Kapitel 4

Im Adressenteil hinten im Anhang des Taschenkalenders standen nur drei Telefonnummern — und bei allen dreien nur Initialen. Die Nummer hinter NL war die von Nicholas Loder. Ich probierte die anderen, beides Londoner Nummern, aber niemand hob ab.

Verstreut im restlichen Teil des Büchleins fanden sich noch drei weitere Telefonnummern. Zwei davon erwiesen sich als die von Restaurants, die mitten im lebhaftesten Abendbetrieb steckten, und ich notierte mir nur ihre Namen, wobei ich das eine als das wiedererkannte, in dem ich zum letzten Mal mit Greville gegessen hatte. Vor ungefähr zwei oder drei Monaten. Wahrscheinlich am 25. Juli, weil die Telefonnummer unter diesem Datum stand. Es war ein indisches Restaurant gewesen, wie ich mich erinnerte, und wir hatten ultrascharfen Curry gegessen.

Seufzend blätterte ich weiter und versuchte es dann mit einer Nummer, die unter dem 2. September stand. Das war vor ungefähr fünf Wochen. Es war dies keine Londoner Nummer, aber ich konnte die Vorwahl nicht identifizieren. Ich lauschte dem fortgesetzten Klingeln am anderen Ende der Leitung und hatte mich schon mit einem weiteren Fehlversuch abgefunden, als jemand den so weit entfernten Hörer aufnahm und mit tiefer, hauchender Stimme sagte:»Hallo?«

«Hallo«, antwortete ich.»Ich rufe im Namen von Greville Franklin an.«

«Von wem?«

«Greville Franklin. «Ich sprach den Namen langsam und deutlich aus.

«Einen Augenblick bitte.«

Es folgte ein langes, wenig informatives Schweigen, und dann kam jemand anderes auf hohen Absätzen zum Apparat gestöckelt und sprach mit Entschiedenheit und hoher, zornbebender Stimme.

«Wie können Sie es wagen!«sagte sie.»Machen Sie das ja nicht noch mal. Ich will Ihren Namen in diesem Haus nicht hören.«

Sie warf den Hörer krachend auf die Gabel, bevor ich noch ein Wort hatte sagen können, und ich saß verwirrt da, starrte mein eigenes Telefon an und hatte das Gefühl, eine Wespe verschluckt zu haben.

Wer immer sie war, dachte ich bitter, Blumen zur Bestattung meines Bruders würde sie wohl nicht schicken wollen, wenngleich sie die Nachricht von seinem Tod vielleicht mit Freude erfüllt hätte. Ich fragte mich, was um alles in der Welt Greville angestellt haben konnte, um einen solchen Sturm zu entfachen — aber das war ja gerade das Problem: Ich kannte ihn einfach nicht gut genug, um das erraten zu können.

Im ganzen dankbar dafür, daß es da nicht noch mehr Nummern gab, die ich hätte ausprobieren müssen, sah ich mir noch einmal die wenigen Eintragungen an, die er gemacht hatte, wobei mich mehr die Neugier als die Suche nach hilfreichen Fakten trieb.

Er hatte die Tage notiert, an denen seine Pferde liefen, hatte auch hier wieder nur ihre Initialen benutzt. DR für >Dozen Roses< erschien am häufigsten, immer mit nachgestellten Zahlenangaben wie beispielsweise»300 bei 8:1«, was ich für die Summe hielt, die er bei welcher Quote gewettet hatte. Darunter stand überall eine weitere Zahl in einem Kreis, die sich als Angabe der jeweiligen Plazierung der Pferde herausstellte. Die letzten drei Eintragungen dieser Art, die alle eine 1 im Kreis aufwiesen, zeigten, daß sie Greville 500 bei 14:1, 500 bei 5:1 und 1000 bei 6:4 eingebracht hatten. Bei dem für Samstag vorgesehenen Start würde, so sagte ich mir, >Dozen Roses< wohl als hoher Favorit ins Rennen gehen.

Grevilles zweites Pferd >Edelstein<, mit einfachem E bezeichnet, war sechsmal gelaufen und hatte nur einmal gewonnen, dabei allerdings auch ordentlich was eingebracht, nämlich 500 bei 100:6.

Alles in allem, dachte ich, war das für einen Besitzer ein recht maßvolles Wettmuster. Er hatte insgesamt, wie ich mir ausrechnete, einen ganz brauchbaren Gewinn erzielt, mehr jedenfalls, als die meisten Besitzer schafften. Dieser Gewinn war natürlich in erster Linie ein wertvoller Beitrag zu den Unterhalts- und Trainingskosten und zur Finanzierung des Kaufs weiterer Pferde, so daß er wohl, wie ich annahm, unter dem Strich ganz gut abgeschnitten und so vornehmlich in geschäftlichem Sinne Freude am Besitz seiner Pferde gehabt hatte.

Ich blätterte das Büchlein gedankenlos bis zum Ende durch und fand auf den letzten Seiten, über denen» Notizen «stand, unleserliche Kritzeleien und eine Reihe von Zahlen.

Die Kritzeleien waren von der Art, wie man sie geistesabwesend vor sich hinmalt, wenn man jemandem am Telefon zuhört. Da waren Vierecke und Zickzacklinien, wahllos durcheinander und von Schraffuren durchkreuzt. Auf der Seite gegenüber stand eine Gleichung: kZr = C x 1,7. Ich ging davon aus, daß sie für Greville von leuchtender Klarheit gewesen war — für mich aber ohne jeden Wert.

Die anderen Zahlenangaben glichen ganz denen, die ich in meinem eigenen Taschenbüchlein auch stehen hatte — Nummer des Reisepasses, Kontonummern, Versicherungsnummer. Darunter, ziemlich weit unten auf der Seite, stand schließlich noch in winzigen Großbuchstaben das Wort DEREK. Erneut ein Schock, als ich wieder meinen Namen von seiner Hand geschrieben sah.

Ich fragte mich angesichts der Stelle, wo er stand, ob Greville meinen Namen vielleicht als eine Art von mnemotechnischem Zeichen, als Gedächtnisstütze benutzt oder ihn auch einfach nur so hingekritzelt hatte. Seufzend blätterte ich die Seiten zurück und gelangte zu etwas, das ich mir vorhin schon einmal kurz angesehen hatte, nämlich zu einer kaum lesbaren Eintragung am Tag vor seinem Tod. Aber beim zweiten Lesen sagte sie mir genauso wenig wie beim ersten.

«Koningin Beatrix?«hatte er hingeschrieben, nur diese beiden Wörter und das Fragezeichen. Ich stellte mir die müßige Frage, ob das vielleicht der Name eines Pferdes war, ob er vielleicht seinen Kauf erwogen hatte — und diese Auslegung erschien mir zunächst durchaus einleuchtend. Dann aber ging mir durch den Kopf, daß er ja vielleicht das zweite Wort zuerst geschrieben hatte, ich meine so, wie man» Smith, Jane «schreibt, und daß er vielleicht nach Ipswich gefahren war, um sich dort mit einer Beatrix Koningin zu treffen.

Ich kehrte schließlich zu meiner Pferde-Theorie zurück und rief den Trainer an, für den ich ritt, nämlich Milo Shandy, der sich flüchtig nach meinem Knöchel erkundigte und meinte, daß ich doch, bitte schön, meine Rückkehr zur Arbeit ein bißchen beschleunigen möge.

«Ich kann vielleicht schon in zwei Wochen wieder rausreiten«, sagte ich.

«Das ist immerhin was, denke ich. Laß dir ’ne Massage verpassen.«

Der bloße Gedanke daran schmerzte schon. Ich sagte, ich würde mich darum bemühen, ohne dies wirklich vorzuhaben, und fragte ihn sodann nach Koningin Beatrix, wobei ich ihm den Namen vorbuchstabierte.

«Kenne kein Pferd dieses Namens, aber ich kann’s für dich rausfinden, morgen früh. Ich werde bei Weatherby anfragen, ob der Name frei ist, und wenn sie ja sagen, bedeutet das, daß es kein registriertes Rennpferd mit diesem Namen gibt.«

«Herzlichen Dank.«

«Keine Ursache. Ich hab gehört, daß dein Bruder gestorben ist. So ein Pech.«

«Ja… Wie hast du das denn erfahren?«

«Nicholas Loder hat mich vorhin angerufen, mir dein Dilemma geschildert und mich gebeten, dich dazu zu überreden, ihm doch >Dozen Roses< zu leasen.«

«Aber das ist doch verrückt. Ich meine, dich deswegen anzurufen.«

Er kicherte.»Eben das habe ich ihm auch gesagt. Ich hab ihm gesagt, daß ich dich so leicht weichkneten könnte wie einen Klumpen Erz. Er schien das aber nicht hinnehmen zu wollen. Wie dem auch sei, ich glaube nicht, daß Leasing eine Lösung wäre. Jockeys dürfen keine Rennpferde besitzen, Punkt. Wenn du ein Pferd verleihst, gehört es dir ja immer noch.«

«Ich bin sicher, daß du recht hast.«

«Worauf du dich verlassen kannst.«

«Loder wettet, nicht wahr?«fragte ich.»Hohe Beträge?«

«So habe ich gehört.«»Er sagte mir, >Dozen Roses< würde am Samstag in York laufen.«

«Soll ich in diesem Falle mal ein bißchen was für dich auf dieses Pferd setzen?«

Abgesehen davon, daß es Jockeys nicht erlaubt war, eigene Pferde bei Rennen laufen zu lassen, war ihnen auch untersagt zu wetten, aber da gab es immer Möglichkeiten, das zu umgehen — wie beispielsweise mittels hilfsbereiter Freunde.

«Ich denke nicht, nicht diesmal«, sagte ich,»aber trotzdem vielen Dank.«

«Macht’s dir was aus, wenn ich’s tue?«

«Aber bitte sehr! Wenn Weatherby das Pferd laufen läßt, warum nicht?«

«Ein hübsches kleines Puzzlespiel«, sagte er anerkennend.»Komm bald mal auf einen Drink vorbei. Komm zum Abendstalldienst.«

Ich sagte, daß ich das tun würde.

«Paß auf dich auf.«

Ich legte den Hörer auf, lächelte über seine so leicht dahingesagte Abschiedsformel. Jockeys wurden im großen und ganzen ja nicht dafür bezahlt, daß sie auf sich aufpaßten. Jedenfalls nicht allzu sehr.

Milo wäre entsetzt, käme ich seiner Aufforderung tatsächlich nach.

Am nächsten Morgen fuhr mich Brad zur Bank von Saxony Franklin, wo ich mit dem Direktor zusammentraf, der jung und intelligent war und mit absichtlicher Langsamkeit sprach, als wolle er warten, bis der Verstand seines Gesprächspartners das von ihm Gesagte erfaßt hatte. Ich fragte mich, ob wohl Krücken irgend etwas an sich hatten, was diese Angewohnheit noch verstärkte. Er brauchte fünf Minuten, bis er endlich begriffen hatte, daß ich kein Trottel war. Dann erzählte er mir, daß Greville einen recht großen Kredit bei seiner Bank aufgenommen habe und er sich hinsichtlich der Rückzahlung an mich halten werde.»Eins Komma fünf Millionen US-Dollar in bar, um genau zu sein.«

«Eins Komma fünf Millionen Dollar«, wiederholte ich und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mir seine Eröffnung die Luft genommen hatte. »Wofür?«

«Um Diamanten zu kaufen. Und Diamanten von der DTC der CSO werden normalerweise bar bezahlt, in Dollar.«

Bankmanager in der Gegend von Hatten Garden sahen eine solche Transaktion offensichtlich nicht als etwas Außergewöhnliches an.

«Er handelt… handelte aber gar nicht mit Diamanten«, wandte ich ein.

«Er hatte sich entschlossen zu expandieren, und wir haben ihm selbstverständlich das Kapital dafür zur Verfügung gestellt. Ihr Bruder hatte schon jahrelang mit unserem Haus zusammengearbeitet, und er war, wie Sie wissen werden, ein sehr vorsichtiger und gewissenhafter Geschäftsmann. Ein sehr geschätzter Klient. Wir haben ihm mehrfach Geld für die Vergrößerung seines Unternehmens vorgeschossen, und die Rückzahlung ist stets völlig problemlos erfolgt. Will sagen mit peinlichster Genauigkeit. «Er räusperte sich.»Der laufende Kredit, der vor drei Monaten aufgenommen wurde, ist ratenweise rückzahlbar und hat eine Laufzeit von fünf Jahren. Und da der Kredit ja dem Unternehmen und nicht Ihrem Bruder persönlich gewährt wurde, ändern sich die Konditionen durch seinen Tod nicht.«

«Verstehe«, sagte ich.

«Ich habe dem, was Sie mir gestern sagten, entnommen, daß Sie beabsichtigen, das Geschäft selbst weiterzuführen?«Er schien darüber recht glücklich zu sein, obwohl ich eigentlich eher einen Anflug von Besorgnis erwartet hätte. Warum machte er sich keine Sorgen? Was bekam ich da nicht mit?

«Haben Sie irgendwelche Sicherheiten für den Kredit bekommen?«fragte ich.

«Eine Vereinbarung. Wir haben das Geld gegen den Lagerbestand von Saxony Franklin ausgeliehen.«

«Die gesamten Steine?«

«So viele, wie erforderlich wären, um die Schuld zu tilgen. Aber als größte Sicherheit haben wir stets die Integrität und die geschäftlichen Fähigkeiten Ihres Bruders angesehen.«

Ich sagte:»Ich bin kein Gemmologe. Ich werde das Unternehmen wahrscheinlich nach der gerichtlichen Bestätigung der Verfügungen meines Bruders verkaufen.«

Er nickte behäbig.»Das wäre vielleicht das sinnvollste Vorgehen. Wir würden auch weiterhin damit rechnen, daß der Saxony Franklin gewährte Kredit planmäßig zurückgezahlt wird, würden ein Gespräch mit den Käufern aber gleichwohl begrüßen.«

Er holte Papiere herbei, die ich unterschreiben sollte, und bat mich um zusätzliche Unterschriftsproben, damit ich auch Firmenschecks von Saxony Franklin unterzeichnen konnte. Er fragte mich nicht, welche Erfahrungen ich in der Leitung einer Firma hatte. Statt dessen wünschte er mir alles Gute.

Ich erhob mich an meinen Krücken, reichte ihm die Hand und dachte an all die Dinge, die ich ihm nicht gesagt hatte.

Nicht gesagt hatte ich ihm, daß ich Jockey war, hätte das in Hatton Garden doch leicht eine Panik auslösen können. Und ich hatte ihm auch nicht gesagt, daß ich, wenn Grevil-le tatsächlich für anderthalb Millionen Dollar Diamanten gekauft hatte, nicht wußte, wo sie sich befanden.

«Diamanten?«sagte Annette.»Nein, das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Wir handeln nicht mit Diamanten.«

«Der Bankmanager glaubt aber, daß Greville vor kurzem welche gekauft hat. Von so was, was sich DTC der CSO nennt.«

«Die Central Selling Organization? Das ist de Beers. Und die DTC ist ihre Diamond Trading Company. Nein, nein. «Sie sah mich ängstlich an.»Das kann er nicht getan haben. Er hat nie etwas davon gesagt.«

«Hm. Hat sich der Einkauf für das Lager in den vergangenen drei Monaten erhöht?«

«Im Rahmen des Üblichen«, sagte sie kopfnickend.»Das Unternehmen ist beständig im Wachsen begriffen. Mr. Franklin kommt dauernd mit neuen Steinen von seinen weltweiten Reisen zurück. Wunderschöne Steine. Er kann ihnen nicht widerstehen. Die meisten der ganz besonderen Stücke verkauft er übrigens an einen Juwelier, der seinen Schmuck selbst entwirft und der Boutiquen in Gegenden wie Knightsbridge und Bond Street hat. Herrlicher Modeschmuck, aber mit echten Steinen. Viele seiner Sachen sind Einzelstücke, viele für einen ganz bestimmten Stein entworfen. Er ist sehr berühmt. Die Leute stellen manche seiner Werke auf eine Stufe mit denen von Faber-ge.«

«Wie heißt er?«

«Prospero Jenks«, sagte sie und erwartete zumindest ehrfürchtiges Erstaunen von mir.

Ich hatte noch nie von ihm gehört, nickte aber trotzdem.

«Faßt er die Steine mit Diamanten ein?«fragte ich.

«Ja, manchmal. Aber die kauft er nicht bei Saxony Franklin.«

Wir waren in Grevilles Büro — ich saß in dem Drehstuhl hinter der riesigen Fläche seines Schreibtisches, während Annette die gestern nur flüchtig zusammengesammelten, kunterbunt durcheinanderliegenden Papiere in die Schubladen und Ordner einsortierte, in denen sie sich vor dem Einbruch befunden hatten.

«Sie glauben also nicht, daß Greville je Diamanten hier in diesen Firmenräumen aufbewahrt hat?«fragte ich.

«Bestimmt nicht. «Der Gedanke schockierte sie geradezu.»Er war immer sehr auf Sicherheit bedacht.«

«Jemand, der hier einbricht, könnte also nicht damit rechnen, daß er irgendwas von Wert rumliegen findet?«

Einen Stoß Papiere in der Hand, unterbrach sie ihre Arbeit und runzelte die Stirn.

«Das ist doch merkwürdig, nicht? Leute, die was vom Edelsteingeschäft verstehen, würden nie damit rechnen, daß hier wertvolle Dinge herumliegen. Und wenn sie nichts davon verstehen — wieso verfallen sie dann auf diese Räume?«

Die gleiche alte, nicht zu beantwortende Frage.

Mit unverdienter mütterlicher Fürsorglichkeit brachte mir June den Sekretärinnenstuhl wieder herein, damit ich meinen Fuß hochlegen konnte. Ich dankte ihr und fragte sie, ob ihr den Lagerbestand registrierender Computer Zahl und Wert aller vorhandenen, polierten Kieselstein-chen täglich festhalte.

«Du liebe Güte, ja, natürlich«, sagte sie amüsiert.»Datum und Anzahl Eingang, Datum und Anzahl Ausgang.

Preise Einkauf, Preise Verkauf, Gewinnspanne, Mehrwertsteuer, Steuer, was Sie wollen — der Computer sagt Ihnen, was wir da haben, wieviel es wert ist, was schlecht geht und was gut, was hier schon zwei Jahre und länger rumliegt und Platz wegnimmt, was aber nicht viel ist.«

«Auch die Steine im Tresorraum?«

«Gewiß doch.«

«Aber keine Diamanten.«

«Nein, damit handeln wir nicht. «Sie lächelte mich strahlend und ohne Neugier an und ging schnell hinaus, sagte nur noch über die Schulter, daß das Weihnachtsgeschäft nach wie vor auf Hochtouren laufe und sie über Nacht mit Telefax-Aufträgen bombardiert worden seien.

«Wer bestellt nach, was verkauft worden ist?«fragte ich Annette.

«Bei den normalen Beständen mache ich das. June sagt mir, was wir brauchen. Die Nachbestellung der geschliffenen und der ungewöhnlichen Steine erledigte Mr. Franklin selbst.«

Sie machte mit dem Sortieren der Papiere weiter, im Prinzip unbeteiligt, da ihre Verantwortung endete, wenn sie abends nach Hause ging. Sie trug an diesem Tage wieder den schwarzen Rock von gestern, dazu aber diesmal einen schwarzen Pullover, vielleicht aus Achtung vor Greville. Von kompakter, aber nicht großer Gestalt, hatte sie wohlgeformte, in schwarzen Nylonstrümpfen steckende Beine und ein gesetztes, gepflegtes, mittelaltriges Aussehen. Ich konnte sie mir nicht so lebhaft agierend vorstellen wie June, auch in jüngeren Jahren nicht.

Ich fragte sie, ob ihr die Versicherungspolice für die Firma zugänglich sei, und sie sagte, daß sie diese zufällig gerade eben wieder abgeheftet habe. Ich las mir voller böser Ahnungen die Bedingungen durch und rief dann die

Versicherungsgesellschaft an. Ob mein Bruder, so fragte ich, unlängst die Versicherung erhöht habe? Ob er sie so erhöht habe, daß sie auch Diamanten im Wert von eins Komma fünf Millionen Dollar abdecke? Nein, das sei nicht der Fall. Man habe nur mal darüber gesprochen. Mein Bruder habe gemeint, der geforderte Versicherungsbeitrag sei ihm zu hoch, und er habe sich deshalb dagegen entschieden. Die Stimme erklärte mir, daß die Beiträge so hoch sein müßten, weil solche Steine viel in Bewegung seien, wodurch sich das Risiko erhöhe. Man wisse auch nicht, ob Mr. Franklin die Steine dann wirklich gekauft habe. Man glaube, er habe sich nur informieren wollen. Das sei so vor drei oder vier Monaten gewesen. Ich dankte benommen und legte den Hörer auf.

Sofort klingelte das Telefon wieder, und da Annette zu erwarten schien, daß ich abhob, tat ich dies.

«Hallo?«sagte ich.

Eine männliche Stimme fragte:»Spreche ich mit Mr. Franklin? Ich hätte gern Mr. Franklin gesprochen, bitte.«

«Ah… kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? Ich bin sein Bruder.«

«Vielleicht können Sie das«, sagte er.»Hier ist das Sekretariat des Westlondoner Magistratsgerichts. Ihr Bruder sollte seit zwanzig Minuten hier sein, und es ist gar nicht seine Art, sich zu verspäten. Können Sie mir vielleicht sagen, wann wir mit ihm rechnen dürfen?«

«Einen Augenblick bitte. «Ich legte die Hand auf die Sprechmuschel und sagte Annette, was ich gerade gehört hatte. Sie riß die Augen weit auf, zeigte alle Anzeichen erschrockenen Erinnerns.

«Es ist sein Tag im Gericht, an dem er den Vorsitz führt! Jeden zweiten Dienstag. Das habe ich glatt vergessen.«

Ich wandte mich wieder dem Telefon zu und erklärte meinem Gesprächspartner die Lage.

«Oh. O je. Das ist ja ganz furchtbar und unfaßlich. «Er hörte sich aufrichtig betroffen an, zugleich aber auch ein klein wenig verärgert.»Es wäre wirklich um einiges hilfreicher gewesen, wenn Sie mich rechtzeitig benachrichtigt hätten. Jetzt bleibt sehr wenig Zeit, um Ersatz zu finden.«

«Ja«, pflichtete ich ihm bei,»aber während des Wochenendes ist hier in sein Büro eingebrochen worden. Der Terminkalender meines Bruders wurde gestohlen, und wenn man’s bei Lichte besieht, können wir überhaupt niemandem zu verstehen geben, doch bitte nicht auf ihn zu warten.«

«Wie überaus unangenehm. «Das war in seinen Augen offensichtlich keine unpassende Feststellung. Mir ging durch den Kopf, daß es Greville möglicherweise unangenehm finden könnte, tot sein zu müssen. Aber vielleicht war das nicht der rechte Augenblick für schwarzen Humor.

«Sollten unter den Richtern persönliche Freunde meines Bruders sein«, sagte ich,»so wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sie bitten könnten, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Falls Ihnen das nichts ausmacht.«

«Das werde ich tun, selbstverständlich. «Er zögerte.»Mr. Franklin gehörte auch dem Konzessionsausschuß an. Soll ich dessen Vorsitzenden ebenfalls informieren?«

«Ja, bitte. Teilen Sie es jedem mit, den Sie erreichen können.«

Er verabschiedete sich, alle Sorgen dieser Welt auf seinen Schultern, und ich seufzte Annette zu, daß wir besser so bald wie möglich damit anfangen sollten, auch alle übrigen Menschen zu unterrichten, wobei dem Handel auch klar gemacht werden müsse, daß das Geschäft in gewohnter Manier weiterlaufen werde.

«Wie wär’s mit den Zeitungen?«fragte sie.»Können wir es nicht in der Times und so weiter anzeigen?«

«Gute Idee. Würden Sie sich bitte darum kümmern?«

Sie sagte, das werde sie, legte mir dann aber doch das, was sie geschrieben hatte, vor, ehe sie die Zeitungen anrief.»Opfer eines tragischen Unfalls, ist Greville Saxony Franklin, Friedensrichter, Sohn des…«Sie hatte hier eine Lücke gelassen, die ich für sie ausfüllte:»verstorbenen Oberstleutnants und seiner Frau Miles Franklin«. Dann änderte ich noch» Bruder von Derek «zu» Bruder von Susan, Miranda und Derek «ab und fügte ein paar abschließende Worte an — Einäscherung, Ipswich, Freitag.

«Haben Sie eine Ahnung«, fragte ich Annette,»was er da in Ipswich gewollt haben könnte?«

Sie schüttelte den Kopf.»Ich habe ihn diesen Ort nie erwähnen hören. Aber er hat mir ja nie viel von dem erzählt, was nicht zum Geschäftlichen gehörte. «Sie machte eine Pause.»Er war nicht heimlichtuerisch, aber er plauderte auch nie über sein Privatleben. «Sie zögerte.»Er hat auch nie über Sie gesprochen.«

Ich dachte an die vielen Male, wo wir so nett zusammengesessen und er mir doch praktisch nichts erzählt hatte, und ich verstand sehr wohl, was sie meinte.

«Er pflegte immer zu sagen, daß die größte Sicherheit die Verschwiegenheit sei«, sagte sie.»Er hat uns immer wieder gebeten, absolut Fremden nicht zuviel von unserer Arbeit zu erzählen, und wir wissen alle sehr gut, daß es sicherer ist, sich daran zu halten, auch wenn wir hier keine Edelsteine haben. Alle Leute, die in dieser Branche arbeiten, sind irgendwie Sicherheitsfanatiker, und Diamantäre können sogar regelrecht paranoid sein.«

«Was«, fragte ich,»sind Diamantäre?«

«Nicht was, sondern wer«, sagte sie.»So hießen früher die Diamantschleifer, also die Leute, die die Rohdiamanten kaufen, die Steine schleifen und polieren und sie dann an die Juweliere für die Herstellung von Schmuck verkaufen. Mr. Franklin meinte immer, Diamanten seien eine Welt für sich, sie seien etwas gänzlich anderes als die übrigen Edelsteine. In den achtziger Jahren kam es bei den Diamantpreisen erst zu einem lächerlichen Höhenflug, dann zu einem jähen Absturz, und viele Diamantschleifer verloren ein Vermögen oder machten pleite, und Mr. Franklin sagte oft, daß sie verrückt gewesen sein müßten, als sie den Bogen so überspannten. «Sie machte eine Pause und sagte dann:»Man kann gar nicht anders als mitkriegen, was um uns herum in dieser Gegend so vor sich geht, wo doch jeder zweite Laden hier mit Edelsteinen handelt. In den Pubs und Restaurants spricht kaum je einer über etwas anderes. Und deshalb, sehen Sie, bin ich sicher, daß sich der Bankmanager irrt. Mr. Franklin hätte niemals Diamanten gekauft.«

Wenn er keine Diamanten gekauft hat, dachte ich, was hat er dann, zum Teufel nochmal, mit eins Komma fünf Millionen Dollar in bar gemacht?

Diamanten gekauft. Er mußte es getan haben. Entweder das, oder das Geld lag noch irgendwo rum, zweifellos sorgfältigst versteckt. Entweder das Geld oder Diamanten in seinem Gegenwert lagen irgendwo unversichert herum, und sollte mein halb verschwiegener und halb supersicherheitsbedachter Bruder eine Schatzinselkarte hinterlassen haben, auf der der kostbare Ort mit einem x markiert war, dann hatte ich die noch nicht gefunden. Sehr viel wahrscheinlicher aber war, wie ich befürchtete, daß dieses Wissen unter dem Baugerüst begraben worden war. Wenn dem so war, dann würde die Firma an die Bank fallen — wohl das letzte, was Greville gewollt hätte.

Wenn dem so war, dann würde sich ein großer Teil des Erbes, das er mir hinterlassen hatte, auflösen wie Morgennebel.

Er hätte sich, dachte ich finster, an seine alten Prinzipien halten und die Finger von Diamanten lassen sollen.

Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte erneut, und diesmal hob Annette ab, da sie gerade daneben stand.

«Saxony Franklin, was kann ich für Sie tun?«sagte sie und lauschte in den Hörer.»Nein, tut mir leid, aber Sie können Mr. Franklin nicht persönlich sprechen. Würden Sie mir bitte Ihren Namen sagen?«Sie lauschte.»Nun, Mrs. Williams, wir müssen Sie zu unserem großen Leidwesen davon in Kenntnis setzen, daß

Mr. Franklin am Wochenende bei einem Unfall ums Le

ben gekommen ist. Sein Geschäft läuft jedoch unverändert weiter. Kann ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein?«

Sie hörte ihrer Gesprächspartnerin eine Weile mit wachsender Verwirrung zu und sagte dann:»Sind Sie noch dran? Mrs. Williams, hören Sie mich?«Aber es schien, als erhalte sie keine Antwort, denn nach ein paar weiteren Augenblicken legte sie mit düsterem Blick den Hörer auf die Gabel.»Wer immer sie war, sie hat aufgelegt.«

«Gehe ich richtig in der Annahme, daß Sie

Mrs. Williams nicht kannten?«

«Ich hatte nie das Vergnügen. «Sie zögerte.»Ich meine aber, sie hätte auch gestern schon angerufen. Ich glaube, ich habe ihr da gesagt, daß Mr. Franklin den ganzen Tag nicht in der Firma sein würde, wie ich das allen gesagt habe. Allerdings habe ich sie gestern nicht nach ihrem Namen gefragt. Aber sie hat eine Stimme, die man nicht vergißt.«

«Wieso nicht?«

«Geschliffenes Glas«, sagte sie lakonisch.»Wie Mr. Franklin, nur noch stärker. Und wie Sie auch, ein klein wenig.«

Das amüsierte mich. Sie selbst sprach, was ich für akzentfreies Englisch hielt, auch wenn ich mir vorstellen konnte, daß jede Art zu sprechen für einen anderen so klang, als sei da ein Akzent zu hören. Ich wunderte mich kurz über diese Mrs. Williams von geschliffenem Glas, die die Nachricht von dem Unglück schweigend entgegengenommen und gar nicht gefragt hatte, wo und wie und wann es passiert war.

Annette ging in ihr eigenes Büro hinüber, um die Zeitungen anzurufen, und ich zog Grevilles Taschenkalender hervor und versuchte mein Glück mit den Nummern, die gestern abend nicht zu erreichen gewesen waren. Von den zweien, die hinten in dem Büchlein standen, gehörte die eine seinem Buchmacher, die andere seinem Friseur, und beide schienen traurig darüber zu sein, daß sie seiner Kundschaft verlustig gingen — der Buchmacher allerdings angesichts der Gewohnheit Grevilles, bei seinen Wetten zu gewinnen, ein bißchen weniger.

Mein Knöchel schmerzte stark — das Resultat, so konnte ich wohl sagen, einer allgemeinen Depression ebenso wie geschädigter Knochen und Bänder. Depression deshalb, weil alle Entscheidungen, die ich bis zu diesem Zeitpunkt getroffen hatte, vom gesunden Menschenverstand diktiert worden waren, nun aber bald ein Stadium erreicht sein würde, wo ich mit meiner Unwissenheit schreckliche Fehler machen konnte. Ich war noch nie in meinem Leben mit Kapital umgegangen, das umfangreicher gewesen wäre als die Summe, die ich auf meinem Konto hatte, und das einzige Geschäft, von dem ich etwas verstand, war das Zureiten von Rennpferden, und auch das hatte ich eher durch Zuschauen als auf dem Wege praktischer Betätigung erlernt. Wenn es um Pferde ging, wußte ich immerhin, was ich tat — da konnte ich den Spinell wohl vom Rubin unterscheiden. In Grevilles Welt dagegen konnte man mich reinlegen, ohne daß ich was merkte. Ich konnte böse verlieren, bevor ich noch die einfachsten Grundregeln des Spiels erlernt hatte.

Grevilles großer schwarzer Schreibtisch erstreckte sich zu meinen beiden Seiten bis in weite Fernen. Rechts und links ruhte die Platte auf doppelten Unterschränkchen mit Schubfächern, also auf insgesamt vier Schränkchen. Die meisten der Schubfächer enthielten inzwischen wieder das, was vor dem Einbruch in ihnen gewesen war, und ich begann planlos, das mir am nächsten befindliche Fach auf der linken Seite zu untersuchen, wobei ich vage nach allem Ausschau hielt, was mich auf die Dinge bringen könnte, die ich übersehen oder von denen ich nicht gewußt hatte, daß sie unbedingt erledigt werden mußten.

Zunächst aber fand ich keine zu erledigenden Aufgaben, sondern nur allerhand Geräte — die kleinen schwarzen Spielsachen, die jetzt in dicht geschlossenen Reihen aufgeräumt dalagen. Der Geigerzähler war da und der Minikopierer, ferner eine Vielzahl von Taschenrechnern, und ich zog einen kleinen schwarzen Gegenstand etwa von der Größe eines Taschenbuches heraus, den ich neugierig hin und her drehte, ohne eine Ahnung zu haben, was sich damit wohl anfangen ließe.

«Das ist ein elektronischer Entfernungsmesser«, sagte June, die schwungvoll hereingeschwebt kam, beide Hände voller Papiere.»Wollen Sie mal sehen, wie er funktioniert?«

Ich nickte, und sie legte das Ding flach auf den Schreibtisch.»Es zeigt Ihnen jetzt an, wie groß die Entfernung zwischen dem Schreibtisch und der Zimmerdecke ist«, sagte sie, auf Tasten drückend.»Da, bitte sehr, zwei Meter und sechsundzwanzig Zentimeter.«

«Ich will eigentlich gar nicht wissen, wie weit es bis zur Decke ist«, sagte ich.

Sie lachte.»Wenn Sie es flach an eine Wand halten, dann mißt dieser Apparat, wie weit es bis zur gegenüberliegenden Wand ist. Macht das in Null Komma nichts, wie Sie gesehen haben. Sie brauchen sich nicht mehr mit Bandmaßen rumzuplagen. Mr. Franklin hat das Ding gekauft, als er die Lagerräume neu einrichten ließ. Und er er-rechnete damit, was wir an Auslegware für den Fußboden und an Farbe für die Wände brauchen würden. Dieses Gerät sagt Ihnen das alles.«

«Sie mögen Computer, nicht wahr?«

«Ich liebe sie. In allen Formen und Größen. «Sie spähte in die geöffnete Schublade hinein.»Mr. Franklin kaufte vor allem immer die winzig kleinen. «Sie holte ein kleines graues Lederetui heraus, das etwa so groß war wie ein Kartenspiel, und ließ seinen Inhalt auf ihre flache Hand gleiten.»Dies kleine Dingelchen ist ein Reiseführer. Es gibt Ihnen solche Auskünfte wie die Telefonnummern von Taxiunternehmen, Fluggesellschaften, Informationsbüros, Wetteransagen, Botschaften, Büros von American Express. «Sie führte mir das Gerät vor, drückte glückstrahlend auf verschiedene Knöpfchen.»Stammt aus Amerika und sagt Ihnen sogar die Fernsehkanäle und Radiofrequenzen für ungefähr hundert amerikanische Städte, Tucson, Arizona, eingeschlossen, wo in jedem Februar die größte Edelsteinbörse der Welt stattfindet. Und es hilft Ihnen dazu noch in fünfzig anderen Weltstädten weiter, also in Orten wie Tel Aviv und Hongkong und Taipeh, wohin Mr. Franklin oft reiste.«

Sie legte den Reiseführer in die Schublade zurück und holte etwas anderes heraus.»Dieses kleine, runde Gerät ist eine Art Teleskop, sagt Ihnen aber auch, wie weit Sie von Dingen entfernt sind. Ist was für Golfspieler. Zeigt einem an, wie weit man noch von der Fahne auf dem Grün entfernt ist, sagte Mr. Franklin. Damit man weiß, welchen Schläger man nehmen muß.«

«Wie oft hat er Golf gespielt?«fragte ich und schaute durch das weniger als zehn Zentimeter lange Teleskop, in welchem ich eine Skala sehen konnte, deren unterste Linie mit GRÜN beschriftet war, während darüber immer kleiner werdende Zahlen standen, die von 200 in unten bis 40 in oben reichten.»Er hat nie viel darüber gesprochen.«

«Er spielte manchmal an den Wochenenden, glaube ich«, sagte June, ihrer Sache nicht sicher.»Sie bringen die Markierung GRÜN mit dem wirklichen Grün auf eine Höhe, und dann ist, glaube ich, die Fahnenstange immer 2,40 Meter hoch, so daß ihre Spitze auf die Entfernung zeigt, die einen jeweils noch von ihr trennt. Er meinte, das sei eine gute Sache, vor allem für Amateure wie ihn. Er sagte auch, daß man sich nie schämen müsse, wenn man in den Bunkern des Lebens lande, solange man nur sein Bestes gebe. «Sie blinzelte ein bißchen mit den Augen.»Er hat mir diese Sachen immer gezeigt, wenn er sie gekauft hatte. Er wußte, daß ich so was auch mag. «Sie angelte nach einem Taschentuch und wischte sich die Augen, ohne sich dafür zu entschuldigen.

«Wo bekam er die denn alle her?«fragte ich.

«Meistens von Versandhäusern.«

Ich war einigermaßen überrascht. Versandhäuser und Greville, das schien irgendwie nicht so ganz zusammenzupassen — aber da irrte ich mich, wie ich gleich darauf entdecken mußte.

«Möchten Sie gern mal unseren neuen Katalog sehen?«fragte June und war durch die Tür hinaus und wieder zurück, bevor ich mir noch die Frage hatte beantworten können, ob ich jemals einen alten zu Gesicht bekommen und dies verneint hatte.»Frisch aus der Druckmaschine«, sagte sie.»Ich war gerade dabei, sie auszupacken.«

Ich blätterte die fünfzig Seiten der Hochglanzbroschüre durch und fand da in naturgetreuen Farben all die polierten Prachtstücke abgebildet, deren Bekanntschaft ich schon in den Lagerräumen gemacht hatte, und dazu noch eine ganze Reihe anderer von bescheidenerer Herkunft. Amulette, Ringe, Herzen und Schmetterlinge — der Möglichkeiten der Schmuckgestaltung schien kein Ende zu sein. Als ich verächtlich vor mich hinmurmelte, daß das ein Haufen Müll sei, eilte June schnell und energisch zur Verteidigung der Schmuckstücke herbei, ganz wie eine Glucke, deren Küken in Gefahr geraten waren.

«Nicht jeder kann sich Diamanten leisten«, sagte sie scharf,»und ganz unabhängig davon sind diese Sachen sehr hübsch und wir verkaufen die Steine zu Tausenden, sie landen in Hunderten von Geschäften in den High Streets und in Kaufhäusern, und ich beobachte oft, wie Leute die eigentümlichen Stücke kaufen, die hier bei uns durchgelaufen sind. Die Leute mögen sie, auch wenn sie vielleicht nicht ganz Ihrem Geschmack entsprechen.«

«Tut mir leid«, sagte ich.

Sie beruhigte sich wieder ein wenig.»Ich nehme an, ich sollte nicht so mit Ihnen sprechen«, sagte sie unsicher,»aber Sie sind ja nicht Mr. Franklin. «Sie brach mit gerunzelter Stirn ab.

«Das ist schon okay«, sagte ich.»Ich bin’s und ich bin’s auch wieder nicht. Ich verstehe schon, was Sie sagen wollen.«

«Alfie meint«, sagte sie langsam,»daß es einen Steeple-chase-Jockey mit Namen Derek Franklin gibt. «Sie sah auf meinen Fuß hinab, als ginge ihr ein Licht auf.»War in ei-nem Jahr sogar Champion, sagt er. Immer unter den ersten zehn. Sind das… Sie?«

Ich sagte möglichst neutral:»Ja.«

«Ich mußte Sie das fragen«, sagte sie.»Die andern wollten nicht.«

«Warum nicht?«

«Annette glaubt nicht, daß Sie ein Jockey sein können. Sie seien dafür nämlich zu groß. Sie meint, Mr. Franklin hätte nie was erwähnt, daß Sie einer sind. Sie habe nur gehört, daß er einen Bruder habe, mit dem er ein paarmal im Jahr zusammenkomme. Sie sagt, sie werde einfach ignorieren, was Alfie denke, weil es nicht sehr wahrscheinlich sei. «Sie machte eine Pause.»Alfie hat das gestern erzählt, als Sie schon gegangen waren. Er hat auch noch gemeint… alle haben das… na ja, daß sie nicht wüßten, wie ein Jockey so einen Laden wie unseren hier führen könnte. Das heißt, wenn Sie wirklich einer sind. Keiner wollte, daß es so ist, und deshalb auch nicht nachfragen.«

«Sagen Sie Alfie und den anderen, daß ihre Jobs im Eimer sind und sie noch vor Ablauf der Woche auf der kalten Straße stehen, wenn der Jockey das Geschäft nicht weiterführt.«

Sie riß ihre blauen Augen auf.»Sie klingen genauso wie Mr. Franklin!«

«Und Sie brauchen den Kunden gegenüber meinen eigentlichen Beruf nicht zu erwähnen, damit ich von denen nicht auch, wie von den Mitarbeitern des Hauses, das Mißtrauen ausgesprochen bekomme.«

Ihre Lippen formten das Wort» Wow«, aber sie sprach es nicht aus. Sie verschwand aus dem Zimmer und kehrte augenblicklich zurück, gefolgt von allen anderen, die ganz offensichtlich in einem Zustand erneuerter Besorgnis waren.

Nicht eine wirkliche Führungskraft dabei. Schade.

Ich sagte:»Sie sehen alle miteinander so aus, als sinke das Schiff und das Rettungsboot sei leck. Nun, wir haben den Kapitän verloren, und ich gebe gern zu, daß wir in Schwierigkeiten sind. Ich habe immer nur an der frischen Luft und mit Pferden gearbeitet, hatte nie einen Schreibtischjob. Aber wie ich schon gestern sagte, wird dieses Unternehmen weitergeführt werden und es wird weitergedeihen. Auf die eine oder andere Weise werde ich dafür sorgen, daß es das tut. Wenn Sie also alle wie gewohnt weitermachen und dafür sorgen, daß uns unsere Kunden gewogen bleiben, dann tun Sie sich selbst einen Gefallen, denn wenn wir unsere Schwierigkeiten heil überstehen, dann ist für Sie alle ein Bonus fällig. Ich bin zwar nicht mein Bruder, ich bin aber auch kein Narr und lerne recht schnell. Lassen Sie uns also mit der Ausführung der Aufträge weitermachen und. äh. Kopf hoch!«

Lily, die Charlotte-Bronte-Figur, sagte demütig:»Wir bezweifeln ja nicht wirklich Ihre Fähigkeiten…«

«Natürlich tun wir das«, unterbrach Jason sie. Er blickte mich mit einem hellen Kichern und der Andeutung verächtlich geschürzter Lippen an.»Geben Sie uns lieber einen Tip für das Rennen um drei Uhr dreißig.«

Ich hörte mir geduldig diese straßenjungenhafte Herausforderung an, die zu dem stacheligen, orangefarbenen Haar gut paßte. Er dachte wohl, leichtes Spiel mit mir zu haben.

Ich sagte:»Wenn Sie es schaffen, bei einem Drei-Uhr-dreißig-Rennen als Sieger durchs Ziel zu gehen, dürfen Sie sich Ihre verächtlichen Bemerkungen leisten. Bis dahin jedoch arbeiten Sie weiter oder gehen Sie, Sie haben die Wahl.«

Es trat eine widerhallende Stille ein. Alfie lächelte fast. Jason sah lediglich bockig drein. Annette holte tief Luft, und in Junes Augen funkelte ein Lachen.

Dann schlenderten sie alle, noch immer wortlos, davon, und es war mir nicht möglich zu sagen, wie sehr ich sie hatte beruhigen können — wenn überhaupt. Ich lauschte dem Echo meiner eigenen Stimme nach, die behauptete, ich sei kein Narr, und fragte mich reumütig, ob das wirklich stimmte. Aber es schien mir wichtiger denn je, die Firma Saxony Franklin — wie auch immer- über Wasser zu halten, solange sich die Diamanten noch nicht gefunden oder ich die Hoffnung verloren hatte, sie doch noch zu finden.

June kam wieder herein und sagte vorsichtig:»Ihre anfeuernden Worte scheinen zu wirken.«

«Gut.«

«Alfie hat Jason einen ordentlichen Anpfiff verpaßt, und Jason will bleiben.«

«Schön.«

«Kann ich sonst irgendwie behilflich sein?«

Ich sah in ihr schmales, waches Gesicht mit seinen blonden Wimpern und blond-bis-unsichtbaren Augenbrauen, und es wurde mir bewußt, daß alle Unternehmungen zur Rettung der Firma ohne sie nicht die geringste Aussicht auf Erfolg hatten. Mehr noch als ihr Computer war sie die Seele des ganzen. Mehr als Annette.

«Wie lange arbeiten Sie eigentlich schon hier?«

«Drei Jahre. Seit meinem Schulabgang. Fragen Sie mich nicht, ob ich den Job mag. Ich liebe ihn. Was soll ich jetzt für Sie tun?«

«Kramen Sie mal im Gedächtnis Ihres Computers, ob Sie da Hinweise auf Diamanten finden.«

Sie war kurz ungehalten.»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß wir nicht mit Diamanten handeln.«

«Würden Sie’s trotzdem mal tun?«

Sie zuckte die Achseln und war fort. Ich stellte mich auf meine Füße — meinen Fuß — und folgte ihr, sah ihr dabei zu, wie sie gekonnt auf dem Keyboard herumtippte.

«Absolut gar nichts unter Diamanten«, sagte sie schließlich.»Nichts. Wie ich gesagt habe.«

«Ja. «Ich dachte an die Pappschachteln im Tresorraum und an die mineralischen Inhaltsangaben auf den Etiketts.»Ist Ihnen zufällig die chemische Formel von Diamanten geläufig?«

«Ja, klar«, antwortete sie prompt.»Einfach C. Für Carbon. Diamanten sind reiner Kohlenstoff.«

«Könnten Sie’s noch einmal versuchen? Unter C?«

Sie tat dies, aber unter C gab es keine Datei.

«Wußte mein Bruder, wie man diesen Computer bedient?«fragte ich.

«Er kannte sich mit allen Computern aus. Brauchte nur fünf Minuten, um sich die Bedienungsanleitung durchzulesen.«

Ich dachte nach und starrte dabei auf den leeren, nicht gerade sehr hilfsbereiten Monitor.

«Gibt es«, fragte ich,»irgendwelche Geheimdateien da drin?«

Sie sah mich mit großen Augen an.»Wir verwenden nie Geheimdateien.«

«Aber möglich wäre es?«

«Selbstverständlich, ja. Aber wir brauchen sie nicht.«

«Wenn es Geheimdateien gäbe«, fragte ich weiter,»würden Sie dann wissen, daß sie da sind?«

Sie nickte kurz.»Ich würde es nicht wissen, aber ich könnte es feststellen.«

«Wie?«fragte ich.»Ich meine, würden Sie’s bitte mal tun?«

«Wonach suche ich aber? Ich verstehe nicht.«

«Diamanten.«

«Aber ich habe Ihnen doch gesagt, daß wir…«

«Ich weiß«, sagte ich,»aber mein Bruder sagte mal, daß er Diamanten zu kaufen beabsichtige, und ich muß einfach wissen, ob er es getan hat. Wenn die Möglichkeit besteht, daß er eine private Information da drin gespeichert hat, als er irgendwann einmal als erster oder als letzter hier im Büro war, muß ich sie finden.«

Sie schüttelte den Kopf, tippte aber, meinem Wunsch Folge leistend, auf dem Keyboard herum und ließ auf dem Monitor erscheinen, was sie als» Menüs «bezeichnete. Das schien eine ziemlich langwierige Sache zu sein, aber schließlich und endlich stieß sie mit gefurchter Stirn auf etwas, was sie innehalten ließ. Dann erhöhte sich ihre Aufmerksamkeit schlagartig, als auf dem Bildschirm wie zuvor schon der Begriff» Codewort «erschien.

«Das verstehe ich nicht«, sagte sie.»Wir haben dem Computer ein allgemeines Codewort eingegeben, das >Saxony< lautet und das wir fast nie verwenden. Aber Sie können jedes beliebige Codewort auf ein Dokument setzen, das dann >Saxony< ausschaltet. Dies hier wurde erst vor einem Monat eingegeben. Das Datum steht auf dem Menü. Wer immer das gemacht hat — in jedem Falle hat er nicht >Saxony< als Codewort verwendet. Es könnte alles sein, buchstäblich jedes Wort, das es auf dieser Welt gibt.«

Ich sagte:»Mit Dokument meinen Sie Datei?«»Ja, Datei. Jede Eingabe hat eine Datei-Bezeichnung, also zum Beispiel >Orientalische Zuchtperlenc. Wenn ich nun >Orientalische Zuchtperlen< aufrufe, erhalte ich auf dem Monitor eine Übersicht über unseren Bestand. Das mache ich laufend. Aber dieses Dokument mit unbekanntem Codewort ist unter Perle, also dem Singular, aufgelistet, nicht unter der Pluralform Perlen, und das verstehe ich nicht. Ich habe das nicht eingegeben. «Sie sah mich an.»Auf alle Fälle heißt es da aber auch nicht >Diamanten<.«

«Versuchen Sie doch noch einmal, dieses Codewort zu erraten.«

Sie probierte es mit» Franklin «und mit» Greville«, aber ohne Erfolg.»Es kann einfach alles sein«, sagte sie ratlos.

«Versuchen Sie mal >Dozen Roses<.«

«Wieso >Dozen Roses

«Greville hat ein Pferd, ein Rennpferd, mit diesem Namen.«

«Wirklich? Hat er nie erzählt. Er war so nett und auch so schrecklich zurückhaltend.«

«Er besaß noch ein zweites Pferd, das >Edelstein< heißt.«

Mit ganz offensichtlichem Zweifel versuchte sie es erst mit» Dozen Roses «und dann mit» Edelstein«, aber nichts geschah, außer daß eine weitere, dringliche Aufforderung sichtbar wurde, das Codewort einzugeben.

«Dann probieren Sie es jetzt mal mit >Diamanten<«, sagte ich.

Sie tat es — und nichts änderte sich.

«Sie kannten ihn doch«, sagte ich.»Was könnte ihn veranlaßt haben, etwas unter >Perle< abzuspeichern?«

«Keine Ahnung. «Sie saß über die Tasten gebeugt da und trommelte mit den Fingern auf ihre Lippen.»Perle… Perle… warum Perle?«»Was ist eine Perle?«sagte ich.»Hat sie eine Formel?«

«Ah. «Sie richtete sich plötzlich auf.»Das ist ein Monatsstein.«

Sie tippte» Monatsstein«, und nichts geschah.

Dann errötete sie leicht.

«Das ist einer der Monatssteine für den Juni, und Juni entspricht June«, sagte sie.»Ich kann’s ja mal damit probieren.«

Sie tippte» June«- und da erhellte sich der Monitor und gab seine Geheimnisse preis.

Загрузка...