Kapitel 3

Während die Arbeiter der Glaserei den Fensterrahmen ausmaßen, sah ich dem ältesten von Grevilles Angestellten dabei zu, wie er durchsichtige Tüten mit Perlen aus einer Pappschachtel nahm, sie in gefütterte Umschläge tat und diese in einen Karton stapelte. Als alles drin war, legte er einen Lieferschein obenauf, schloß den Deckel und klebte den Karton dann mit verstärktem Klebeband zu.

«Wo kommen diese Perlen her?«fragte ich.

«Taiwan, würde ich sagen«, meinte er kurz und versah das Paket mit einem großen Adressenaufkleber.

«Nein… ich meinte, wo die hier aufbewahrt werden.«

Er sah mich mit mitleidsvollem Erstaunen an — diese weißhaarige, großväterliche Gestalt, die in einem braunen Overall steckte, wie ihn Lagerarbeiter tragen.»Im Lagerraum natürlich.«

«Natürlich.«

«Hinten am Gang«, sagte er.

Ich kehrte in Grevilles Büro zurück und fragte Annette im Interesse guter Public Relations, ob sie mir den Lagerraum zeigen könne. Ihr eher düsteres Gesicht erstrahlte vor Freude, und sie führte mich zum äußersten Ende des Flures.

«Hier sind sie«, sagte sie mit unverkennbarem Stolz und trat durch eine Mitteltür in einen kleinen, inneren Flur.

«Es sind nämlich vier Räume«, erklärte sie und zeigte auf offene Türen.»Da drin sind die Cabochons, die geschliffenen, aber nicht facettierten Steine, oval und rund, dort die Perlen, dort seltene Stücke und dort organische Materialien.«

«Was sind organische Materialien?«fragte ich.

Sie führte mich in den entsprechenden Raum, dessen Wände mit schmalen, vom Boden bis in Schulterhöhe reichenden grauen Blechschränken vollgestellt waren. Die einzelnen Schubladen hatten etwa die Größe von Schuhkartons, und auf allen war über dem Griff ein Etikett angebracht, das Auskunft über den jeweiligen Inhalt gab.

«Organische Materialien sind die, die gewachsen sind«, sagte Annette geduldig, und es ging mir durch den Kopf, daß ich da vielleicht selber hätte drauf kommen sollen.»Zum Beispiel Korallen. «Sie zog eines der in ihrer Reichweite befindlichen Schubfächer auf, das sich als zwar schmal, aber sehr tief erwies, und zeigte mir seinen Inhalt — durchsichtige Plastiktüten, alle gefüllt mit unzähligen hellroten Zweiglein.»Italienisch«, sagte sie.»Die besten Korallen kommen aus dem Mittelmeer. «Sie schloß das Schubfach wieder, ging etwas weiter und zog ein anderes auf.»Abalone, also eine Meeresschnecke. «Ein weiteres:»Elfenbein. Wir haben noch ein bißchen was davon, können es augenblicklich aber nicht verkaufen. «Noch ein anderes:»Perlmutt. Das verkaufen wir tonnenweise. «Dann» Rosa Flußmuscheln«,»Süßwasserperlen«,»Kunstperlen, die Zuchtperlen sind im Tresorraum.«

Alles schien in Dutzenden von Größen und Formen vorhanden zu sein. Annette lächelte über meinen verwirrten Gesichtsausdruck und bat mich, ihr in den Nebenraum zu folgen.

Auch hier vom Boden bis in Schulterhöhe reichende Metallschränke, hier aber nicht nur an den Wänden, sondern auch im Raum, mit Gängen dazwischen, wie Regale in einem Supermarkt.

«Cabochons, für Ringe und so etwas«, sagte Annette.»In alphabetischer Reihenfolge.«

Von Amethyst bis Türkis — über Granat, Jade, Lapislazuli und Onyx, dazu mehr als ein Dutzend weitere, von denen ich noch nie gehört hatte.»Halbedelsteine«, sagte Annette kurz.»Alles echte Steine. Mr. Franklin rührt Glas und Kunststoff nicht an. «Sie verstummte abrupt, ließ fünf Sekunden verstreichen.»Er faßte so etwas nicht an«, sagte sie dann matt.

Seine Gegenwart war noch stark spürbar, dachte ich. Es war einem fast so, als würde er gleich energiegeladen durch die Tür da hereinkommen und» Hallo Derek, was führt dich denn hierher?«sagen — und wenn er schon mir noch lebendig erschien, der ich ihn doch tot gesehen hatte, um wieviel stärker körperlich präsent mußte er dann für Annette und June noch sein!

Und auch für Lily, wie ich vermutete. Lily war im dritten Lagerraum damit beschäftigt, einen braunen Pappkarton auf so etwas wie einem Teewagen umherzurollen, Tüten voller Kügelchen aus den Schubladen zu sammeln und anhand einer Liste zu überprüfen. Mit ihrem in der Mitte geteilten und im Nacken in einer Spange wieder zusammengeführten Haar, ihrem schmalen, blassen Mund und den runden Backen sah Lily aus wie eine Gouvernante bei Charlotte Bronte, und ihre Kleidung erweckte den Eindruck, als sei Selbstaufopferung ihr höchstes Ziel. Der Typ, der den Meister schweigend verehrt, dachte ich und fragte mich, was sie wohl für Greville empfunden haben mochte.

Was das auch immer gewesen war — Lily ließ sich nichts anmerken. Sie hob die gesenkten Augen nur zu einem kurzen Blick in mein Gesicht und erklärte mir, von Annette dazu aufgefordert, daß sie gerade dabei sei, für einen der größten Schmuckhersteller des Landes eine Sendung von Jaspis, Rhodonit, Aventurin und Tigerauge zusammenzustellen.

«Wir importieren diese Steine«, sagte Annette.»Wir sind Großhändler und verkaufen an etwa dreitausend Juweliere, vielleicht noch mehr. Ein paar der ganz großen, viele kleine. Wir sind auf dem Gebiet der Schmucksteine die Nummer eins. Sehr angesehen. «Sie schluckte.»Die Leute vertrauen uns.«

Greville war, das wußte ich, in der ganzen Welt herumgereist, um Steine zu kaufen. Wenn wir uns getroffen hatten, war er oft im Aufbruch nach Arizona oder Hongkong gewesen oder soeben erst aus Israel zurückgekehrt, aber er hatte mir nie mehr als die Reiseziele verraten. Jetzt war mir klar, was er gemacht hatte — und auch, daß er nicht so leicht zu ersetzen sein würde.

Einigermaßen deprimiert kehrte ich in sein Büro zurück und rief seinen Steuerberater und seine Bank an.

Sie waren schockiert, und sie waren hilfsbereit, letzteres in beeindruckendem Maße. Der Banker sagte, es sei unumgänglich, daß ich ihn am folgenden Tag aufsuche, aber als Aktiengesellschaft könne die Firma den Geschäftsbetrieb ohne weiteres fortsetzen. Ich könne sie ohne Schwierigkeiten übernehmen. Alles, was er brauche, sei eine Bestätigung der Anwälte meines Bruders, daß sein Testament meiner diesbezüglichen Aussage entspreche.

«Vielen Dank«, sagte ich leicht überrascht, und er erklärte mit Wärme, daß er mir gern zu Diensten sei. Grevilles Geschäft, dachte ich mit einem Lächeln, mußte erstaunlich gesund sein.

Auch für die Versicherungsgesellschaft schien der Tod meines Bruders kaum ein Problem zu sein. Die Versicherung einer AG lief, wie es schien, stetig weiter, war es doch diese, die da versichert war, und nicht mein Bruder. Ich sagte, daß ich gern die Erstattung der Reparaturkosten für das eingeschlagene Fenster beantragen würde. Gar keine Sache! Sie würden mir ein entsprechendes Formular zuschicken.

Danach rief ich das Beerdigungsinstitut in Ipswich an, das damit beauftragt worden war, Grevilles Leichnam aus dem Krankenhaus abzuholen, und teilte mit, daß er eingeäschert werden solle. Sie sagten, sie hätten» da noch eine Lücke «am Freitag um zwei Uhr, ob das genehm sei?

«Ja«, sagte ich seufzend,»ich werde da sein.«

Sie nannten mir mit gedämpft-unterwürfiger Stimme die Anschrift des Krematoriums, und ich fragte mich, wie das wohl sein mußte, immer nur mit Hinterbliebenen zu tun zu haben. Um wieviel schöner war es doch, den Lebenden glitzernde Klunker zu verkaufen oder bei der Steeplechase mit dreißig Meilen pro Stunde auf Pferden dahinzujagen und zu gewinnen, zu verlieren oder sich die Knochen zu brechen.

Ich erledigte noch einen Anruf, telefonierte diesmal mit meinem Orthopäden und rannte wie gewöhnlich gegen die Mauer seiner Vorzimmerdame. Er sei nicht in seiner Privatpraxis, sondern in der Klinik.

Ich sagte:»Würden Sie so gut sein und ihn bitten, mir irgendwo ein Rezept zu hinterlegen, denn ich bin auf meinen Knöchel gefallen und habe ihn mir verdreht, und mein Distalgesic wird knapp.«

«Warten Sie mal«, sagte sie, und ich wartete, bis sie sich wieder meldete.»Ich habe eben mit ihm gesprochen«, sagte sie.»Er wird später wieder hier sein. Er fragt, ob Sie um fünf herkommen könnten.«

Ich sagte voller Dankbarkeit, daß sich das einrichten ließe, und rechnete mir aus, daß ich wohl bald nach halb drei los müßte, um mit Sicherheit zu dem genannten Zeitpunkt bei ihm zu sein. Ich teilte das Annette mit und fragte sie, was geschähe, wenn das Geschäft abgeschlossen würde.

«Mr. Franklin kommt gewöhnlich als erster und geht als letzter. «Sie brach verwirrt ab, sagte dann:»Ich meine.«

«Ich weiß«, sagte ich.»Ist schon gut. Ich denke auch noch im Präsens an ihn. Fahren Sie doch bitte fort.«

«Nun, die doppelten Eingangstüren werden von innen verriegelt. Die Tür zwischen dem Vorraum und den Büros hat, wie Sie ja wissen, ein elektronisches Schloß. Das gilt auch für die Tür zwischen Flur und Lagerräumen. Und für die rückwärtige Tür, durch die wir alle aus- und eingehen. Mr. Franklin wechselt. wechselte. die Kombination zumindest wöchentlich. Und es gibt natürlich auch noch ein elektronisches Schloß an der Tür zwischen dem Vorraum und dem Ausstellungsraum und an der, die vom Flur in den Ausstellungsraum führt…«Sie machte eine Pause.»Das scheint eine Menge zu sein, aber diese elektronischen Schlösser sind eigentlich ziemlich simpel. Sie brauchen sich nur drei Zahlen zu merken. Vergangenen Freitag lauteten sie fünf, drei, zwei. Die Schlösser sind leicht zu handhaben. Mr. Franklin ließ sie einbauen, damit wir hier nicht so viele Schlüssel herumliegen hätten. Er und ich haben jedoch jeweils einen Schlüssel, mit dem sich die elektronischen Schlösser auch manuell öffnen lassen, falls dies mal erforderlich sein sollte.«

«Ihnen sind also die Zahlen wieder eingefallen?«fragte ich.

«O ja. Es war nur heute morgen, mit allem… sie waren einfach weg.«

«Und der Tresorraum«, sagte ich.»Hat der auch irgendeine Elektronik?«

«Nein, aber er hat ein sehr kompliziertes Verriegelungssystem in der schweren Tür da, obwohl es von außen so einfach aussieht. Mr. Franklin schließt… schloß den Tresorraum stets ab, wenn er ging. Wenn er auf längeren Reisen unterwegs war, machte er mir den Schlüssel zugänglich.«

Ich wunderte mich kurz über diese etwas unbeholfene Ausdrucksweise, verfolgte die Sache aber nicht weiter. Ich fragte sie statt dessen nach dem Ausstellungsraum, den ich noch nicht gesehen hatte, und wieder ging sie voller Stolz vor mir her auf den Flur hinaus, gab einem glänzenden Türknauf aus Messing die Sesam-öffne-dich-Zahlen ein und bat mich dann in einen Raum mit ganz normalen Fenstern, der sonst aber dank der gläsernen Vitrinen und Verkaufstische und des allgemeinen, das Unternehmen kennzeichnenden Ambientes der Wohlhabenheit ganz wie ein Geschäft aussah.

Annette schaltete starke Spotlights ein, und der Raum erwachte zum Leben. Sie begab sich zufrieden zu den Verkaufstischen und erläuterte mir, was dort ausgestellt war und jetzt im Licht leuchtete.

«Hier drin finden sich Musterstücke von allem, was wir am Lager haben, natürlich nicht in allen Größen und auch nicht von den geschliffenen Steinen im Tresorraum. Wir benutzen diesen Ausstellungsraum eigentlich nicht sehr oft, meistens nur, wenn neue Kunden kommen, aber ich bin gern hier. Ich liebe diese Steine. Sie sind so faszinierend. Mr. Franklin meint, Steine seien die einzigen Dinge, die der Mensch der Erde entnähme und schöner mache. «Sie hob ein Gesicht, das vom erlittenen Verlust umwölkt war.»Was wird ohne ihn werden?«

«Ich weiß es noch nicht«, sagte ich,»aber kurzfristig werden wir erst einmal alle Aufträge annehmen und ausführen. Und weiter Ware bei den Lieferanten kaufen, von denen Sie sie normalerweise bezogen haben. Wir halten uns vorläufig an die gegebene Routine und die üblichen Praktiken. Okay?«

Sie nickte, zumindest für den Augenblick beruhigt.

«Mit Ausnahme der Tatsache, daß Sie es jetzt sind, die als erste kommt und als letzte geht«, fügte ich hinzu.»Wenn Ihnen das recht ist.«

Wir blickten uns kurz an und verstanden uns auch ohne Worte. Dann schaltete sie die Beleuchtung im Ausstellungsraum wieder aus, fast so, als sei dies eine symbolische Handlung, und zog, nachdem wir hinausgegangen waren, die sich selbst verriegelnde Tür hinter uns zu.

Wieder in Grevilles Büro, schrieb ich ihr meine Adresse und Telefonnummer auf und sagte, daß sie mich, wenn sie sich irgendwie unsicher fühle oder mit jemandem reden wolle, den ganzen Abend zu Hause erreichen könne.

«Ich werde morgen früh wieder hierher kommen, wenn ich meinen Besuch bei der Bank gemacht habe«, sagte ich.»Werden Sie bis dahin zurechtkommen können?«

Sie nickte unsicher.»Wie reden wir Sie an? Wir können Sie doch nicht Mr. Franklin nennen, irgendwie wäre das doch nicht richtig.«

«Wie wär’s mit Derek?«

«O nein. «Sie war ganz spontan dagegen.»Hätten Sie was gegen Mr. Derek?«

«Wenn Ihnen das lieber ist. «In meinen Ohren klang es ziemlich altmodisch, aber sie war mit dieser Lösung sehr zufrieden und sagte, sie wolle die anderen entsprechend informieren.

«Ja, die anderen«, sagte ich.»Jetzt sagen Sie mir noch mal im einzelnen, wer da ist und welchen Job macht. Da sind Sie, June, Lily.«

«June ist für die Computer und die Bestandskontrolle zuständig«, sagte sie.»Lily stellt die Aufträge zusammen. Tina ist Assistentin, sie hilft Lily und erledigt einen Teil der Sekretariatsarbeit. Das gilt auch für June. Und eigentlich auch für mich. Wir alle erledigen eigentlich alles, was gerade so anfällt. Es gibt kaum streng abgegrenzte Tätigkeitsbereiche. Einzige Ausnahme ist wohl Alfie, der kaum etwas anderes macht als die Aufträge versandfertig. Das nimmt seine ganze Zeit in Anspruch.«

«Und dieser jüngere Bursche da mit dem stachligen, orangeroten Heiligenschein?«

«Jason? Machen Sie sich wegen seiner Haare keine Sorgen, er ist harmlos. Er stellt unsere Muskeln dar. Die Steine sind in größerer Zahl ziemlich schwer, wissen Sie. Jason bewegt die Pakete, füllt Lagerbestände auf, übernimmt Gelegenheitsarbeiten und saugt Staub. Manchmal hilft er auch Alfie oder Lily, wenn wir anderen zu viel zu tun haben. Wie ich schon sagte, macht jeder von uns, was gerade erforderlich ist. Mr. Franklin hat nie zugelassen, daß sich einer ein eigenes Territorium absteckt.«

«Seine Worte?«

«Ja, natürlich.«

Kollektive Verantwortung, dachte ich. Ich verneigte mich vor der Weisheit meines Bruders. Wenn so etwas funktionierte, dann funktionierte es gut. Und so, wie alles hier aussah, schien dies ja durchaus der Fall zu sein, und ich würde da beileibe nicht störend eingreifen.

Ich schloß und verriegelte die Tür zum Tresorraum mit Grevilles Schlüssel und fragte Annette, welcher in dem umfangreichen Schlüsselbund die elektronischen Schlösser überwand. Dieser, sagte sie, zeigte darauf und sonderte ihn von den anderen ab.

«Wofür sind die anderen alle? Wissen Sie das?«

Sie schüttelte den Kopf.»Ich habe keine Ahnung.«

Auto, Haus, was nicht noch alles. Ich nahm an, daß ich es im Laufe der Zeit noch herausfinden würde. Ich bemühte mich, ihr aufmunternd zuzulächeln, winkte, mich verabschiedend, einigen der anderen zu und fuhr mit dem Servicelift nach unten, wo Brad im Hof auf mich wartete.

«Swindon«, sagte ich.»Das medizinische Versorgungszentrum, in dem wir am Freitag schon waren, okay?«

«Wollja«, murmelte er. Richtig strahlend, dachte ich bei mir.

Es war eine Fahrt von achtzig Meilen, zehn Meilen weiter als bis zu meiner Wohnung. Brad schaffte sie ohne weitere Kommunikation, und ich verbrachte die Zeit damit, an all die Dinge zu denken, die ich noch nicht erledigt hatte — zum Beispiel nach Grevilles Haus sehen, die Zustellung der Tageszeitung stoppen, wo immer die herkommen mochte, und beim Postamt Bescheid geben, daß seine Briefe… Zum Teufel auch, dachte ich müde, warum nur hatte dieser verdammte Kerl sterben müssen?

Der Orthopäde nahm den Verband von meinem Fußgelenk, machte eine Röntgenaufnahme und gab mißbilligende Laute von sich. Von den Zehen bis zum Schienbein sah alles hart, schwarz und geschwollen aus, die Haut auf Grund der Dehnung fast durchsichtig.

«Ich habe Ihnen doch gesagt, daß Sie dem Bein Ruhe geben sollen«, sagte er, einen Anflug von Ungehaltenheit in der Stimme.

«Mein Bruder ist gestorben…«, und ich erzählte ihm von dem Überfall und auch, daß ich mich um Grevilles Angelegenheiten kümmern müsse.

Er hörte aufmerksam zu, ein kräftiger, vernünftiger Mann mit vorzeitig ergrautem Haar. Ich kannte keinen Jockey, der ihm nicht vertraute. Er verstand unsere Bedürfnisse und Wünsche, da er eine ganze Reihe von uns behandelte, die in oder bei unserem Trainingszentrum in Lambourn lebten.

«Wie ich Ihnen neulich schon gesagt habe«, meinte er, als er fertig war,»haben Sie sich einen Bruch im unteren Teil der Fibula, also des Wadenbeins, zugezogen, und da, wo Tibia und Fibula miteinander verbunden sein sollten, sind sie auseinandergebrochen. Und jetzt sind sie noch weiter auseinander. Sie sind dem Talus, dem Fußgelenk, keinerlei Stütze mehr. Die lateralen Bänder, die das Gelenk normalerweise zusammenhalten, sind gerissen, und das ganze Gelenk ist ungesichert und geht innen auseinander wie eine Zapfenverbindung bei einem Möbelstück, wenn der Leim nichts mehr taugt.«

«Wie lange wird’s also dauern?«fragte ich.

Er lächelte kurz.»Bei so einem elastischen Verband wird es noch zehn Tage weh tun, und danach können Sie wieder rumlaufen. Sie könnten, von heute an gerechnet, in etwa drei Wochen wieder im Sattel sitzen, wenn es Ihnen nichts ausmacht, daß der Steigbügel Ihnen Schmerzen verursacht, was er tun wird. Nach weiteren drei Wochen ist das Gelenk dann vielleicht wieder soweit in Ordnung, daß Sie Rennen reiten können.«

«Gut«, sagte ich erleichtert,»dann ist’s ja nicht viel schlimmer, als es schon war.«

«Es ist zwar schlimmer, aber es wird nicht länger brauchen, um zu verheilen.«»Schön.«

Er sah auf das deprimierende Bild hinab.»Wenn Sie weiter so rumreisen wollen, dann würde Ihnen ein fester Gipsverband sehr viel besser helfen. Sie könnten sich dann schon in ein paar Tagen wieder mit vollem Gewicht auf Ihren Fuß stützen, fast ohne Schmerzen.«

«Und den muß ich dann sechs Wochen tragen? Und kriege verkümmerte Muskeln?«

«Atrophie, Verkümmerung, das ist ein zu starkes Wort. «Er wußte gleichwohl, daß Jockeys, die Hindernisrennen ritten, vor allem kräftige Beinmuskeln brauchten, und die konnte man sich nur durch Bewegung erhalten. In Gips konnten sie sich überhaupt nicht mehr rühren und wurden schnell schwächer. Wenn die Bewegungsfähigkeit auch ein paar Stiche und Schmerzen kostete, war das die Sache doch wert.

«Die sogenannten Delta-Bandagen sind extrem leicht«, sagte er mit Überzeugungskraft.»Es handelt sich da um einen Polymer, gar nicht zu vergleichen mit dem guten alten Gips. Das Zeug ist porös, deshalb kommt Luft dran und Sie kriegen keine Hautprobleme. Ist wirklich gut. Und man könnte einen Reißverschluß reinbauen, so daß Sie ihn bei der Physiotherapie abnehmen können.«

«Wann kann ich dann wieder reiten?«

«In neun oder zehn Wochen.«

Ich schwieg einen Augenblick, und da sah er schnell zu mir auf. Sein Blick war klar und fragend.

«Also Delta-Bandage?«sagte er.

«Nein.«

Er lächelte und nahm eine elastische Kreppbinde zur Hand.»Fallen Sie im Laufe des nächsten Monats bloß nicht da drauf, denn dann fangen Sie wirklich wieder bei Null an.«

«Ich werde mir Mühe geben.«

Er wickelte den Verband eng um mein Bein, von unterhalb des Knies bis zu den Zehen und wieder zurück, und verschrieb mir wieder Distalgesic.»Nicht mehr als acht Tabletten innerhalb von 24 Stunden und nicht mit Alkohol. «Das sagte er jedesmal.

«Gut.«

Er sah mich ein Weilchen nachdenklich an, stand dann auf und ging hinüber zu dem Schränkchen, in dem er Medikamente aufbewahrte. Als er zu mir zurückkam, steckte er eine kleine Plastiktüte in einen Umschlag, den er mir dann hinhielt.

«Ich gebe Ihnen hier ein Mittel, das DF 1-1-8 heißt. Sehr passend, denn das sind ja schließlich auch Ihre Initialen! Ich gebe Ihnen drei davon mit. Es ist ein sehr ernstzunehmendes Schmerzmittel, und ich möchte Sie bitten, nur dann dazu zu greifen, wenn Ihnen wieder so etwas wie gestern passiert.«

«Okay«, sagte ich und steckte den Umschlag in die Tasche.»Vielen Dank.«

«Wenn Sie eine dieser Tabletten schlucken, fühlen Sie absolut nichts mehr. «Er lächelte wieder.»Wenn Sie zwei auf einmal nehmen, dann heben Sie total ab, dann sind Sie high wie sonst was. Wenn Sie aber alle drei auf einmal schlucken, werden Sie bewußtlos. Seien Sie also gewarnt. «Er machte eine Pause.»Sie sind eine allerletzte Zuflucht.«

«Ich werd’s mir merken«, sagte ich,»und bin Ihnen wirklich dankbar.«

Brad fuhr zu einer Apotheke, ging mit meinem Rezept hinein, wartete, bis es fertiggemacht worden war, und chauffierte mich dann noch die zehn Meilen bis nach Hause.

«Morgen früh um die gleiche Zeit?«fragte ich.»Wieder nach London?«

«Wollja.«

«Ohne Sie wäre ich wirklich aufgeschmissen«, sagte ich und kletterte mit seiner Hilfe aus dem Wagen. Er warf mir einen kurzen, gehetzten Blick zu und reichte mir die Krücken.»Sie fahren großartig«, sagte ich noch.

Das war ihm peinlich, zugleich freute es ihn aber auch. Es erschien natürlich nicht so etwas wie ein Lächeln auf seinem Gesicht, aber es zuckte doch deutlich sichtbar in seinen Backen. Er drehte sich um, wich meinem Blick aus und setzte sich verbissen in Bewegung, um zu seiner Mutter heimzugehen.

Ich meinerseits ging ins Haus und bedauerte das Embargo, mit dem Whisky belegt war. So stärkte ich mich denn, da Junes Sandwich inzwischen nurmehr eine ferne Erinnerung war, mit Sardinen auf Toast und Eiscreme zum Nachtisch, was mehr oder weniger meine habituelle Kochfaulheit widerspiegelte.

Danach streckte ich mein mit Eisbeuteln versehenes Bein auf dem Sofa aus und rief den Mann in Newmarket an, der Grevilles zwei Rennpferde trainierte.

Er hob den Hörer so schnell ab, als habe er nur auf das Klingeln des Telefons gewartet.

«Ja?«sagte er.»Was bieten Sie?«

«Ich habe keine Ahnung«, sagte ich.»Spreche ich mit Nicholas Loder?«

«Was? Wer sind Sie?«Er war barsch und ungeduldig, überlegte es sich dann aber wohl noch einmal und sagte mit ein wenig mehr Honigsüße:»Verzeihung, ich habe jemand anderes erwartet. Ich bin Loder, ja, und mit wem spreche ich?«

«Mit Greville Franklins Bruder.«

«Ach ja?«

Ihm sagte das nicht sofort etwas. Ich stellte ihn mir vor, soweit das möglich war, da ich ihn nur vom Sehen und nicht persönlich kannte — ein großer Mann in den Vierzigern mit schütterem Haar und einer enormen Selbstsicherheit und Ausstrahlung. Zweifellos ein guter bis hervorragender Trainer, bei Fernsehinterviews aber dem Interviewpartner gegenüber anmaßend und herablassend, was er auch, wie ich gehört hatte, den Besitzern gegenüber sein konnte. Greville hatte seine Pferde bei ihm, weil sein erstes Pferd, das er seinerzeit als Schuldenrückzahlung übernommen hatte, in Loders Stall gestanden hatte. Nicholas Loder hatte dann das zweite für Greville gekauft und war bemerkenswert erfolgreich mit beiden gewesen. Greville hatte mir mal gesagt, daß er telefonisch sehr gut mit Loder zurechtkäme und daß dieser ein durch und durch herzensguter Mensch sei.

Bei unserem letzten Telefonat hatte Greville davon gesprochen, daß er noch einen weiteren Zweijährigen zu kaufen beabsichtige und daß ihm Loder vielleicht einen bei der Auktion in Oxford besorgen werde.

Ich erklärte Loder nun, daß Greville tot sei, und nach den ersten mitfühlenden Bekundungen der Betroffenheit reagierte er genau so, wie ich es erwartet hatte — nämlich nicht, als habe er einen guten Freund verloren, sondern ganz und gar geschäftsmäßig.

«Das hat keine Auswirkungen auf den Einsatz der Pferde«, sagte er.»Sie sind ja sowieso Eigentum der Firma Saxony Franklin und nicht etwa Grevilles. Ich kann also die Pferde auch weiterhin im Namen der Firma laufen las-sen. Dazu bin ich nämlich von ihr autorisiert. Da sollte es also keine Probleme geben.«

«Es tut mir leid, aber vielleicht doch…«, hob ich an.

«Nein, nein. >Dozen Roses< läuft am Samstag in York. Hat dort gute Chancen. Ich habe das Greville erst vor ein paar Tagen mitgeteilt. Er wollte immer wissen, wann sie wo laufen, obwohl er nie gekommen ist, um sie sich anzuschauen.«

«Das Problem«, sagte ich,»liegt darin, daß ich sein Bruder bin. Er hat mir die Saxony Franklin Ltd. vermacht.«

Ganz plötzlich und mit aller Macht eröffnete sich ihm der volle Umfang des Problems.»Sie sind doch nicht etwa sein Bruder Derek Franklin. Dieser Bruder? Der Jockey?«

«Doch. Deshalb… könnten Sie bitte mal bei Weatherby nachfragen, ob die Pferde auch laufen dürfen, solange die gerichtliche Bestätigung des Testaments noch nicht vorliegt?«

«Mein Gott«, sagte er schwach.

Berufsjockeys war es, wie wir beide wohl wußten, nicht gestattet, eigene Pferde in ein Rennen zu schicken. Ihnen durften alle möglichen Gäule gehören, so etwa Zuchtstuten, Fohlen, Deckhengste, Kutschpferde, Jagdpferde, Springpferde und was sonst noch auf Hufen herumlief, sogar Rennpferde, solange sie diese nicht an Rennen teilnehmen ließen.

«Könnten Sie das mal herausfinden?«fragte ich noch einmal.

«Das werde ich. «Er klang verärgert.»>Dozen Roses< sollte am Samstag an den Start gehen.«

>Dozen Roses< war im Augenblick das bessere von Grevilles beiden Pferden, deren Geschick ich regelmäßig in der Zeitung und im Fernsehen verfolgt hatte. Als Dreijähriger ein dreifacher Sieger, war er mit vier Jahren eine Enttäuschung gewesen, aber in der laufenden Saison hatte er, nun fünfjährig, zu seiner alten Form zurückgefunden und in den vergangenen paar Wochen dreimal Siege verbuchen können. Einen entsprechend starken Auftritt am Samstag zu erwarten, erschien nicht ganz unberechtigt.

Loder sagte:»Wenn Weatherby das Pferd aus dem Rennen wirft, würden Sie’s dann verkaufen wollen? Ich könnte unter meinen Besitzern noch am Samstag einen Käufer finden.«

Ich hörte das Drängen in seiner Stimme und fragte mich, ob >Dozen Roses< vielleicht mehr war als nur ein Pferd unter anderen am Start, ein Pferd wie die vielen, vielen anderen, die er Saison für Saison laufen ließ. Er klang jedenfalls viel aufgeregter, als mir normal erscheinen wollte.

«Ich weiß nicht, ob ich vor der gerichtlichen Freigabe des Erbes verkaufen darf«, sagte ich.»Sie gehen auch dieser Frage am besten gleich mal nach.«

«Aber wenn ja, würden Sie’s dann tun?«

«Ich weiß es nicht«, sagte ich verwirrt.»Lassen Sie uns doch abwarten und erst mal sehen, wie die Dinge liegen.«

«Sie werden ihn nicht halten können, das wissen Sie«, sagte er eindringlich.»Er hat eine weitere Saison in sich, ist immer noch ganz schön was wert. Wenn Sie jedoch Ihre Lizenz nicht zurückgeben, oder so was, können Sie ihn nicht laufen lassen. Allerdings ist er eine Rückgabe der Lizenz nun auch wieder nicht wert. Ist ja nicht so, daß er ein Derby-Favorit wäre.«

«Ich werde im Laufe dieser Woche eine Entscheidung treffen.«

«Aber Sie denken doch nicht daran, Ihre Lizenz zurückzugeben, oder?«Jetzt klang er fast schon erschrocken.»Hab ich nicht so was in der Zeitung gelesen, daß Sie zwar verletzt sind, aber doch hoffen, noch vor Weihnachten wieder Rennen reiten zu können?«

«Das war zu lesen, ja.«

«Na bitte. «Die Erleichterung war so wenig definierbar wie seine Angst, kam aber doch klar rüber. Verstehen konnte ich beides nicht. Er hätte nicht so besorgt sein sollen.

«Vielleicht könnte Saxony Franklin das Pferd ja jemandem auf Leasingbasis überlassen«, sagte ich.

«Oh. Hm, vielleicht mir?«Es hörte sich an, als sei dies die perfekte Lösung.

«Ich weiß nicht«, sagte ich vorsichtig.»Wir müssen das klären.«

Mir wurde bewußt, daß ich ihm nicht voll vertraute — und diese Zweifel waren keineswegs schon vor unserem Telefongespräch dagewesen. Er gehörte zu den fünf besten Flachbahn-Trainern des Landes und galt auf Grund seines bombensicheren Erfolges ganz automatisch als zuverlässig.

«Wenn Greville gelegentlich erschien, um sich seine Pferde anzusehen, hat er da irgendwann mal jemanden mitgebracht?«fragte ich.»Ich versuche, die Menschen ausfindig zu machen, die ihn kannten, um ihnen von seinem Tod Nachricht zu geben.«

«Er ist nie hiergewesen, um sich die Pferde anzuschauen. Ich selbst kannte ihn kaum persönlich, telefonierte meistens mit ihm.«

«Nun, seine Bestattung ist am Freitag in Ipswich«, sagte ich.

«Wie wäre es, wenn ich an dem Tag mal in Newmarket vorbeikäme? Es liegt am Weg, und wir könnten uns treffen; ich könnte mir die Pferde ansehen und fertigmachen, was immer an Papieren erforderlich sein sollte.«

«Nein«, sagte er. Und dann, seine Antwort abmildernd:»Ich hindere Besitzer stets an Besuchen. Sie bringen nur die Stallroutine durcheinander. Ich kann da keine Ausnahmen machen. Wenn ich irgendwelche Unterschriften von Ihnen brauchen sollte, dann werde ich das auf andere Weise arrangieren.«

«Schön«, stimmte ich milde zu, trieb ihn nicht in die Enge.»Ich werde auf Nachricht von Ihnen warten, wie Weatherby entschieden hat.«

Er sagte, er werde sich mit mir in Verbindung setzen und legte ganz abrupt auf, mich mit dem Gedanken alleinlassend, daß ich, was sein Verhalten betraf, die Fragen nicht kannte, von den Antworten ganz zu schweigen.

Vielleicht hatte ich mir das alles ja auch nur eingebildet — und doch wußte ich, daß dies nicht der Fall war. Man konnte bei einem Telefongespräch oft sehr viel mehr Nuancen aus einer Stimme heraushören als bei einer persönlichen Unterhaltung. Wenn Menschen entspannt waren, dann waren die tieferen Schwingungen ihrer Stimmen deutlich vernehmbar, bei Streß dagegen verschwanden sie, weil sich die Stimmbänder unbeabsichtigt strafften. Nachdem Loder erfahren hatte, daß ich >Dozen Roses< erben würde, waren keinerlei tiefere Schwingungen mehr zu hören gewesen.

Ich stellte das mir aufgegebene Rätsel zurück und dachte über das noch nicht gelöste Problem nach, wie ich Grevil-les Freunde benachrichtigen sollte. Es mußte welche geben, denn niemand lebt in einem Vakuum. Wenn sich die Dinge allerdings umgekehrt ergeben hätten, dann wäre Greville wohl, wie ich annahm, mit genau den gleichen Schwierigkeiten konfrontiert gewesen, denn schließlich hatte er meine Freunde ja auch nicht gekannt. Unsere Wel-ten waren kaum je miteinander in Berührung gekommen, und wenn, dann nur kurz bei unseren Verabredungen. Da hatten wir ein bißchen über Pferde gesprochen, ein bißchen über technische Spielereien, ein bißchen über die Welt im allgemeinen und ein bißchen über das, was sich gerade so an Interessantem ereignete.

Er hatte allein gelebt, wie ich auch, hatte mir nie etwas über irgendeine Art von Liebesleben erzählt. Als ich ihm gegenüber vor etwa drei Jahren erwähnt hatte, daß meine Freundin, mit der ich zusammengelebt hatte, ausgezogen war, um irgendwo anders unterzukriechen, hatte er bloß»Was für ein Pech «gesagt. Das mache nichts, hatte ich geantwortet, es sei in gegenseitigem Einvernehmen geschehen, sei ein ganz natürliches Ende gewesen. Ich hatte ihn nur einmal nach seiner schon lange von ihm geschiedenen Frau gefragt.»Sie hat wieder geheiratet. Hab sie seitdem nicht mehr gesehen«, war alles gewesen, was er geantwortet hatte.

Wenn ich derjenige gewesen wäre, der hätte sterben müssen, dachte ich, dann hätte er es wohl der Welt mitgeteilt, in der ich gelebt und gearbeitet hatte, es also vielleicht dem Trainer erzählt, für den ich meistens ritt, und es in den Rennsport-Zeitungen angezeigt. Ich sollte es also zumindest seiner Welt zur Kenntnis bringen, das heißt der Schmuckstein-Bruderschaft. Das könnte Annette immerhin trotz des Fehlens seines Adreßbüchleins erledigen — nämlich mit Hilfe von Junes Computer. Dieser Computer machte den ganzen Einbruch zu einem immer größer erscheinenden Blödsinn. Einmal mehr kam ich zu der Überzeugung, daß noch etwas anderes gestohlen worden sein mußte — ich wußte nur nicht, was.

Ungefähr an diesem Punkt angelangt, erinnerte ich mich daran, daß ich ja Grevilles Taschenkalender hatte — mochte doch der Terminkalender auf seinem Schreibtisch ruhig den Oktober eingebüßt haben! Ich holte ihn mir aus dem Schlafzimmer, wo ich ihn am gestrigen Abend liegengelassen hatte. Ich dachte mir, daß ich da hinten im Adressenteil sicher die Anschriften und Telefonnummern von Freunden finden würde, irrte mich aber — er war bei diesem Teil des Büchleins ebenso genügsam gewesen wie bei allen anderen auch. Ich blätterte die Seiten um, die zumeist völlig unbeschrieben waren. Ich fand allenfalls ganz kurze Eintragungen wie etwa» Ankunft R aus Brasilien «oder» B in Paris «oder» Kauf von Citrin für P«.

Beim Monat März hielt ich inne, denn dies war ein Rennkalender, das heißt, die das Jahr über stattfindenden Rennen waren unter dem jeweiligen Datum eingedruckt. Ich gelangte zu Donnerstag, dem 16. März, wo» Chelten-ham «darunterstand. Um das Wort» Cheltenham «war mit Kugel schreib er ein Kreis gezogen worden, und Greville hatte in das für diesen Tag vorgesehene leere Feld» Gold Cup «eingetragen — und dann mit einem anderen Stift» Derek hat ihn gewonnen!!«dazugeschrieben.

Das ließ mich ganz plötzlich in Tränen ausbrechen. Ich konnte nichts dagegen tun.

Ich wünschte mir mit aller Kraft, daß er noch am Leben wäre, damit ich ihn besser kennenlernen könnte. Ich weinte über die versäumten Gelegenheiten, die vertane Zeit. Ich sehnte mich danach, diesen Bruder zu kennen, der sich dafür interessiert hatte, was ich machte, der in seinem so gut wie leeren Kalender eingetragen hatte, daß ich aus einem der ganz großen Rennen des Jahres als Sieger hervorgegangen war.

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