Kapitel 20

Es war ein langer, trüber Abend, der allerdings auch nicht der Komik entbehrte.

Ich saß die meiste Zeit abseits und still in Grevilles Sessel, weitgehend ignoriert von den Leuten, die scharenweise hereinkamen und maßen, fotografierten, nach Fingerabdrücken suchten und Kugeln aus Wänden puhlten.

Am Anfang hatte sich zunächst ein Schwall vorläufiger Fragen über mich ergossen, was schließlich damit endete, daß Rollway stöhnend wieder zu Bewußtsein kam. Obwohl die Polizei im allgemeinen Ratschläge einfacher Bürger nicht sonderlich mag, folgten die Beamten doch meiner Anregung, ihm Handschellen anzulegen, bevor er wieder ganz da sei — was sich als gut erwies, war doch seine bullenhafte Gewalttätigkeit das erste Element seiner Persönlichkeit, das wieder zum Vorschein kam. Denn ganz plötzlich war er auf den Beinen, trat um sich und murmelte vor sich hin, bevor er noch wußte, wo er sich befand.

Während zwei Polizisten ihn an den Armen festhielten, starrte er mich an, und seine Augen nahmen die Dinge ganz allmählich wieder wahr. Ich saß noch immer auf dem Boden und war dankbar, vom Gewicht seines Körper befreit worden zu sein. Er sah aus, als könne er gar nicht glauben, was da vor sich ging, und schimpfte mich in seiner vertraut monotonen Stimme einen Bastard, von anderen, weniger harmlosen Dingen mal ganz abgesehen.

«Ich wußte doch, daß Sie ein Stunkmacher sind«, sagte er. Er war noch zu angeschlagen, um seine Zunge zügeln zu können.

«Sie werden nicht am Leben bleiben, um gegen mich auszusagen, dafür werd ich schon sorgen.«

Die Polizisten nahmen ihn phlegmatisch, aber in aller Form fest, belehrten ihn über seine Rechte und sagten, er werde auf der Wache ärztlich versorgt werden. Ich beobachtete, wie er davonstolperte, und dachte an die Ironie meines früher gefaßten Entschlusses, ihn nicht zu bezichtigen, schon gar nicht, wie jetzt, der Erschießung unschuldiger Menschen. Ich hatte ja nicht gewußt, daß er auch Simms auf dem Gewissen hatte. Ich hatte nicht die geringste Angst vor ihm gehabt. Ihm schien gar nicht in den Sinn gekommen zu sein, daß ich wegen des Kokains vielleicht gar nichts gegen ihn unternehmen würde. Er war vor Mord nicht zurückgeschreckt, um es zu verhindern. Dabei hatte ich ihn noch nicht einmal im Verdacht gehabt, ein Dealer großen Stils zu sein, bis er selbst damit angegeben hatte.

Während die Spurensicherung um mich herum ihren Fortgang nahm, fragte ich mich, ob die Drogenhändler vielleicht deshalb so schnell mordeten, weil ihnen das Leben anderer Menschen völlig gleichgültig war.

Wie Vaccaro, dachte ich, der seine zum Aussteigen bereiten Piloten von fahrenden Autos aus abgeknallt hatte. Vielleicht war das ja unter Drogenbossen eine ganz gebräuchliche Methode der Säuberung. Nachahmungstäter — das hatten wir im Falle von Simms alle gedacht und recht damit gehabt.

Für Leute wie Rollway und Vaccaro hatte das Leben anderer Menschen einen so geringen Wert, weil sie sowieso an dessen Zerstörung interessiert waren. Sie machten Sucht und Korruption zu ihrem Geschäft, hatten die erklärte Absicht, Profit aus dem Zusammenbruch und Unglück anderer zu schlagen, lockten junge Leute vorsätzlich in eine Einbahnstraße des Elends hinein. Ich hatte irgendwo gelesen, daß man zwei bis drei Jahre lang Kokain schnupfen konnte, bevor der körperliche Schaden spürbar wurde. Die Hersteller, Großhändler und Verkäufer dieser Droge wußten das. Die Zeit reichte aus, um ihnen einen steten Absatz zu garantieren. Ihre Gier war durch und durch schmutzig.

Die mit dem Geschäft verbundene Amoralität, die aggressive Brutalität korrumpierten selbst auch, machten ebenfalls süchtig. Rollway hatte sich, ganz wie seine Opfer, selbst zerstört.

Ich stellte mir auch die Frage, was Menschen dahin bringt, so zu werden wie er. Ich konnte ihr Verhalten zwar verurteilen, aber verstehen konnte ich es nicht. Sie waren nicht auf leichtfertige Weise unaufrichtig wie Pross, sondern sie waren gleichgültig und kalt. Wie Elliot Trelawney gesagt hatte — die Logik der Kriminellen war oft sonderbar. Sollte ich jemals die Eintragungen in Grevilles Notizbuch ergänzen, dachte ich, dann vielleicht mit so etwas wie» Die Wege der Unaufrichtigen sind den Aufrechten ein Rätsel«, oder auch» Was macht die Unaufrichtigen unaufrichtig und die Aufrichtigen aufrichtig?«Den wohlfeilen Antworten der Soziologen war nicht zu trauen.

Ich erinnerte mich an eine Geschichte, die ich vor langer Zeit gehört hatte. Ein Skorpion fragt ein Pferd, ob es so gut sein könne, ihn über einen reißenden Bach zu tragen. Warum nicht? sagte das Pferd und schwamm bereitwillig los, den Skorpion auf seinem Rücken. Als sie die Hälfte der Strecke hinter sich hatten, stach der Skorpion zu. Das Pferd, tödlich vergiftet, sagte:»Jetzt werden wir beide ertrinken. Warum hast du das getan?«Und der Skorpion antwortete:»Weil es meine Natur ist.«

Nicholas Loder brauchte sich über nichts mehr Sorgen zu machen oder zu wundern. Seine moralische Natur hatte sich, unter Druck gesetzt, unbefleckt erhoben und ihm den Tod gebracht. Ungerechtigkeit und Ironie, wo man hinsah, dachte ich und empfand Trauer um den Mann, der meine Ermordung nicht stillschweigend hatte hinnehmen wollen.

Er selbst hatte auch Kokain geschnupft, so viel war klar. Vielleicht war er von Rollway abhängig geworden, war vielleicht von diesem mehr oder weniger dazu erpreßt worden zuzulassen, daß er die Pferde manipulierte. Er hatte Angst gehabt, daß ich das entdecken könnte, aber er war letztlich doch kein schlechter Bursche gewesen, und das hatte auch Rollway erkannt, hatte gesehen, wie unsicher es war, darauf zu bauen, daß jener tatsächlich den Mund halten würde.

Durch Loder hatte Rollway erfahren, wo er mich an jenem Sonntagnachmittag finden konnte — und auch an diesem Mittwochabend. Nicholas Loder hatte mich aber nicht wissentlich in die Falle gelockt, sondern war von seinem vermeintlichen Freund nur benutzt worden — und ich hatte es für gänzlich ungefährlich gehalten, ihm am Sonntagmorgen zu erzählen, daß ich mich mit Milo und den Ostermeyers zum Lunch verabredet hatte oder daß ich in Grevilles Haus sein würde, falls er ein Angebot für >Edel-stein< unterbreiten wolle.

Ich hatte mich nicht, was immer dieser glauben mochte, speziell vor Rollway in acht genommen, sondern vor einem unidentifizierten Feind, vor jemandem, der da und gefährlich, bislang aber eben unerkannt war.

Ironie allüberall…

Ich dachte an Martha und Harley und an das Kokain im Leib von >Dozen Roses<. Ich würde sie bitten, das Pferd zu behalten und Rennen mit ihm reiten. Aber ich würde ihnen auch versprechen, ihnen für den Fall, daß er auf Dauer keine befriedigenden Leistungen zeigte, den Kaufpreis zu erstatten, und das Pferd zum Verkauf geben. Bei dem Gedanken daran, was der Jockey Club und die Rennpresse zu dem ganzen Schlamassel zu sagen haben würden, konnte einem schwindlig werden. Wir konnten das Rennen in York noch immer verlieren — würden es wohl, wie ich annahm, noch verlieren.

Ich dachte an Clarissa im Selfridge Hotel, die sich dort um ein ganz normales Verhalten bemühte und dabei den Kopf voll hatte von Bildern der Gewalt. Ich hoffte, daß sie ihren Henry anrufen, sich auf festen Boden retten, Greville in Frieden betrauern und froh sein würde, seinen Bruder gerettet zu haben. Ich würde den Wecker des Hexers auf 16.20 Uhr stehen lassen und an beide denken, wenn ich ihn hörte — man mochte ja sagen, daß es sentimental war, daß Grevilles und ihre gesamte Affäre mit Sentimentalitäten geradezu vollgepackt gewesen war, aber wen scherte das? Sie hatten ihre Freude daran gehabt, und ich fand das schön.

Irgendwann im Laufe des Abends erschien ein hochrangiger Polizist in Zivil, dem sich alle sofort unterordneten und den sie mit» Sir «anredeten.

Er stellte sich mir als Oberkommissar Ingold vor und erbat eine detaillierte Schilderung der Vorgänge, die eine Sklavenseele mitschrieb. Der Oberkommissar war klein, zupackend, geschäftsmäßig. Er überdachte stets das, was ich gesagt hatte, bevor er die nächste Frage stellte, als wäge er meine Antworten genau ab. Von Nutzen war, daß er eine Vorliebe für den Pferderennsport hatte, sich also über Nicholas Loder grämte und von mir schon gehört hatte.

Ich berichtete ihm mit ziemlicher Offenheit das meiste von dem, was geschehen war, ließ nur wenige Dinge aus — so etwa, auf welche Weise genau Rollway seine Bratenbegießerröhre zurückgefordert hatte, oder Clarissas Anwesenheit und die entsetzliche Verzweiflung jener Minuten, die ihrem Eintreffen vorausgegangen waren. Ich verkürzte und vereinfachte den aussichtslosen Kampf, machte einen schnellen K.o.-Sieg daraus.

«Die Krücken?«fragte er.»Wozu sind die da?«

«Ein kleines Problemchen mit dem Fußgelenk, das sich in Cheltenham ergeben hat.«

«Wann war das?«

«Vor fast zwei Wochen.«

Er nickte bloß. Das Griff stück dieser Krücken war schwer genug, um Schurken damit zusammenschlagen zu können, und so suchte er nicht weiter und nach anderen Erklärungen.

Das alles dauerte wegen der Denkpausen und des Mitschreibens eine ganze Weile. Ich erzählte ihm auch von dem Autounfall nahe Hungerford. Ich sagte, ich hielte es durchaus für möglich, daß es Rollway gewesen sei, der Simms erschossen habe. Ich meinte, sie würden ja doch wohl mit Sicherheit die Kugeln, die die Polizei von Hungerford im Daimler gefunden habe, mit denen vergleichen, die sie hier aus Grevilles Wänden ausgegraben hätten, und zweifellos auch mit denen, die man aus Nicholas Loders totem Körper holen würde. Ich fragte mich in aller Unschuld, was für ein Auto Rollway wohl gefahren habe. Die Polizei von Hungerford suche einen grauen Volvo, sagte ich dem Oberkommissar.

Nach einer kurzen Pause wurde ein Polizist losgeschickt, um die Straße abzusuchen. Er überbrachte seine Botschaft mit großen Augen und wurde angewiesen, eine Absperrung um den Volvo aufzubauen und die Passanten von ihm fernzuhalten.

Inzwischen war es längst dunkel geworden. Jedesmal, wenn ein Polizist oder sonstiger Beamter ins Haus kam, fing der mechanische Hund zu kläffen an, und das Flutlicht erstrahlte. Ich empfand das als komisch, was einiges über den benommenen Zustand aussagte, in dem sich mein Kopf noch befand, während es den Polizisten auf die Nerven ging und sie gereizt machte.

«Die Schalter sind neben der Haustür«, verriet ich schließlich einem von ihnen.»Warum schalten Sie das alles nicht einfach ab?«

Sie befolgten den Rat und hatten ihre Ruhe.

«Wer hat den Blumentopf in den Fernseher geschmissen?«wünschte der Kommissar zu erfahren.

«Einbrecher. Am vergangenen Samstag. Zwei Ihrer Leute waren deswegen schon hier.«

«Sind Sie krank?«fragte er übergangslos.

«Nein. Nur etwas mitgenommen.«

Er nickte. Jeder andere wäre das wohl auch, dachte ich.

Einer der Polizisten erwähnte Rollways Drohung, daß ich nicht lange genug leben würde, um noch gegen ihn aussagen zu können. Vielleicht sei sie ernst zu nehmen.

Ingold sah mich prüfend an.»Beunruhigt Sie das?«

«Ich werde versuchen, vorsichtig zu sein.«

Er lächelte matt.»Wie im Sattel?«Das Lächeln verschwand wieder.»Sie täten gut daran, sich jemanden anzuheuern, der ein Weilchen mit auf Sie aufpaßt.«

Ich nickte ihm meinen Dank zu. Brad würde begeistert sein, dachte ich.

Sie schafften den armen Nicholas Loder fort. Ich würde seine Tapferkeit rühmen, nahm ich mir vor, und von seinem Ruf retten, was davon noch zu retten war. Ich verdankte ihm schließlich meine Überlebenschance.

Am Ende wollte die Polizei das Wohnzimmer versiegeln, aber der Oberkommissar meinte, dies geschehe nur vorsichtshalber — was sich an diesem Abend hier ereignet habe, sei ja doch kristallklar.

Er reichte mir meine Krücken und fragte, wohin ich zu gehen gedächte.

«Nach oben ins Bett«, sagte ich.

«Hier?«Er war überrascht.»Hier in diesem Haus?«

«Dieses Haus«, sagte ich,»ist eine Festung. Allerdings nur, solange man die Zugbrücke nicht herunterläßt.«

Sie versiegelten das Wohnzimmer, verabschiedeten sich und ließen mich in dem nun wieder stillen Hausflur zurück.

Ich setzte mich auf die Treppe und fühlte mich fürchterlich. Kalt. Zittrig. Alt und grau. Was ich brauchte, war ein heißes Getränk, um von innen her wieder warm zu werden, aber hinunter in die Küche gehen wollte ich um keinen Preis. Heißes Wasser aus dem Bad oben würde es wohl auch tun, dachte ich.

Wie so oft bei gewaltsamen Auseinandersetzungen, war es gar nicht der Augenblick der Verletzung, der am schlimmsten war, sondern die Zeit ein paar Stunden später, wenn nämlich die unmittelbar wirksam werdenden anästhesierenden Kräfte des eigenen Körpers schwächer werden und den Schmerz zum Zuge kommen lassen. Das war ja die so wunderbare Einrichtung der Natur, die es einem wilden Tier ermöglichte, sich erst in Sicherheit zu bringen und dann seine Wunden zu lecken und mit heilendem Speichel zu reinigen. Das menschliche Tier war da nicht anders. Man brauchte die schmerzlose Zeit zur Flucht, und man brauchte den Schmerz danach, um zu wissen, daß etwas mit einem nicht in Ordnung war.

Im Augenblick maximaler Adrenalinausschüttung, im Augenblick der Entscheidung zwischen Kampf und Flucht hatte ich geglaubt, mit meinem kaputten Knöchel laufen zu können. Es war der besagte Mechanismus gewesen, der mich dazu befähigt hatte, und nicht der Instinkt oder eine Willensanstrengung. Zwei Stunden später war allein schon der Gedanke, auf dem Bein nur stehen zu sollen, ein Ding der Unmöglichkeit. Schon die kleinste Bewegung nahm mir den Atem. Ich hatte nach dem Schlag zwei sehr lange Stunden in Grevilles Stuhl gesessen, mich ganz auf die Polizisten konzentriert und jedes Gefühl ausgeblendet.

Jetzt aber, wo alle fort waren, konnte ich mir nichts mehr vormachen. Wie sehr ich mich auch innerlich dagegen auflehnen, welche Wut mich auch erfüllen mochte, ich wußte doch genau, daß der Schaden, den Knochen und Bänder genommen hatten, fast so schlimm war wie der ursprüngliche. Rollway hatte mir den Knöchel wieder gebrochen. Ich fing wieder bei Null an… und nur noch viereinhalb Wochen bis zum Hennessy… aber ich würde, komme was wolle, mit >Dattelpalme< daran teilnehmen und niemandem etwas von dem kleinen Treffen heute abend erzählen, von dem ja keiner Kenntnis hatte außer Rollway, und der würde wohl kaum damit angeben.

Wenn ich mich zwei Wochen lang von Lambourn fernhielte, würde Milo nichts merken — nicht, daß es ihm allzu viel Kummer bereiten würde, wenn er’s täte. Solange er jedoch nichts wußte, konnte er auch keinem anderen was erzählen. Niemand rechnete ja auch damit, daß ich schon vor Ablauf von vier Wochen wieder an Rennen teilnahm. Wenn ich ganz einfach zwei davon in London blieb und mich um Grevilles Geschäft kümmerte, würde niemandem etwas auffallen. Und sobald ich wieder gehen konnte, würde ich mich nach Lambourn begeben und täglich reiten… mich physiotherapeutisch behandeln lassen, mir den Electrovet ausleihen… es war zu schaffen… Kinderspiel!

Fürs erste aber war da die Treppe.

Oben in Grevilles Badezimmer würde ich in einem wasserdichten Täschchen, das ich in einen der Spiel-geschränke gelegt hatte, den Umschlag finden, den mir mein Orthopäde mitgegeben und der mich seitdem auf allen meinen Fahrten begleitet hatte. In diesem Umschlag befanden sich drei kleine weiße Tabletten, kleiner als Aspirin, auf denen unter anderem meine Initialen standen: DF 1-1-8. Nur für den äußersten Notfall, hatte der Orthopäde gesagt.

An diesem Mittwochabend, so schätzte ich, war ein solcher wohl eingetreten.

Ich bewegte mich langsam die Treppe hinauf, rückwärts, im Sitzen, zog die Krücken hinter mir her. Wenn ich sie losließe, ging mir durch den Kopf, würden sie wieder bis zum Fuße der Treppe hinunterrutschen. Ich beschloß also, sie sehr gut festzuhalten.

Es war die Hölle. Ich führte mir mit Strenge vor Augen, daß es Leute gegeben hatte, die mit viel ärger gebrochenen Gliedmaßen von Bergen heruntergekrochen waren — sie hätten sich angesichts einer kleinen Treppe nicht so angestellt! Wie dem auch sei, alles mußte mal an ein Ende kommen, und so saß ich schließlich auf der obersten Stufe, die Krücken neben mir, und dachte, daß die DF 1-1-8-Pillen wohl kaum wie durch einen Zauber auf meine Zunge fliegen würden. Ich mußte sie mir schon holen.

Ich schloß die Augen und legte beide Hände um meinen bandagierten Knöchel. Ich konnte die Hitze darin spüren, und er schwoll bereits wieder an, und irgendwo hämmerte mein Puls.

Verdammt und zugenäht, dachte ich, so ein elender Mist. Mir war diese Art von Schmerz ja vertraut, aber das machte ihn auch nicht besser. Ich hoffte nur, daß Rollways Schädel brummte wie verrückt.

Ich schaffte es schließlich, mich ins Bad zu schleppen, drehte den Heißwasserhahn auf, öffnete den geräumigen Spiegelschrank, holte mein Täschchen heraus und öffnete den Reißverschluß.

Eine Tablette, und man hatte keine Schmerzen mehr, ging mir durch den Kopf. Zwei Tabletten, und man war high. Und bei drei Tabletten verlor man das Bewußtsein.

Die Pillen hatten etwas Verlockendes an sich, aber ich fürchtete, ich könnte am nächsten Morgen aufwachen und noch mal welche brauchen und mir dann wünschen, daß ich weiser gewesen wäre. Ich schluckte also nur eine mit heißem Wasser und wartete auf das Wunder.

Das Wunder, das dann tatsächlich geschah, war wirklich ganz unglaublich, hatte aber nichts mit den Pillen zu tun.

Ich starrte in den Spiegel über dem Waschbecken und erblickte mein graues Gesicht darin. Eine Besserung, dachte ich nach einer Weile, würde wohl noch ziemlich lange auf sich warten lassen. Vielleicht wirkten die verdammten Dinger ja auch überhaupt nicht.

Hab Geduld.

Nimm noch eine.

Nein, gedulde dich.

Unaufmerksam besah ich mir die Dinge, die auf der Ablage unter dem Spiegel standen. Talkumpuder. Deodorant. Rasierschaum. Rasierschaum. Der größte Teil des Inhalts der einen Dose war von Jason auf den Spiegel gespritzt worden. Es war die blaßblau-graue Dose, auf der» Unpar-fümiert «stand.

Greville hatte doch auch einen elektrischen Rasierapparat, fiel mir plötzlich ein. Der lag auf der Kommode im Schlafzimmer. Ich hatte ihn mir ja an diesem Morgen ausgeliehen. Schneller als eine Naßrasur, wenn auch nicht so lange vorhaltend.

Die verfluchte Pille wollte nicht wirken.

Ich sah sehnsuchtsvoll auf die zweite hinab.

Warte noch ein bißchen.

Denk an was anderes.

Ich nahm die zweite Dose mit Rasierschaum in die Hand, die dunkelrot und orange war und die Aufschrift» Zugelassene Parfümöle «trug. Ich schüttelte die Dose, nahm die Kappe ab und versuchte, Schaum auf den Spiegel zu sprühen.

Nichts geschah. Ich schüttelte noch einmal. Versuchte es erneut. Absolut nichts.

List und Irreführung, dachte ich. Hohle Bücher und grüne Steinkästchen mit Schlüsselloch, aber ohne Schlüssel. In Beton eingelassene Safes, Geheimfächer in Schreibtischen… Traue nie dem Augenschein! Grevilles Kopf war ein Labyrinth… und er hätte niemals parfümierten Rasierschaum benutzt.

Ich drehte die Dose so herum und anders herum, drehte an ihr — und da bewegte sich der Boden und drehte sich in meiner Hand. Ich hielt den Atem an. Konnte es eigentlich nicht glauben. Ich schraubte weiter an dem Bodenstück.

Noch so ein leeres Versteck, sagte ich mir. Zügle deine Hoffnung. Ich schraubte den Boden der Dose ganz ab, und aus einer mit Watte ausgepolsterten Höhlung fiel mir ein Lederbeutelchen in die Hand.

Na schön, dachte ich, aber Diamanten waren da nicht drin.

Unter Zuhilfenahme der Krücken brachte ich das Beutelchen ins Schlafzimmer, setzte mich auf Grevilles Bett und schüttete ein Rinnsal eher glanzlos aussehender, erbsengroßer Stückchen Kohlenstoff auf die Tagesdecke.

Ich hörte so gut wie ganz zu atmen auf. Die Zeit stand still. Ich konnte es nicht glauben. Nicht nach all dem…

Mit zitternden Fingern zählte ich sie, bildete kleine Häufchen zu je fünf Stück.

Zehn. fünfzehn. zwanzig. fünfundzwanzig.

Fünfundzwanzig — das bedeutete, daß ich jetzt fünfzig Prozent der Steine hatte. Die Hälfte von dem, was Greville gekauft hatte.

Mit dieser Hälfte war Saxony Franklin gerettet. Ich dankte dem Schicksal von ganzem Herzen, war den Tränen gefährlich nahe.

Und dann kam es wie ein Offenbarung über mich, und ich wußte auch, wo die restlichen Diamanten waren. Wo sie sein mußten. Greville hatte sie tatsächlich mit nach Ipswich genommen, wie er Pross gesagt hatte. Ich vermutete, daß er sie mitgenommen hatte, weil er dachte, er könne sie dem Mann von Maarten-Pagnier mitgeben, damit sie in Antwerpen geschliffen würden.

Ich hatte alles, was in seinem Auto gelegen hatte, untersucht und nichts gefunden — und seine Steine doch in der Hand gehabt, ohne es zu wissen.

Sie waren… sie mußten in der anderen dunkelroten und orangefarbenen Dose sein, in dieser Schein-Rasierschaumdose, die jetzt so sicher unter der Treppe im Hause von Brads Mama in Hungerford lag, als befände sie sich im Fort Knox. Sie hatte alle meine Sachen aus meinem Auto hereingeholt, um sie angesichts der Unsicherheit der Wohngegend vor Diebstahl zu schützen. In meiner Erinnerung konnte ich hören, wie stolz Brad auf sie gewesen war.

«Ganz schön clever, unsre Mama…«

Das DF 1-1-8 fing endlich an, den schlimmsten Schmerz zu lindern.

Ich rollte die fünfundzwanzig kostbaren Steinchen mit unbeschreiblicher Freude auf der Decke hin und her und dachte daran, wie erleichtert Greville gewesen wäre. Schlaf ruhig, Freund, sagte ich in Gedanken zu ihm, unbeherrscht lächelnd. Ich habe sie zu guter Letzt doch noch gefunden.

Er hatte mir seine Firma, seinen Schreibtisch, sein technisches Spielzeug, seine Feinde, seine Pferde, seine Geliebte vermacht. Hatte mir Saxony Franklin, den Hexer, die Rasierschaumdosen, Prospero Jenks und Nicholas Lo-der, >Dozen Roses< und Clarissa hinterlassen.

Ich hatte sein Leben geerbt und ihn zur ewigen Ruhe gebettet. Und wenn ich auch Schmerzen hatte und litt, so war mir doch, als sei ich noch nie glücklicher gewesen als in diesem Augenblick.

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