Ich sah, wie Teile von dem Gerüst auf ihn herabfielen«, sagte er.
Es hatte mir die Sprache verschlagen.
«Wir sprachen im Hotel miteinander. In der Lounge dort. Sie war fast leer… dann gingen wir die Straße hinunter bis zu der Stelle, wo ich mein Auto geparkt hatte. Wir verabschiedeten uns. Er überquerte die Straße und ging weiter, und ich sah ihm nach. Ich hoffte, daß er sich noch mal umdrehen und mir zuwinken würde… aber er tat’s nicht.«
Vergebung war eine Sache, dachte ich, die Freundschaft aber war dahin gewesen. Was erwartete er? Absolution und Tröstung? Vielleicht hätte Greville ihm eines Tages auch dies beides gewährt, ich jedoch konnte es nicht.
Prospero Jenks sagte mit schmerzlichem Erinnern:»Grev merkte nicht, was geschah… Es gab keinerlei Warnung. Nur ein klirrendes Geräusch und herabfallendes Metall und abstürzende Menschen. Alles krachte so schnell herunter. Begrub ihn unter sich. Ich konnte ihn nicht mehr sehen… Ich lief über die Straße, um ihn herauszuziehen, und da waren Körper… und er… er… ich dachte, er wäre schon tot. Sein Kopf blutete… in seinem Bauch steckte eine Eisenstange und eine war in sein Bein eingedrungen… es war… ich kann nicht… ich versuche, es zu vergessen, und sehe es doch die ganze Zeit vor mir.«
Ich wartete, und nach einer Weile fuhr er fort:»Ich bewegte ihn nicht. Konnte ich gar nicht. Da war so viel Blut. und ein Mann lag auf seinen Beinen. und ein anderer Mann stöhnte. Leute kamen angelaufen… und dann die Polizei… es war ein einziges Chaos…«
Er schwieg wieder, und ich sagte:»Als die Polizei kam, warum sind Sie da nicht bei Greville geblieben und haben ihm geholfen? Warum haben Sie ihn nicht einmal für die Polizei identifiziert?«
Sein echter Schmerz wurde von einer Welle der Angst überflutet. Diese Furcht war aber nur einen Augenblick da, dann schüttelte er sie wieder ab.
«Sie wissen doch, wie das ist. «Er warf mir den Blick eines kleinen Jungen zu, der sich schämt — ein Blick ähnlich wie jener, der in seinen Augen gewesen war, als er den Austausch der Steine gestanden hatte.»Nur nichts damit zu tun haben! Ich wollte da nicht mit reingezogen werden… ich dachte ja auch, er wäre tot.«
Ich hatte irgendwie den Eindruck, daß er mich belog. Nicht, was den Umstand anbetraf, daß er den Unfall mit angesehen hatte — seine Beschreibung von Grevilles Verletzungen war zu genau gewesen.
«Sind Sie… dann einfach weggefahren?«fragte ich düster.
«Nein, das konnte ich nicht. Eine Ewigkeit nicht. Die Polizei sperrte die Straße ab und nahm endlos Zeugenaussagen auf. Irgendwas von wegen Verantwortung für die Aufklärung des Hergangs und Forderungen an die Versicherung. Aber ich konnte ihnen nicht helfen. Ich hatte ja nicht gesehen, warum das Gerüst herabgestürzt war. Ich verspürte angesichts all des Blutes Übelkeit… ich saß da in meinem Auto, bis sie uns wegfahren ließen. Grev hatten sie schon vorher im Krankenwagen weggebracht. und die Stange stak noch immer in seinem Bauch.«
Die Erinnerung ließ den Ekel mit Macht wieder aufleben.
«Sie wußten inzwischen, daß er noch am Leben war«, sagte ich.
Er war schockiert.»Wie denn? Wie hätte ich das denn wissen sollen?«
«Sie deckten sein Gesicht nicht zu.«
«Er lag im Sterben. Jeder konnte das sehen. Sein Kopf war schwer getroffen. und blutete.«
Tote bluten nicht, dachte ich, sprach es aber nicht aus. Prospero Jenks blickte sich schon um, wohinein er sich übergeben könnte, und ich fragte mich, wie oft er sich wohl in den zurückliegenden elf Tagen tatsächlich übergeben hatte.
Laut sagte ich:»Worüber haben Sie mit ihm im Orwell Hotel gesprochen?«
Er sah mich erstaunt an.»Sie wissen, über was.«
«Er beschuldigte Sie, die Steine vertauscht zu haben.«
«Ja. «Er schluckte.»Nun, ich entschuldigte mich. Sagte, daß es mir leid tue. Was auch stimmte. Er konnte das sehen. Er fragte, warum ich das getan hätte, wo man mir doch einfach auf die Schliche kommen mußte, aber als ich es tat, da war’s so ein Impuls, und ich dachte überhaupt nicht ans Erwischtwerden, wie ich Ihnen ja schon gesagt habe.«
«Und was meinte er?«
«Er schüttelte den Kopf, als ob ich ein kleines Kind wäre. Er war eher traurig als wütend. Ich sagte, ich würde ihm die Diamanten natürlich wiedergeben, und bat ihn, mir zu verzeihen.«
«Was er tat?«
«Ja, das sagte ich doch schon. Ich fragte ihn, ob wir auch weiterhin Geschäfte miteinander machen könnten. Ich meine, niemand war so gut wie Grev, wenn es darum ging, wundervolle Steine aufzutreiben, und er mochte die Sachen immer, die ich machte. Es war gut für uns beide. Ich wollte diesen Zustand wiederherstellen.«
Eine solche Wiederherstellung gehörte zu den Unmöglichkeiten des Daseins, dachte ich. Nichts blieb je, was es war.
«War Greville einverstanden?«fragte ich.
«Ja. Er sagte, er hätte die Diamanten bei sich, müsse aber Vorkehrungen treffen. Er sagte nicht, welche. Er sagte, er würde anfangs der Woche hier zu mir ins Geschäft kommen, und dann sollte ich ihm die fünf Steine aushändigen und die Tropfen und Sterne bezahlen. Er verlangte Barzahlung und wollte mir ein oder zwei Tage einräumen, um das Geld aufzutreiben.«
«Normalerweise hat er für seine Lieferungen keine Barzahlung verlangt, nicht wahr? Sie haben den Spinell und den Bergkristall jedenfalls mit Scheck bezahlt.«
«Ja, also. «Wieder der schnelle Blick des Jungen, der sich schämt.»Er sagte, in Zukunft nur noch Barzahlung, weil er mir nicht trauen könne. Aber das wußten Sie ja nicht.«
Greville hatte ihm ganz gewiß nicht mehr vertraut, und was er nach Prosperos Bericht zu diesem gesagt hatte, klang so, als habe er die Steine da in Ipswich bei sich — wo er doch genau wußte, daß sie sich in diesem Augenblick auf einer Fähre befanden, die gerade den Ärmelkanal überquerte. Hatte er das wirklich so gesagt? fragte ich mich. Vielleicht hatte Prospero Jenks nicht richtig gehört, ihn falsch verstanden — aber er hatte mit Bestimmtheit geglaubt, daß Greville die Diamanten bei sich hätte.
«Wenn ich Ihnen die fünf Diamanten jetzt gebe, ist dann alles in Ordnung?«sagte er.»Ich meine, wo Grev mir verziehen hat… werden Sie das doch nicht wieder zurücknehmen und Krach schlagen, oder? Nicht die Polizei… Grev hätte das nicht gewollt, Sie wissen, daß er das nicht gewollt hätte.«
Ich antwortete nicht. Greville hätte abwägen müssen, was mehr Gewicht für ihn hatte, seine alte, aber verratene Freundschaft oder die Achtung vor dem Gesetz, und ich nahm an, daß er Prospero Jenks wohl nicht angezeigt hätte, nicht angesichts dieses ersten Vergehens, das der andere zudem eingestanden und bereut hatte.
Prospero Jenks bedachte mein Schweigen mit einem hoffnungsvollen Blick, stand von seinem Schemel auf und ging zu den Reihen kleiner Schubfächer hinüber. Er zog eins auf, nahm ein paar offensichtlich uninteressante Päckchen heraus und griff dann mit suchender Hand tief in das Fach hinein. Er förderte ein weißes Mullknäuel zutage, das von einem Stück Klebeband zusammengehalten wurde, und hielt es mir hin.
«Fünf Diamanten«, sagte er.»Die Ihren.«
Ich nahm das unscheinbare kleine Päckchen, das ganz so wie diese Musselinsäckchen voller Gewürze aussah, die Köche in Eintöpfe hängen, und wog es in der Hand. Ich konnte mit Sicherheit keinen Unterschied zwischen Kohlenstoff und Zirkon feststellen, und er konnte den Zweifel von meinem Gesicht ablesen.
«Lassen Sie sie begutachten«, sagte er mit nicht gerechtfertigter Bitterkeit, aber ich entgegnete, er solle sie gleich hier und jetzt wiegen, das jeweilige Gewicht notieren und den Zettel dann unterschreiben.
«Grev hat nie…«
«Schön dumm. Er hätte es tun sollen. Aber er hat Ihnen ja vertraut. Ich tu’s nicht.«
«Ich bitte Sie, Derek!«Er schmeichelte — aber ich war nicht Greville.
«Nein, wiegen Sie sie«, sagte ich.
Mit einem Seufzer und einem übertriebenen Achselzuk-ken schnitt er den kleinen Beutel auf, nachdem ich ihm diesen wieder zurückgegeben hatte, und wog den Inhalt auf einer kleinen, sehr feinen Waage ab.
Es war dies das erste Mal, daß ich leibhaftig zu Gesicht bekam, was ich die ganze Zeit über gesucht hatte — und das war nicht sonderlich imposant, um es gelinde auszudrücken. Fünf stumpf aussehende, eher graue Kristalle von der Größe großer, mißgestalteter Erbsen, ohne die geringste Andeutung des Feuers, das in ihnen schlummerte. Ich sah dem Wiegen aufmerksam zu und nahm die Steine selbst aus der Waagschale, wickelte sie eigenhändig in frische Mullvierecke ein, die mir Prospero gegeben hatte, und umschnürte am Ende alles fest mit Klebstreifen.
«Zufrieden?«fragte er mit einem Anflug von Sarkasmus und sah zu, wie ich das Gewürzbeutelchen in meine Hosentasche steckte.
«Nein, nicht ganz.«
«Das sind die echten, die ursprünglichen Steine«, protestierte er. Er unterzeichnete das Papier, auf dem er die Gewichte aufgeschrieben hatte, und gab es mir.»Ich würde diesen Fehler wohl nicht noch einmal machen. «Er sah mich forschend an.»Sie sind viel härter als Grev.«
«Dazu habe ich ja auch einigen Grund.«
«Welchen Grund?«
«Mehrere Einbrüche. Diverse Überfälle.«
Sein Mund öffnete sich.
«Wer noch?«sagte ich.
«Aber ich habe nie… ich habe nie…«Er wollte, daß ich ihm Glauben schenkte. Er beugte sich mit großer Ernsthaftigkeit vor.
«Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
Ich seufzte leicht.»Greville versteckte die Briefe und Rechnungen, die sich auf die Diamanten bezogen, weil er einem seiner Mitarbeiter mißtraute. Einem Mitarbeiter, der, wie er annahm, Ihnen kleine Informationsschnipselchen zutrug, der für Sie spionierte.«
«Blödsinn. «Sein Mund schien jedoch trocken geworden zu sein.
Ich zog den Mikrokassetten-Recorder aus einer meiner Taschen und legte ihn auf seine Werkbank.
«Er wird durch die menschliche Stimme in Gang gesetzt«, sagte ich.»Greville ließ ihn eines Tages angeschaltet liegen, als er zum Mittagessen ging, und hier ist das, was er nach seiner Rückkehr aufgezeichnet fand. «Ich drückte die entsprechende Taste, und die Stimme, die uns beiden bekannt war, sagte enthüllend:
«Ich bin jetzt in seinem Büro und kann sie nicht finden. Er versteckt aber auch alles, ist ein Sicherheitsfanatiker, wie Sie ja wissen. - Ich kann nicht fragen. Er würde es mir nie sagen, ich glaube, er vertraut mir nicht. - Die verkniffene Annette niest nicht mal, ohne daß er es ihr aufträgt.«
Jasons Stimme, erfüllt von der großspurigen Aggressivität des Straßenjungen, die zu seinem stachligen Haar gehörte, verstummte schließlich wieder, und der Recorder schaltete sich ab. Prospero Jenks erzeugte Spucke in seinem Mund und vergewisserte sich vorsichtig, daß der Recorder nicht vielleicht doch noch lebte und zuhörte.
«Jason hat nicht mit mir gesprochen«, sagte er nicht sehr überzeugend.»Er hat mit jemand anderem telefoniert.«
«Jason fungierte stets als Bote zwischen Ihnen und Greville«, sagte ich.»Ich selbst habe ihn ja auch in der vorigen Woche hergeschickt. Es bedurfte keiner großen Verführungskünste, Jason dazu zu bringen, Ihnen mit der Ware auch Informationen zu liefern. Aber Greville kam dahinter. Es verschlimmerte sein Gefühl, verraten worden zu sein. Als Sie mit ihm im Orwell Hotel in Ipswich sprachen, was meinte er da zu Jason?«
Prospero machte eine Geste halb unterdrückter Wut.
«Ich weiß nicht, woher Sie das alles eigentlich wissen«, sagte er.
Es hatte neun Tage gebraucht und eine Menge Sucherei und viele Mutmaßungen über Mögliches und Wahrscheinliches, aber das Muster, das sich ergeben hatte, diente nun als verläßlicher Pfad durch zumindest einen Teil des Wirrwarrs, denn es gab keine andere Interpretation unter denen, die mir durch den Kopf gegangen waren, welche die Tatsachen so plausibel erklärte.
Ich fragte noch einmal:»Was meinte er zu Jason?«
Prospero Jenks kapitulierte.»Er sagte, der würde Saxony Franklin verlassen müssen. Er sagte, das sei Bedingung für eine Wiederaufnahme unserer geschäftlichen Beziehungen. Er sagte, ich solle Jason mitteilen, daß er am kommenden Montag nicht mehr zur Arbeit zu erscheinen brauche.«
«Aber das haben Sie nicht getan«, sagte ich.
«Äh, nein.«
«Denn als Greville starb, beschlossen Sie, den Versuch zu unternehmen, nicht nur fünf, sondern alle Steine zu stehlen.«
Die blauen Augen lächelten fast.»Erschien logisch, nicht?«sagte er.»Grev würde es ja auch nicht mehr erfahren. Die Versicherung würde zahlen. Keiner würde einen Verlust haben.«
Außer der Versicherung, dachte ich. Aber ich sagte:»Die Diamanten waren nicht versichert. Sind es auch jetzt nicht. Sie haben sie Greville und sonst niemandem gestohlen.«
Er war beinahe erstaunt, aber nicht ganz.
«Greville hat Ihnen das gesagt, nicht wahr?«mutmaßte ich.
Wieder das Sich-Schämen des kleinen Jungen.»Äh, ja, das hat er.«
«Im Orwell Hotel?«
«Ja.«
«Sind Sie eigentlich je erwachsen geworden, Pross?«sagte ich.
«Sie wissen doch gar nicht, was Erwachsenwerden heißt. Erwachsenwerden heißt, immer eine Nasenlänge voraus zu sein.«
«Zu stehlen, ohne erwischt zu werden?«
«Natürlich. Alle machen das. Man muß tun, was man kann.«
«Aber Sie haben doch dieses wunderbare Talent«, sagte ich.
«Sicher. Aber ich mache die Sachen für Geld. Ich mache, was die Leute mögen. Ich nehme ihren Kies, soviel sie nur rausrücken. Sicherlich gibt’s mir einen Kick, wenn das, was ich fabriziert habe, hervorragend ist, aber ich würde nie um der Kunst willen in einer Dachkammer verhungern. Unter meiner Hand singen die Steine. Ich gebe ihnen Leben. Gold ist mein Pinsel. Das ist schon richtig. Aber hinter dem Rücken der Leute lach ich mir ins Fäustchen. Das sind alles Einfaltspinsel. An dem Tag, an dem ich begriff, daß alle Kunden Trottel sind, wurde ich erwachsen.«
Ich sagte:»Ich wette, daß Sie Greville dies alles nie gesagt haben.«
«Ich bitte Sie! Greville war ein Heiliger, jedenfalls fast. Der einzige durch und durch wahrhaft gute Mensch, den ich je kennengelernt habe. Ich wünschte, ich hätte ihn nicht betrogen. Ich bedaure es.«
Ich hörte die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme und glaubte ihm, aber seine Reue war nicht sehr tief gegangen und hatte seine Seele in gar keiner Weise verändert.
«Jason«, sagte ich,»hat mich vor dem St. Catherine’s Hospital niedergeschlagen und mir den Beutel mit Grevilles Sachen geraubt.«
«Nein. «Jenks leugnete ganz automatisch, aber seine Augen verrieten den Schock.
Ich sagte:»Ich dachte damals, es sei ein ganz gewöhnlicher Straßenraub gewesen. Der Angreifer war schnell und kräftig. Der Freund, der mich begleitete, sagte, der Räuber habe Jeans und eine Wollmütze getragen, aber sein Gesicht bekamen wir beide nicht zu sehen. Ich machte mir nicht die Mühe, die Sache der Polizei zu melden, weil in dem Beutel nichts Wertvolles drin war.«
«Wie können Sie also behaupten, daß es Jason war?«
Ich beantwortete seine Frage indirekt.
«Als ich mich zu Grevilles Firma begab, um den Mitarbeitern mitzuteilen, daß er tot sei«, sagte ich,»stellte ich fest, daß sein Büro durchsucht worden war. Wie Sie wohl wissen. Am nächsten Tag entdeckte ich, daß Greville Diamanten gekauft hatte. Ich fing an, nach ihnen zu suchen, aber es gab keinerlei schriftlichen Unterlagen, kein Adressbüchlein, keinen Terminkalender, keine Hinweise auf oder Verabredungen mit Diamantenhändlern. Und die Steine selbst konnte ich auch nicht finden. Ich verbrachte drei Tage damit, den Tresorraum nach ihnen zu durchforschen, obwohl mir Annette und June, ihre Assistentin, versicherten, daß sie da in der Firma nie irgendwelche Diamanten verwahrt hätten, dazu sei Greville viel zu sehr auf Sicherheit bedacht gewesen. Sie selbst haben mir dann gesagt, daß die Diamanten für Sie bestimmt seien, was ich vor meinem Besuch hier noch nicht gewußt hatte. In der Firma war allen bekannt, daß ich nach Diamanten suchte, und zu diesem Zeitpunkt muß Jason das auch Ihnen gesagt haben, was Ihnen klarmachte, daß ich keine Ahnung hatte, wo sie sich befanden.«
Er beobachtete mein Gesicht mit leicht geöffnetem Mund, leugnete nicht mehr, zeigte nur noch die stumme Ungläubigkeit dessen, dem man gründlich auf die Schliche gekommen ist.
«Die Mitarbeiter der Firma bekamen langsam spitz, daß ich von Beruf Jockey bin«, sagte ich,»und Jason legte mir gegenüber eine Unverschämtheit an den Tag, die ich für gänzlich unangemessen hielt, aber heute glaube ich, daß seine Überheblichkeit darauf basierte, daß er mich, Gesicht nach unten, unter seinen Füßen gehabt hatte. Das konnte er schlechterdings nicht überall herausposaunen, aber der Glaube an seine Überlegenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ich bat alle Mitarbeiter, die Kunden nicht durch die Mitteilung zu beunruhigen, daß sie ihre Geschäfte jetzt mit einem Jockey machten, der kein Gemmologe sei, aber ich halte es für sicher, daß Jason Ihnen dies sofort mitgeteilt hat.«
«Was läßt Sie das glauben?«Er sagte nicht, daß es nicht so gewesen war.
«Sie konnten nicht in Grevilles Haus reinkommen, um es zu durchsuchen«, sagte ich,»weil dieses Haus eine Festung ist. Sie konnten nicht so was wie eine Abrißbirne gegen die Fenster sausen lassen, weil die Eisengitter innen dies sinnlos machten, die im übrigen an ein direkt mit der Polizeiwache verbundenes Alarmsystem angeschlossen sind. Die einzige Möglichkeit, in dieses Haus hineinzu-kommen, war die, es mit den erforderlichen Schlüsseln aufzuschließen, und diese Schlüssel hatte ich. Deshalb dachten Sie sich etwas aus, wie Sie mich dorthin locken konnten, und bedienten sich dazu des Trainers, für den ich reite, weshalb ich auch weiß, daß Sie Kenntnis von meinem eigentlichen Beruf hatten. Außer den Mitarbeitern der Firma wußte sonst niemand, dem meine Tätigkeit als Jok-key bekannt war, daß ich Diamanten suchte, weil ich das nämlich mit Bedacht für mich behalten hatte. >Wenn Sie etwas über die Diamanten wissen wollene, sagten Sie, >dann kommen sie zum Telefon in Grevilles Haus< — und ich erschien auch gehorsamst, was saublöd war.«
«Aber ich bin niemals zu Grevilles Haus…«:, sagte er.
«Nein, Sie nicht. Aber Jason. Stark und schnell und mit Motorradhelm, der sein orangerotes Haar bedeckte, streckte er mich nieder, wie gehabt. Ich sah ihn beim Verlassen des Grundstücks über die Pforte springen. Das konnten Sie nicht gewesen sein. Nun, er hatte das ganze Haus auf den Kopf gestellt, aber die Polizei meinte, er habe das Gesuchte nicht gefunden, und davon bin auch ich überzeugt.«
«Und wieso?«fragte er und sagte dann:»Das heißt…«
«Wollten sie, daß Jason mich umbringt?«fragte ich ausdruckslos.
«Nein, natürlich nicht!«Die Vorstellung schien ihn wirklich zu schockieren.
«Das hätte er aber leicht tun können«, sagte ich.
«Ich bin kein Mörder!«Seine Entrüstung war, soweit ich das beurteilen konnte, aufrichtig und uneingeschränkt — ganz anders als seine Reaktion, als ich ihn einen Dieb genannt hatte.
«Was haben Sie vor zwei Tagen gemacht, am Sonntagnachmittag?«sagte ich.
«Was?«Die Frage verwirrte ihn zwar, beunruhigte ihn aber nicht.
«Was ist mit Sonntagnachmittag? Wovon reden Sie?«
Ich runzelte die Stirn.»Na schön, gehen wir also zurück zum Samstagabend. Zu Jason, der mir mit einem halben Ziegelstein eins auf den Kopf gegeben hat.«
Daß er davon wußte, war deutlich zu sehen. Wir waren wieder auf vertrautem Territorium.
«Man kann Menschen umbringen«, sagte ich,»wenn man sie mit Ziegelsteinen niederschlägt.«
«Aber er sagte…«Er verstummte.
«Sie können ruhig fortfahren«, sagte ich verständig,»denn wir beide wissen, daß das, was ich Ihnen erzählt habe, tatsächlich passiert ist.«
«Ja, aber… Was werden Sie diesbezüglich unternehmen?«
«Das weiß ich noch nicht.«
«Ich werde alles abstreiten.«
«Was hat Jason zu dem Ziegelstein gesagt?«
Er gab einen hoffnungslosen kleinen Seufzer von sich.»Er sagte, er wüßte schon, wie man Leute für eine halbe Stunde k. o. schlägt. Er hätte das bei Straßenschlachten gesehen, sagte er, und es auch schon selbst gemacht. Er sagte, es käme darauf an, wohin man schlägt.«
«Man kann die Zeit aber nicht so genau bestimmen«, warf ich ein.
«Nun ja, ich gebe nur wieder, was er gesagt hat.«
Er hatte auch gar nicht so unrecht gehabt, dachte ich. Ich hatte seine Schätzung um vielleicht zehn Minuten unterboten, mehr war’s nicht gewesen.
«Er meinte, Sie wären hinterher wieder völlig in Ordnung«, sagte Pross.
«Dessen konnte er auch nicht sicher sein.«
«Aber Sie sind’s doch, oder etwa nicht?«Da schien die Andeutung eines Bedauerns hörbar zu sein, daß mich der Schlag nicht meines Verstandes beraubt und unfähig zu der augenblicklichen Unterhaltung gemacht hatte. Roh und verantwortungslos, dachte ich. Und wirklich nicht zu verzeihen. Greville hatte den Verrat vergeben — aber welche Tat war die schlimmere?
«Jason wußte, welches Fenster er einschlagen mußte«, sagte ich» und er kam übers Dach. Die Polizei hat dort Spuren gefunden.«
Ich machte eine Pause.»Hat er das allein gemacht, oder waren Sie dabei?«
«Erwarten Sie von mir, daß ich Ihnen das erzähle?«fragte er ungläubig.
«Ja, das tue ich. Warum denn auch nicht? Sie wissen doch, welchen Einfluß die Bereitschaft zur Zusammenarbeit auf die Beurteilung einer Tat hat. Wie Ihr Versuch mit den fünf Diamanten ja auch zeigt.«
Er warf mir einen vernichtenden Blick zu und befragte seinen gesunden Menschenverstand — nicht, daß er allzu viel davon gehabt hätte, wenn man’s mal recht bedachte.
Schließlich sagte er ohne jede Scham:»Wir sind zusammen hingegangen.«
«Wann?«
«An dem Sonntag. Am späten Nachmittag. Nachdem er Grevs Sachen aus Ipswich angeschleppt hatte, die so völlig wertlos waren.«
«Sie fanden heraus, in welches Krankenhaus Greville eingeliefert worden war«, sagte ich,»und schickten Jason hin, damit er seine Sachen klaute, weil Sie ja glaubten, daß da auch die Diamanten dabei seien, von denen Ihnen Gre-ville gesagt hatte, daß er sie bei sich habe, stimmt’s?«
Er nickte erbärmlich mit dem Kopf.»Jason rief mich am Samstag von diesem Krankenhaus aus an und sagte mir, daß Grev noch nicht tot und sein Bruder aufgetaucht sei, ein gebrechliches altes Geschöpf an Krücken, und das sei gut, denn das mache ihn zu einem leichten Ziel… was Sie ja dann auch waren.«
«Ja.«
Er sah mich an, wiederholte:»Gebrechliches altes Geschöpf«, und lächelte matt. Und ich erinnerte mich, wie sehr ihn meine physische Erscheinung überrascht hatte, als ich zum ersten Mal hier bei ihm eingetreten war. Jason, so nahm ich an, hatte mich wahrscheinlich immer nur von hinten und zumeist aus einiger Entfernung gesehen. Ich hatte jedenfalls bestimmt nie jemanden bemerkt, der mir auflauerte — wobei ich zu dieser Zeit wohl auch kaum bemerkt hätte, wenn eine ganze Schiffsbesatzung in Habachtstellung dagestanden hätte. Das Zusammensein mit dem Sterbenden, das Erlebnis des nahenden Todes hatten das alltägliche Leben unwirklich und unwichtig werden lassen, und ich hatte nach Jasons Attacke noch Stunden gebraucht, bis ich dieses Gefühl wieder ganz losgeworden war.
«Na gut«, sagte ich,»Jason kam also mit leeren Händen aus Ipswich zurück. Was dann?«
Er zuckte mit den Schultern.»Ich dachte, daß ich mich wohl irgendwie geirrt haben mußte. Grev konnte nicht gemeint haben, daß er die Diamanten bei sich hatte. «Er schaute verdrießlich drein.»Mir war aber so, als ob er genau das gesagt hätte.«
Ich klärte ihn auf.»Greville war auf dem Weg nach Harwich, um dort einen Diamantenschleifer aus Antwerpen zu treffen, der mit der Fähre herüberkommen und ihm Ihre Diamanten bringen wollte. Zwölf Tropfen und acht Sterne.«
«Oh. «Sein Gesicht hellte sich kurzzeitig vergnügt auf, aber die Düsternis kehrte schon bald wieder zurück.»Nun, ich dachte, es würde sich lohnen, mal in seinem Büro nachzuschauen, obwohl Jason mir gesagt hatte, daß Grev dort nie etwas von Wert aufbewahrte. Aber bei Diamanten… so vielen Diamanten… war es wohl einen Versuch wert. Jason brauchte nicht erst lange überredet zu werden. Er ist ein gewalttätiger junger Scheißer.«
Ich fragte mich flüchtig, ob diese Beschreibung wohl konkret gemeint und skatologisch genau war.
«Sie fuhren also beide im Servicelift nach oben«, sagte ich,»und ließen so eine Art Pendel gegen das Fenster des Versandraumes sausen.«
Er schüttelte den Kopf.»Jason hatte Ankereisen und eine Strickleiter mitgebracht, auf der er bis zu dem Fenster hinunterkletterte, dessen Scheibe er dann mit einem Baseballschläger zertrümmerte. Als er drin war, warf ich Haken und Leiter in den Hof hinab und fuhr dann mit dem Lift in den achten Stock, wo mich Jason durch den Hintereingang reinließ. Aber wir konnten wegen Grevs teuflischen elektronischen Schlössern nicht in die Lagerräume gelangen, aus dem gleichen Grund auch nicht in den Ausstellungsraum. Und dieser Tresorraum. ich wollte versuchen, die Tür mit dem Baseballschläger aufzukriegen, aber Jason sagte mir, daß sie fünfzehn Zentimeter dick sei. «Er zuckte die Achseln.
«So mußten wir uns denn mit Papieren begnügen… und konnten da auch nichts über Diamanten finden. Jason wurde wütend… wir haben ein ganz schönes Durcheinander hinterlassen.«
«Tja.«
«Und es war alles die reinste Zeitverschwendung. Jason meinte, was wir brauchten, das wäre so was, was Hexer hieße, aber auch das Ding konnten wir nicht finden. Am
Ende sind wir wieder abgezogen. Ich gab auf. Grev war zu vorsichtig gewesen. Ich fand mich damit ab, daß ich die Diamanten eben nicht in die Hand bekommen würde, es sei denn, ich bezahlte sie. Und dann berichtete mir Jason, daß Sie überall nach Diamanten suchten, und das weckte erneut mein Interesse. Sehr sogar. Sie können mir das nicht zum Vorwurf machen.«
Ich konnte, und ich tat’s auch, aber ich wollte den Springbrunnen nicht abstellen.
«Also habe ich Sie«, sagte er,»wie Sie richtig erraten haben, in Grevs Garten gelockt, und da wartete Jason eine Ewigkeit auf Sie und wurde sauer, weil Sie so lange brauchten. Er habe seine Wut dann an dem Haus ausgelassen, sagte er mir hinterher.«
«Er hat auch dort eine ziemliche Unordnung hinterlassen, ja.«
«Dann kamen Sie wieder zu sich und lösten den Alarm aus, und Jason sagte, er sei inzwischen schon ziemlich nervös geworden und hätte nicht auf die Handschellen warten wollen. So hatte Grev uns wieder geschlagen… und auch Sie, nicht wahr?«Er sah mich verschmitzt an.»Sie haben die Diamanten auch nicht gefunden.«
Ich antwortete nicht. Ich sagte.»Wann hat Jason Grevilles Auto aufgebrochen?«
«Nun… als er ihn schließlich in Grevs Straße entdeckte. Ich hatte in Ipswich und wo sonst nicht überall nach ihm gesucht, aber Grev hatte sich offensichtlich einen Leihwagen für die Fahrt da rauf genommen, weil sein eigener nicht anspringen wollte.«
«Wann haben Sie das denn entdeckt?«
«Am Samstag. Wenn die Diamanten da drin gewesen wären, hätten wir ja das Haus nicht zu durchsuchen brauchen.«
«Aber er hätte doch kein Vermögen auf der Straße gelassen«, sagte ich.
Pross schüttelte resigniert den Kopf.»Sie hatten da schon nachgeschaut, nehme ich an.«
«Das hatte ich. «Ich blickte ihn nachdenklich an.»Warum Ipswich?«fragte ich.
«Was?«
«Warum speziell das Orwell Hotel in Ipswich? Warum wollte er, daß Sie dorthin kämen?«
«Keine Ahnung«, sagte er verdutzt.»Er hat’s mir nicht mitgeteilt. Er bat mich oft zu recht merkwürdigen Treffpunkten. Für gewöhnlich, weil er das eine oder andere Erbstück aufgetan hatte und wissen wollte, ob ich die Steine gebrauchen könne. Einmal war’s ein häßlicher alter Stirnreif mit einem langweiligen, gelblichen Brillanten als Mittelstück, ganz verdreckt dank langer Vernachlässigung. Ich ließ den Stein neu schleifen, machte daraus die Haube eines Bergkristallvogels und setzte diesen in einen goldenen Käfig… ist jetzt in Florida in der Sonne.«
Mich erschütterte das Jammervolle an dem allen. Soviel sich in höchste Höhen aufschwingende, unbezahlbare Phantasie — und eine so schmutzige, niederträchtige Habgier!
Ich sagte:»Hatte er in Ipswich einen Stein für Sie gefunden?«
«Nein. Er sagte mir nur, er habe mich gebeten, dorthin zu kommen, damit wir ungestört seien. Irgendwo, wo’s ruhig ist, sagte er. Ich nehme an, daß er Ipswich wählte, weil er nach Harwich weiterfahren wollte.«
Ich nickte. Das vermutete ich auch, obwohl es gar nicht an der direkten Strecke lag, die weiter südlich über Col-chester führte. Aber Ipswich war nun einmal der Ort, den Greville auf Grund eines unglücklichen Zufalls gewählt hatte.
Ich überdachte alles, was Pross mir erzählt hatte, und plötzlich kam mir eine noch nicht überprüfte, entsetzliche Möglichkeit in den Sinn.
«Als die Gerüstteile herab stürzten«, sagte ich langsam,»und als Sie über die Straße liefen und Greville tödlich verletzt fanden… als er blutend dort lag, die Eisenstange in sich drin… haben Sie ihm da seine Brieftasche weggenommen?«
Das Kleinjungengesicht von Pross zog sich in Falten zusammen, und er hob die Hände davor und bedeckte es, als wolle er in Tränen ausbrechen. Aber ich nahm ihm die Tränen und die Reue nicht ab. Ich konnte ihn nicht mehr ertragen. Ich stand auf, um zu gehen.
«Sie dachten, er könnte die Diamanten in seiner Brieftasche haben«, sagte ich bitter.»Und da, also selbst noch, als er im Sterben lag, waren Sie gewillt, ihn zu berauben.«
Er sagte nichts. Er stritt es nicht ab.
Ich verspürte um Grevilles willen einen derartigen Zorn, daß ich plötzlich den Mann da vor mir mit einer Wildheit schlagen und strafen wollte, derer ich mich nicht für fähig gehalten hatte — und ich stand dort und zitterte unter dem Druck dieser Selbsterkenntnis und der so wichtigen Selbstbeherrschung und fühlte, wie sich meine Kehle allen weiteren Worten verschloß.
Gedankenlos setzte ich meinen linken Fuß auf den Boden, um hinauszugehen, und empfand den Schmerz als etwas Bedeutungsloses, nahm aber nach drei Schritten doch die Krücken zu Hilfe, erreichte die Türöffnung, hastete um die Trennwand herum und dann durch das Geschäft hindurch bis auf den Bürgersteig und wollte nur noch schreien und jammern über die elende Ungerechtigkeit von Grevilles Tod und die Schlechtigkeit der Welt, wollte das Strafgericht des Himmels auf sie herabrufen.