Meine Finger wurden gefühllos und ließen das Kästchen fallen. Die Wucht des Schlages war so groß, daß ich schwankte, mich drehte, die Balance verlor und stürzte, wobei mir immerhin sehr klar war, daß ich diesmal den Fuß nicht auf den Boden setzen durfte. Ich ließ den Schlüsselbund los und griff mit der rechten Hand nach der geraden Lehne eines der schwarzen Sessel, um mich festzuhalten, aber mein Gewicht ließ ihn umkippen, und er fiel schwer auf mich drauf, der ich in einem Gewirr von Krücken, Stuhl- und Tischbeinen auf dem Teppich gelandet war, unter mir das grüne Kästchen, das sich in mein Kreuz bohrte.
Von wahnsinniger Wut erfüllt, versuchte ich, den Überblick zu behalten, und hatte schließlich wieder genug Atemluft, um ein einziges, liebreizendes und von Herzen kommendes Wort hervorzustoßen.
«Miststück.«
Sie warf mir einen bösen Blick zu und griff nach dem Telefonhörer, drückte drei Tasten.
«Die Polizei«, sagte sie und nach Ablauf des kurzen Augenblicks, den der Notdienst brauchte, sie entsprechend zu verbinden:»Polizei. Ich möchte einen Einbruch melden. Ich habe einen Einbrecher gestellt.«
«Ich bin Grevilles Bruder«, ließ ich mich dumpf vom Boden her vernehmen.
Meine Worte schienen sie nicht erreicht zu haben. Deshalb sagte ich noch einmal und lauter:»Ich bin Grevilles Bruder.«
«Was?«sagte sie unbestimmt.
«Mein Himmel, sind Sie taub? Ich bin kein Einbrecher, sondern Greville Franklins Bruder. «Ich setzte mich ganz vorsichtig halb auf, fühlte mich dabei völlig kraftlos.
Sie legte den Hörer wieder auf.»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«
«Haben Sie mir Gelegenheit dazu gegeben? Und wer, zum Teufel, sind Sie überhaupt, daß Sie hier einfach so in das Haus meines Bruders reinspazieren und andern Leuten eins überbraten?«
Sie hielt das fürchterliche Instrument, mit dem sie mich niedergeschlagen hatte, in Bereitschaft und sah ganz so aus, als erwarte sie, daß nun ich sie angreifen würde, wonach mir wahrhaftig zumute war. In den vergangenen sechs Tagen hatten mich ein Pferd, ein Straßenräuber und eine Frau zermalmt — was mir nun noch fehlte, war ein Kleinkind, das herbeigewatschelt kam, um mir den Gnadenstoß zu versetzen. Ich preßte die Finger meiner rechten Hand gegen die Stirn, den Handballen gegen meinen Mund und bedachte die Düsternis des Daseins im allgemeinen.
«Was ist los mit Ihnen?«fragte sie nach einer Pause.
Ich ließ die Hand sinken und sagte schleppend:»Gar nichts.«
«Ich habe Ihnen doch bloß einen leichten Schlag versetzt«, sagte sie, Kritik in der Stimme.
«Soll ich Ihnen mal eins mit dem Ding da verpassen, damit Sie wissen, wie das ist?«
«Sie sind wütend!«Sie klang überrascht.
«Haargenau.«
Ich rappelte mich vom Boden hoch, richtete den umgestürzten Stuhl auf und ließ mich darauf nieder.»Wer sind Sie?«wiederholte ich. Aber ich wußte es schon — sie war die Frau auf dem Anrufbeantworter. Die gleiche Stimme. Kristallklar. Liebling, wo steckst du? Ich liebe dich.
«Haben Sie in der Firma angerufen? Sind Sie vielleicht Mrs. Williams?«
Sie schien in ihrem Inneren zu erbeben und zu zerbrechen, ging an mir vorbei und schaute hinaus in den Garten.
«Ist er wirklich tot?«fragte sie.
«Ja.«
Sie mußte so vierzig sein, dachte ich. Vielleicht auch älter. Fast meine Größe. In gar keiner Weise winzig und zart. Eine entscheidungsfreudige, kräftige Frau, zutiefst bekümmert.
Sie trug einen Regenmantel mit Ledergürtel, obwohl es schon seit Wochen nicht mehr geregnet hatte, und einfache schwarze Pumps. Ihr Haar, dicht und dunkel, war glatt nach hinten gekämmt und über dem Kragen nach innen eingedreht. Es hatte eines sehr gekonnten Haarschnitts bedurft, um ihr dieses kühl-gepflegte Aussehen zu geben. Kein sichtbarer Schmuck, nur noch wenig Lippenstift übrig, nicht die Spur eines Parfümdufts.
«Wie?«sagte sie endlich.
Ich verspürte einen starken Drang, ihr diese Information vorzuenthalten, sie für ihren voreiligen Angriff zu bestrafen, sie zu verletzen und so meine Rechnung mit ihr zu begleichen. Aber das war sinnlos, und ich wußte, daß es mir mehr Beschämung als Befriedigung eintragen würde, weshalb ich ihr nach kurzem Kampf mit mir selbst den von dem Baugerüst verursachten Unfall schilderte.
«Freitag, am Nachmittag«, sagte ich.»Er war sofort ohne Bewußtsein. Er ist dann am Sonntag in der Frühe gestorben.«
Sie wandte sich langsam um und sah mich an.»Sind Sie Derek?«fragte sie.
«Ja.«
«Ich bin Clarissa Williams.«
Keiner von uns beiden machte Anstalten, dem anderen die Hand zu geben. Das wäre auch nicht gerade angemessen gewesen, dachte ich.
«Ich bin hergekommen, um ein paar Sachen von mir abzuholen«, sagte sie.»Ich war nicht darauf gefaßt, hier jemanden anzutreffen.«
Das sollte wohl so eine Art Entschuldigung sein, nahm ich an — wenn ich wirklich ein Einbrecher gewesen wäre, hätte sie ja auch all die Nippes hier gerettet.
«Was für Sachen?«fragte ich.
Sie zögerte, sagte aber schließlich:»Ein paar Briefe, das ist alles. «Ihr Blick wanderte zu dem Anrufbeantworter hinüber, und ganz deutlich sichtbar spannten sich die Muskeln um ihre Augen herum an.
«Ich habe die Botschaften abgehört«, sagte ich.
«O Gott.«
«Warum sollte Sie das beunruhigen?«
Sie hatte, wie es schien, ihre Gründe dafür, die sie mir aber nicht zu verraten gedachte — jedenfalls nicht hier und jetzt.
«Ich möchte sie löschen«, sagte sie.»Das war auch einer der Gründe, warum ich hergekommen bin.«
Sie sah mich an, und mir fiel kein zwingender Grund ein, warum sie es nicht tun sollte, weshalb ich nichts sagte. Zögernd, als erbäte sie für jeden einzelnen Schritt meine Nachsicht, bewegte sie sich langsam auf das Gerät zu, spulte das Band zurück, drückte auf die Aufnahmetaste und überspielte das Vorherige mit Schweigen. Nach einer Weile spulte sie das Band erneut zurück und spielte es dann noch einmal ab — es waren keine verzweifelten Bitten mehr zu hören.
«Hat sonst noch jemand dieses Band…?«
«Ich denke nicht. Jedenfalls nicht, solange die Putzfrau nicht die Angewohnheit hatte, sich die Botschaften anzuhören. Ich glaube, sie war heute da.«
«O Gott.«
«Sie haben doch keinen Namen genannt. «Wieso, zum Henker, beruhigte ich sie eigentlich, fragte ich mich. Ich hatte noch immer keine Kraft in den Fingern. Ich konnte diesen fürchterlichen Schlag noch immer spüren.
«Möchten Sie etwas zu trinken?«fragte sie ganz unvermittelt.
«Ich habe einen gräßlichen Tag hinter mir. «Sie ging zu dem Tablett mit den Flaschen und goß Wodka in ein schweres Becherglas.
«Was möchten Sie?«
«Wasser«, sagte ich.»Ein doppeltes.«
Ihr Mund straffte sich, und sie stellte die Wodkaflasche auf das Tablett zurück, daß es klirrte.»Soda oder Tonic?«fragte sie steif.
«Soda.«
Sie goß Sodawasser in ein Glas für mich und Tonic in das ihre, verdünnte den Alkohol, aber nicht zu sehr. Unten in der Küche gab es auch Eis, aber keiner von uns beiden erwähnte das.
Ich bemerkte, daß sie ihre tödliche Waffe ganz harmlos neben dem Anrufbeantworter hatte liegenlassen. Wahrscheinlich stellte ich jetzt keine Bedrohung mehr für sie dar. Als wolle sie jeden physischen Kontakt vermeiden, setzte sie mein Sodawasser auf das Tischchen neben mir zwischen die kleinen Steinbären und die Chrysanthemen und nahm dann einen kräftigen Schluck aus ihrem Glas. Besser als Tranquilizer, dachte ich. Alkohol löste die Anspannung, beruhigte den mentalen Schmerz. Das erste Betäubungsmittel der Welt — ich hätte auch ganz gut was davon gebrauchen können.
«Wo sind Ihre Briefe?«fragte ich.
Sie schaltete eine Tischlampe ein. Die durch den Garten herankriechende Abenddämmerung vertiefte sich abrupt, und ich wünschte, sie würde sich beeilen, denn ich wollte nach Hause.
Sie blickte zu dem Bücherregal, das fast eine ganze Wand des Zimmers einnahm.
«Dort, glaube ich. In einem Buch.«
«Dann fangen Sie mal zu suchen an. Das kann doch die ganze Nacht dauern.«
«Sie müssen nicht warten.«
«Ich denke aber, daß ich es trotzdem tun werde«, sagte ich.
«Vertrauen Sie mir etwa nicht?«wollte sie wissen.
«Nein.«
Sie blickte mich fest an.»Und warum nicht?«
Ich sagte ihr nicht, daß ich wegen der Diamanten überhaupt niemandem traute. Ich wußte nicht, wen ich gefahrlos bitten konnte, nach ihnen Ausschau zu halten, oder wer sie suchen würde, um sie zu stehlen, wenn er erst Kenntnis davon hatte, daß es sie möglicherweise gab.
«Ich kenne Sie ja gar nicht«, sagte ich unverbindlich.
«Aber ich…«Sie brach ab und zuckte die Achseln.»Ich nehme an, daß ich Sie wohl auch nicht kenne. «Sie trat zum Bücherregal.
«Ein paar von diesen Büchern sind innen hohl«, sagte sie.
O Greville! dachte ich. Wie sollte ich je etwas von dem finden, was er alles versteckt hatte? Ich bevorzugte gerade Wege, er aber hatte einen Kopf gehabt wie ein Labyrinth.
Sie fing an, Bücher aus der Reihe auf dem untersten Regalbrett herauszuziehen und aufzuschlagen. Nicht methodisch Buch für Buch, sondern vor allem, wie mir schien, solche mit vorwiegend blauem Rücken. Nachdem sie eine kleine Weile dort gekniet und Bücher durchgesehen hatte, fand sie ein hohles, das sie mir mit sarkastischer Sorgfalt offen hinhielt, damit ich auch wirklich sehen konnte, daß sie nichts vor mir verbarg.
Das Innere des Buches erwies sich als eine mit blauem Samt bespannte Schachtel, die einen dicht schließenden Deckel hatte, den man an einer kleinen Schlaufe aufziehen konnte. Als sie dies tat, zeigte sich, daß der flache, mit Samt ausgekleidete Innenraum darunter völlig leer war.
Die Achseln zuckend, schob sie den Deckel wieder zu und schloß das Buch, das sofort wieder so aussah wie alle anderen auch, und stellte es ins Regal zurück. Wenig später fand sie erneut ein hohles, das diesmal aber innen rot war. Darin lag ein Briefumschlag.
Sie besah ihn sich, ohne ihn zu berühren, und blickte dann mich an.
«Das sind nicht meine Briefe«, sagte sie.»Ist nicht mein Briefpapier.«
Ich sagte:»Greville hat ein Testament hinterlassen, in dem er seine gesamte Habe mir vermacht.«
Sie schien das nicht ungewöhnlich zu finden, im Unterschied zu mir — er hatte das der Einfachheit halber so geregelt, weil er in Eile gewesen war, hätte es aber, wenn ihm Gelegenheit dazu gegeben worden wäre, später mit Sicherheit wieder geändert.
«Dann schauen Sie besser mal nach, was da drin ist«, sagte sie ruhig, nahm den Umschlag heraus und streckte sich, um ihn mir zu reichen.
Der Umschlag, der nicht zugeklebt war, enthielt nur einen verzierten Schlüssel, der etwa zehn Zentimeter lang und dessen obere Hälfte in einer Weise abgeflacht und durchbrochen war, daß sie wie aus Metall gefertigte Spitze aussah. Der Bart dagegen war sehr schmal und kompliziert gezähnt. Ich legte ihn auf meine Handfläche, zeigte ihn ihr und fragte sie, ob sie wisse, was sich damit öffnen ließe.
Sie schüttelte den Kopf.»Ich habe ihn noch nie gesehen. «Sie schwieg einen Augenblick.»Er war ein Mann der Geheimnisse«, sagte sie.
Ich hörte die Wehmut in ihrer Stimme. Sie mochte sich ja in diesem Augenblick eisern beherrschen, aber vor Annettes Mitteilung, daß Greville tot sei, war sie dies nicht gewesen. Die Stimme auf dem Band hatte nackte Panik verraten. Annette hatte ihre schrecklichsten Befürchtungen nur noch bestätigt und damit die eskalierende Verzweiflung zu dem werden lassen, was ich als vorgetäuschte Ruhe ansah. Ein Mann der Geheimnisse… Greville hatte sich ihr offensichtlich genauso wenig anvertraut wie mir.
Ich steckte den Schlüssel wieder in den Umschlag und gab ihr diesen zurück.
«Er bleibt fürs erste wohl besser da in seinem Buch«, sagte ich.
«Bis ich ein Schlüsselloch gefunden habe, zu dem er paßt.«
Sie legte den Umschlag mit dem Schlüssel in das Buch und stellte dieses ins Regal. Nach nicht allzu langer Zeit fand sie dann auch ihre Briefe. Sie waren nicht romantisch mit Bändern umwickelt, sondern wurden höchst prosaisch von einem Gummiband zusammengehalten. Nicht sehr viele, wie es den Anschein hatte, aber sorgfältig aufbewahrt.
Noch immer auf den Knien liegend, blickte sie zu mir auf.»Ich möchte nicht, daß Sie sie lesen«, sagte sie.»Was immer Greville Ihnen hinterlassen hat, die gehören mir, nicht Ihnen.«
Ich stellte mir die Frage, warum es sie wohl so drängte, hier im Haus alle ihre Spuren zu verwischen. Aus reiner Neugier hätte ich die Briefe mit großem Interesse gelesen, wenn ich sie gefunden hätte, aber so konnte ich kaum verlangen, daß sie mir Einblick in ihre Liebesbriefe gewährte… wenn es denn wirklich Liebesbriefe waren.
«Zeigen Sie mir nur ganz schnell eine einzige Seite«, sagte ich.
Ihr Gesicht nahm einen bitteren Ausdruck an.»Sie trauen mir tatsächlich nicht, nicht wahr? Ich möchte nur wissen, warum nicht.«
«Jemand ist am Wochenende in Grevilles Büro eingebrochen«, erwiderte ich,»und ich bin mir nicht sicher, wonach da gesucht wurde.«
«Nicht nach meinen Briefen«, sagte sie mit Entschiedenheit.
«Zeigen Sie mir nur eine einzige Seite«, sagte ich,»damit ich sehe, daß sie auch das sind, was sie nach Ihrer Aussage sein sollen.«
Ich dachte, sie würde dies glattweg ablehnen, aber nach kurzem Nachdenken streifte sie das Gummiband von den Briefen, blätterte sie durch und reichte mir schließlich mit ausdruckslosem Gesicht ein kleines Blatt. Darauf stand:… bis zum nächsten Montag wird mein Leben einer Wüste gleichen. Was soll ich machen? Nach Deiner Umarmung ist er mir zuwider. Es ist schrecklich. Die Kopfschmerzen werden mir knapp. Ich bete Dich an.
C.
Ich reichte ihr den Bogen wortlos zurück, schämte mich, daß ich mich eingemischt hatte.
«Nehmen Sie sie an sich«, sagte ich.
Sie blinkerte ein paarmal mit den Augen, legte das Gummiband wieder um die kleine Sammlung und steckte diese in eine einfache schwarze Lederhandtasche, die neben ihr auf dem Teppich lag.
Ich angelte am Boden nach meinen Krücken, hob sie hoch und stand dann auf, wobei ich mich ganz darauf konzentrierte, wenigstens den Griff der linken richtig festzuhalten, mich aber gleichzeitig nicht zu fest darauf zu stützen. Clarissa Williams sah mir mit einem Anflug von Verlegenheit dabei zu, wie ich zu Grevilles Stuhl hinüberhumpelte.
«Glauben Sie mir«, sagte sie,»mir war wirklich nicht klar… ich meine, als ich hier hereinkam und sah, wie Sie Sachen stahlen… und dachte, daß Sie Sachen stehlen… ich hab die Krücken nicht bemerkt.«
Ich nahm an, daß sie die Wahrheit sagte. Echte Einbrecher liefen nicht holzbeinig herum, und ich hatte meine Stützen ja beiseite gelegt, als sie hereingestürmt gekommen war. Sie war viel zu sehr in Fahrt gewesen, um noch groß Fragen zu stellen — zweifelsohne vorwärts getrieben von Schmerz, Besorgnis und auch Angst vor dem Eindringling. Was alles natürlich in gar keiner Weise meine Auffassung gegenstandslos machte, daß sie Fragen hätte stellen sollen, bevor sie ihren Feldzug startete.
Ich fragte mich, wie sie wohl der Polizei gegenüber ihre Anwesenheit im Haus erklärt hätte, wenn diese just in dem Augenblick erschienen wäre, in dem sie eifrig damit beschäftigt gewesen war, ihre Spuren zu verwischen. Vielleicht hätte sie erkannt, daß sie einen Fehler begangen hatte, wäre einfach schnell verschwunden und hätte den außer Gefecht gesetzten Einbrecher am Boden liegen lassen.
Ich ging zum Telefontischchen und nahm den brutalen Männerbändiger in die Hand. Der schwere Griff, ein schwarzer, zigarrenförmiger Zylinder, der um der Griffigkeit willen gerillt war, maß weniger als zwei Zentimeter im Durchmesser und war ungefähr achtzehn Zentimeter lang. Aus ihm heraus ragte ein Stück verchromte, dicke, eng gewundene Spiralfeder, aus der wiederum eine ähnliche, aber etwas dünnere Feder herausstak, die in eine kleine schwarze Metallkugel mündete. Das ganze Ding war 38 bis 40 cm lang, der Schlag durchaus dem Tritt eines Pferdes vergleichbar.
«Was ist das?«fragte ich und wog das Ding in der Hand.
«Greville hat es mir gegeben. Er sagte, die Straßen seien nicht mehr sicher, und wollte, daß ich es immer einsatzbereit bei mir trüge. Er meinte, alle Frauen sollten so was haben, um sich gegen Straßenräuber und Gewalttäter zur Wehr setzen zu können… Als Richter hatte er ja sehr viel mit Frauen zu tun, die angegriffen worden waren. Er sagte, ein Schlag damit würde den stärksten Mann hilflos machen und mir so die notwendige Zeit verschaffen, um ihm zu entkommen.«
Es fiel mir nicht schwer, das zu glauben. Ich bog den schwarzen Knopf nach einer Seite hin nieder, ließ los und beobachtete, wie sich die enge, schwere Feder schnell wechselnd krümmte und wieder aufrichtete. Clarissa erhob sich vom Boden und sagte:»Es tut mir leid. Ich habe das Ding noch nie benutzt, nicht im Zorn. Greville hat mir auch gezeigt, wie… er sagte nur, ich solle so fest wie möglich zuschlagen, damit die Federn herausschnellen und ein Maximum an Schaden anrichten könnten.«
Mein lieber Bruder, dachte ich. Ich danke dir von Herzen.
«Kann man es auch wieder in seine Hülle zurückkriegen?«fragte ich.
Sie nickte.»Drehen Sie die dickere Feder im Uhrzeigersinn… dann löst sich die Sperre, und sie läßt sich in den Griff schieben.«
Ich tat, wie sie gesagt hatte, aber das dünnere Federstück ragte immer noch heraus.»Sie müssen den schwarzen Kugelkopf irgendwo gegenstoßen, dann geht auch dies Stück rein.«
Ich stieß mit dem Knopf gegen die Wand, und wie nichts glitt die dünnere Feder sanft in die dickere hinein, verwandelte sich der schwarze Kugelkopf in das harmlos aussehende Ende eines weiteren technischen Spielzeugs.
«Wie funktioniert das?«fragte ich, aber sie wußte es nicht.
Ich entdeckte, daß sich das untere Teil des Zylinders abschrauben ließ, wenn man es versuchte, und ich drehte es etwa zwanzigmal herum, bis ein ungefähr drei Zentimeter langes Stück abging. Jetzt wurde mir auch klar, daß das gesamte Endteil ein starker Magnet war.
Wie einfach, dachte ich. Im Normalzustand hielt der Magnet die beiden Spiralfedern in dem Zylinder fest, aber wenn man diesen stark nach vorn schnellen ließ, dann reichte seine Stärke nicht aus, er ließ sie los, ließ sie nach vorn und heraussausen und das Ding seine vollen, peitschenden Möglichkeiten entfalten.
Ich schraubte die Kappe wieder auf, hielt den Zylinder fest in der Hand und schwang ihn kraftvoll nach unten.
Wortlos schob ich das Ding wieder zusammen und gab es ihr zurück.
«Man nennt das einen Kiyoga«, sagte sie.
Es war mir gleichgültig, wie man das nannte. Mir machte der Gedanke, das Ding vielleicht nie wiederzusehen, nicht das geringste aus. Sie steckte es, vollkommen vertraut damit, wieder in die Tasche ihres Regenmantels — diese letzte Antwort einer Frau auf Wegelagerer, Verrückte und ausgesuchte Frauenhasser.
Sie sah mich unglücklich und unsicher an.
«Ich nehme an, daß ich Sie nicht bitten darf, einfach zu vergessen, daß ich hier war?«sagte sie.
«Das wäre mir nicht möglich.«
«Könnten Sie es. wenigstens für sich behalten?«
Ich konnte mir vorstellen, daß ich sie vielleicht gemocht hätte, wenn ich unter anderen Umständen mit ihr zusammengetroffen wäre. Sie hatte große Augen, denen ein Lachen weit besser gestanden hätte, und ein Gesicht, das eine beständige, auch von dem Durcheinander ihrer Gefühle nicht zu überwindende Fröhlichkeit erkennen ließ.
Mit einiger Anstrengung sagte sie:»Bitte!«
«Bitten Sie nicht«, sagte ich scharf. Ich fühlte mich unbehaglich — und zu ihr paßte es nicht.
Sie schluckte.»Greville hat mir von Ihnen erzählt. Ich nehme an… daß ich mich auf sein Urteil verlassen kann.«
Sie suchte in ihrer anderen Manteltasche, also in der, in der sie nicht den Totschläger stecken hatte, und zog einen einfachen Schlüsselring heraus, an dem drei Schlüssel hingen.
«Die nehmen Sie wohl besser an sich«, sagte sie.»Ich brauche sie nicht mehr. «Sie legte sie neben den Anrufbeantworter, und ich sah in ihren Augen den Schimmer plötzlicher Tränen.
«Er starb in Ipswich«, sagte ich.»Er wird dort am Freitag eingeäschert. Um zwei Uhr.«
Sie nickte wortlos und sah mich nicht an, sondern ging an mir vorbei durch die Tür und den Hausflur und die Haustür hinaus, die sie mit stiller Endgültigkeit hinter sich schloß.
Ich sah mich mit einem Seufzer im Zimmer um. Die Buchschachtel, in der ihre Briefe gesteckt hatten, lag noch offen auf dem Fußboden, und ich bückte mich, hob sie auf und stellte sie ins Regal zurück. Ich fragte mich dabei, wieviele der Bücher hohl sein mochten. Morgen abend, nach meinem Treffen mit Elliot Trelawney, würde ich wieder herkommen und das festzustellen versuchen.
Vorläufig aber hob ich auch das Kästchen aus Stein vom Boden auf und stellte es auf den Tisch mit den Chrysanthemen, wobei mir durch den Kopf ging, daß der verzierte Schlüssel in der rot gefütterten Buchschachtel viel zu groß war, um in sein winziges Schloß zu passen. Grevilles Schlüsselbund lag ebenfalls noch auf dem Teppich. Ich kehrte zu dem zurück, was ich getan hatte, bevor ich so gewaltsam unterbrochen worden war, mußte dann aber entdecken, daß selbst noch der kleinste Schlüssel an Gre-villes Bund zu groß für das grüne Kästchen war.
Eine ganze Menge Erfolglosigkeit, dachte ich trübsinnig.
Ich trank das Sodawasser aus, das nicht mehr sprudelte.
Ich rieb mir den Arm, was ihn auch nicht heiler machte.
Ich fragte mich, welches Urteil Greville da über mich gefällt hatte, auf das man bauen konnte.
Unter dem Fenster stand ein kleines poliertes Schränkchen, das ich noch nicht untersucht hatte, und ich beugte mich, nicht sehr viel erwartend, zu ihm hinab und zog eine der beiden Türen an ihrem aus einem Messingring bestehenden Griff auf. Die andere Tür öffnete sich daraufhin ganz von selbst, und das Innere des Schränkchens glitt als eine Einheit heraus — ein Videorecorder, und darunter zwei Fächer mit Reihen von schwarzen Kassetten. Alle waren mit den gleichen Aufklebern versehen, auf denen diesmal aber keine chemischen Formeln, sondern Datumsangaben vermerkt waren.
Ich zog wahllos eine der Kassetten heraus, und es verschlug mir die Sprache, als ich das weitaus größere Etikett auf der Vorderseite sah:»Video-Club Pferderennen «stand in dicken Druckbuchstaben darauf, darunter mit Schreibmaschine:»7. Juli, Sandown Park, >Dozen Roses<.«
Der» Video-Club Pferderennen «verkaufte, wie ich wohl wußte, Bänder mit Aufzeichnungen der Rennen an die Pferdebesitzer, Trainer und auch an andere Interessierte. Wie ich bei weiterem Nachforschen mit zunehmender Verwunderung feststellte, mußte Greville dem Club so eine Art Dauerauftrag erteilt haben, denn jedes Rennen, an dem seine beiden Pferde im Verlauf der vergangenen zwei Jahre teilgenommen hatten, war nach meiner Einschätzung dort in den beiden Fächern vorhanden und konnte betrachtet werden.
Als ich ihn mal gefragt hatte, warum er nie zu den Rennen ginge, um seine Pferde laufen zu sehen, hatte er mir geantwortet, daß er doch genug davon im Fernsehen zu sehen bekomme — und ich hatte geglaubt, daß er damit die normalen Sendungen, wie sie nachmittags live von den jeweiligen Bahnen übertragen wurden, gemeint hatte.
Es klingelte an der Haustür, schrill und unerwartet. Ich ging hin, blickte durch den Spion und sah Brad auf der Schwelle stehen, blinzelnd und geblendet von zwei Strahlern, die ihm direkt ins Gesicht schienen. Diese Lampen waren über der Tür angebracht und beleuchteten den Pfad und die Pforte. Als er den Arm schützend vor sein Gesicht hielt, öffnete ich die Haustür.
«Hallo«, sagte ich,»alles in Ordnung?«
«Machen Sie das Licht aus. Kann nix sehen.«
Ich sah mich neben der Tür nach einem Schalter um, fand mehrere und löschte das blendende Flutlicht dadurch, daß ich alle wahllos nach oben kippte.
«Wollte nur nachsehn, ob Sie okay sind«, erklärte Brad.»Diese Lichter sind gerade eben erst angegangen.«
Mir wurde klar, daß das ganz von selbst geschehen war. Zweifellos war das eine weitere Manifestation von Grevilles Sicherheitsbedürfnis. Jeder, der nach Einbruch der Dunkelheit den Pfad entlang auf das Haus zuging, wurde zum Dank dafür angestrahlt.
«Tut mir leid, daß es solange gedauert hat«, sagte ich.»Wo Sie nun schon mal da sind, könnten Sie vielleicht so gut sein und mir ein paar Dinge tragen helfen.«
Er nickte, als habe er für diesen Abend genug der Worte von sich gegeben, und folgte mir auf mein Zeichen hin schweigend in das kleine Wohnzimmer.
«Ich möchte dieses grüne Steinkästchen und so viele von diesen Bändern mitnehmen, wie Sie schleppen können, angefangen hier auf dieser Seite«, sagte ich, und er nahm bereitwilligst etwa zehn der neuesten Kassetten heraus und stellte das grüne Kästchen oben drauf.
Ich fand den Schalter für die Flurbeleuchtung, schaltete diese ein und das Licht im kleinen Wohnzimmer aus. Prompt und völlig unaufgefordert schaltete es sich wieder ein.
«Meine Fresse«, sagte Brad.
Ich dachte, daß es vielleicht an der Zeit sei zu gehen, bevor wir noch weitere Alarmanlagen auslösten, die nach Dunkelwerden wohl direkt mit der örtlichen Polizeiwache verbunden waren. Ich schloß die Wohnzimmertür, und dann kehrten wir durch den Flur in die Außenwelt zurück. Vor dem Hinausgehen kippte ich alle Schalter neben der Haustür wieder nach unten, womit ich offensichtlich mehr an- als abschaltete. Die Strahler über der Tür gingen zwar nicht an, aber hinter uns fing plötzlich ein Hund laut zu kläffen an.
«Verdammt«, sagte Brad, wirbelte herum und preßte wie zur Verteidigung die Kassetten gegen seine Brust.
Es gab keinen Hund. Dafür stand auf einem kleinen Tisch im Flur ein hornförmiger Lautsprecher, der das dumpfe Knurren und Bellen eines wildentschlossenen Schäferhundes von sich gab.
«Meine Fresse«, sagte Brad erneut.
«Gehen wir«, sagte ich belustigt, und er konnte gar nicht schnell genug wegkommen.
Das Bellen hörte ganz von selbst wieder auf, als wir ins Freie hinaustraten. Ich zog die Haustür hinter uns zu, und wir machten uns auf, um die Treppe hinab- und den Pfad entlang zur Pforte zu gehen. Wir hatten kaum drei Schritte getan, als die Scheinwerfer wieder angingen.
«Gehen Sie einfach weiter«, sagte ich zu Brad.»Ich könnte mir denken, daß sie sich nach einer gewissen Zeit von selbst wieder abschalten.«
Er hatte nichts dagegen einzuwenden. Er hatte den Wagen um die Ecke geparkt, und ich dachte während der schnellen Fahrt nach Hungerford über Clarissa Williams nach — über ihr Leben, ihre Liebe und ihren Ehebruch.
An diesem Abend schaffte ich es weder, das grüne Steinkästchen aufzubekommen, noch den Sinn und Zweck der mitgebrachten Geräte zu ergründen.
Ein Schütteln des Kästchens verriet mir nichts über seinen Inhalt, und ich schloß nicht aus, daß es sehr wohl auch leer sein konnte. Ein Zigarettenkästchen, dachte ich, obwohl ich mich nicht erinnern konnte, Greville je rauchen gesehen zu haben. Vielleicht ein Kasten, um zwei Kartenspiele darin aufzubewahren. Vielleicht ein Schmuckkästchen. Sein winziges Schloß widersetzte sich aber allen mit Nagelschere, Kofferschlüsseln und Drahtstückchen unternommenen Öffnungsversuchen, und am Ende gab ich mich geschlagen und stellte es beiseite.
Auch die technischen Geräte wollten sich weder öffnen noch schließen lassen. Bei dem einen handelte es sich um ein kleines, schwarzes, zylinderförmiges Objekt von der Größe etwa eines Daumens, dessen eines Ende wie der Rand einer Münze geriffelt war. Wenn man dieses geriffelte Stück die Viertelumdrehung im Uhrzeigersinn bewegte, die es sich bewegen ließ, ertönte ein dünner, schwacher, sehr hoher Ton — und das erwies sich als die Summe aller Einsatzmöglichkeiten dieses Gegenstandes. Mit einem Schulterzucken stellte ich das Gewinsel wieder ab und die kleine Röhre dann aufrecht auf das grüne Kästchen.
Der zweite Apparat gab nicht einmal ein Winseln von sich. Es war ein flacher schwarzer Plastikbehälter, ungefähr so groß wie ein Kartenspiel, und mitten auf seiner Oberseite befand sich eine einzige, viereckige, rote Taste. Ich drückte sie, aber nichts passierte. Ein verchromter, runder Knopf an der einen Seite des Gerätes erwies sich bei genauerer Untersuchung als das Ende einer Teleskopantenne. Ich zog sie so weit wie möglich heraus, etwa 25 Zentimeter, und als Lohn wurde mir zuteil, was ich für einen kleinen Sender hielt, der ich weiß nicht was, ich weiß nicht wohin sendete.
Seufzend schob ich die Antenne in ihren Sockel zurück und legte auch den Sender auf den grünen Kasten. Danach steckte ich eine Kassette nach der anderen in meinen Videorecorder und sah mir die Rennen an.
Alfies Bemerkung über die schwankende Form von Grevilles Pferden hatte mich mehr interessiert, als ich ihm hatte zeigen wollen. Nach meiner Einschätzung seiner Ergebnisse hatte >Dozen Roses< eine lange Flaute durchgemacht, der ganz plötzlich eine ungemein erfolgreiche Zeit gefolgt war, was stark an das klassische» Betrugsmuster «erinnerte, bei dem man ein Pferd verlieren und immer wieder verlieren läßt, bis sein Handikap gering ist und niemand mehr darauf setzt, um es dann in einem leichten, hinter seinen latenten Fähigkeiten zurückbleibenden Rennen an den Start zu schicken, haushoch gewinnen zu lassen und auf diese Weise einen fetten Wettgewinn einzustreichen.
In abgeschwächter Form machten das gelegentlich alle Trainer mal, auch wenn die Regeln verlangten, daß stets das Beste zu geben sei. Junge und unerfahrene Pferde konnten ja sehr leicht ruiniert werden, wenn man sie allzu sehr und allzu früh zu höchster Leistung antrieb — man mußte ihnen schon Gelegenheit geben, langsam Spaß an der Sache zu bekommen, mußte Sorge tragen, daß sie ihren Renninstinkt voll entwickelten.
Dies zugestanden, gab es einen Punkt, über den kein Trainer je hinauszugehen wagte. In den schlimmen alten Zeiten, als noch nicht alles von Kameras festgehalten wurde, war es sehr viel schwerer gewesen, den Nachweis zu führen, daß ein Pferd nicht alles versucht hatte — viele Jockeys waren Meister darin gewesen, mit ihren Peitschen herumzufuchteln und gleichzeitig bremsend an den Zügeln zu ziehen. Unter den Adlerlinsen und dem Regiment harter Disziplin, die die moderne Rennszene bestimmten, konnten schon ganz natürliche und unvorhergesehene Schwankungen in der Form eines Pferdes dazu führen, daß sich der Trainer vor die Kontrollkommission zitiert sah, um dies zu erklären. Und wenn ein Trainer keine Erklärung dafür hatte, warum sein hochgepriesener Favorit plötzlich Bleifüße hatte, dann konnte ihm das eine deprimierend hohe Geldstrafe eintragen.
Kein Trainer war, wie sehr er sich auch bemühen mochte, je vor Verdächtigungen sicher, aber ich hatte noch nie gehört oder gelesen, daß Nicholas Loder in Schwierigkeiten dieser Art geraten wäre. Vielleicht, so dachte ich, wußte Alfie etwas, was die Kontrollkommission nicht wußte. Vielleicht konnte Alfie mir sagen, warum Loder fast panisch reagiert hatte, als er mit der Aussicht konfrontiert worden war, daß >Dozen Roses< am kommenden Sonnabend vielleicht nicht an den Start gehen konnte.
Brad hatte die sechs letzten Rennen von >Dozen Roses< erwischt und dazu noch vier von >Edelstein<. Ich schaute mir zunächst die von >Dozen Roses< an, wobei ich mit dem am längsten zurückliegenden anfing, das im Mai stattgefunden hatte, und die Einzelheiten mit Grevilles Eintragungen in seinem Taschenkalender verglich.
Auf dem Bildschirm erschienen Bilder von Pferden, wie sie im Führring im Kreis bewegt und dann zum Start gebracht wurden. Grevilles Farben — Rosa und Orange — waren gut zu erkennen. Dieses Mai-Rennen war eines für Dreijährige und ältere Pferde über 2000 Meter gewesen und hatte an einem Freitag in Newmarket stattgefunden. Achtzehn Rennpferde. >Dozen Roses< wurde von einem Jockey geritten, der zu Loders zweiter Garnitur gehörte, da sein bester Mann im Sattel eines anderen Pferdes aus seinem Stall saß, das als hoher Favorit galt.
Beim Start kam es zu irgendeiner Rempelei, an der auch >Dozen Roses< beteiligt war. Ich spulte das Band zurück, ließ es noch einmal im Zeitlupentempo durchlaufen und mußte lachen. >Dozen Roses< hatte offensichtlich nicht das Rennen im Sinn gehabt, sondern ein ungebührliches Interesse an einer Stute bekundet.
Ich erinnerte mich jetzt daran, daß Greville mir mal gesagt hatte, daß er es schändlich und unfair finde, die Feu-rigkeit eines Hengstes zu dämpfen — er werde keines seiner Pferde je kastrieren lassen. Ich sah ihn deutlich vor mir, wie er über ein kleines Tischchen und den Rand eines Cognacglases hinweg mit funkelnden Augen zu mir gesprochen hatte, von denen seine eigene Freude am Sex abzulesen gewesen war. So viele so flüchtige Eindrücke von ihm in meinem Kopf, dachte ich. Und auch wieder viel zu wenige. Ich konnte einfach nicht glauben, daß ich nie wieder mit ihm würde essen gehen können — egal, was mein Verstand mir sagte.
Normalerweise setzten Trainer keine Stuten ein, die heiß waren, aber manchmal ließ sich das nicht rechtzeitig genug feststellen. Pferde dagegen konnten das. >Dozen Ro-ses< war erregt gewesen. Man hatte die Stute sofort in die Startbox gesperrt und >Dozen Roses< bis zur letzten Minute herumgeführt, damit sich seine Leidenschaft abkühle. Seinem Lauf hatte dann der rechte Schwung gefehlt, und er hatte nur einen mittleren Platz belegt, während die Stute hinter ihm und als letztes Pferd eingelaufen war. Loders anderes Pferd, der Favorit, hatte mit einer Länge Vorsprung gewonnen.
Zu dumm, dachte ich lächelnd und schaute mir den nächsten Versuch von >Dozen Roses< drei Wochen später an.
Diesmal gab’s nichts, was ihn hätte ablenken können. Das Pferd war ruhig, fast schläfrig, und brachte jene Art von bescheidener Leistung, die Besitzer sich fragen läßt, ob das alles die Sache wohl wert sei. Das folgende Rennen war ziemlich ähnlich verlaufen, und wenn ich Greville gewesen wäre, hätte sich bei mir wahrscheinlich die Auffassung durchgesetzt, daß die Zeit für einen Verkauf gekommen sei.
Greville, so schien es, hatte mehr Vertrauen gehabt. Nach einer Pause von sieben Wochen jedenfalls war >Dozen Ro-ses< förmlich zum Start geprescht, begeisternd gelaufen und als erstes Pferd über die Ziellinie geschossen — und hatte all denen 14:1 eingebracht, die unwissend genug gewesen waren, um auf ihn zu setzen. So natürlich Greville.
Ich sah mir eine Aufzeichnung nach der anderen an, und es stellte sich mir tatsächlich langsam die Frage, warum die Stewards keinen Wind gemacht hatten. Greville hatte aber nichts dergleichen je erwähnt, nur gesagt, wie sehr er sich freue, daß das Pferd die Form wiedererlangt habe, die es als Dreijähriger gehabt hatte.
Danach hatte >Dozen Roses< zwei weitere in puncto Ausdauer und Zielstrebigkeit vorbildliche Leistungen gezeigt — womit wir beim neuesten Stand angelangt waren. Ich ließ das letzte Band zurücklaufen, nahm es heraus und konnte wohl sehen, warum Loder glaubte, daß das Pferd am Samstag gut laufen würde.
Die Aufzeichnungen der Rennen von >Edelstein< waren weitaus weniger interessant. Trotz seines Namens war er nicht sehr viel wert, und das eine Rennen, das er gewonnen hatte, sah wirklich mehr nach einem Zufallstreffer als nach dem Ergebnis konstruktiver Arbeit aus. Ich faßte den Entschluß, beide Pferde zu verkaufen, wie Loder das ja auch anstrebte.