Kapitel 2

Ich hatte auf drei Jahre das Erdgeschoß eines alten Hauses gemietet, das an einer Ecke der Hauptstraße lag, welche durch das altehrwürdige Landstädtchen führte. Es gab ein Schlaf- und ein Badezimmer, die zur Straße und nach Osten, also zum Sonnenaufgang hin lagen, und einen großen Allzweckraum nach hinten hinaus, den der Sonnenuntergang erhellte. Von ihm aus sah man auf ein schmales, an den Fluß grenzendes Gärtchen, das ich mir mit den Hausbesitzern, einem älteren, über mir wohnenden Ehepaar teilte.

Brads Mutter kochte und putzte schon seit vielen Jahren für sie, während Brad Reparaturen ausführte und Holz hackte, wann immer ihm danach zumute war. Kurz nach meinem Einzug hatten Mutter und Sohn auch mir wie beiläufig ihre Dienste angetragen, was mir sehr gelegen gekommen war. Alles in allem war es ein unbeschwertes, geordnetes Leben, aber wenn es stimmt, daß man nur dort wirklich zu Hause ist, wo das Herz ist, dann war das für mich draußen in den windigen Downs und in den Ställen und auf den von heiserem Lärm erfüllten Rennplätzen, wo ich arbeitete.

Ich betrat die stillen Räume, saß mit Eisbeuteln und hochgelegten Beinen auf dem Sofa, beobachtete die Sonne, die auf der anderen Seite des Flusses unterging, und dachte bei mir, daß ich wohl besser daran getan hätte, in Ipswich im Krankenhaus zu bleiben. Vom Knie an ab-

wärts schmerzte mein linkes Bein ganz fürchterlich, und von Minute zu Minute wurde mir klarer, daß mein Sturz den Schaden vom Donnerstag verheerend verschlimmert hatte. Mein Orthopäde war übers Wochenende nach Wales gefahren, aber ich hatte auch so meine Zweifel, ob er sehr viel mehr getan hätte als» Das habe ich Ihnen ja gleich gesagt!«zu mir zu sagen, weshalb ich schließlich schlicht und einfach ein weiteres Distalgesic, eine Schmerztablette, nahm, die Eisbeutel erneuerte und die Tageszeit von Tokio und Sydney ermittelte.

Um Mitternacht rief ich in diesen beiden Städten an, wo schon Morgen war, und erreichte glücklicherweise beide Schwestern.»Armer Greville«, sagten sie betrübt, und» Mach, was du für richtig hältst.«-»Schick ein paar Blumen in unserem Namen.«-»Halt uns auf dem laufenden.«

Das würde ich machen, sagte ich. Armer Greville, wiederholten sie und meinten das auch, und sie sagten, daß ich sie doch mal in Sydney und in Tokio besuchen solle, jederzeit. Ihren Kindern, sagten sie, ginge es gut. Ihren Männern ginge es auch gut. Ob’s mir auch gut ginge? Armer, armer Greville.

Ich legte traurig den Hörer auf die Gabel zurück. Familien zerstreuten sich — und einige zerstreuten sich mehr als die meisten anderen. Ich kannte inzwischen meine Schwestern nur noch von den Fotos, die sie manchmal zu Weihnachten schickten. Sie hatten meine Stimme nicht erkannt.

Am nächsten Morgen ließ ich die Dinge langsam angehen. Da sich nicht viel gebessert hatte, wählte ich, wie gehabt, Hemd, Schlips und Pullover für den Tag, zog rechts einen Schuh an, links nur die Socke, und war fertig, als Brad fünf Minuten vor der Zeit bei mir eintraf.

«Wir fahren nach London«, sagte ich.»Hier ist ein Stadtplan, auf dem ich unser Ziel angekreuzt habe. Glauben Sie, daß Sie es finden werden?«

«Hab doch ’nen Mund zum Fragen«, sagte er und starrte auf das Straßengewirr hinab.»Denke schon.«

«Na, dann mal los.«

Er nickte, half mir auf den Rücksitz und fuhr siebzig Meilen schweigend durch den dichten Morgenverkehr. Dann schlängelte er sich auf Zickzack-Kurs durch Hol-born, wobei er immer wieder schreiend bei Straßenhändlern Auskunft einholte, bog ein paarmal falsch ab, korrigierte sich und blieb ganz plötzlich in einer geschäftigen Straße in der Nähe von Hatton Garden stehen.

«Da wär’n wir«, sagte er, mit dem Finger hinauszeigend.»Nummer 56. Das Bürogebäude da.«

«Hervorragend.«

Er half mir aus dem Wagen, reichte mir die Krücken und begleitete mich, um mir die schwere gläserne Eingangstür aufzuhalten. Drinnen saß hinter einem Tresen ein Mann mit helmartiger Mütze, die Sicherheit in Person, und fragte mich drohend, in welche Etage ich wolle.

«Saxony Franklin«, sagte ich.

«Name?«fragte er und zog eine Liste zu Rate.

«Franklin.«

«Ihr Name, meine ich.«

Ich erklärte ihm, wer ich war. Er hob die Augenbrauen, nahm den Telefonhörer auf, drückte einen Knopf und sagte:»Ein Mr. Franklin ist auf dem Weg nach oben.«

Brad erkundigte sich bei dem Pförtner, wo er parken könne, und bekam die Auskunft, daß sich hinter dem Gebäude ein Hof befinde. Er würde dort auf mich warten, sagte er. Keine Eile. Kein Problem.

Das Bürogebäude war modern und machte bis zum 6. Stock gemeinsame Sache mit seinen schnörkeligen viktorianischen Nachbarn. Erst dann erhob es sich frei und mit einer Menge Glas bis in die Höhen einer 10. Etage.

Die Firma Saxony Franklin Ltd. befand sich allem Anschein nach im 8. Stockwerk. Ich fuhr in einem sanft gleitenden Lift hinauf und gelangte, Ellbogen voran, durch eine schwere Schwingtür in einen Empfangsraum, der mit einem Tisch, einigen Sesseln für Wartende und zwei Polizisten ausgestattet war.

Hinter den Polizeibeamten saß eine Dame mittleren Alters, die ganz entschieden verwirrt aussah.

Mir schoß durch den Kopf, daß wohl die Nachricht von Grevilles Tod bereits eingetroffen war und daß ich wahrscheinlich gar nicht hätte herkommen müssen, aber dann ergab sich, daß die Ordnungshüter aus ganz anderen Gründen erschienen waren.

Die verwirrte Dame erhob sich, schenkte mir einen verständnislosen Blick und sagte:»Das ist aber nicht Mr. Franklin. Der Pförtner hat gesagt, Mr. Franklin sei auf dem Weg nach oben.«

Ich beruhigte die argwöhnischen Polizisten ein wenig, indem ich auch ihnen mitteilte, daß ich Grevilles Bruder sei.

«Oh«, sagte die Dame.»Ja, er hat einen Bruder.«

Sie ließen nun alle ihre Blicke über meine vergleichsweise große Unbeweglichkeit gleiten.

«Mr. Franklin ist nicht anwesend«, erklärte mir die Frau.

«Hm, äh.«.sagte ich,»was ist denn hier los?«

Keiner sah willens aus, mir eine Antwort zu geben. Ich sagte zu der Frau:»Ich bedaure, aber ich weiß Ihren Namen leider nicht.«

«Adams«, sagte sie zerstreut.»Annette Adams. Ich bin die persönliche Assistentin Ihres Bruders.«

«Es tut mir leid«, sagte ich langsam,»aber mein Bruder wird heute nicht kommen. Er hatte einen Unfall.«

Annette Adams hörte die schlechte Nachricht aus meiner Stimme heraus. Sie legte in einer klassischen Geste die Hand auf ihr Herz, als wolle sie es in ihrer Brust festhalten, und sagte ahnungsvoll:»Was für ein Unfall? Ist er verletzt?«

Sie konnte die Antwort deutlich von meinem Gesichtsausdruck ablesen und tastete mit der freien Hand nach ihrem Stuhl, in den sie sich, vom Schock getroffen, zurückfallen ließ.

«Er ist gestern morgen im Krankenhaus gestorben«, sagte ich zu ihr und den Polizisten,»nachdem am vergangenen Freitag Teile eines Baugerüstes auf ihn gefallen waren. Ich war bei ihm dort in der Klinik.«

Einer der beiden Polizisten zeigte auf meinen baumelnden Fuß.»Sind Sie bei der gleichen Gelegenheit verletzt worden, Sir?«

«Nein, das ist etwas anderes. Ich war nicht Zeuge des Unfalls. Ich wollte damit sagen, daß ich bei ihm gewesen bin, als er starb. Das Krankenhaus hatte mich benachrichtigt.«

Die beiden Polizisten schauten sich an und beschlossen schließlich, mir mitzuteilen, warum sie da waren.

«Am Wochenende ist hier in diese Büroräume eingebrochen worden, Sir. Mrs. Adams hat es entdeckt, als sie heute morgen sehr früh zur Arbeit kam, und hat uns verständigt.«

«Was spielt das noch für eine Rolle? Es ist jetzt auch egal«, sagte die Frau und wurde immer blasser.

«Es herrscht eine ganz schöne Unordnung«, fuhr der Polizist fort,»und Mrs. Adams weiß nicht, was gestohlen worden ist. Wir warteten gerade auf Ihren Bruder, der uns das sagen sollte.«

«O Gott, o Gott«, sagte Annette, nach Luft ringend.

«Ist sonst noch jemand da?«fragte ich sie.»Jemand, der Ihnen mal einen Becher Tee bringen konnte?«Bevor Sie ohnmächtig werden, dachte ich, sprach es aber nicht aus.

Sie deutete ein Kopfnicken an und blickte auf die Tür auf der anderen Seite des Schreibtisches, und ich humpelte hinüber und versuchte sie zu öffnen. Sie wollte aber nicht aufgehen, der Türknauf ließ sich nicht drehen.

«Das geht nur elektronisch«, sagte Annette schwach.»Sie müssen die richtigen Zahlen eingeben…«Sie legte den Kopf zurück gegen die Stuhllehne und sagte, sie könne sich nicht an die für den heutigen Tag geltende Zahlenkombination erinnern. Sie würde sehr häufig geändert. Sie und die Polizisten waren, wie es schien, durch die Tür gegangen und hatten sie dann hinter sich zufallen lassen.

Einer der Beamten trat zu mir, hämmerte mit der Faust gegen die Tür und rief sehr entschieden» Polizei!«, was — fast reflexhaft — die gewünschte Wirkung hatte. Ohne Umschweife erklärte er der sehr viel jüngeren Frau, die die Tür geöffnet hatte, daß ihr Chef tot und Mrs. Adams dabei sei, in Ohnmacht zu fallen und einen starken, süßen Tee brauche, meine Liebe, aber ganz schnell.

Mit weit aufgerissenen, flackernden Augen zog sich die junge Frau zurück, um hinter den Kulissen noch mehr Bestürzung zu verbreiten, und der Polizist machte den Schutz der Firma dadurch zunichte, daß er die elektronisch gesicherte Tür am Zufallen hinderte, wozu er sich eines Stuhles bediente.

Ich nahm ein paar weitere, über das Grau meiner ersten Eindrücke hinausgehende Einzelheiten der Umgebung in mich auf. Die tiefschwarzen Polsterstühle und der mattschwarze Tisch aus gebeiztem und unpoliertem Holz standen auf einem hellen, grünlich-grauen Teppich. An den Wänden, in blassestem Grau gehalten, hing eine Reihe geologischer Karten, die Rahmen alle schwarz, schmal und von gleicher Größe. Die aufgehaltene Tür und eine andere, ähnliche an der Seite des Raumes, die noch geschlossen war, waren in der gleichen Farbe wie die Wände gestrichen. Von in die Decke eingelassenen Strahlern erhellt, wirkte das Ganze sowohl klar und gradlinig als auch in höchstem Maße raffiniert, womit es ganz und gar dem Wesen meines Bruders entsprach.

Mrs. Annette Adams, noch immer geschwächt von den zu vielen unangenehmen Überraschungen, mit denen sie an diesem Montagmorgen konfrontiert worden war, trug eine cremefarbene Bluse, einen schwarz-grauen Rock und eine Kette aus unregelmäßigen Perlen. Sie hatte dunkle Haare, war vielleicht Ende vierzig und fing, wie ich aus der Starrheit ihres Blickes schloß, wohl gerade erst an zu begreifen, daß der gegenwärtige Aufruhr ein dauerhafter sein würde.

Die jüngere Frau kehrte schon bald mit einem roten Becher mit dampfendem Tee zurück, und Annette Adams trank ein paar Schlucke davon, während sie zuhörte, wie mir der Polizist erklärte, daß der Einbrecher nicht mit dem Besuchern vorbehaltenen Hauptlift heraufgekommen war, sondern mit einem anderen im rückwärtigen Teil des Gebäudes, der von den Angestellten aller im Hause residierenden Firmen und für den Transport von Lasten benutzt wurde. Dieser Lift brachte einen in eine hintere Halle hinab, von der aus man direkt in den Hof gelangte, wo Autos und Lieferwagen parken konnten — und wo wahrscheinlich in diesem Augenblick Brad auf mich wartete.

Der Eindringling war offenbar bis in die 10. Etage hinaufgefahren, über eine Nottreppe aufs Dach gelangt und hatte sich dann mit irgendwelchen Hilfsmitteln außen am Gebäude bis in den 8. Stock hinunterbewegt, wo er ein Fenster eingeschlagen hatte und in die Büroräume eingestiegen war.

«Was für Hilfsmittel?«fragte ich.

«Das wissen wir nicht, Sir. Was immer es war, er hat’s wieder mitgenommen. Vielleicht ein Seil. «Er zuckte die Achseln.»Wir haben uns bisher nur flüchtig hier umgesehen. Wir wollten wissen, was gestohlen worden ist, bevor wir… äh… Also, wir möchten unsere Zeit ja auch nicht wegen nichts und wieder nichts vertun.«

Ich nickte. Wie Grevilles gestohlene Schuhe, dachte ich.

«Das Viertel hier um Hatton Garden herum ist weitgehend in der Hand der Edelsteinhändler. Wir haben andauernd mit Einbrüchen oder versuchten Einbrüchen zu tun.«

Der andere Polizist sagte:»Der Laden hier ist natürlich vollgestopft mit Steinen, aber der Tresorraum ist noch zu, und Mrs. Adams meint, daß es so aussehe, als ob in den Ausstellungsräumen nichts fehle. Mr. Franklin hat einen Schlüssel zum Tresorraum, wo die wertvolleren, geschliffenen Steine aufbewahrt werden.«

Mr. Franklin hatte keine Schlüssel mehr. Die Schlüssel von Mr. Franklin steckten in meiner Tasche. Ich nahm an, daß es nichts schaden würde, wenn ich sie hervorholte.

Der Anblick des ihr wahrscheinlich nur allzu vertrauten Schlüsselbundes ließ Tränen in Annette Adams’ Augen steigen. Sie setzte den Becher ab, kramte nach einem Taschentuch und rief» Dann ist er also wirklich tot!«, als ob sie nicht schon vorher ernsthaft davon überzeugt gewesen wäre.

Als sie sich ein bißchen erholt hatte, bat ich sie, uns den Schlüssel zum Tresorraum zu zeigen. Es war der längste und schmälste am Schlüsselbund, und kurz darauf schritten wir alle durch die aufgehaltene Tür und einen Mittelgang entlang, zu dessen beiden Seiten sich geräumige Büros befanden. Vom Schock gezeichnete Gesichter blickten uns an, als wir vorbeigingen. Vor einer ganz gewöhnlich aussehenden Tür, die man fälschlicherweise auch für eine Schranktür hätte halten können und die ganz gewiß nicht wie die zu einem Tresorraum aussah, blieben wir stehen.

«Das ist sie«, sagte Annette Adams und nickte mit dem Kopf. Ich steckte also den schmalen Schlüssel in das kleine, ganz normale Schlüsselloch und fand zu meiner Überraschung, daß ich ihn gegen den Uhrzeigersinn drehen mußte. Die dicke, schwere Tür gab meinem Druck nach und schwang nach innen zur rechten Seite hin auf, wobei automatisch ein Licht anging und beleuchtete, was tatsächlich eher wie ein riesiger, begehbarer Schrank aussah, in dem viele Reihen von weißen Pappkartons auf einfachen, weiß gestrichenen Regalen standen, die die gesamte linke Seite des Raumes einnahmen.

Alle sahen sich schweigend um. Nichts schien durcheinandergebracht worden zu sein.

«Wer weiß denn, was in diesen Schachteln drin sein muß?«fragte ich und erhielt die erwartete Antwort — nur mein Bruder.

Ich machte einen Schritt in den Raum hinein und nahm den Deckel von einer der am nächsten stehenden Schachteln, auf dem ein Etikett mit der Aufschrift» MgAl2O4, Burma «klebte. Darin befand sich etwa ein Dutzend glänzende weiße Umschläge, alle im Format der Schachtel. Ich holte einen heraus, um ihn zu öffnen.

«Seien Sie vorsichtig!«rief Annette Adams aus, als sie sah, wie ich, an meinen Krücken balancierend, ungeschickt damit herumhantierte.»Man muß diese Päckchen auffalten.«

Ich übergab ihr den Umschlag, den ich gerade in der Hand hielt, und sie faltete ihn ganz vorsichtig auf ihrer offenen Hand auseinander. Darin lagen nun, auf weißes Tuch gebettet, zwei große, rote, durchsichtige Steine, geschliffen und von länglicher Form, deren intensiv im Licht strahlende Farbe fast zu pulsieren schien.

«Sind das Rubine?«fragte ich, zutiefst beeindruckt.

Annette Adams lächelte nachsichtig.»Nein, das ist Spinell. Sehr schöne Stücke. Mit Rubinen haben wir selten zu tun.«

«Sind hier auch Diamanten drin?«fragte einer der Polizisten.

«Nein, wir handeln nicht mit Diamanten. Fast nie.«

Ich bat sie, in ein paar weitere Schachteln zu schauen, was sie auch tat, nachdem sie zuvor die beiden roten Steine sorgfältig wieder eingewickelt, in die Schachtel gepackt und diese an ihren alten Platz zurückgestellt hatte. Wir sahen ihr zu, wie sie sich reckte und bückte, um wahllos Kästchen aus den verschiedenen Regalbrettern zu öffnen und gelegentlich auch ein Päckchen zu genauerer Prüfung herauszunehmen. Schließlich schüttelte sie den Kopf und sagte, daß überhaupt nichts fehle, jedenfalls nicht, soweit sie sehen könne.

«Der eigentliche Wert dieser Steine liegt in ihrer Quantität«, sagte sie.»Die einzelnen Steine kosten keineswegs ein Vermögen. Aber wir verkaufen sie im Dutzend, zu Hunderten…«Ihre Stimme verlor sich in einer Art Verlassenheit.»Ich weiß nicht, was ich machen soll«, sagte sie.»Mit den Aufträgen, meine ich.«

Die Polizisten berührte dieses Problem nicht. Wenn hier nichts fehle, dann gebe es andere Einbrüche, um die sie sich kümmern müßten, und sie würden einen Bericht anfertigen, aber vorerst auf Wiedersehen, oder etwas in dem Sinne.

Als sie fort waren, standen Annette Adams und ich im Flur und sahen uns an.

«Was soll ich machen?«sagte sie.»Läuft das Geschäft weiter?«

Ich mochte ihr nicht sagen, daß ich nicht den blassesten Schimmer hatte. Ich fragte:»Hatte Greville ein eigenes Büro?«

«Da herrscht ja gerade die allergrößte Unordnung«, sagte sie, drehte sich um und ging den Flur zurück bis zu einem großen Eckzimmer in der Nähe des Empfangs.»Hier.«

Ich war ihr gefolgt und sah nun, was sie mit» Unordnung «gemeint hatte. Der Inhalt aller weit herausgerissener Schubfächer schien auf dem Fußboden gelandet zu sein, im wesentlichen Papier. Die Bilder waren von den Wänden genommen und auf die Erde geworfen worden. Ein Aktenschrank lag umgekippt auf der Seite wie ein gefallener Soldat. Der Schreibtisch war ein einziges Schlachtfeld.

«Die Polizei meint, der Einbrecher habe wohl hinter den Bildern nach einem Safe gesucht. Aber es gibt keinen… nur den Tresorraum. «Sie seufzte unglücklich.»Es ist alles so sinnlos.«

Ich drehte mich um.»Wie viele Mitarbeiter gibt es hier insgesamt?«fragte ich.

«Sechs. Und Mr. Franklin natürlich. «Sie schluckte.»Mein Himmel!«

«Mm«, stimmte ich ihr zu.»Gibt es einen Ort, wo ich mal mit allen sprechen kann?«

Sie nickte stumm und führte mich in einen anderen großen Büroraum, wo bereits drei der Mitarbeiter versammelt waren, großäugig und führungslos. Die anderen beiden kamen herbei, als sie gerufen wurden. Vier Frauen und zwei Männer, alle besorgt und verunsichert und Entscheidungen von mir erwartend.

Greville hatte, das sah ich sofort, keine potentiellen Führungskräfte um sich geschart. Auch Annette Adams war keine aggressive, hinter der Bühne auf ihren Auftritt wartende Managerin, sondern wohl eher eine echte Stellvertreterin, befähigt, Aufträge auszuführen, aber nicht in der Lage, solche zu initiieren. Alles in allem nicht so gut für mich.

Ich stellte mich vor und berichtete, was Greville widerfahren war.

Wie ich zu meiner Freude feststellen konnte, hatten sie ihn gemocht. Es flossen Tränen um seinetwillen. Ich sagte, daß ich ihre Hilfe brauche, denn es gebe da sicherlich Menschen, denen ich seinen Tod mitteilen müsse, etwa seinen Anwälten und seinem Steuerberater und seinen engsten Freunden — ich wisse aber überhaupt nicht, wer sie seien. Ich würde gern, sagte ich, eine Liste anfertigen, und ich setzte mich, mit Papier und Bleistift ausgerüstet, neben einen der Schreibtische.

Annette sagte, sie wolle mal Grevilles Adreßbüchlein aus seinem Büro holen, kehrte aber nach einer Weile frustriert wieder zurück — sie hatte es in all dem Chaos nicht finden können.

«Es muß doch noch andere Unterlagen geben«, sagte ich.»Was ist mit diesem Computer da?«Ich zeigte auf ihn.»Haben Sie nicht Adressen gespeichert?«

Das Gesicht des Mädchens, das Annette den Tee gebracht hatte, hellte sich beträchtlich auf, und sie klärte mich darüber auf, daß dies das Büro der Lagerverwaltung sei. In dem besagten Computer würden die Bestände festgehalten, Wareneingang, Warenausgang, Bestand, Rechnungen, Kundenkonten. Aber, so meinte sie ermutigend, in ihrem anderen Reich jenseits des Flures gäbe es noch einen Computer, den sie für die Korrespondenz verwende. Als sie das Ende ihres Satzes erreicht hatte, sauste sie aus dem Zimmer, und Annette bemerkte, daß June immer ein rechter Wirbelwind sei.

June, blond, langbeinig und flachbrüstig, kam mit einem Schnellausdruck von Grevilles häufigsten Korrespondenzpartnern wieder (sie hatte die Kunden weggelassen), zu denen nicht nur die Anwälte und der Steuerberater gehörten, sondern ferner auch seine Bank, ein Börsenmakler und eine Versicherungsgesellschaft.

«Großartig«, sagte ich.»Und könnte sich einer von Ihnen vielleicht mal mit allen großen KreditkartenGesellschaften in Verbindung setzen und herauszufinden versuchen, ob Greville ihr Kunde gewesen ist, und falls ja, mitteilen, daß er tödlich verunglückt und seine Karte gestohlen worden ist?«Annette erklärte sich traurig bereit, das sofort zu erledigen.

Dann fragte ich, ob einem von ihnen Marke und Zulassungsnummer von Grevilles Auto bekannt sei. Das wußten alle, denn sie hatten den Wagen ja schließlich jeden Tag unten im Hof stehen sehen. Er kam in einem Rover 3500 ohne Radio und Kassettenrecorder in die Firma, weil der Porsche, den er vorher gehabt hatte, zweimal aufgebrochen und am Ende ganz gestohlen worden war.

«In der alten Karre steckt immer noch ein Haufen von technischem Krimskrams«, sagte der jüngere der beiden Männer,»aber diese Spielsachen hatte er alle in den Kofferraum gesperrt.«

Greville war schon immer ganz versessen auf technische Spielereien gewesen, hatte sich stets für die neuesten, kurzlebigsten Methoden, ganz normale Aufgaben auszuführen, begeistert. Er hatte mir bei unseren Treffen mehr über sein Spielzeug erzählt als über seine zwischenmenschlichen Beziehungen.

«Warum fragen Sie nach dem Auto?«wollte der junge Mann wissen. Er trug eine Fülle von Abzeichen auf seiner schwarzen Lederjacke, und sein orangefarbenes, stachelartiges Haar wurde von Gel in Form gehalten. Ich vermutete, daß dies dem Bedürfnis entsprach, irgendwie zu beweisen, daß er existierte.

«Es könnte vor seiner Haustür stehen«, sagte ich.»Oder es ist vielleicht irgendwo in Ipswich geparkt.«

«Ah ja«, sagte der junge Mann nachdenklich,»verstehe, was Sie meinen.«

Das Telefon neben mir auf dem Schreibtisch fing an zu klingeln, und Annette kam nach kurzem Zögern herbei und nahm den Hörer ab. Sie lauschte mit besorgtem Gesichtsausdruck, hielt dann mit der Hand die Sprechmuschel zu und fragte mich:»Was soll ich machen? Es ist ein Kunde, der eine Bestellung aufgeben möchte.«

«Haben Sie da, was er gern hätte?«

«Ja, gewiß doch.«

«Dann sagen Sie ihm, daß es in Ordnung geht.«

«Aber soll ich ihm auch das mit Mr. Franklin sagen?«

«Nein«, sagte ich ganz spontan,»nehmen Sie nur den Auftrag entgegen.«

Sie schien froh über diese Anweisung zu sein und schrieb die Bestellung mit. Als sie wieder aufgelegt hatte, schlug ich den Anwesenden vor, daß sie zumindest am heutigen Tag die eingehenden Aufträge in der gewohnten

Form abwickeln und nur im Falle, daß sie gefragt würden, mitteilen sollten, daß Mr. Franklin auf Reisen und im Augenblick leider nicht erreichbar sei. Wir würden die Kunden erst dann von seinem Tod unterrichten, wenn ich mit Anwalt, Steuerberater, Bank und allen anderen gesprochen und mich über die Rechtslage informiert hätte. Sie waren erleichtert und hatten keine Einwände, und der ältere Mann erkundigte sich, ob ich bald die Reparatur des zerbrochenen Fensters veranlassen könne, da es sich im Pack-und Versandraum befinde, wo er arbeite.

Ich sagte, ich würde es versuchen, und hatte dabei das Gefühl, mit den Füßen voran in Treibsand zu versinken. Mir wurde klar, daß ich weder dorthin noch zu dem Leben all dieser Menschen gehörte, und daß alles, was ich vom Edelsteingeschäft wußte, lediglich war, wo ich zwei rote Steine in einer Schachtel mit der Aufschrift» MgAl2O4, Burma «finden konnte.

Beim vierten, von den Gelben Seiten inspirierten Versuch wurde mir zugesagt, daß man sich augenblicklich um das Fenster kümmern wolle, und danach rief ich, als die Büroroutine um mich herum wieder in Gang zu kommen begann, die Anwaltskanzlei an.

Die Anwälte waren ernst, sie waren voll des Mitgefühls, sie waren mir zu Diensten. Ich erkundigte mich, ob Greville vielleicht ein Testament hinterlassen habe, da ich vor allem gern erfahren hätte, ob er irgendwelche Anweisungen hinsichtlich einer Beerdigung oder Einäscherung gegeben habe, und ob sie, wenn nicht, wüßten, ob ich mich mit irgend jemandem in Verbindung setzen oder aber so verfahren solle, wie es mir richtig erschiene.

Ich hörte das eine oder andere Räuspern und erhielt dann das Versprechen, daß man in den Unterlagen nachschauen und zurückrufen wolle. Sie hielten Wort und riefen mich zu meiner Überraschung schon nach sehr kurzer Zeit wieder an.

Mein Bruder habe tatsächlich ein Testament hinterlassen

— sie hätten es vor drei Jahren für ihn ausgefertigt. Sie könnten zwar nicht beschwören, ob dieses sein letzter Wille sei, aber es sei das einzige, was ihnen vorläge. Sie hätten darin nachgelesen. Greville habe, so erklärten sie pedantisch, keine besonderen Wünsche bezüglich des Verbleibs seiner sterblichen Überreste geäußert.

«Soll ich dann also einfach… Entsprechendes veranlassen?«

«Gewiß doch«, sagten sie.»Sie sind im übrigen von ihm als sein alleiniger Testamentsvollstrecker benannt worden. Es ist also geradezu Ihre Pflicht, diese Entscheidungen zu treffen.«

Teufel auch, dachte ich, und bat sie um eine Liste aller Begünstigten, damit ich sie von seinem Ableben unterrichten und zur Bestattung einladen könne.

Nach einer Pause meinten sie, daß sie Informationen dieser Art gemeinhin nicht telefonisch weitergäben, ob ich nicht in ihre Kanzlei kommen könne. Sie befände sich genau auf der anderen Seite der City, gleich beim Temple.

«Ich habe ein gebrochenes Fußgelenk«, sagte ich entschuldigend.»Ich brauche schon eine Ewigkeit, um nur durch das Zimmer zu kommen.«

O jemine, sagten sie. Sie berieten sich flüsternd und erklärten schließlich, daß es wohl keinen Schaden anrichten würde, wenn sie mich ins Bild setzten. Grevilles Testament sei äußerst einfach. Er habe seine gesamte Habe Derek Saxony Franklin, seinem einzigen Bruder, hinterlassen. Das hieße also: mir.

«Was?«sagte ich töricht.»Das kann doch nicht sein.«

Er habe sein Testament in großer Eile gemacht, sagten sie, da er in ein gefährliches Land habe fliegen wollen, um dort Steine zu kaufen. Sie als seine Anwälte hätten ihn davon überzeugen können, daß es nicht gut sei, wenn er ohne Hinterlassung einer letztwilligen Verfügung reise, und er sei ihrem Rat gefolgt — dies sei, soweit sie wüßten, das einzige Testament, das er je gemacht habe.

«Er kann das einfach nicht als sein letztes angesehen haben«, sagte ich verständnislos.

Vielleicht nicht, räumten sie ein — es gäbe wohl nur wenige Männer, die, sofern sie sich bei guter Gesundheit befänden, erwarteten, daß sie mit 53 Jahren sterben würden. Dann schnitten sie diskret die Frage der offiziellen Testamentseröffnung an und erbaten meine Instruktionen, und ich fühlte, wie mir der Treibsand jetzt schon bis über die Knie reichte.

«Ist es legal«, fragte ich,»wenn das Geschäft zunächst unverändert weiterläuft?«

Sie sahen da keine rechtlichen Hindernisse. Die gerichtliche Bestätigung des Testaments ebenso vorausgesetzt wie das Nichtvorhandensein eines zu einem späteren Zeitpunkt verfaßten letzten Willens, würde die Firma auf mich übergehen, und wenn ich sie einmal zu verkaufen beabsichtige, läge es sogar in meinem ureigensten Interesse, das Geschäft weiterlaufen zu lassen. Als Testamentsvollstrecker meines Bruders sei ich sogar verpflichtet, mein Bestes zum Wohle des hinterlassenen Besitztums zu tun. Eine interessante Situation, meinten sie nicht ohne Humor.

Ich vermochte diese subtile Sicht der Dinge nicht sogleich nachzuvollziehen, und fragte, wie lange die gerichtliche Anerkennung des Testaments denn dauern würde.

Das sei immer schwer vorherzusehen, lautete die Antwort. Alles zwischen sechs Monaten und zwei Jahren, je nachdem, wie kompliziert Grevilles Angelegenheiten seien.

«Zwei Jahre!«

Sechs Monate seien wahrscheinlicher, murmelten sie beschwichtigend. Das Tempo werde ganz von den Steuerberatern und Finanzbehörden abhängen, die man aber nur selten zur Eile antreiben könne. Das alles ruhe im Schoße der Götter.

Ich erwähnte, daß hinsichtlich der mit dem Unfall zusammenhängenden Schadensersatzansprüche einiges an Arbeit anfallen könne. Sie würden sich glücklich schätzen, sich darum kümmern zu dürfen, sagten sie und versprachen, sich mit der Polizei in Ipswich in Verbindung zu setzen. Inzwischen: alles Gute!

Ich legte den Hörer mit steigendem Entsetzen auf die Gabel. Das Geschäft würde wohl — wie jedes andere auch

— dank seiner Eigendynamik erst einmal zwei Wochen weitergehen wie bisher, vielleicht auch vier Wochen, aber danach… Danach würde ich wieder auf einem Pferd sitzen und versuchen, mich für die anstehenden Rennen fit zu machen!

Ich würde mir einen Manager holen müssen, dachte ich vage, und hatte keine Ahnung, wo ich mit der Suche nach einem beginnen sollte. Annette Adams erschien mit Sorgenfalten auf der Stirn und fragte, ob es in Ordnung sei, wenn sie sich daran machten, Mr. Franklins Büro aufzuräumen, und ich sagte ja und dachte, daß ihr Mangel an Schwung zum Untergang des ganzen Schiffes führen könnte.

Würde bitte mal jemand so gut sein, bat ich die Welt im allgemeinen, hinunter in den Hof zu gehen und dem Mann in meinem Auto zu sagen, daß ich wohl nicht vor Ablauf von zwei oder drei weiteren Stunden hier fortkäme — und schon raste June mit ihrem strahlenden Gesicht aus der Tür, kehrte wenig später zurück und berichtete, daß mein

Mann das Auto abschließen, zu Fuß zum Mittagessen gehen und rechtzeitig wieder da sein würde, um sodann weiter auf mich zu warten.

«Hat er das alles gesagt?«fragte ich neugierig.

June lachte.»Also, eigentlich hat er nur gesagt >Gut, geh ’n Happen essenc, und ist fortgestapft.«

Sie fragte, ob sie mir ein Sandwich bringen solle, wenn sie selbst zum Mittagessen ginge, und ich nahm dieses Angebot überrascht und dankbar an.

«Ihr Fuß schmerzt stark, nicht wahr?«fragte sie voller Umsicht.

«Mm.«

«Sie sollten ihn hochlegen, auf einen Stuhl.«

Sie holte ohne weitere Umstände einen herbei, stellte ihn vor mich hin und sah mir mit mütterlicher Anerkennung zu, wie ich mein Bein in die gewünschte Position brachte. Sie mußte so Ende zwanzig sein, dachte ich.

Ein Telefon klingelte neben dem Computer auf der anderen Seite des Raumes, und sie ging hinüber, um das Gespräch entgegenzunehmen.

«Ja, Sir, wir haben alles am Lager. Ja, Sir, welche Größe und Anzahl? Einhundert, zwölf mal zehn Millimeter, oval… ja… natürlich, ja.«

Sie tippte die lange Bestellung direkt in den Computer, schrieb sie nicht erst in Langschrift nieder, wie Annette das getan hatte.

«Ja, Sir, das geht noch heute raus. Konditionen wie üblich, Sir, natürlich. «Sie legte auf, ließ sich den Auftrag ausdrucken und legte ihn in einen flachen Drahtkorb. Gleichzeitig lief das Telefax-Gerät an, jaulte vor sich hin und stellte sich mit einem kleinen Schrei wieder ab. Sie riß das herausgekommene Blatt Papier ab und gab die darauf übermittelten Informationen ebenfalls in den Computer ein, druckte sie aus und legte das Blatt in den Drahtkorb.

«Werden alle Aufträge noch am Tag ihres Eingangs erledigt?«fragte ich.

«Aber ja doch, wenn es uns irgend möglich ist. Garantiert aber innerhalb von 24 Stunden. Mr. Franklin sagt, Tempo sei die Grundlage eines guten Geschäfts. Ich habe erlebt, wie er ganze Abende allein hier geblieben ist, wenn wir mal unter Wasser waren, und selbst die Pakete gepackt hat.«

Es fiel ihr plötzlich ein, daß er nie wieder hier sein würde. Es brauchte seine Zeit, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Wie schon einmal, stiegen ihr unkontrollierbar Tränen in die Augen, und sie sah mich durch sie hindurch an, was ihre Augen riesengroß aussehen ließ.

«Man mußte ihn einfach gern haben«, sagte sie.»Gern für ihn arbeiten, meine ich.«

Ich verspürte fast so etwas wie Eifersucht bei dem Gedanken, daß sie Greville besser gekannt hatte als ich — obwohl ich ihn durchaus hätte besser kennen können, wenn ich’s nur versucht hätte. Erneut durchbohrte mich Trauer, eine Nadel des Kummers.

Annette erschien und verkündete, daß Mr. Franklins Büro wenigstens teilweise aufgeräumt sei, und so zog ich mich dorthin zurück, um in relativer Ungestörtheit weitere Telefonate zu erledigen. Ich setzte mich auf Grevilles schwarzledernen Luxusdrehstuhl, legte meinen Fuß auf den Sekretärinnenstuhl, den mir June nachgetragen hatte, und ließ meinen Blick über den üppigen Teppich, die schweren Sessel und die wie im Vorraum gerahmten Karten gleiten. Ich fuhr mit leichter Hand sanft über die gemaserte schwarze Fläche des überdimensionalen Schreibtisches und fühlte mich wie ein Jockey — und nicht wie ein Tycoon.

Annette hatte von der Unmenge technischer Apparate ein paar vom Boden aufgesammelt und an einem Ende des Schreibtisches zusammengestellt — die meisten mattschwarz und klein, als ob die Miniaturisierung ein Teil ihrer Attraktivität sei. Sofort zu identifizieren waren batteriebetriebene Dinge wie ein Bleistiftanspitzer, ein Minikopierer, ein kleiner Rechner mit Drucker und ein elektronisches Wörterbuch, aber das meiste bedurfte schon einer gründlicheren Inspektion. Ich streckte die Hand nach dem am nächsten liegenden Gegenstand aus und sah nun, daß es ein Plastikgehäuse mit Zifferblatt war, durch Kabel verbunden mit einem wie ein Mikrophon aussehenden Kopf.

«Was ist denn das?«fragte ich Annette, die gerade die überall am Boden verstreut liegenden Papiere aufsammelte.»Irgendein Meßgerät?«

Sie warf einen schnellen Blick darauf.»Ein Geigerzähler«, sagte sie unbeeindruckt, als ob ein solches Gerät ganz selbstverständlich zu jedermanns Schreibutensilien gehören müsse.

Ich stellte den Schalter von AUS auf EIN, aber außer daß ein paar klickende Töne erklangen, geschah gar nichts.

Annette, die auf dem Boden kniend das verbliebene Durcheinander zu ordnen versuchte, hielt in ihrer Arbeit inne und richtete sich auf.

«Viele Steine verändern, wenn sie einer Gammastrahlung ausgesetzt werden, ihre Farbe, und das zu ihrem Vorteil«, sagte sie.

«Sie sind hinterher nicht radioaktiv, aber Mr. Franklin bekam mal versehentlich ein paar Topase aus Brasilien geschickt, die in einem Atomreaktor bestrahlt worden waren und an der Grenze des Gefährlichen lagen. Einhundert Stück. Es gab einen schrecklichen Ärger, denn abgesehen davon, daß die Steine absolut unverkäuflich waren, waren sie auch ohne die für radioaktive Güter erforderliche Einfuhrgenehmigung oder irgend so was ins Land gekommen, was aber natürlich nicht Mr. Franklins Schuld war. Damals schaffte er sich diesen Geigerzähler an. «Sie machte eine Pause.»Er hat eine erstaunliche Witterung für Steine, wissen Sie. Er spürte einfach, daß mit diesen Topasen etwas nicht stimmte. Sie zeigten ein so schönes tiefes Blau, wo sie doch eigentlich so gut wie farblos hätten sein müssen. Deshalb schickte er ein paar davon zur Untersuchung ins Labor. «Sie machte erneut eine Pause und fuhr dann fort:»Er hatte gerade erst von ein paar alten Diamanten gelesen, die mit Radium in Berührung gekommen und grün geworden waren und dazu nicht schlecht radioaktiv.«

Ihr Gesicht zog sich plötzlich zusammen, und ihre Augenlider zuckten schnell — sie wandte sich von mir ab und blickte zu Boden, damit ich ihren Schmerz nicht sähe. Sie sammelte wie wild Papier auf und murmelte schließlich nach mehrmaligem Schniefen undeutlich:»Hier ist sein Terminkalender vom Schreibtisch «und dann langsamer:»Das ist ja merkwürdig.«

«Was ist merkwürdig?«

«Der Oktober fehlt.«

Sie erhob sich und brachte mir den Kalender, einen von diesen rechteckigen Terminkalendern, bei denen sich jeweils eine ganze Woche überblicken läßt. Der Monat, der gerade aufgeschlagen war, war der November, und in den Spalten einiger Tage fanden sich auch Eintragungen, die meisten aber waren leer. Ich blätterte zurück und befand mich im September.

«Ich nehme an, der Oktober liegt noch irgendwo da am Boden, ist rausgerissen worden«, sagte ich.

Sie schüttelte zweifelnd den Kopf — und konnte den Monat dann tatsächlich nicht finden.

«Ist sein Adreßbüchlein wieder aufgetaucht?«fragte ich.

«Nein. «Sie war verwirrt.»Ist es nicht.«

«Fehlt sonst noch was?«

«Ich bin mir nicht sicher.«

Es schien höchst absonderlich, daß da jemand das Risiko auf sich genommen haben sollte, über das Dach in diese Geschäftsräume einzubrechen, nur um ein Adreßbüchlein und ein paar Seiten aus einem Terminkalender zu klauen. Da mußte noch mehr fehlen.

In diesem Augenblick erschienen die Glaser aus den Gelben Seiten und setzten meinen Spekulationen ein Ende. Ich ging mit ihnen zum Versand und erblickte nun das Loch, das fachgerecht in die zwei mal anderthalb Meter große Scheibe geschlagen worden war. Die Glasscherben, die über den ganzen Raum verteilt gewesen sein mußten, waren aufgelesen und zu einem Haufen dolchscharfer, glitzernder Dreiecke zusammengetragen worden. Eine kühle kleine Brise raschelte in Papieren, die in einem Klemmbrett steckten.

«Glas von dieser Qualität bricht nicht, wenn man nur mal eben mit dem Fingernagel dagegenpocht«, sagte einer der Glaser fachkundig und nahm eine Scherbe auf.»Sie müssen irgendein Gewicht gehabt haben, das sie dagegensausen ließen, so was wie eine Abrißbirne.«

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