Kapitel 1

Ich habe das Leben meines Bruders geerbt. Habe seinen Schreibtisch, seine Firma, sein technisches Spielzeug, seine Feinde, seine Pferde und seine Geliebte geerbt. Ich habe das Leben meines Bruders geerbt und dabei fast das meine verloren.

Ich war damals 34 Jahre alt, und eine Meinungsverschiedenheit mit dem letzten Hindernis des Rennens in Cheltenham hatte zur Folge, daß ich an Krücken herumhumpelte. Sollten Sie noch nicht erlebt haben, wie es ist, wenn Ihr Fußgelenk zerschmettert wird, dann haben Sie nichts versäumt. Wie immer war es nicht der Sturz bei voller Geschwindigkeit gewesen, der den Schaden verursacht hatte, sondern die halbe Tonne von Rennpferd, das hinter mir über das Hindernis setzte. Es sprang mit einem seiner Vorderhufe direkt auf meinen Stiefel, und der Arzt, der mir diesen dann vom Bein schnitt, überreichte ihn mir als Andenken. Mediziner haben nun mal einen makabren Sinn für Humor.

Zwei Tage nach diesem Vorfall, als ich mich allmählich mit der Tatsache abzufinden begann, daß ich zumindest sechs Wochen der Rennsaison und damit wahrscheinlich auch meine letzte Chance verpassen würde, noch einmal zu Meisterehren zu kommen (mit Mitte dreißig erreichen Steeplechase-Jockeys den Anfang vom Ende ihrer sportlichen Laufbahn), nahm ich so ungefähr zum zehnten Mal an diesem Morgen den Telefonhörer ab — diesmal jedoch,

um festzustellen, daß nicht noch ein weiterer Freund mich seines Mitgefühls versichern wollte.

«Könnte ich bitte mit Derek Franklin sprechen?«fragte eine weibliche Stimme.

«Ich bin Derek Franklin«, sagte ich.

«Gut. «Die Stimme klang sowohl energisch als auch zögernd, und das war durchaus verständlich.»Wir haben Sie als den nächsten Angehörigen Ihres Bruders aufgeführt gefunden.«

Der Ausdruck» nächster Angehöriger «mußte zu den unheilvollsten gehören, die es gab, dachte ich mit schneller schlagendem Herzen.

Ich fragte langsam, ohne eigentlich die Antwort hören zu wollen:»Was ist geschehen?«

«Ich rufe vom St. Catherine’s Hospital in Ipswich an. Ihr Bruder liegt hier auf der Intensivstation…«

Wenigstens lebt er, dachte ich benommen.

«… und die Ärzte sind der Ansicht, daß Sie davon in Kenntnis gesetzt werden sollten.«

«Wie geht es ihm?«

«Es tut mir leid, aber ich habe ihn nicht gesehen. Ich bin hier am Krankenhaus als Sozialarbeiterin tätig. Soweit ich aber weiß, ist sein Zustand sehr ernst.«

«Was ist mit ihm?«

«Er hatte einen Unfall«, sagte sie.»Er ist schwer verletzt und hängt am Tropf.«

«Ich komme«, sagte ich.

«Ja, das wäre wohl das beste.«

Ich dankte ihr, ohne eigentlich so recht zu wissen wofür, und legte auf, wobei erst jetzt der Schock physisch spürbar wurde — ich fühlte mich benommen, und meine Kehle war wie zugeschnürt.

Er würde schon wieder auf die Beine kommen, sagte ich mir. Intensivstation — das bedeutete doch nur, daß man sich wirklich intensiv um ihn bemühte. Er würde sich bald wieder erholen, gar keine Frage.

Ich verdrängte alle Befürchtungen und wandte mich statt dessen dem praktischen Problem zu, wie ich mit einem kaputten Fußgelenk etwa 150 Meilen über Land von Hungerford in Berkshire, wo ich wohnte, nach Ipswich in Suffolk gelangen sollte. Zum Glück handelte es sich um den linken Fuß, was bedeutete, daß ich sehr bald wieder in der Lage sein würde, mein Auto zu benutzen, das ein automatisches Getriebe hatte — im Augenblick jedoch verursachte mir mein Fuß noch heftige Beschwerden. Trotz aller Tabletten und Eisbeutel war er heiß und geschwollen und schmerzte stark. Ich konnte das Gelenk nicht bewegen, ohne daß mir der Atem stockte, und das war teilweise meine eigene Schuld.

Da mir die schädigende Unbeweglichkeit von Gipsverbänden schon immer verhaßt gewesen war, ich diesbezüglich fast so etwas wie eine Phobie hatte, war ich ein gut Teil des vorangegangenen Tages damit beschäftigt gewesen, einen leidgeprüften Orthopäden dazu zu überreden, meinem Knöchel die Stütze einer schlichten elastischen Binde angedeihen zu lassen, statt ihn in Gips einzusperren. Mein Orthopäde gehörte zu jenen Chirurgen, die Platten und Schrauben bevorzugen, weshalb er wie gewohnt mit Murren auf mein Ansinnen reagierte. Eine Bandage, wie ich sie haben wolle, möge zwar im Endeffekt besser für die Muskulatur sein, biete aber keinerlei Schutz vor Stößen, wie er mir schon bei anderen Gelegenheiten klarzumachen versucht habe, und würde mir lediglich mehr Schmerzen eintragen.

«Mit so einem Verband kann ich aber sehr viel schneller wieder Rennen reiten.«

«Es wäre an der Zeit, daß Sie damit aufhören, sich die Knochen zu brechen«, sagte er, gab aber achselzuckend und seufzend nach und legte mir eine sehr eng gewickelte Bandage an.»Eines Tages werden Sie sich noch mal was Ernsthaftes antun.«

«Eigentlich breche ich sie mir gar nicht so gerne.«

«Immerhin brauchte ich diesmal nichts zu klammern«, sagte er.»Aber Sie sind verrückt.«

«Ja, herzlichen Dank.«

«Gehen Sie nach Hause und halten Sie Ruhe. Geben Sie Ihren Bändern eine Chance.«

Die Bänder erhielten diese Chance auf dem Rücksitz meines Wagens, während Brad, ein arbeitsloser Schweißer, diesen nach Ipswich lenkte. Brad, schweigsam und störrisch, war gewohnheitsmäßig und aus freien Stücken ohne Job. Er verdiente sich seinen kargen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsarbeiten, die er in unserer Wohngegend für jeden übernahm, der seine Launen zu ertragen bereit war. Da ich sein langes Schweigen seinen seltenen Gesprächen entschieden vorzog, kamen wir gut miteinander zurecht. Er sah aus wie vierzig, war noch keine dreißig und lebte bei seiner Mutter.

Brad fand das St. Catherine’s Hospital ohne größere Schwierigkeiten, half mir am Eingang aus dem Wagen und reichte mir die Krücken. Er sagte, er werde das Auto auf den Parkplatz bringen und dann in der Eingangshalle auf mich warten — ich solle mir nur Zeit lassen. Auch am Vortag hatte er schon stundenlang auf mich gewartet und dabei weder Ungeduld noch Mitgefühl erkennen lassen. Er war lediglich auf eine ruhige und neutrale Weise verdrießlich gewesen.

Die Intensivstation erwies sich als streng bewacht von energischen Krankenschwestern, die einen Blick auf meine Krücken warfen und mir dann erklärten, daß ich in der falschen Abteilung gelandet sei. Als ich ihnen jedoch endlich beigebracht hatte, wer ich war, statteten sie mich teilnahmsvoll mit Mundschutz und Kittel aus und ließen mich dann zu Greville hinein.

Irgendwie hatte ich erwartet, daß Intensivstation gleichbedeutend sei mit hellen Lampen und geräuschvoller Geschäftigkeit, sah aber nun, daß dem nicht so war, jedenfalls nicht auf dieser Station in diesem Krankenhaus. Das Licht war gedämpft, die Atmosphäre friedlich, der Geräuschpegel — sobald sich mein Gehör darauf eingestellt hatte — ein wenig über der absoluten Stille, aber noch nicht so weit darüber, daß ich einzelne Laute hätte identifizieren können.

Greville lag auf einem hohen Bett ganz allein in einem Raum, der voller Drähte und Schläuche war. Abgesehen von einem schmalen Leinentuch, das lose über seinen Lenden lag, war er völlig nackt und sein Schädel zur Hälfte kahlgeschoren. Weitere Spuren chirurgischer Eingriffe zogen sich wie die eines Tausendfüßlers quer über seinen Unterleib und eine Hüfte hinab, und er hatte am ganzen Körper Blutergüsse.

Hinter seinem Bett zeigten eine Reihe von Bildschirmen ihre leeren, viereckigen Gesichter — die Apparate waren nicht eingeschaltet, da die Informationen der Elektroden zu anderen, in einem Nebenraum stehenden Geräten weitergeleitet wurden. Der Patient brauche, so sagte man mir, nicht ständig einen Pfleger in seiner Nähe zu haben, da man seine Reaktionen permanent von diesem Nebenraum aus überwache.

Greville war ohne Bewußtsein, sein Gesicht blaß und still, sein Kopf ein wenig zur Tür hin geneigt, als erwarte er den Eintritt von Besuchern. Ein der Druckverminderung dienender Eingriff hatte auf seinem Schädel eine Wunde hinterlassen, die mit einem dick gepolsterten Schutzverband abgedeckt worden war, der eher wie ein seinen Kopf stützendes Kissen aussah.

Greville Saxony Franklin, mein Bruder. Neunzehn Jahre älter als ich — keine Überlebenschance. Dem hatte man sich zu stellen. Das galt es zu akzeptieren.

«Hi, Guy«, sagte ich.

Es war dies eine amerikanische Begrüßungsformel, die er selbst häufig benutzte, aber sie fand keine Erwiderung. Ich berührte seine Hand, die sich warm und entspannt anfühlte und deren Fingernägel wie immer sauber und gepflegt waren. Herz und Kreislauf funktionierten noch, angeregt von elektrischen Impulsen. Durch einen Schlauch an seinem Hals wurde Luft in seine Lungen gepumpt und wieder abgesaugt. Im Inneren seines Kopfes stellten die Nervenknoten ihre Tätigkeit ein. Wo war wohl seine Seele, fragte ich mich — wo der vernunftbegabte, ausdauernde, starke Geist? Wußte er, daß er im Sterben lag?

Ich mochte ihn nicht einfach sich selbst überlassen. Niemand sollte einsam sterben müssen. Ich ging hinaus und sagte das.

Ein Arzt in einem grünen Kittel erklärte mir, daß sie, wenn die gesamte noch feststellbare Gehirntätigkeit aufgehört habe, meine Zustimmung einholen würden, bevor sie die Geräte abschalteten. Wenn ich es wünsche, dürfe ich selbstverständlich in diesem kritischen Augenblick, aber auch schon vorher, bei meinem Bruder sein.»Aber der Tod«, sagte er dann streng,»wird in seinem Falle ein sich unendlich lang hinziehender Prozeß und kein eindeutig bestimmbarer Augenblick sein. «Er machte eine Pause.»Auf dem Flur hier befindet sich ein Warteraum, wo es unter anderem auch Kaffee gibt.«

Banales und Dramatisches, dachte ich — sein Alltag. Ich hinkte den langen Weg zum Empfang zurück, fand dort

Brad, informierte ihn über den Stand der Dinge und sagte ihm, daß ich wohl noch ziemlich lange hierbleiben würde, vielleicht sogar die ganze Nacht.

Er machte eine zustimmende Handbewegung. Er werde da sein, sagte er, oder an der Pforte eine Nachricht hinterlassen. In jedem Falle bliebe er erreichbar für mich. Ich nickte und ging wieder nach oben, wo ich den Warteraum bereits von einem sehr jungen, gramverzehrten Paar besetzt fand, dessen Baby nur noch mit Fäden am Leben hing, die kaum stärker waren als die von Greville.

Der Raum war hell, komfortabel eingerichtet und unpersönlich. Ich lauschte dem langsamen Schluchzen der Mutter und dachte an all das Elend, das Tag für Tag in diese Wände hineinsickerte. Das Leben hatte schon so seine ganz eigene Art, einen wie einen Fußball vor sich herzustoßen. Jedenfalls hatte ich diesen Eindruck. Das Schicksal hatte es mir nie leichtgemacht, aber das war in Ordnung so, das war ganz normal. Die Mehrzahl der Menschen, so schien mir, waren irgendwann einmal dran und wurden zum Fußball. Die meisten überlebten das. Einige nicht.

Greville war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Den spärlichen Informationen, über die man im Krankenhaus verfügte, hatte ich entnommen, daß er die High Street von Ipswich entlanggegangen war, als Teile eines Baugerüstes, das gerade abmontiert wurde, aus großer Höhe auf ihn herabgestürzt waren. Einer der Bauarbeiter war getötet, ein anderer mit gebrochener Hüfte ins Krankenhaus eingeliefert worden.

Was meinen Bruder anbetraf, so hatte man mich mit den klinischen Details vertraut gemacht. Eine Metallstange hatte seinen Bauch durchbohrt, eine andere war in sein Bein eingedrungen. Etwas Schweres war ihm auf den Kopf gefallen, was zu erheblichen Verletzungen des Gehirns mit entsprechenden inneren Blutungen geführt hatte. Das Unglück war am späten Nachmittag des gestrigen Tages passiert, er lag seitdem in tiefer Ohnmacht und hatte erst identifiziert werden können, als Arbeiter, die am heutigen Morgen die Trümmer beiseite räumten, seinen Taschenkalender gefunden und der Polizei übergeben hatten.

«Brieftasche?«fragte ich.

Nein, keine Brieftasche. Nur der Taschenkalender, dessen erste Seite ordentlich ausgefüllt worden war — nächster Angehöriger: Derek Franklin, Bruder; dazu die Telefonnummer. Zuvor hatten sie über keinerlei Hinweise verfügt, sah man einmal von den Initialen G. S. F. ab, die oben auf der Brusttasche seines zerrissenen und blutbefleckten Hemdes eingestickt waren.

«Ein Seidenhemd«, hatte die Schwester mißbilligend hinzugefügt, als ob mit Monogramm bestickte Seidenhemden irgendwie etwas Unmoralisches seien.

«Nichts in seinen Taschen?«fragte ich.

«Ein Schlüsselbund und ein Taschentuch. Das war alles. Man wird Ihnen diese Sachen natürlich zusammen mit dem Kalender, seiner Uhr und seinem Siegelring aushändigen.«

Ich nickte. Es war nicht nötig zu fragen, wann.

Der Nachmittag zog sich hin, fremd und unwirklich, ein unendlich gedehntes Übergangsstadium. Ich ging wieder zu Greville hinein, um eine Weile bei ihm zu sein, aber er lag bewegungs- und wahrnehmungslos in seinem dahinschwindenden Dämmerlicht, in kaum merklicher Weise schon nicht mehr er selbst. Wenn Wordsworth recht hatte mit dem, was er über die Unsterblichkeit gesagt hat, so war das Leben Schlaf und Vergessen, der Tod aber ein Wiedererwachen — vielleicht sollte ich um Greville da nicht trauern, sondern mich eher für ihn freuen.

Ich dachte an ihn, wie er einmal gewesen war, und an unser Leben als Brüder.

Wir hatten nie zusammen in einem Familienverband gelebt, denn als ich geboren wurde, studierte er schon und baute sich eine eigene Existenz auf. Als ich sechs war, heiratete er, als ich zehn wurde, ließ er sich scheiden. Jahrelang war er für mich nicht viel mehr als ein Halbfremder, den ich zumeist nur kurz bei Familienzusammenkünften traf — bei Festen, die immer seltener stattfanden, weil unsere Eltern älter wurden und starben, und die ganz aufhörten, als die beiden Schwestern, die die Lücke zwischen Greville und mir füllten, auswanderten, die eine nach Australien, die andere nach Japan.

Ich war schon 28 Jahre alt, als wir uns nach langwährendem Austausch höflicher Weihnachts- und Geburtstagskarten völlig unverhofft auf einem Bahnsteig trafen und während der dann folgenden Fahrt zu Freunden wurden. Auch dann nicht zu engen, viel Zeit miteinander verbringenden Freunden, aber einander doch zugetan genug, um gelegentlich anzurufen oder zusammen essen zu gehen und uns wohl dabei zu fühlen.

Wir waren in ganz verschiedenen Welten aufgewachsen

— Greville in dem stattlichen Londoner Haus, das zu der Tätigkeit unseres Vaters als Manager bei einem der großen Grundbesitzer gehörte, und ich in dem behaglichen Landhaus seines Ruhestandes. Greville war von unserer Mutter in Museen, Galerien und ins Theater mitgenommen worden, ich hatte Ponys geschenkt bekommen.

Wir sahen uns nicht einmal besonders ähnlich. Greville war — wie unser Vater- um die einsachtzig groß, ich etwa zehn Zentimeter kleiner. Grevilles Haar, das nun grau wurde, war hellbraun und glatt gewesen, meines von dunklerem Braun und gelockt. Von der Mutter hatten wir beide die goldbraunen Augen und die guten Zähne, vom

Vater den Hang zur Hagerkeit geerbt, aber unsere Gesichter waren, obwohl beide durchaus gut geschnitten, doch sehr verschieden.

Greville konnte sich am besten an die aktiven Jahre unserer Eltern erinnern, ich war in der Zeit ihrer Krankheit und ihres Sterbens bei ihnen gewesen. Unser Vater war zwanzig Jahre älter als unsere Mutter gewesen, aber sie war vor ihm gestorben, was mir ungeheuer unfair vorgekommen war. Der alte Herr und ich hatten danach noch eine kurze Zeit in tolerantem gegenseitigem Nichtverstehen zusammengelebt, obwohl ich nie daran gezweifelt habe, daß er mich auf seine Art sehr wohl mochte. Er war bei meiner Geburt 62 gewesen und an meinem 18. Geburtstag gestorben, mir ausreichende Mittel für die Fortsetzung meiner Ausbildung und einen Brief voller Ermahnungen und Anweisungen hinterlassend, von denen ich einige befolgt habe.

Grevilles Ruhe war vollkommen. Ich dagegen war unruhig, fühlte mich an meinen Krücken höchst unbehaglich und dachte daran, um einen Stuhl zu bitten. Ich würde ihn nicht noch einmal lächeln sehen, dachte ich — nicht dieses Aufblitzen in den Augen und das Leuchten der Zähne, nicht das schnelle Erfassen des schwarzen Humors dieses Daseins, nicht das Bewußtsein der eigenen Stärke.

Er war Richter, Friedensrichter, und er importierte und verkaufte Schmucksteine. Von diesen nackten Tatsachen einmal abgesehen, wußte ich nur recht wenig von seiner Alltagsexistenz, denn wenn wir zusammengekommen waren, schien er sich stets mehr für mein Tun und Treiben zu interessieren als für das seine. Er besaß auch Pferde — dies von dem Tage an, als er mich angerufen und um meine Meinung gebeten hatte: Einer seiner Schuldner hatte ihm bei Fälligkeit der Schuld statt Geld sein Rennpferd angeboten. Was ich davon hielte. Ich sagte, ich würde zurück-rufen, holte Auskünfte über das Pferd ein, kam zu dem Schluß, daß das ein guter Handel sei, und sagte Greville, er solle auf das Angebot eingehen, wenn er das noch wolle.

«Wüßte nicht, was dagegen spräche«, hatte er erwidert.»Erledigst du den Papierkram?«

Ja, natürlich, hatte ich gesagt, ich würde mich darum kümmern. Es fiel niemandem schwer, den Wünschen meines Bruders zu entsprechen — viel schwerer war es, auch mal nein zu sagen.

Das Pferd hatte ihm hübschen Gewinn gebracht und ihn dadurch zu weiteren Käufen ermutigt, obwohl er nur selten zu den Rennen ging, bei denen seine Pferde liefen. Das war für einen Besitzer durchaus nichts Ungewöhnliches, für mich aber blieb es ein Rätsel. Er weigerte sich strikt, auch Springpferde zu erwerben, und begründete das damit, daß er dann in die Gefahr käme, etwas zu kaufen, was mich umbringen könnte. Für Flachrennen war ich zu groß, und deshalb fühlte er sich da sicher. Ich konnte ihm nie begreiflich machen, daß ich gern für ihn reiten würde, und gab am Ende meine entsprechenden Versuche auf. Wenn sich Greville einmal zu etwas entschlossen hatte, dann war er nicht mehr davon abzubringen.

Etwa alle zehn Minuten kam leise eine Krankenschwester herein, stand für kurze Zeit neben dem Bett und kontrollierte, ob alle Elektroden und Schläuche noch in Ordnung waren. Sie lächelte mir kurz zu und meinte einmal, daß mein Bruder meine Anwesenheit doch gar nicht wahrnähme und sie ihm deshalb auch kein Trost sein könne.

«Ich bin genausosehr um meinet- wie um seinetwillen hier«, sagte ich.

Sie nickte und ging wieder hinaus, und ich blieb noch ein paar Stunden, lehnte an der Wand und dachte über die

Ironie des Schicksals nach, daß er nun durch einen zufälligen Unfall ums Leben kam, wo doch ich derjenige war, der die Hälfte des Jahres das seine in höchst rühriger Weise aufs Spiel setzte.

Wenn ich heute auf diesen sich in die Länge ziehenden Abend zurückblicke, erscheint es mir auch seltsam, daß ich mir damals überhaupt keine Gedanken über die Folgen seines Todes machte. Die Gegenwart war selbst noch in diesen stillen, dahinschwindenden Stunden von starker Lebendigkeit, und alles, was ich in der Zukunft zu sehen vermochte, war ein ziemlich langweiliges, aus Formula-rausfüllerei und Beerdigungsvorbereitungen bestehendes Programm, über das im einzelnen nachzudenken ich keinerlei Lust verspürte. Ich würde, wie ich vage vermutete, die Schwestern anrufen müssen, und vielleicht kam es ja auch zu ein bißchen Trauer aus der Ferne, aber ich wußte auch schon, daß sie schließlich sagen würden:»Du kannst dich doch darum kümmern, nicht wahr? Alles, was du veranlassen wirst, soll uns recht sein. «Sie würden nicht um die halbe Welt gereist kommen, um da in trauervollem Nieselregen am Grabe eines Bruders zu stehen, den sie in zehn Jahren vielleicht zweimal gesehen hatten.

Mehr als das ging mir nicht durch den Kopf. Das Band gemeinsamen Blutes war alles, was Greville und mich wirklich verband, und sobald es gelöst war, würde nichts bleiben als die Erinnerung an ihn. Von Traurigkeit erfüllt, beobachtete ich den an seinem Hals unregelmäßig zuk-kenden Puls. Wenn er nicht mehr zu sehen sein würde, würde ich in mein eigenes Leben zurückkehren und gelegentlich mit Wärme an ihn denken, mich mit einem Gefühl allgemeinen Kummers dieser Nacht erinnern, aber mehr nicht.

Ich kehrte in das Wartezimmer zurück, um meinen Beinen ein wenig Ruhe zu gönnen. Die verzweifelten jungen

Eltern waren noch da, hohläugig und eng umschlungen, aber bald darauf erschien eine düster dreinblickende Schwester, um sie zu holen, und wenig später hörte ich dann das ansteigende Wehklagen der Mutter, die den erlittenen Verlust beweinte. Ich fühlte das Prickeln von Tränen, die ihr, einer Fremden, galten. Ein totes Kind, ein sterbender Bruder, ein alle verbindendes Elend. Der Tod des Kindes ließ mich in diesem Augenblick wirklich intensiv um meinen Bruder Greville trauern, und es wurde mir bewußt, daß ich mich, was das Ausmaß meines Schmerzes anbetraf, geirrt hatte. Ich würde ihn sehr vermissen.

Ich legte mein Fußgelenk hoch, bettete es auf einen Stuhl und döste immer wieder ein. Irgendwann vor Anbruch des Tages erschien die gleiche Schwester mit dem gleichen Gesichtsausdruck, um nun mich abzuholen.

Ich folgte ihr über den Flur und in Grevilles Zimmer. Diesmal brannten sehr viel mehr Lampen darin, waren sehr viel mehr Menschen anwesend, und die mit Monitoren ausgestatteten Geräte hinter dem Bett waren eingeschaltet worden. Blasse grüne Linien bewegten sich über die Bildschirme, einige in regelmäßigen Zuckungen, andere kompromißlos gerade.

Man brauchte mir nichts zu sagen, aber sie erklärten es mir trotzdem. Die geraden Linien zeigten die Summe aller Hirnaktivitäten an, das heißt, es waren nicht die geringsten mehr vorhanden.

Es gab keinen persönlichen Abschied. Der hatte ja auch keinen Sinn. Ich war dort, und das war genug. Sie erbaten und erhielten meine Zustimmung zur Abschaltung der Apparate, und bald wurden auch die noch pulsierenden Linien gerade — und was immer in dem stillen Körper gewesen sein mochte, war nun nicht mehr da.

Es dauerte lange, bis sich an diesem Morgen irgend etwas erledigen ließ, denn es stellte sich heraus, daß Sonntag war.

Ich versuchte mich zu erinnern, da ich jede zeitliche Orientierung verloren hatte. Am Donnerstag hatte ich mir den Knöchel gebrochen, am Freitag war das Baugerüst auf Greville herabgestürzt, am Samstag hatte mich Brad nach Ipswich gefahren. Das alles schien unendlich weit weg zu sein — gelebte Relativität.

Es bestand, wie es schien, die Möglichkeit, daß die Gerüstbaufirma schadensersatzpflichtig war, weshalb man mir riet, einen Anwalt zu konsultieren.

Während ich mich durch den Papierberg arbeitete und versuchte, Entscheidungen zu treffen, wurde mir klar, daß ich gar nicht wußte, was eigentlich Grevilles Wille war. Wenn er irgendwo ein Testament hinterlegt hatte, so waren da vielleicht Dinge verfügt, die ich ausführen sollte. Der Gedanke durchzuckte mich, daß wohl außer mir niemand sonst von seinem Ableben wußte. Es gab sicher Leute, die ich benachrichtigen mußte — aber ich hatte keine Ahnung, wer sie waren.

Ich fragte, ob ich den Taschenkalender bekommen könne, der am Unfallort gefunden worden war, und sofort übergab man mir nicht nur das Büchlein, sondern auch all die anderen Dinge, die mein Bruder bei sich gehabt hatte: Schlüsselbund, Uhr, Taschentuch, Siegelring, ein bißchen Kleingeld, Schuhe, Socken, Jacke. Die übrigen Kleidungsstücke, zerfetzt und blutgetränkt, waren, wie es schien, verbrannt worden. Man forderte mich auf, den Empfang der Gegenstände mit meiner Unterschrift zu bestätigen, wobei vorher jeder einzelne bei der Übergabe abgehakt worden war.

Es war alles aus dem großen braunen Plastikbeutel ausgeschüttet worden, in dem man die Sachen aufbewahrt

hatte. Auf beiden Seiten des Beutels stand in weißer Schrift» St. Catherine’s Hospital«. Ich tat Schuhe, Socken, Taschentuch und Jacke wieder in den Beutel zurück und zog die Schnur zu. Dann steckte ich den großen Schlüsselbund in meine Hosentasche, ebenso den Ring, die Uhr und das Geld, und besah mir sodann den Kalender.

Auf der ersten Seite hatte er seinen Namen eingetragen, dazu die Telefonnummern seiner Wohnung und seiner Firma, aber keine Adressen. Unten auf der Seite, wo» Bei Unfall bitte benachrichtigen «stand, hatte er» Derek Franklin, Bruder, nächster Angehöriger «hingeschrieben.

Der Taschenkalender war der, den ich ihm zu Weihnachten geschenkt hatte — es war der Rennkalender, den der Verband der Jockeys zusammen mit dem Fonds für verletzte Jockeys herausgab Daß er ausgerechnet diesen Kalender benutzt hatte, wo er doch sicherlich noch eine ganze Reihe anderer überreicht bekommen hatte, überraschte und rührte mich. Daß er meinen Namen darin vermerkt hatte, war erstaunlich, und ich fragte mich, was er wohl von mir gehalten haben mochte — was wir einander hätten bedeuten können, und was wir versäumt hatten.

Ich steckte den Kalender traurig in meine andere Hosentasche. Morgen früh würde ich wohl in der Firma anrufen und die schreckliche Nachricht übermitteln müssen. Vorher konnte ich niemanden informieren, da ich weder die Namen noch die Telefonnummern der Leute kannte, die für ihn arbeiteten. Ich wußte nur, daß er keine Partner hatte, weil er des öfteren betont hatte, daß er sein Unternehmen nur allein führen könne. Partner spielten einem zu oft Streiche, hatte er gemeint, und davon wolle er nichts wissen.

Als ich alle Unterschriften geleistet hatte, wickelte ich die Schnur des Plastikbeutels ein paarmal um mein Handgelenk und schleppte ihn und mich an den Krücken hinun-ter in die Eingangshalle, die an diesem Sonntagmorgen mehr oder minder verlassen war. Auch Brad war nicht da, hatte auch keine Nachricht beim Pförtner hinterlassen, weshalb ich mich einfach hinsetzte und wartete. Ich zweifelte nicht, daß er, finster dreinblickend wie eh und je, irgendwann nach eigenem Gutdünken zurückkehren würde. Genau dies tat er schließlich auch und schlurfte ohne das geringste Anzeichen von Hast zur Tür herein.

Er erspähte mich, näherte sich mir bis auf drei Meter, fragte» Soll ich mal das Auto holen?«, und als ich nickte, drehte er ab und verschwand wieder. Ein Mann von wenigen Worten, dieser Brad. Ich folgte ihm langsam, wobei der Plastikbeutel unaufhörlich gegen die Krücke schlug. Wenn ich schneller gedacht hätte, hätte ich ihn Brad mitgegeben, aber es hatte ganz den Anschein, als sei ich in gar keiner Weise zu schnellem Denken in der Lage.

Draußen schien die Oktobersonne hell und warm. Ich atmete die milde Luft tief ein, machte noch ein paar Schritte von der Tür weg, wartete geduldig weiter — und war nicht im geringsten darauf gefaßt, brutal überfallen zu werden.

Ich erkannte kaum, wer es war. Eben noch aufrecht dastehend, unkonzentriert auf meine Krücken gestützt, erhielt ich im nächsten Augenblick einen rammbockartigen Stoß ins Kreuz und stürzte nach vorn auf den harten schwarzen Asphalt der Einfahrt. In dem Versuch, mich zu retten, stellte ich ganz instinktiv den linken Fuß auf den Boden, der sich verdrehte, was schmerzhaft war und nichts brachte. Halb von Sinnen, flog ich flach auf den Bauch, und es war mir schon fast gleichgültig, als jemand gegen die eine der zu Boden gefallenen Krücken trat, so daß sie weit davonrutschte, und dann an dem noch an meinem Handgelenk hängenden Beutel zerrte.

Er… es mußte ein Er sein, dachte ich, bei dieser Schnelligkeit und Stärke… er setzte mir einen Fuß in den Nak-ken und legte sein ganzes Gewicht darauf. Dann zog er meinen einen Arm hart nach oben und vorn und durchtrennte die Plastikschnur mit schnellem Schnitt, wobei auch ein Stück der Haut meines Handgelenks daran glauben mußte. Ich spürte es kaum. Die Botschaften, die mein linkes Fußgelenk aussandte, verdrängten alles andere.

Eine Stimme näherte sich, rief mit Nachdruck» He! He!«, und der Angreifer ließ von mir ab und verschwand so schnell, wie er gekommen war.

Es war Brad, der zu meiner Rettung erschienen war. An jedem anderen Tag der Woche wären wahrscheinlich andauernd irgendwelche Menschen vorbeigekommen, nicht aber an einem Sonntagmorgen. Niemand sonst schien da zu sein und etwas bemerkt zu haben. Nur Brad war herbeigerannt.

«Schöne Scheiße«, sagte er über mir.»Alles in Ordnung?«

Weit gefehlt, dachte ich.

Er ging und holte die weggetretene Krücke zurück.»Ihre Hand blutet ja«, sagte er ungläubig.»Wolln Sie nicht aufstehn?«

Ich war mir da nicht so sicher, aber es schien mir gar nichts anderes übrig zu bleiben. Als ich eine einigermaßen aufrechte Stellung eingenommen hatte, betrachtete er ungerührt mein Gesicht und äußerte dann die Ansicht, daß wir lieber ins Krankenhaus zurückkehren sollten. Da mir nicht nach einer Auseinandersetzung zumute war, taten wir das.

Ich setzte mich ans Ende einer der langen Bänke und wartete darauf, daß die Flut der Schmerzen abebben würde. Als ich dann die Dinge wieder ein bißchen besser unter Kontrolle hatte, ging ich hinüber zur Aufnahme und schilderte dort, was sich ereignet hatte.

Die Frau hinter der Glasscheibe war entsetzt.

«Jemand hat Ihnen Ihren Plastikbeutel gestohlen?«sagte sie mit weit aufgerissenen Augen.»Ich meine, jeder hier weiß, was diese Beutel zu bedeuten haben, sie werden immer für die Sachen der Leute genommen, die gestorben sind oder die nach Unfällen hier eingeliefert werden. Ich meine, jeder weiß, daß Brieftaschen und Schmuck und so weiter da drin sein können, aber ich habe noch nie gehört, daß jemandem eine weggeschnappt worden ist. Wie fürchterlich! Was haben Sie alles verloren? Sie melden das besser der Polizei!«

Die Vergeblichkeit solchen Tuns erfüllte mich mit Müdigkeit. Irgend so ein Punker hatte es darauf ankommen lassen und gehofft, daß die Hinterlassenschaft des Toten das Risiko wert sein würde — und die Polizei würde den Tathergang aufnehmen und dann zu der Mehrzahl der un-gesühnten Raubüberfälle legen. Ich war wohl, wie ich annahm, der Kategorie der Verwundbarsten zugeordnet worden, zu der vor allem kleine alte Damen gehörten, und so schmerzhaft diese Vorstellung für mich auch sein mochte, Tatsache blieb doch, daß ich da auf meinen Krücken nicht nur wie ein Kinderspiel ausgesehen hatte, sondern auch eins gewesen war, und das ganz buchstäblich.

Ich schlurfte unter Schmerzen in den Waschraum und ließ kaltes Wasser über meine blutende Hand laufen, wobei ich entdeckte, daß der Schnitt breiter als tief und wohl eher als Hautabschürfung zu klassifizieren war. Seufzend betupfte ich mit einem Papierhandtuch die scharlachrot hervorsickernden Flecken, wickelte die noch an meinem Handgelenk hängenden Stückchen von weißem und braunem Plastik ab und warf sie in den Papierkorb. Was für ein hirnrissiges, fast enttäuschend wirkendes Postscriptum zu dem Unfall, der meinen Bruder das Leben gekostet hatte!

Als ich wieder nach draußen kam, fragte mich Brad mit einer gewissen Ängstlichkeit:»Wolln Sie also zur Polente gehn?«und entspannte sich sichtbar, als ich den Kopf schüttelte und sagte:»Nein. Nur wenn Sie eine genaue Beschreibung der Person liefern können, die mich attackiert hat.«

Ich vermochte seinem Gesichtsausdruck nicht zu entnehmen, ob er dazu in der Lage gewesen wäre oder nicht. Ich gedachte ihn später auf der Heimfahrt danach zu fragen, aber als ich dies dann tat, sagte er nur:»Er hatte Jeans an und so eine von diesen Wollmützen auf dem Kopp. Und er hatte ein Messer. Ich konnte sein Gesicht nicht sehn, irgendwie hatte er den Rücken in meine Richtung, aber die Sonne blitzte in seinem Messer, verstehn Sie? Ging alles so schnell. Ich dachte schon, Sie wär’n hin. Dann rannte er mit dem Beutel weg. Sie haben verdammt Glück gehabt, würde ich mal sagen.«

Ich fühlte mich gar nicht glücklich, aber es war ja alles relativ.

Nachdem Brad diese für seine Verhältnisse lange Rede gehalten hatte, verfiel er wieder in das für ihn normale Schweigen, und ich dachte, was der Bandit wohl von seiner aus Schuhen, Socken, Taschentuch und Jacke bestehenden Beute halten würde, deren Verlust bei nüchterner Betrachtung keine Anzeige wert war. Was immer Greville an Wertvollem bei sich gehabt haben mochte, hatte mit Sicherheit in seiner Brieftasche gesteckt — und die war wohl einem früheren Räuber in die Hände gefallen.

Ich hatte Hemd, Schlips und Pullover angehabt, beziehungsweise hatte diese Sachen noch immer an, jedenfalls aber kein Jackett. Ein Pullover war bei den Krücken praktischer als eine Jacke. Es war sinnlos, sich die Frage zu stellen, ob der Dieb auch meine Hosentaschen noch geleert hätte, wenn Brad nicht dazwischengekommen wäre.

Sinnlos ebenfalls die Frage, ob er mir sein Messer auch zwischen die Rippen gestoßen hätte. Das ließ sich einfach nicht sagen. Sagen ließ sich nur, daß ich ihn nicht hätte abwehren können und daß seine Beute in jedem Falle mager gewesen wäre. Außer Grevilles Sachen hatte ich — da ich alter Gewohnheit gemäß mit leichtem Gepäck zu reisen pflegte — nur eine Kreditkarte und ein paar Geldscheine in einer kleinen Börse bei mir.

Ich hörte auf, weiter über die Sache nachzudenken, und fragte mich statt dessen und um mich von meinem Knöchel abzulenken, was Greville wohl in Ipswich gemacht haben mochte. Fragte mich, ob dort vielleicht jemand seit Freitag auf seine Ankunft wartete. Fragte mich, ob er sein Auto irgendwo dort geparkt hatte, und wenn ja, wie ich es je finden würde — eingedenk der Tatsache, daß ich dessen Zulassungsnummer nicht kannte und auch nicht wußte, ob er noch seinen Porsche fuhr. Aber irgend jemand würde das schon wissen, dachte ich unbekümmert. Seine Mitarbeiter in der Firma, seine Autowerkstatt um die Ecke, ein Freund. Das war alles nicht mein eigentliches Problem.

Als wir drei Stunden später Hungerford wieder erreichten, hatte Brad inzwischen nur noch angemerkt, daß uns der Sprit ausgehe (wogegen wir etwas unternommen hatten) und — eine halbe Stunde von zu Hause entfernt — daß er, falls ich ihn auch in der kommenden Woche noch als Fahrer gebrauchen könne, gern zur Verfügung stehe.

«Halb acht morgen früh?«schlug ich nach kurzem Nachdenken vor, und er gab ein grollendes Geräusch von sich, das ich als Zustimmung deutete.

Er fuhr mich bis vor die Haustür, half mir wieder aus dem Wagen, reichte mir meine Krücken, schloß das Auto ab und drückte mir die Schlüssel in die Hand — alles ohne ein einziges Wort zu sagen.

«Danke«, sagte ich.

Er neigte den Kopf, ohne mich anzusehen, wandte sich um und trottete zu Fuß dem Hause seiner Mutter zu. Ich sah ihm nach — diesem schüchternen, schwierigen Menschen ohne alle gesellschaftlichen Umgangsformen, der mir wahrscheinlich an diesem Morgen das Leben gerettet hatte.

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