Kapitel 12

In dem Bruchteil der Sekunde, der dem Augenblick vorausging, in dem die Frontpartie des Busses in die Seite unseres Wagens krachen würde, auf der ich saß und gleichsam in Einzelbildern wahrnahm, wie die Tonnen hellbemalten Metalls unerbittlich auf uns losdonnerten, war ich felsenfest davon überzeugt, daß ich im nächsten Augenblick zu Brei zerquetscht werden würde.

Es war keine Zeit mehr für Reue oder Zorn oder irgendwelche anderen Gefühle. Der Bus rammte den Daimler, drehte ihn wieder in Fahrtrichtung, und beide Fahrzeuge kreischten zusammen die Straße entlang, in absurder Weise Rad an Rad, der weiße Kotflügel des Busses tief in die Motorhaube des schwarzen Daimlers gegraben, der Lärm und das Stoßen zu gewaltig, um denken zu können, die Schnelligkeit von allem wahrhaft beängstigend und der nahe Tod eine bloß noch aufgeschobene Unausweichlich-keit.

Die Massenträgheit machte, daß beide Fahrzeuge schließlich zum Stehen kamen, wobei sie nun die Straße in ihrer gesamten Breite blockierten. Um die Kurve und auf uns zu kam ein Familienauto, ein Kombi, der viel zu schnell fuhr, um auf der noch verbliebenen Strecke anhalten zu können. Der Fahrer bremste in seiner Hektik so scharf, daß der Wagen herumschleuderte und seitlich mit einem grauenvollen Stoß und knirschenden Scheppern auf die Front des Daimlers traf, während irgendwo hinter uns

ein anderes Auto in die Rückseite des Busses hineinknallte.

Ungefähr zu diesem Zeitpunkt hörte ich auf, die Abfolge der Ereignisse klar wahrzunehmen. Entgegen aller Katastrophenwahrscheinlichkeit war ich noch am Leben, und das erschien genug. Nach den ersten gelähmten Augenblicken der Stille, die dem Krachen des Metalls folgten, waren plötzlich überall rufende Stimmen und die Schreie von Menschen und der durchdringende Geruch von Benzin.

Der ganze Schrott würde zu brennen anfangen, schoß es mir durch den Kopf. Explosionen, Feuerbälle. Greville hatte vor zwei Tagen auch gebrannt — aber er war da wenigstens schon tot gewesen. Red mir noch einer von Fieberphantasien! Ich hatte auf dem Schoß ein halbes Auto liegen und im Kopf die aufgewärmten Reste der am Vortag erlittenen Gehirnerschütterung.

Die Wärme des abgestorbenen Motors füllte den aufgeplatzten Innenraum unseres Wagens und verhieß nichts Gutes. Öl würde da heraustropfen. Es gab Stromkreise… Zündkerzen… und Furcht und Verzweiflung und eine Vision der Hölle.

Ich konnte nicht entkommen. Die Türscheibe neben mir und die Windschutzscheibe waren herausgeflogen, und was ein Teil des Türrahmens gewesen sein mochte, war irgendwie quer vor meine Brust gebogen und hielt mich tief in meinen Sitz gedrückt fest. Was Armaturenbrett und Handschuhfach gewesen war, bohrte sich in meine Hüfte, und dort, wo ein geschwollenes Fußgelenk mal ausreichend Platz gehabt hatte, war es jetzt so eng wie in einem Gipsverband. Das Auto schien sich um mich gelegt zu haben, schien mich fest zu umarmen wie eine eiserne Jungfrau, und die einzigen Körperteile, die ich noch bewegen konnte, waren mein Kopf und der Arm auf der Seite von

Simms. Ich verspürte gar nicht so sehr Schmerzen, sondern einen starken Druck, vor allem aber eine Wahnsinnsangst.

Fast automatisch, so, als ob der Verstand einfach selbständig weiterarbeitete, reckte ich mich so weit hinüber, wie es mir möglich war, bekam den Zündschlüssel zu fassen, drehte ihn herum und zog ihn aus dem Zündschloß. Wenigstens keine Funken mehr. Ich atmete auf.

Auch Martha lebte, und ihre Gedanken waren wahrscheinlich so bodenlos wie die meinen. Ich konnte ihr Wimmern hinter mir hören, ein leises Klagen ohne Worte. Simms und Harley waren still. Und es war das Blut von Simms, mit dem alles vollgespritzt war, scharlachrot und klebrig. Ich konnte es durch den Geruch des Benzins hindurch riechen — es war überall, auf meinem Arm, meinem Gesicht, meinen Kleidern, in meinem Haar.

Die Seite unseres Daimlers, auf der ich saß, war dicht gegen den Bus gedrückt worden. Nach einiger Zeit kamen Leute zur anderen Seite gerannt und versuchten dort, die Türen zu öffnen, aber die gaben keinen Zentimeter nach. Benommene Menschen entstiegen dem Kombi vor uns, Kinder weinten. Fahrgäste aus dem Bus versammelten sich am Straßenrand, alles ältere Leute, die meisten, wie mir schien, mit offenem Mund. Ich wollte ihnen allen sagen, daß sie sich fernhalten sollten, daß sie sicherer wären, wenn sie noch weiter zurückträten, weg von dem, was sich in wenigen Sekunden in ein Flammenmeer verwandeln konnte, aber irgendwie war ich nicht in der Lage, ihnen dies zuzurufen, und das Gekrächze, das ich herausbekam, drang nicht weiter als ein paar Zentimeter.

Hinter mir hörte Martha zu stöhnen auf. Ich dachte in meinem Elend, daß sie wohl im Sterben liege, aber das erwies sich als Irrtum, denn sie sagte mit zitternder, leiser Stimme:»Derek?«

«Ja. «Wieder ein Krächzen.

«Ich fürchte mich so.«

Das tat ich auch, bei Gott. Ich sagte sinnlos und heiser:»Machen Sie sich keine Sorgen.«

Sie hörte kaum zu. Sie sagte:»Harley? Harley, Liebling?«, voller Unruhe und aufkeimender Angst.»Oh, holt uns raus hier, bitte, hol uns doch einer raus.«

Ich drehte meinen Kopf so weit es ging und sah seitwärts zu Harley hinüber. Die Welt ließ ihn kalt, aber er hatte die Augen geschlossen, was alles in allem ein hoffnungsvolles Zeichen war.

Die Augen von Simms waren halb offen und würden nie wieder blinzeln. Simms, der arme Kerl, hatte sein letztes Einstunden-Foto entwickelt. Simms würde die Flammen nicht spüren.

«O Gott, Liebling, Liebling, wach auf. «Ihre Stimme, schrill vor zunehmender Panik, überschlug sich.»Derek, holen Sie uns raus hier, riechen Sie das Benzin denn nicht?«

«Es werden Leute kommen«, sagte ich, wohl wissend, daß es nur wenig tröstlich war. Trost schien etwas Unmögliches, schien unerreichbar zu sein.

Am Ende aber kamen Leute und Trost doch noch, und dies vor allem in Gestalt eines Mannes vom Typ Vorarbeiter, der daran gewöhnt ist, daß Dinge erledigt werden. Er spähte durch das Fenster neben Harley herein und rief gleich darauf Martha zu, daß er das Rückfenster einschlagen werde, um sie da herauszuziehen, und sie solle ihr Gesicht bedecken, falls Glassplitter herumflögen.

Martha barg ihr Gesicht an Harleys Brust, rief ihn wieder an und weinte, und das Rückfenster gab der Entschlossenheit und einer Brechstange nach.

«Also voran denn«, sagte der beste aller britischen Arbeiter.

«Klettern Sie auf den Sitz, und wir holen Sie in Null Komma nichts daraus.«

«Mein Mann…«:, jammerte sie.

«Ihn auch. Kein Problem. Nur los.«

Es schien, daß starke Arme nach Martha griffen und sie herauszogen. Fast im gleichen Augenblick war ihr Retter im Auto drin und schob den bewußtlosen Harley so weit hoch, daß andere Hände ihn fassen und herausheben konnten. Dann zwängte der beherzte Arbeiter seinen Kopf nach vorn neben meinen und warf einen Blick auf mich und Simms.

«O Gott«, sagte er.

Er war eher klein, hatte einen Schnurrbart und wache braune Augen.

«Können Sie sich da rausschieben?«fragte er.

«Nein.«

Er versuchte, mich zu ziehen, aber wir konnten beide sehen, daß es hoffnungslos war.

«Man muß Sie rausschneiden«, sagte er und nickte. Dann schnupperte er.»Der Benzingeruch ist hier drin viel stärker. Viel schlimmer als draußen.«

«Es sind Dämpfe«, sagte ich.»Die entzünden sich.«

Das war ihm bekannt, aber es schien ihn bis zu diesem Augenblick nicht beunruhigt zu haben.

«Sorgen Sie doch dafür, daß die Leute da noch weiter zurücktreten«, sagte ich. Mir gelang die Andeutung eines Lächelns.

«Sagen Sie auch, daß sie nicht rauchen sollen.«

Er warf mir einen ängstlichen Blick zu, trat den Rückzug durchs hintere Fenster an, und bald darauf sah ich, wie er

draußen die Herumstehenden warnte — so schnell hatte wahrscheinlich eine größere Menschenmenge noch nie Anweisungen Folge geleistet.

Vielleicht wurde dank der Tatsache, daß das Fehlen von noch mehr Glas für Durchzug sorgte, der Benzingeruch schwächer, aber irgendwo unter mir, so vermutete ich, war noch immer eine defekte Benzinleitung, strömten ständig weiter Dämpfe durch die Risse heraus. Ich fragte mich, wieviel an flüssigem Freudenfeuer der Tank so eines Daimlers wohl enthalten mochte.

Jetzt waren sehr viel mehr Autos vor uns auf der Straße; sie alle standen, und die Passagiere waren ausgestiegen und mit Unfallgucken beschäftigt. Wahrscheinlich sah es hinter uns nicht anders aus. Sonntagsnachmittagsunterhaltung der allerschlimmsten Form.

Simms und ich saßen weiter in schweigender Unbeweglichkeit da, und mir fiel der Scherz über die Nutzlosigkeit des Sichsorgens ein. Wenn man befürchtet, daß sich die Dinge verschlechtern, und sie tun’s nicht, dann hat man sich ganz umsonst Sorgen gemacht. Wenn sich die Dinge verschlechtern, und man befürchtet, daß sie noch schlechter werden, und sie werden es nicht, dann hat man sich auch umsonst gesorgt. Wenn sie noch viel schlimmer werden, und man befürchtet, daß man sterben muß, und man stirbt nicht, dann ist die Besorgnis ebenfalls umsonst gewesen. Wenn man aber stirbt, dann kann man sich eh keine Sorgen mehr machen — wozu sich also sorgen?

Für Sorge konnte man auch Angst einsetzen, dachte ich

— aber diese Theorie stimmte nicht. Ich hatte auch weiterhin solche Angst, daß ich fast den Verstand verlor.

Es ging mir durch den Kopf, daß es eigentlich sonderbar war, daß ich trotz all der Risiken, die ich einging, nur selten so etwas wie Todesangst verspürt hatte. Ich dachte an körperliche Schmerzen, die man ja in einem Job wie dem meinen häufiger erdulden mußte, und ich erinnerte mich an Dinge, die ich schon erlitten hatte, aber ich wußte nicht, warum mich jetzt die Idee, qualvoll zu verbrennen, mit einem Entsetzen erfüllte, das nur noch schwer zu beherrschen war. Ich schluckte und fühlte mich alleingelassen und hoffte nur, daß es, wenn es denn geschähe, schnell gehen würde.

Endlich waren in der Ferne Sirenen zu hören, und der schönste Anblick von der Welt, jedenfalls was mich betraf, war nun der des roten Feuerwehrautos, das sich langsam vorwärtsschob und die Autos der Zuschauer zur Seite zwang. Die Straße bot gerade für drei Autos nebeneinander Platz — auf der einen Seite war die Mauer, auf der anderen eine Baumreihe. Hinter dem Feuerwehrauto konnte ich das blinkende Blaulicht eines Polizeiwagens sehen und dahinter noch ein Blinklicht, das vielleicht das Vorhandensein eines Krankenwagens anzeigte.

Gestalten in Autorität ausstrahlenden Uniformen entstiegen den Fahrzeugen, die willkommensten in feuerfesten Anzügen, einen Schlauch ausrollend. Sie blieben vor dem Daimler stehen, betrachteten den in seine Seite verkeilten Bus und die Familienkutsche davor, und dann schrie mir einer durch die Öffnung, in der eigentlich die Windschutzscheibe sein sollte, zu:»Aus diesem Fahrzeug läuft Benzin aus. Können Sie da nicht raus?«

Was für eine verdammt alberne Frage, dachte ich. Ich sagte:»Nein.«

«Wir werden einen Schaumteppich auf die Straße unter Ihnen sprühen. Schließen Sie die Augen und halten Sie sich was vor Mund und Nase.«

Ich nickte und tat, wie mir geheißen war — es gelang mir, den Kopf einzuziehen und das Gesicht im Kragen meines

Pullovers zu bergen. Ich lauschte dem anhaltenden Zischen der Sprühaktion und dachte, daß kein Laut süßer klingen könne. Die Gefahr zu verbrennen wich zunehmend, aus der Beinahesicherheit wurde sich verringernde Wahrscheinlichkeit und aus dieser völlige Unwahrscheinlichkeit, und die Befreiung von der Angst war fast so schwer zu verkraften wie vorher die Angst. Ich wischte mir Blut und Schweiß aus dem Gesicht und fühlte mich sehr wacklig.

Nach einer weiteren Weile brachten ein paar der Feuerwehrleute Metallscheren herbei und zerrten die verklemmte Tür neben dem Sitz, auf dem Harley gesessen hatte, mehr oder weniger aus ihrem Rahmen. In diese neu geschaffene Öffnung zwängte sich ein Polizeibeamter, warf einen schnellen Blick auf Simms und mich und hockte sich dann so auf den Rücksitz, daß er mein Gesicht sehen konnte. Ich drehte es ihm so weit zu, wie es nur gehen wollte, und erblickte ein ernstes Gesicht unter dem Helm — ungefähr mein Alter, schätzte ich, und sehr angespannt.

«Gleich kommt ein Arzt«, sagte er, magere Tröstung austeilend.»Der kümmert sich um Ihre Verletzungen.«

«Ich glaube nicht, daß ich blute«, sagte ich.»Was ich auf mir habe, ist das Blut von Simms.«

«Ah. «Er zog ein Notizbuch hervor und schaute hinein.

«Konnten Sie sehen, was diesen… was all dies verursacht hat?«

«Nein«, sagte ich und fand es ein klein wenig überraschend, daß er mich das hier und zu diesem Zeitpunkt fragte.»Ich habe mich gerade zu Mr. und Mrs. Ostermeyer umgeblickt, die da saßen, wo Sie jetzt sind. Der Wagen schien halt irgendwie außer Kontrolle geraten zu sein. «Ich dachte nach, erinnerte mich.»Ich glaube, Harley… Mr. Ostermeyer könnte etwas gesehen haben. Er sah eine Sekunde lang ganz entsetzt aus… dann krachten wir gegen die Mauer, prallten ab und dem Bus in den Weg.«

Er nickte und notierte sich etwas.

«Mr. Ostermeyer ist wieder bei Bewußtsein«, sagte er dann und klang mit Bedacht unverbindlich.»Er sagt, es sei auf Sie geschossen worden.«

«Auf uns wurde was?«

«Geschossen. Nicht auf sie alle. Auf Sie, nur auf Sie.«

«Nein!«Das mußte so verwirrt geklungen haben, wie ich mich fühlte.»Bestimmt nicht.«

«Mr. und Mrs. Ostermeyer sind sehr durcheinander, aber er ist ziemlich sicher, daß er eine Pistole gesehen hat. Er sagt, der Chauffeur wäre gerade ausgeschert, um einen Wagen zu überholen, der schon eine ganze Weile vor dem ihrigen hergefahren sei, und der Fahrer dieses Wagens hätte sein Fenster offen gehabt und eine Pistole rausgehalten. Er sagt, die Pistole sei auf Sie gerichtet gewesen und zweimal abgefeuert worden. Mindestens zweimal, sagt er. Er habe das Mündungsfeuer sehen können.«

Ich blickte vom Polizisten zu Simms und auf das überall verteilte Blut des Chauffeurs und auf die dunkelrote, klumpige Masse unterhalb seines Kinns.

«Nein«, wehrte ich ab, wollte es nicht glauben.»Das kann doch nicht sein.«

«Mrs. Ostermeyer ist in großer Angst, daß Sie hier sitzen und langsam verbluten.«

«Ich fühle mich eingepfercht, aber nicht durchlöchert.«

«Können Sie Ihre Füße fühlen?«

Ich bewegte die Zehen, erst die des einen Fußes, dann die des anderen. Es gab nicht den geringsten Anlaß zu Zweifeln, vor allem nicht, was den linken anbetraf.

«Gut«, sagte er.»Also, Sir, von jetzt an behandeln wir dies hier nicht als Unfall, sondern wir ermitteln wegen versuchten Mordes. Dessen ungeachtet tut es mir leid, Ihnen sagen zu müssen, daß die Feuerwehr meint, es werde noch ein Weilchen dauern, bis sie Sie hier loseisen kann. Es ist noch weiteres Gerät erforderlich. Können Sie sich gedulden?«Er wartete eine Antwort gar nicht erst ab, sondern fuhr fort:»Wie ich schon sagte, ein Arzt ist da und wird zu Ihnen kommen, aber wenn Sie ihn nicht so dringend brauchen, hat er hinten noch zwei andere, die übel zugerichtet sind. Ich hoffe, Sie können auch das noch geduldig abwarten.«

Ich nickte leicht. Ich würde mich noch stundenlang gedulden, wenn ich nur nicht verbrennen mußte.

«Wieso«, fragte ich,»sollte denn jemand auf uns geschossen haben?«

«Haben Sie eine Idee?«

«Nicht die geringste.«

«Unglücklicherweise«, sagte er,»gibt es nicht in allen Fällen einen nachvollziehbaren Grund.«

Ich sah ihm in die Augen.»Ich wohne in Hungerford«, sagte ich.

«Ja, Sir, das hat man mir schon gesagt. «Er nickte und rutschte aus dem Auto hinaus, und ich blieb zurück und dachte an die Zeit, als in Hungerford ein Amokschütze viele unschuldige Menschen niedergeschossen hatte, einige davon in ihren Autos, und das stille Landstädtchen in einen Ort des Grauens verwandelt hatte. Niemand, der in Hungerford wohnte, würde es je wieder für ausgeschlossen halten, daß auch er das Opfer eines Willkürverbrechens werden konnte.

Die Kugel, die in Simms eingedrungen war, wäre durch meinen Hals oder Kopf gegangen, dachte ich, wenn ich mich nicht gerade umgedreht hätte, um mit Martha zu sprechen. Ich hatte meinen Kopf zwischen die beiden Kopfstützen geschoben, um sie besser sehen zu können. Ich versuchte zu rekonstruieren, was dann passiert war, aber ich hatte nicht mitbekommen, wie Simms getroffen wurde, hatte nur den Knall und das Splittern der Scheibe gehört und das warme Blut gespürt, das solange aus seiner getroffenen Halsschlagader gespritzt war, wie er gebraucht hatte, um zu sterben. Er war schon tot gewesen, bevor noch jemand zu schreien angefangen hatte — der Strahl des Blutes war da schon versiegt gewesen.

Das Steuerrad war hart gegen seine Brust gerammt worden, und das Armaturenbrett, das auf seiner Seite tiefer herabgezogen war als auf meiner, war nach vorn gekippt und hatte sich über seine Knie geschoben. Seine Kante drückte mir unangenehm auf den Bauch, und ich konnte wohl sehen, daß sie mich, wenn sie nur ein paar Zentimeter weiter nach innen geschoben worden wäre, in zwei Hälften zerteilt hätte.

Eine Menge offiziell aussehender Leute kamen mit Maßbändern und Kameras daher, machten vor allem Aufnahmen von Simms und berieten sich mit gedämpfter Stimme. Ein Polizeiarzt setzte feierlich das Stethoskop auf die Brust von Simms und erklärte ihn für tot und mich — ohne sich weiter mit dem Stethoskop abzugeben — für lebendig.

Wie schlimm der Druck sei, wollte er wissen.»Unangenehm«, sagte ich.

«Ich kenne Sie doch, nicht wahr?«sagte er, mich eingehend betrachtend.»Sind Sie nicht einer von den Jockeys hier aus der Gegend? Einer von den Springern?«

«Mm.«

«Dann verstehen Sie genug von Verletzungen, um mir eine Beurteilung Ihres Zustandes liefern zu können.«

Ich sagte, daß meine Zehen, Finger und Lungen in Ordnung seien und daß ich einen Krampf in den Beinen habe, daß der eingeklemmte Arm schmerze und das Armaturenbrett die Verdauung eines guten Sonntagsessens behindere.

«Möchten Sie eine Spritze haben?«fragte er.

«Nicht, wenn es nicht schlimmer wird.«

Er nickte, gestattete sich ein dünnes Lächeln und wand sich wieder hinaus auf die Straße. Es wurde mir plötzlich klar, daß die Beinfreiheit hinten jetzt sehr viel geringer war als zum Zeitpunkt unseres Aufbruchs — ein Wunder, daß Martha und Harley nicht die Beine gebrochen worden waren. Drei von uns, dachte ich, hatten unglaubliches Glück gehabt.

Simms und ich saßen weiter still nebeneinander, wie es schien noch etliche Ewigkeiten lang, aber zu guter Letzt war das Extragerät zu unserer Befreiung in Form von Winden, Kränen und einem Schneidbrenner da, welchen letzteren sie, wie ich inständig hoffte, in meiner näheren Umgebung mit Behutsamkeit zum Einsatz bringen würden.

Stämmige Mechaniker kratzten sich angesichts der vielen Schwierigkeiten am Kopf. Es war nicht möglich, auf meiner Seite des Autos zu mir vorzudringen, weil die ja gegen den Bus gedrückt war. Sie entschieden, daß sie, wenn sie die tragenden Teile unter den Vordersitzen wegschnitten, um die Sitze dann nach hinten zu ziehen, das empfindliche Gleichgewicht des Motors stören würden und, statt meine feststeckenden Beine zu befreien, leicht das gesamte Vorderteil des Wagens dazu bringen könnten, auf dieselbigen herabzustürzen. Ich hatte etwas gegen diese Vorstellung und sagte das auch.

Am Ende arbeiteten sie sich in feuerfesten Anzügen durch das Innere des Wagens voran, sprühten alles mit dickem Schaum ein, bedienten sich der gut abgeschirmten, aber heißen Flamme des Schneidbrenners, der brüllend entsetzlich viele Funken wie brennende Streichhölzer um sich warf, und schnitten fast die gesamte Fahrerseite weg. Dann zogen sie, da er nichts mehr fühlen und keine Einwände mehr erheben konnte, Simms’ steif werdenden Körper mit Gewalt heraus und legten ihn auf eine Bahre. Ich stellte mir derweil die trübe Frage, ob er wohl eine Frau hatte, die noch von nichts wußte.

Simms war fort, und nun begannen die Mechaniker, Ketten festzumachen und Hebevorrichtungen zu bedienen — und ich saß da und wartete ab, ohne sie mit Fragen zu behelligen. Von Zeit zu Zeit sagten sie:»Alles klar, Kumpel?«, und ich antwortete» Ja «und war ihnen dankbar.

Nach einer Weile befestigten sie auch Ketten und eine Winde an dem Kombi, der noch immer breitseits in den Daimler verkeilt war, und zogen ihn mit größter Vorsicht Zentimeter um Zentimeter weg. Fast augenblicklich durchlief ein fürchterlicher Schauder den zertrümmerten Körper des Daimlers und dann meinen, und das Ziehen hörte sofort auf. Wieder wurde an Köpfen gekratzt, und dann erklärten sie mir, daß ihr Kran keinen ausreichend festen Stand habe, um den Daimler anheben zu können, weil die Familienkutsche da dazwischen stünde, und daß sie etwas anderes versuchen müßten. Ob bei mir alles in Ordnung sei?» Ja«, sagte ich.

Einer von ihnen ging dazu über, mich mit Derek anzureden.

«Hab Sie doch schon in Hungerford gesehen, oder nicht?«sagte er.»Und im Fernsehen?«Das sagte er auch den anderen, die daraufhin lustige Bemerkungen machten wie» Keine Angst, wir kriegen Sie schon bis zum Zwei-Uhr-dreißig-Rennen morgen hier raus, aber bestimmt. «Einer von ihnen erzählte mir ganz ernsthaft, daß es manchmal wegen der Gefahr, daß alles schiefgehe, Stunden dauere, bis Leute befreit seien. Es sei ein großes Glück, sagte er, daß es ein Daimler sei, in dem ich säße, weil der eine panzerartige Stabilität habe. Wär’s ein anderer Wagen gewesen, gehörte ich längst der Geschichte an.

Sie beschlossen, die Annäherung von der Rückseite her doch noch einmal zu überdenken. Sie würden die Sitze angesichts ihrer zurückgeschobenen Stellung nicht aus ihrer Halterung lösen können — sie säßen, so sagten sie, nicht mehr auf ihren Gleitschienen, sondern hätten sich in das Bodenblech gebohrt. Sie könnten auch die Lehnen nicht mehr verstellen, da der Mechanismus klemme und kaputt sei. Sie wollten jedoch die Rücklehne von Simms’ Sitz wegschneiden, um auf diese Weise mehr Platz zum Arbeiten zu bekommen. Dann würden sie die Polsterung und die Federung unter meinem Hintern wegziehen und sehen, ob sie auch meine Rücklehne loswerden könnten, um mich nach hinten herauszuziehen und nicht seitlich am Steuerrad vorbei, das sie nicht gerne entfernen würden, weil daran eine der Haupthalteketten hinge. Ob ich das verstünde? Ja, so ungefähr.

Mehr oder weniger folgten sie dann diesem Plan, wenngleich sie die Lehne meines Sitzes zuerst und vor der Sitzfläche ausbauen mußten, weil der Ausbau der ersten Feder schon eine absenkende Wirkung hatte, so daß ich noch fester gegen das Armaturenbrett gepreßt wurde, was das Atmen sehr erschwerte. Sie zerrten nun die Polsterung in meinem Rücken heraus, um mir Erleichterung zu verschaffen, und sägten dann die Lehne mit einer Bügelsäge ziemlich weit unten ab. Und schließlich stützte mich einer an der Schulter ab, während ein anderer händeweise Federung und andere Innereien des Sitzes herausriß, so daß der starke Druck auf meinen Unterleib, den Arm und die Beine nachließ und dann ganz weg war und ich statt dessen nur noch das beseligende Kribbeln eingeschlafener Gliedmaßen verspürte.

Aber das große Auto sträubte sich noch immer dagegen, mich loszulassen. Meine obere Hälfte war frei, weshalb die beiden Männer anfingen, mich nach hinten zu ziehen, aber ich stöhnte auf und verspannte mich, so daß sie sofort wieder aufhörten.

«Was ist los?«fragte der eine besorgt.

«Ach, nichts. Ziehen Sie weiter.«

In Wirklichkeit verursachte mir die Zieherei erhebliche Schmerzen im linken Knöchel — aber ich hatte lange genug dort gesessen. Das war wenigstens ein alter, vertrauter Schmerz, nichts bedrohlich Neues. Wieder beruhigt, schoben meine Retter ihre Arme unter meinen Achseln durch, wandten nun ein bißchen Gewalt an und zogen mich am Ende aus der erdrückenden Umarmung des Autos wie ein behostes Kalb aus dem Leib einer Kuh.

Erleichterung war ein unangemessenes Wort. Sie gönnten mir eine kurze Pause auf dem Rücksitz, saßen zu beiden Seiten neben mir, und wir atmeten alle drei schwer.

«Danke«, sagte ich nur.

«Nicht der Rede wert.«

Ich nehme an, daß sie die Tiefe meiner Dankbarkeit ermessen konnten — so wie ich die Überlegtheit und Vorsicht, mit der sie ans Werk gegangen waren. Danke. Nicht der Rede wert. Das reichte völlig aus.

Einer nach dem anderen zwängten wir uns hinaus auf die Straße, und ich war ganz erstaunt, daß nach der langen Zeit immer noch eine kleine Menschenmenge wartend herumstand — Polizisten, Feuerwehrleute, Mechaniker, Sanitäter und ein paar Zivilisten, viele mit Kameras ausgestattet. Ein bißchen Applaus und ein paar Hochrufe wurden hörbar, als ich mich befreit aufrichtete, und ich lächelte und machte eine Bewegung mit dem Kopf, die sowohl Verlegenheit als auch Dank zum Ausdruck brachte.

Man bot mir eine Bahre an, aber ich sagte, daß ich viel lieber meine Krücken wiederhätte, die noch im Kofferraum sein könnten, was allgemeine Bestürzung auslöste. Dann aber holte sie jemand unbeschädigt aus dem Auto heraus — sie waren so ungefähr die einzigen Gegenstände in diesem Trümmerhaufen, die heil geblieben waren. Ich stand noch eine Weile auf sie gestützt da und besah mir einfach die ineinander verkeilten Wracks — den Bus und den Kombi und vor allem den Daimler mit seinem aufgebogenen Dach, seiner wegrasierten Kühlerhaube, seinem herausgerissenen, schräg stehenden Motor, seinem schwarz funkelnden Anstrich — das alles jetzt nur noch Schrott, die ursprüngliche Form zerfetzt und zerdrückt wie ein Blechspielzeug, auf das jemand getreten ist. Mir kam es ganz unglaublich vor, daß ich da gesessen hatte, wo ich gesessen hatte, und noch am Leben war. Ich dachte, daß ich wohl den Dusel eines ganzen Lebens aufgebraucht hatte.

Die Ostermeyers waren nach Swindon ins Krankenhaus gebracht worden, damit ihr Schock, ihre Prellungen und ihre Kopfverletzungen behandelt werden konnten. Von dort aus hatten sie, ein wenig wieder zu sich gekommen, Milo angerufen und ihm erzählt, was passiert war, und er hatte ihnen aus spontaner Hochherzigkeit, aber auch, wie ich vermutete, aus gesundem Geschäftsinteresse gesagt, daß sie die Nacht bei ihm bleiben sollten und er sie gleich abholen werde. Die drei waren gerade im Aufbruch begriffen, als nun ich dort eintraf.

Martha machte einen vorhersehbaren Wirbel um meine Errettung, aber gleichzeitig sah sie so erschöpft aus, wie ich mich fühlte, und war’s am Ende dann doch zufrieden, an Harleys Arm zur Tür geleitet zu werden.

Milo kam nochmal die Treppe herauf und sagte:»Wenn du magst, komm doch auch. Ein Bett findet sich immer.«

«Danke, ich melde mich.«

Er sah mich an.»Stimmt es, daß Simms erschossen wurde?«

«Mm.«

«Hättest auch du sein können.«

«Fast war ich’s ja auch.«

«Die Polizei hat schon hier die Aussagen von Martha und Harley zu Protokoll genommen, wie’s scheint. «Er schwieg und sah zu den beiden hin, die gerade an der Tür angekommen waren.»Ich muß los. Was macht der Knöchel?«

«Werde planmäßig wieder reiten.«

«Gut.«

Er eilte davon, und ich brachte die routinemäßigen Formalitäten hinter mich, aber mir fehlte nichts, was nicht auch die Anwendung von ein wenig Zeit heilen würde, und so wurde ich als Patient ziemlich schnell wieder entlassen und statt dessen aufgefordert, der Polizei eine detaillierte Aussage zu liefern. Ich konnte den Beamten nicht sehr viel mehr als beim ersten Mal sagen, aber ein paar von ihren Fragen waren doch einigermaßen beunruhigend.

Könnte aus bestimmten Gründen auf uns geschossen worden sein?

Mir seien solche Gründe nicht bekannt.

Wie lange sei der Wagen, den der Mann mit der Pistole gelenkt habe, vor uns hergefahren?

Ich könne mich daran nicht erinnern, hätte nicht darauf geachtet.

Könnte irgend jemand gewußt haben, daß wir zu dieser Zeit auf dieser Straße unterwegs sein würden?

Ich sah den Polizisten groß an. Möglicherweise jeder, der zum Mittagessen in dem Restaurant gewesen sei. Jeder hätte uns von da bis zu Milos Haus folgen, auf unsere Abfahrt warten, uns überholen und sich dann wieder überholen lassen können. Aber warum und wozu?

Wer könnte es noch gewußt haben?

Vielleicht der Autoverleih, bei dem Simms gearbeitet habe.

Wer noch?

Milo Shandy, aber der würde so wenig auf die Ostermeyers schießen wie auf sich selbst.

«Mr. Ostermeyer sagte uns, daß die Pistole auf Sie gerichtet gewesen sei, Sir.«

Bei aller gebotenen Achtung vor Mr. Ostermeyer sei doch zu sagen, daß er durch das ganze Auto habe schauen müssen, daß beide Wagen in Bewegung gewesen seien und dies noch dazu mit wahrscheinlich unterschiedlicher Geschwindigkeit, weshalb ich nicht glaube, daß man da absolut sicher sein könne.

Könne ich mir irgendeinen Grund denken, warum mich irgend jemand umbringen wolle?

Mich persönlich? Nein… das könne ich nicht.

Sie stürzten sich auf mein kurzes Zögern, das auch ich in meiner Stimme hatte hören können, und ich sagte ihnen, daß ich am Abend vorher überfallen und niedergeschlagen worden sei. Ich berichtete ihnen von Grevilles Tod. Ich erzählte ihnen, daß er als Edelsteinhändler mit Edelsteinen Handel getrieben habe. Ich sei der Ansicht, so sagte ich ihnen, daß der Angreifer versucht habe, einen bestimmten Teil der Bestände zu finden und zu entwenden. Aber ich hätte keine Ahnung, warum dieser potentielle Dieb mich heute hätte erschießen wollen, wo er mir doch gestern mit Leichtigkeit den Schädel hätte einschlagen können.

Sie schrieben das alles kommentarlos mit. Ob ich eine Ahnung hätte, wer mich gestern abend attackiert habe?

Nein, nicht die geringste.

Sie sagten nicht, daß sie mir nicht glaubten, aber irgend etwas in ihrem Verhalten vermittelte mir doch den Eindruck, als seien sie der Auffassung, daß jemand, der im Verlauf von zwei Tagen zweimal angegriffen worden war, einfach wissen müsse, wer es da auf ihn abgesehen hatte.

Ich wäre sehr gern in der Lage gewesen, ihnen das zu sagen. Denn es war, wenn nicht ihnen, so doch mir gerade klargeworden, daß durchaus noch weiteres folgen konnte.

Das sollte ich wohl besser bald herausfinden, dachte ich.

Besser nicht zu spät.

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