsanzug kam herausgerannt. Er erklärte mir, daß er der hier zuständige Meister sei, den Rover 3500 nur zu gern von hinten sähe, ich ihm die Gebühren für eine Woche parken, die Kosten für die Reinigung der Zündkerzen des V.8-Motors und dazu noch einen Aufschlag für die Unannehmlichkeiten, die er gehabt habe, schuldig sei.
«Was für Unannehmlichkeiten?«
«Den Platz für eine Woche gebraucht, wo es doch nur für eine Stunde sein sollte, und diese Pfeife da hat mir heute schon dreimal das Trommelfell zerrissen.«
«Dreimal?«fragte ich überrascht.
«Einmal heute morgen und zweimal heute nachmittag. Dieser Herr da ist vorhin schon mal vorbeigekommen, wissen Sie. Er sagte nur, daß er mir den neuen Besitzer von dem Rover herholen wollte.«
Brad warf mir einen strahlenden Blick zu. Der Autosucher hatte bereits heute früh sein Bestes für uns getan, wie es schien, nur hatten unsere Augen und Ohren dies nicht bemerkt, weil das Auto zu weit außerhalb unseres Gesichtskreises gestanden hatte.
Ich bat den Meister, mir eine Rechnung auszustellen, und stieg aus meinem Wagen aus, um zu Grevilles hinüberzuhumpeln. Die Türen des Rover ließen sich öffnen, aber der Kofferraum war verschlossen.
«Hier«, sagte der Meister und kam mit der Rechnung und dem Zündschlüssel herbei.»Der Kofferraum geht nicht auf. Irgend so ’ne Art von Schnickschnack-Schloß. Spezialanfertigung. Verdammt lästig.«
Ich gab ihm besänftigend meine Kreditkarte zur Begleichung der Rechnung, und er schleppte sie in ein Kabuff von Büro.
Ich blickte wieder zum Rover hin.»Können Sie den fahren?«fragte ich Brad.
«Wollja«, sagte er finster.
Ich lächelte und zog Grevilles Schlüsselbund aus der Tasche, um zu sehen, ob einer der Schlüssel den Kofferraum öffnen würde — und das war zu meiner Erleichterung der Fall, obwohl der betreffende Schlüssel keiner war, den man normalerweise mit Autos in Verbindung gebracht hätte. Sah aus wie ein Safe-Schlüssel, dachte ich, und das Schloß, das dann sichtbar wurde, war entsprechend kompliziert und aus Stahl. Sein Einbau war typisch für Greville, der nach seinen Erfahrungen mit dem Porsche auf ein Höchstmaß an Sicherheit bedacht gewesen war.
Zu dem so stark gesicherten Schatz gehörten ein Satz teuer aussehender Golfschläger, dazu ein Caddie und eine Schachtel mit neuen Golfbällen, ein großer brauner Umschlag, eine Reisetasche mit Schlafanzug, frischem Hemd, Zahnbürste und einer rot-orangefarbenen Dose Rasierschaum, ferner ein schnurloses, tragbares Telefon wie meins, ein kleiner PC, ein tragbares Telefax-Gerät, ein geöffneter Karton mit Fax-Papier, ein blankpoliertes Holzkästchen, in dem sich eine hübsche Messingwaage und federleichte Gewichte befanden, eine Dieb stahlsicherung, die am Lenkrad anzubringen war, eine riesige Taschenlampe und ein kompliziert aussehender, schwerer, orangefarbener Metallapparat, in dem ich, mich Grevilles begeisterter Schilderung erinnernd, ein Gerät wiedererkannte, das man unter einen platten Reifen montieren und dann damit zur nächsten Werkstatt fahren konnte, ohne das Rad am Straßenrand wechseln zu müssen.
«O Mann!«sagte Brad und besah sich die Ladung, und auch dem Mechaniker, der mit dem Zettelkram zurückkam, war sogleich die Notwendigkeit der besonderen Sicherheitsvorkehrungen einsichtig.
Ich klappte den Kofferraumdeckel zu und verschloß ihn wieder, was mich irgendwie Greville sehr ähnlich zu machen schien, und warf dann einen schnellen Blick in das Innere des Wagens, wo ich die Art von Unordnung vorfand, die auch der größten Ordnungsliebe trotzt — Zündholzschachteln, Papierstreifen von Parkuhren, eine blau getönte Sonnenbrille und eine Zellophanpackung mit Papiertaschentüchern. In der Türablage auf der Fahrerseite eine Straßenkarte, unordentlich hineingestopft.
Ich nahm sie heraus. Es war eine Karte von East Anglia, auf der die Strecke zwischen London und Ipswich tiefschwarz nachgezeichnet worden war. Am Rand waren die Nummern der Straßen, denen man folgen mußte, untereinander aufgelistet. Die markierte Strecke endete aber nicht, wie ich mit Interesse feststellte, in Ipswich, sondern führte weiter bis Harwich.
Das an der Nordsee gelegene Harwich war ein Fährhafen. Von Harwich nach Hoek van Holland — eine der historischen Verbindungen wie die zwischen Dover und Calais oder Folkestone und Oostende. Ich wußte nicht, ob es diese Fähren von Harwich aus überhaupt noch gab, und dachte, daß Greville, wenn er nach Holland hätte reisen müssen, wohl mit Sicherheit geflogen wäre. Trotzdem aber war er allem Anschein nach auf dem Weg nach Harwich gewesen.
Ich wandte mich abrupt an den Meister, der mit ersten Anzeichen der Ungeduld unserer Abfahrt harrte, und fragte:»Gibt es irgendwo hier in der Nähe ein Reisebüro?«
«Drei Häuser weiter«, sagte er und zeigte die Richtung an,»aber hier können Sie nicht parken, wenn Sie dorthin wollen.«
Ich gab ihm ein Trinkgeld, das groß genug war, um eine Meinungsänderung zu bewirken, ließ Brad zurück, damit er auf die Autos aufpasse, und hinkte an meinen Krücken die Straße entlang. An der bezeichneten Stelle tauchte das Reisebüro auf, und ich ging hinein, um mich über Fährverbindungen nach Hoek van Holland informieren zu lassen.
«Natürlich«, sagte ein entgegenkommendes Mädchen.»Sie fahren täglich und auch jede Nacht. Sealink befährt diese Strecke. Wann wollen Sie fahren?«
«Das weiß ich eigentlich noch nicht.«
Sie hielt mich wohl für nicht ganz richtig im Kopf.»Also, die St. Nicholas fährt jeden Morgen nach Holland rüber, und die Koningin Beatrix jeden Abend.«
Ich muß so verdattert ausgesehen haben, wie ich mich fühlte. Ich schloß meinen offenstehenden Mund.
«Was ist denn?«fragte sie.
«Nichts, nichts. Vielen Dank.«
Sie zuckte die Achseln, als entzögen sich die Marotten des Reisepublikums jeglichem Verstehen, und ich hüpfte mit meinem großen Batzen von Wissen zur Werkstatt zurück — ein Wissen, das zwar ein kleines Rätsel gelöst, mir gleichzeitig aber ein neues aufgegeben hatte, nämlich was Greville wohl mit der Koningin Beatrix im Sinn gehabt hatte, die kein Pferd, sondern ein Schiff war.
Brad fuhr den Rover nach London zurück und ich mein eigenes Auto, und dies in einem Tempo, das auch Schnek-ken zum Weinen hätte bringen können. Was immer die Werkstatt in Ipswich Grevilles Zündkerzen auch angetan haben mochte, bestehende Schwierigkeiten hatte sie nicht behoben, denn soweit ich sehen konnte, lief der V.8-Motor eher wie ein V.4er, wenn nicht sogar wie ein V. 1, 5er. Schon kurz nach Verlassen der Stadt hielt Brad an und reinigte die Zündkerzen unter Flüchen noch einmal, aber auch das brachte nichts.
«Braucht neue«, sagte er.
Ich nutzte die Zeit, um die Golftasche, die Schachtel mit den Bällen, die Reisetasche und alle sonstigen Gerätschaften gründlich zu untersuchen.
Keine Diamanten.
Wir fuhren weiter, der Rover bergauf in kleinem Gang gefährlich langsam und ich dicht hinter ihm für den Fall, daß er den Geist vollkommen aufgeben sollte. Mir machte diese gemächliche Fortbewegung eigentlich nichts aus, aber mein auf dem Wagenboden ruhender Fuß schickte immer wieder Stiche durch mein Bein nach oben, und endlich erwachte der Gesamtschmerz in meinem Knöchel zu neuem Leben. Aber im Unterschied zu der Rückfahrt aus Ipswich vor fünf Tagen war das ein Pappenstiel. Meine Verletzungen heilten noch immer schnell, dachte ich voller Dankbarkeit. Spätestens am Dienstag würde ich wieder laufen. Nun ja, mich zumindest dahinschleppen wie Grevilles Auto.
Es machte keine Freude sich vorzustellen, daß er, wenn seine Zündkerzen in Ordnung gewesen wären, nicht angehalten hätte, um sie nachsehen zu lassen, und folglich auch nicht im falschen Augenblick eine Straße in Ipswich entlanggegangen wäre. Wenn man die Zukunft vorhersehen könnte, würden keine Unfälle passieren. Wenn… — das war ein unglückliches Wort.
Am Ende erreichten wir aber doch noch die Straße vor Grevilles Haus und fanden auch zwei Parkplätze, wenn auch nicht direkt vor der Tür. Ich hatte Brad schon am Morgen gesagt, daß ich die Nacht in London bleiben wolle, um am nächsten Tag mit den Ostermeyers zusammen zum Rennen nach York zu fahren. Für den Fall, daß wir den Rover finden sollten, hatte mir ursprünglich vorgeschwebt, daß Brad ihn über die Ringstraße direkt nach Hungerford brächte, während ich nach London hineinfahren und dann nach der Rückkehr aus York von dort aus nach Hause zurückkehren würde. Da die Zündkerzen diesen Plan schon in der Nähe von Ipswich über den Haufen geworfen hatten, mußte nun Brad mit meinem Auto nach Hungerford fahren und ich, aus York zurück, mit der Bahn. Mochte Grevilles Auto, diese Ruine, derweil die Straße zieren.
Wir luden den gesamten Inhalt von Grevilles Kofferraum in den meines Wagens um — oder besser Brad tat dies, dieweil ich im wesentlichen nur zusah. Dann nahm Brad den großen braunen Umschlag aus dem Rover und meine eigene kleine Reisetasche aus meinem Auto, woraufhin wir auf das Haus zugingen und erwartungsgemäß Scheinwerfer und Hundegebell auslösten. Niemand in den umliegenden Häusern schenkte dem irgendeine Beachtung. Ich entriegelte die drei Schlösser und trat vorsichtig ein, aber auch diesmal war das Haus still und verlassen, nachdem ich erst einmal das Gekläffe abgeschaltet hatte. Brad lehnte Speis und Trank dankend ab und fuhr lieber weiter und nach Hause zu Mama, während ich, in Grevilles Stuhl sitzend, den großen braunen Umschlag öffnete und alles Wissenswerte über Vaccaro las, der in der Tat ein ganz böser Bube zu sein schien.
Im wesentlichen enthielt der Umschlag eine Kopie von Vaccaros sehr ausführlichem Antrag, aber auf einem angehefteten Blatt hatte Greville in handgeschriebener Kurzprosa vermerkt:
Ramön Vaccaro, gesucht wegen Drogenschmuggels, Florida, USA. Mehrfachen Mordes verdächtig, Opfer meistens Piloten, die aus Transport von Drogenpaketen aussteigen wollten. Vaccaro läßt niemanden am Leben, der plaudern könnte. Meine Infos von Pilotenwitwe, die sich zu Tode ängstigt. Will nicht vor dem Ausschuß erscheinen, hat aber so viele Insiderdetails preisgegeben, daß ich ihr glaube.
Vaccaro lockte Privatflieger mit beträchtlichen Anzahlungen, und wenn sie dann einen Flug nach Kolumbien gemacht und ihn heil überstanden hatten, hatte er sie an der Angel, und sie machten es wieder und wieder, bis sie schließlich reich genug waren, um kalte Füße zu bekommen. Dann starben die armen Schweine auf den Stufen ihrer Häuser durch Schüsse aus vorbeifahrenden Autos, keine Geräusche auf Grund von Schalldämpfern, keine Zeugen und keine Spuren. Aber alles Piloten, die eigene Flugzeuge hatten, zu viele, um Zufall zu sein. Witwe sagt, ihr Mann hatte Wahnsinnsangst, aber ließ es zu lange laufen. Sie hat wieder geheiratet, lebt in London, wollte immer Rache, konnte nicht glauben, daß es der gleiche Mann war, als sie in Lokalzeitung Bericht über Vaccaros Familienspielsalon und sein Foto sah. Familie! Sie wandte sich anonym an die Stadtverwaltung, die sie an mich verwies.
Wir brauchen Vaccaro nicht zu verurteilen. Geben ihm einfach keine Konzession. Witwe sagt, wir dürften ihn nie wissen lassen, wer seinen Antrag abgelehnt hat, weil er gefährlich und rachsüchtig ist, aber wie soll er einen ganzen Ausschuß zum Schweigen bringen? Die Polizei von Florida könnte Interesse haben, seinen Aufenthaltsort zu erfahren. Auslieferung?
Ich rief Elliot Trelawney in seinem Wochenendhaus an, berichtete ihm, daß ich die brandheißen Aufzeichnungen gefunden hätte und las sie ihm vor, was ihm einen Pfiff und ein Stöhnen entlockte.
«Aber Vaccaro hat Greville nicht umgebracht«, sagte ich.
«Nein. «Er seufzte.»Wie war die Bestattung?«
«Gut. Dank für Ihre Blumen.«
«Tut mir leid, daß ich nicht kommen konnte, aber an einem Arbeitstag und bei der Entfernung…«
«Es war alles recht so«, sagte ich noch einmal, und das war es ja tatsächlich auch gewesen. Ich war alles in allem sehr froh gewesen, daß ich allein geblieben war.
«Wären Sie einverstanden«, fragte er schüchtern,»wenn ich einen Gedenkgottesdienst für ihn abhalten ließe? Irgendwann in allernächster Zeit? Innerhalb eines Monats?«
«Aber ja doch«, sagte ich mit Wärme.»Ein wirklich großartiger Gedanke!«
Er bat mich, ihm die Unterlagen am Montag durch einen Boten ans Magistratsgericht zu schicken, und fragte, ob ich Golf spiele.
Nach einer Nacht in Grevilles schwarz-weißem Bett nahm ich am Morgen ein Taxi zum Hotel der Ostermeyers und traf sie — wie am Abend zuvor telefonisch vereinbart — in der Halle an.
Sie waren in ausgezeichneter Verfassung. Martha trug ein prachtvolles, maßgeschneidertes rotes Wollkleid und eine Nerzjacke, Harley einen neuen, englisch aussehenden Hut über seinem ungezwungenen Grinsen, Fernglas und Rennzeitung einsatzbereit in der Hand. Beide schienen entschlossen, sich dieses Tages zu freuen, was immer er bringen mochte. Von Harleys gelegentlicher Mißgestimmtheit war jedenfalls weit und breit nichts zu entdecken.
Der Chauffeur — ein anderer als am Mittwoch — fuhr auf die Minute pünktlich mit einem superkomfortablen Daimler vor. Alle Vorzeichen deuteten auf Glück hm, und so machten es sich die Ostermeyers auf dem Rücksitz bequem, während ich vorne neben dem Fahrer Platz nahm.
Der Chauffeur, der seinen Namen mit Simms angab, verstaute freundlicherweise meine Krücken im Kofferraum und sagte, daß das doch selbstverständlich sei, Sir, als ich ihm dankte. Die Krücken schienen im übrigen die einzige kleine Wolke an Marthas Himmel zu sein, rief dieser Vorgang doch ein kurzes Stirnrunzeln bei ihr hervor.
«Macht Ihnen dieser Fuß immer noch zu schaffen? Milo meinte doch, es sei nichts Ernsthaftes.«
«Nein, ist’s auch nicht, und er ist auch schon viel besser«, sagte ich wahrheitsgemäß.
«Oh, das ist gut. Hauptsache, es hindert Sie nicht daran, >Dattelpalme< zu reiten.«
«Natürlich nicht«, versicherte ich ihr.
«Wir sind so glücklich, ihn bekommen zu haben. Er ist einfach süß.«
Ich gab ein paar nette, >Dattelpalme< betreffende Laute von mir, was nicht so schwer war. Wir tasteten uns durch den Verkehr nach Norden, um auf die M1 zu gelangen.
Harley sagte:»Milo meint, >Dattelpalme< könnte am nächsten Samstag beim Charisma Chase in Kempton an den Start gehen. Was denken Sie?«
«Ein gutes Rennen für ihn«, sagte ich ruhig. Den Milo werde ich umbringen, dachte ich bei mir. Ein heikler Arbeitsgalopp war eine Sache, aber kein Arzt auf Erden würde in einer Woche meine Karte abzeichnen und damit bestätigen, daß ich fit sei. Und das wäre ich auch nicht, denn eine halbe Tonne Pferd, die mit dreißig Meilen und mehr über ein Hindernis gesaust kam, war schließlich kein Schaumstoff ball.
«Könnte aber auch sein, daß Milo es vorzieht, ihn für das Mackeson im kommenden Monat in Cheltenham zu schonen«, sagte ich nachdenklich, diesen Gedanken aussäend.»Oder natürlich für den Hennessy Cognac Gold Cup zwei Wochen später.«
Für das Hennessy in sechs Wochen würde ich ganz bestimmt wieder fit sein, das Mackeson in vier Wochen dagegen war eine unsichere Sache.
«Dann ist da ja auch noch dieses große Rennen am Tag nach Weihnachten«, sagte Martha glücklich.»Es ist alles so aufregend. Harley hat versprochen, daß wir wieder herkommen, um ihn laufen zu sehen.«
Sie sprachen noch eine halbe Stunde über Pferde und fragten dann, ob ich etwas über Dick Turpin wisse.
«Aber ja, natürlich.«
«Irgendein Mensch erzählte, der wäre nach York geritten. Ich hab nur Bahnhof verstanden.«
Ich lachte.»Das war vor ein paar Jahrhunderten. Dick Turpin war ein Straßenräuber, ein echter Schurke, der mit seiner Stute >Black Bess< nach Norden ritt, um sich dem Zugriff des Gesetzes zu entziehen. In York schnappten sie ihn und warfen ihn ins Gefängnis, und zwei Wochen lang hielt er in seiner Zelle in aufrührerischer Weise Hof, scherzte und trank mit den Honoratioren der Stadt, die kamen, um den berühmten Dieb in Ketten zu bestaunen. Dann holten sie ihn raus und hängten ihn auf einem Stück Land, das >Knavesmire< hieß. Da ist heute die Rennbahn.«
«O je«, sagte Martha, auf makabre Weise amüsiert.»Wie ungeheuer gruselig.«
Zu gegebener Zeit verließen wir die in 1, fuhren in nordöstlicher Richtung zur alten A 1, und ich dachte bei mir, daß kein Mensch, der seine Sinne einigermaßen beisammen hatte, mit dem Auto von London nach York fahren würde, wenn er auch den Zug nehmen könnte. Die Ostermeyers mußten natürlich nicht selbst fahren.
Als wir uns der Stadt näherten, sagte Harley:»Sie werden mit uns zusammen zum Lunch erwartet, Derek.«
«Erwartet werden «hieß bei den Ostermeyers so viel wie» eingeladen sein«. Ich warf milde ein, daß dies nicht der Fall sei.
«Aber klar doch. Ich sprach gestern abend mit Lord Knightwood, erzählte ihm dabei, daß wir Sie mitbringen würden. Er sagte sofort, wir sollten sehen, daß Sie mit uns zum Lunch kämen. Sie geben einem der Rennen ihren Namen, es wird eine große Party werden.«
«Welchem Rennen?«fragte ich voller Neugier. Der Name Knightwood sagte mir nichts.
«Hier«, sagte Harley und raschelte mit der Rennzeitung.»Die University of York Trophy. Lord Knightwood ist der Spitzenmann der Universität, Präsident oder Rektor, irgendwie Aushängeschild. VIP von Yorkshire. Was auch immer, Sie werden erwartet.«
Ich dankte ihm. Es gab sonst ja nicht viel zu tun, obwohl mir so ein Sponsorenessen zusätzlich zum Ausfall der Trainingsarbeit Gewichtsprobleme bescheren konnte, wenn ich nicht vorsichtig war. Ich hörte jedoch schon Milos erregte Stimme in meinem Ohr:»Was die Ostermeyers auch haben wollen, um des Himmels willen, gib’s ihnen.«
«Da ist auch noch der York Minster Cup«, sagte Harley, in seiner Zeitung lesend,»und das Civic Pride Challenge. Ihr Pferd >Dozen Roses< startet beim York Castle Champions. «
«Das Pferd meines Bruders«, sagte ich.
Harley kicherte.»Wir vergessen’s nicht.«
Simms setzte uns genau vor dem Eingang zum Club ab. Man könnte nach Chauffeuren süchtig werden, dachte ich, als ich die Krücken entgegennahm, die er mir feierlich reichte. Keine Parkprobleme. Jemand, der einen an dunklen Tagen nach Hause fuhr. Dafür natürlich keine Spontaneität, keine wirkliche Privatsphäre… Nein, danke, nicht mal längerfristig einen Brad!
Setz auf das Pferd, das du als erstes siehst, sagt man. Oder auf den ersten Jockey. Oder auf den ersten Trainer.
Der erste Trainer, den wir trafen, war Nicholas Loder. Er sah in höchstem Maße wütend aus und, so hatte ich den Eindruck, überrascht und beunruhigt, als er uns dem Daimler entsteigen und mich auf sich zukommen sah.
«Was machen Sie denn hier?«fragte er barsch.»Sie haben hier doch nichts zu suchen.«
«Sie kennen Mr. und Mrs. Ostermeyer?«fragte ich höflich und machte sie mit ihm bekannt.»Sie haben gerade >Dattelpalme< gekauft. Ich bin heute ihr Gast.«
Er funkelte mich an — anders konnte man das nicht nennen. Er hatte auf jemanden gewartet, vielleicht einen seiner Besitzer, um diesem an dem dafür vorgesehenen Schalter ein zum Eintritt berechtigendes Clubabzeichen zu besorgen, und als dies erledigt war, schritt er mit seinem Schützling ohne ein weiteres Wort zum Rennplatz davon.
«Also wirklich!«sagte Martha erbost.»Wenn sich Milo je so aufführen würde, hätten wir unsere Pferde schon aus seinem Stall geholt, bevor er noch auf Wiedersehen hätte sagen können.«
«Es ist nicht mein Pferd«, sagte ich nachdrücklich.»Noch nicht.«
«Und wenn es das ist, was werden Sie dann tun?«
«Dasselbe wie Sie, denke ich, obwohl ich das eigentlich gar nicht vorhatte.«
«Gut«, sagte Martha mit Entschiedenheit.
Ich verstand Loders Betragen oder Reaktion nicht so ganz. Wenn ihm daran gelegen war, daß ich ihm einen Gefallen tat, das heißt, ihn >Dozen Roses< und >Edelstein< für mich verkaufen ließ, damit er entweder die Provision einstreichen oder die Pferde in seinem Stall behalten konnte, hätte er doch zumindest ein wenig von den Gefühlen an den Tag legen müssen, die Milo den Ostermeyers entgegenbrachte.
Wenn >Dozen Roses< von der Kontrollkommission die Starterlaubnis erteilt worden war, warum war Loder dann so erschrocken darüber, daß ich erschienen war, um das Pferd laufen zu sehen?
Verrückt, dachte ich. Das einzige, was ich voll begriffen hatte, war die Tatsache, daß Loders Gabe der Verstellung für einen großen Trainer recht unterentwickelt war.
Harley Ostermeyer sagte, daß das Mittagessen der Universität York in dem im Tribünenbau befindlichen Speisesaal des Clubs gegeben werde, und so geleitete ich das Ehepaar dorthin, wobei mir durch den Kopf ging, was für ein Glück es doch war, daß ich für diesen Tag einen einigermaßen dezenten Anzug und nicht einfach wieder einen Pullover gewählt hatte. Ich mochte ja ein in allerletzter Minute zur Party eingeladener Gast sein, aber ich war froh, daß man mir das wenigstens nicht auch noch ansah.
Es hatten sich schon etliche Gäste eingefunden, die — Gläser in der Hand — innerhalb eines von einem weißen Gitter abgegrenzten Raumes miteinander plauderten, hinter sich ein langes Büffet und Tische, an denen man zum Essen Platz nehmen konnte.
«Da sind die Knightwoods«, sagten die Ostermeyers, glucksten zufrieden, und schon sah ich mich einem großen, weißhaarigen und freundlich aussehenden Herrn vorgestellt, dessen faltiges, vielleicht siebzigjähriges Gesicht vor reinstem Wohlwollen leuchtete. Er schüttelte mir als einem Freund der Ostermeyers die Hand, mit denen er, soweit ich mitbekommen hatte, bei einem Besuch von Harleys Alma mater, der University of Pennsylvania, diniert hatte. Harley finanzierte dort eine Professur, war VIP von Pittsburgh, Pennsylvania.
Ich machte das jeweils passende Gesicht, lauschte dem Weltgeschehen und sagte, wie großartig ich es fände, daß die Stadt York ihre Industrie auf dem Turf unterstütze.
«Haben Sie meine Frau schon kennengelernt?«fragte Lord Knightwood unbestimmt.»Meine Liebe«- er berührte den Arm einer Dame, die mit dem Rücken zu uns stand —»du erinnerst dich doch an Harley und Martha Ostermeyer? Und das ist ihr Freund Derek Franklin, von dem ich dir erzählt habe.«
Sie wandte sich lächelnd den Ostermeyers zu, begrüßte sie herzlichst, reichte dann mir eine Hand, auf daß ich sie schüttele, und sagte:»Guten Tag. Wie schön, daß Sie kommen konnten.«
«Guten Tag, Lady Knightwood«, erwiderte ich höflich.
Sie schenkte mir ein ganz kleines Lächeln, hatte sich vollkommen in der Gewalt.
Clarissa Williams war Lord Knightwoods Frau.