Kapitel 13

Ich begab mich weder zu Milo noch in mein eigenes Bett, sondern blieb in einem anonymen Hotel in Swindon, wo mich unbekannte Feinde nicht finden würden.

Der Drang, einfach nach Hause zu gehen, war stark, als bedeute der Rückzug in die eigene Höhle Sicherheit, aber ich dachte mir, daß ich dort dann wahrscheinlich die ganze Nacht unruhig wachliegen würde, und das, wo mich nach nichts mehr verlangte als nach Schlaf. Alles in allem waren es ja ziemlich harte zehn Tage gewesen, und wie leicht mein Körper sonst auch Stöße und Schläge verkraften mochte, so bewirkte ihre Häufung denn doch ein gesteigertes Bedürfnis nach Ruhe.

REH, dachte ich sarkastisch — REH war das Akronym für die beste Methode, Sportverletzungen auszuheilen: Ruhe, Eis, Hochlegen. Ich schien zwar nur selten in der Lage zu sein, alle diese Elemente zusammenzubringen, kam aber auf die eine oder andere Weise doch zu jedem einzelnen. Da für das Hochlegen gesorgt war, rief ich Milo vom Hotel aus an, um ihm zu sagen, daß ich nicht kommen werde, und erkundigte mich, wie es Martha und Harley gehe.

«Sie sind noch sehr wacklig. Das muß wirklich eine Wahnsinnskarambolage gewesen sein. Martha bricht immer wieder in Tränen aus. Wie sie erzählte, fuhr ein Auto hinten auf den Bus auf und zwei Leute in dem Wagen erlitten grauenvolle Verletzungen. Sie hat sie gesehen, und das belastet sie fast ebenso wie das Wissen, daß Simms er-

schossen worden ist. Kannst du nicht herkommen und sie trösten?«

«Du und Harley, ihr könnt das viel besser.«

«Sie hat gedacht, du würdest auch sterben. Sie hat einen schlimmen Schock. Du solltest wirklich herkommen.«

«Sie haben ihr im Krankenhaus doch ein Beruhigungsmittel gegeben, oder nicht?«

«Doch«, stimmte er widerwillig zu.»Und Harley auch.«

«Also… dann bring sie mal dazu, daß sie schlafen. Ich komme morgen früh, hole sie ab und bringe sie in ihr Hotel in London. Wird das genügen?«

Er meinte zögernd, daß er es annehme.

«Sag ihnen gute Nacht von mir«, sagte ich.»Sag ihnen, daß ich sie einfach großartig finde.«

«Wirklich?«Er klang überrascht.

«Es schadet doch wohl nichts, das zu sagen.«

«Zyniker.«

«Ganz im Ernst«, sagte ich.»Sie werden sich besser fühlen, wenn du’s ihnen sagst.«

«Na gut. Also, dann seh ich dich zum Frühstück.«

Ich legte auf und rief nach einigem Nachdenken wenig später Brad an.

«Himmel«, sagte er,»Sie warn bei dem Unfall dabei.«

«Wie haben Sie davon erfahren?«fragte ich erstaunt.

«Im Pub. Rede von Hungerford. Noch so’n Verrückter. Hat alle aufgerüttelt. Mama will nich mehr vor die Tür.«

Es hatte seine Zunge losgerüttelt, dachte ich amüsiert.

«Haben Sie mein Auto noch?«fragte ich.

«Wollja. «Er klang besorgt.»Sie sagten doch, ich soll’s bei mir behalten.«

«Ja, das hab ich auch so gemeint.«

«Ich bin mal zu Ihrem Haus hingegangen. Da war aber niemand nich da.«

«Ich bin auch jetzt nicht dort«, sagte ich.»Wollen Sie mich immer noch fahren?«

«Wollja. «Und dann sehr bestimmt:»Jetzt?«

«Morgen früh. «Ich sagte, ich würde ihn morgen um acht vor dem Hotel in der Nähe des Bahnhofs von Swindon erwarten, um von dort aus mit ihm nach London zu fahren.»Okay?«

«Wollja«, sagte er wieder, hängte auf — und es klang wie das Schnurren einer Katze, die sich wieder ihrer Milch zuwendet.

Lächelnd und gähnend — eine kieferzerreißende Kombination — ließ ich mir ein Bad ein. Dann zog ich mich aus, wickelte die Bandage ab und lag dankbar im warmen Wasser, das die Müdigkeit und Simms’ Blut allmählich von mir löste. Da meine Reisetasche wie die Krücken unversehrt geblieben war, konnte ich mir auch die Zähne putzen und meine Nachtshorts anziehen. Dann verband ich das Fußgelenk frisch und hängte ein» Bitte nicht stören!«-Schild draußen an die Türklinke. Und um neun lag ich im Bett und schlief und träumte von Zusammenstößen und Bränden und nebelhaft schwebenden Bedrohungen.

Am Morgen war Brad auf die Minute pünktlich zur Stelle, und wir fuhren zunächst auf der notwendigen Suche nach frischen Sachen zu meiner Wohnung. Seine Mama, so versprach Brad, würde die Sachen waschen, die ich bei dem Unfall angehabt hatte.

Meine Wohnung war noch immer ruhig und nicht durchwühlt, keine Gefahren lauerten draußen im hellen

Tageslicht. Ich zog mich unbehelligt um, packte meine Reisetasche neu, und dann fuhren wir in höchst ordentlicher Manier nach Lambourn, wobei ich neben Brad saß und dachte, daß ich auch hätte selbst fahren können — wenn ich nicht seine Gegenwart so beruhigend gefunden hätte, zumal ich ja auch an eben jenen beiden Tagen zu Schaden gekommen war, an denen er mich nicht begleitet hatte.

«Sollte uns ein Auto überholen und sich dann vor uns setzen«, sagte ich,»dann überholen Sie es nicht wieder. Lassen Sie sich einfach zurückfallen und biegen Sie in eine Nebenstraße ab.«

«Wieso?«

Ich erzählte ihm, daß die Polizei der Ansicht sei, wir wären in einen geplanten, sich eben nur bewegenden Hinterhalt geraten. Weder die Ostermeyers noch ich, sagte ich entschieden, trügen Verlangen danach, diese Erfahrung zu wiederholen, und er, Brad, wolle doch wohl auch nicht das Schicksal von Simms teilen. Er grinste — ein enervierender Anblick — und gab mir durch ein Kopfnicken zu verstehen, daß er meine Anweisung befolgen wolle.

Die Straße, die man normalerweise fuhr, um nach Lambourn zu gelangen, erwies sich als immer noch gesperrt, und ich fragte mich kurz, als wir der Umleitung folgten, ob der Grund dafür die anhaltenden Ermittlungen wegen versuchten Mordes waren oder einfach technische Probleme bei der Entwirrung des Blechknäuels.

Martha und Harley saßen, noch zittrig, beim Frühstück und führten die Kaffeetassen unsicher an bebende Lippen. Milo schob sehr erleichtert die Bürde ihrer Betreuung mir zu und erklärte ihnen, daß ihnen nun, da Derek da sei, nichts mehr passieren könne. Ich war mir dessen nicht ganz so sicher, vor allem, wenn Harley und die Polizei recht mit der Annahme hatten, daß meine Person gestern das Ziel gewesen war. Weder Martha noch Harley schienen Bedenken dieser Art zu haben, wiesen mir sogleich den Status eines Ersatzsohnes/-neffen zu, an den man sich ganz natürlich, wenn nicht um physischen, so doch um psychischen Beistand wenden konnte.

Ich sah sie voller Zuneigung an. Martha hatte sich immerhin genug Elan erhalten, um Lippenstift aufzulegen, und Harley maß dem Heftpflaster auf seiner Stirn keinerlei Bedeutung bei. Sie konnten aber nicht verhindern, daß ihr Nervensystem auf das mentale Trauma reagierte, und ich hoffte, daß es nicht lange dauern werde, bis ihre übliche Bevorzugung alles Vergnüglichen die Oberhand zurückgewann.

«Das einzig Gute am gestrigen Tag«, sagte Martha mit einem Seufzer,»war wohl die Tatsache, daß wir >Dozen Roses< gekauft haben. Milo sagt, er hätte schon einen Pferdetransporter hingeschickt.«

Ich hatte >Dozen Roses< vollkommen vergessen. Nicholas Loder und seine Erregung schienen so weit weg und so unwichtig zu sein. Ich sagte, daß es mich sehr freue, wenn sie froh über den Kauf wären, und daß ich in einer Woche oder so, wenn er sich in seinem neuen Quartier eingelebt habe, anfangen wolle, mit ihm das Springen zu üben.

«Ich bin sicher, daß er das ganz hervorragend machen wird«, sagte Martha tapfer und angestrengt um eine ganz normale Konversation bemüht.»Oder etwa nicht?«

«Manchen Pferden liegt es mehr als anderen«, sagte ich neutral.

«Es ist wie bei den Menschen.«

«Ich werde einfach daran glauben, daß er ein brillanter Hindernisspringer wird.«

Ein durchschnittlich guter, dachte ich, das würde mir ja schon genügen — aber die meisten Rennpferde konnten springen, wenn man nur geduldig mit ganz niedrigen Hindernissen wie zum Beispiel Baumstämmen anfing.

Milo bot frischen Kaffee und mehr Toast an, aber sie waren zur Abfahrt bereit, und binnen kurzem waren wir auf dem Weg nach London. Niemand überholte uns und verlangsamte die Geschwindigkeit, niemand legte uns einen Hinterhalt oder schoß auf uns, und Brad fuhr mit einem Schwung vor ihrem Hotel vor, der dem von Simms zumindest ebenbürtig war.

Marthas Augen glänzten, als sie mich zum Abschied auf die Wange küßte und ich sie auf die ihre. Harley schüttelte mir rauh die Hand. Sie würden bald wiederkommen, sagten sie, aber sie wären ganz ohne Frage auch froh, morgen erst einmal nach Hause fliegen zu können. Ich sah sie mit unsicheren Schritten ins Hotel hineingehen und dachte einfache Gedanken — so etwa den, daß ich hoffte, >Dattel-palme< würde sich für sie mit Ruhm überhäufen und >Do-zen Roses< ebenso, wenn er erst springen konnte.

«Firma?«schlug ich Brad vor, und er nickte und fuhr die nun schon vertrauten Wege nach Hatton Garden.

Bei Saxony Franklin schien sich nur wenig verändert zu haben. Es kam mir merkwürdig vor, daß erst eine Woche seit meinem ersten Besuch dort vergangen sein sollte — als ich jetzt wieder hinkam, hatte alles schon etwas so Vertrautes an sich. Die Mitarbeiter sagten» Guten Morgen, Derek«, als ob sie mich schon seit Jahren kennten, und Annette meinte, da seien noch Briefe vom Freitag liegengeblieben, die nach Entscheidungen verlangten.

«Wie war die Bestattung?«fragte sie traurig und breitete Papiere auf dem Schreibtisch aus.

Tausend Lichtjahre her, dachte ich.»Still«, sagte ich.»Gut. Ihre Blumen waren gut. Sie lagen oben auf seinem Sarg.«

Sie sah erfreut aus, meinte, sie werde es den anderen sagen, und quittierte meine Mitteilung, daß ein Gedenkgottesdienst stattfinden werde, mit augenscheinlicher Befriedigung.»Es war nicht recht, daß wir am Freitag nicht zu seiner Bestattung gegangen sind. Wir haben aber um zwei eine Schweigeminute eingelegt. Ich nehme an, daß Sie uns für recht albern halten.«

«Durchaus nicht. «Ich war gerührt und ließ sie das auch sehen. Sie lächelte auf ihre süße Art und ging, um den anderen zu berichten, und ließ mich in dem uralten Saft schmoren, Entscheidungen auf der Grundlage absoluter Unwissenheit treffen zu müssen.

June schwebte herein, sah glücklich aus mit ihren rosig schimmernden Wangen und teilte mir mit, daß unsere blau gebänderten Achatsplitter und Obsidian-Schneeflocken und Amazonit-Kugeln knapp würden.

«Bestellen Sie welche nach, wie gehabt.«

«Ja, gut.«

Sie drehte sich um und war schon fast wieder aus dem Büro, als ich sie zurückrief und fragte, ob unter all den technischen Spielereien auch ein Wecker zu finden sei. Ich zog die tiefe Schublade auf und deutete hinein.

«Ein Wecker?«Sie war nicht sicher und betrachtete prüfend die versammelten schwarzen Objekte.»Teleskope, Wörterbücher, Geigerzähler, Rechner, Spionagesaft…«

«Was ist denn Spionagesaft?«fragte ich fasziniert.

«Oh, dies hier. «Sie griff in die Schublade und zog eine Spraydose heraus.»Es ist nur meine Privatbezeichnung dafür. Sie sprühen dieses Zeug auf die Briefumschläge von anderen, und es macht das Papier durchsichtig, so daß Sie die persönlichen Schreiben darin lesen können. «Sie sah mein Gesicht und lachte.»Die Banken haben das Problem schon dadurch gelöst, daß sie die Innenseiten ihrer

Umschläge mit Mustern bedrucken. Wenn Sie deren Briefe besprühen, kriegen Sie nur Muster zu sehen.«

«Wofür hat Greville das denn benutzt?«

«Irgend jemand hat es ihm mal geschenkt, glaube ich. Er hat es nicht oft benützt, nur manchmal, um zu prüfen, ob es lohnte, Sachen aufzumachen, die nach Werbung aussahen.«

Sie legte ein weißes Blatt Papier über einen der Briefe, die auf dem Tisch lagen, und sprühte ein wenig von der Flüssigkeit darauf. Sofort wurde das Papier transparent, so daß man den Brief darunter lesen konnte, und wurde dann, langsam trocknend, wieder undurchsichtig.

«Gemein, was?«sagte sie.

«Sehr.«

Sie wollte die Spraydose wieder in die Schublade zurücktun, aber ich sagte ihr, sie solle sie auf dem Schreibtisch stehen lassen, und dann holte ich auch die anderen Stücke alle heraus und postierte sie, für jedermann sichtbar, um die Dose herum. Soweit ich erkennen konnte, verfügte keines über eine Weckvorrichtung.

«Sie erwähnten irgendwann mal eine Weltuhr«, sagte ich,»aber hier ist keine dabei.«

«Ich habe einen Wecker in meinem Büro«, sagte sie hilfsbereit.

«Soll ich Ihnen den holen?«

«Hm, ja, vielleicht. Könnten Sie ihn auf vier Uhr fünfzehn stellen?«

«Klar, auf jede Zeit, die Sie wünschen.«

Sie verschwand und kehrte wieder, an einem winzigen, schwarzen Ding von der Größe einer Kreditkarte herumfummelnd, das sich als ein höchst vielseitiger Zeitmesser entpuppte.

«Jetzt haben wir’s«, sagte sie.»Vier Uhr fünfzehn — sechzehn Uhr fünfzehn meinen Sie doch, nicht wahr?«Sie stellte die Uhr auf den Schreibtisch.

«Heute nachmittag, ja. Irgendwo ist hier ein Wecker, der immer um vier Uhr zwanzig losklingelt. Ich dachte, ich könnte den vielleicht mal aufspüren.«

Ihre Augen weiteten sich.»Oh, aber das ist doch Mr. Franklins Uhr.«

«Welche?«fragte ich.

«Er hat immer nur eine getragen. Die ist auch ein Computer, denn sie hat einen Kalender und einen Kompaß.«

Aber diese Uhr, so ging mir durch den Kopf, lag neben meinem Bett in Hungerford.

«Ich glaube fast«, sagte ich,»daß er mehr als nur einen auf vier Uhr zwanzig eingestellten Wecker hatte.«

Die blonden Augenbrauen hoben sich.»Ich habe mich manchmal gefragt, warum«, sagte sie.»Ich meine, warum vier Uhr zwanzig? Wenn er im Lagerraum war und der Wecker in seiner Uhr piepste, dann hörte er immer für ein paar Augenblicke mit dem auf, was er gerade tat. Ich fragte ihn mal danach, na ja, mehr so indirekt, aber er gab eigentlich keine Antwort darauf, sondern sagte nur, es sei eine für die Kommunikation sehr geeignete Zeit, oder irgend so etwas. Mir wurde nicht klar, was er damit meinte, aber das war schon in Ordnung, denn er wollte ja gar nicht, daß ich’s verstand.«

Sie sagte das ohne Groll, aber mit Traurigkeit. Ich dachte, daß es für Greville sicher eine ebensogroße Freude gewesen war, June um sich zu haben, wie für mich. Diese wache Intelligenz, diese unverdorbene Fröhlichkeit, dieser gesunde Menschenverstand! Er hatte sie jedenfalls genug gemocht, um ihr Rätsel aufzugeben und sein Spielzeug mit ihr zu teilen.

«Was ist das hier?«fragte ich und nahm einen schmalen grauen Apparat mit schwarzen Ohrstöpseln an einem Kopfband, die mittels eines Kabels mit so etwas wie einem Walkman verbunden waren, in die Hand, wobei allerdings keine Ab spielvorrichtung für Kassetten in dem Teil zu sehen war, der der Recorder hätte sein können.

«Das ist ein Klangverstärker. Der ist eigentlich für taube Menschen gedacht, aber Mr. Franklin hat ihn mal jemandem abgenommen, der ihn dazu benutzte, ein vertrauliches Gespräch mitzuhören, das er mit einem anderen Händler führte. Das war in Tucson. Er erzählte damals, daß er so wütend gewesen sei, daß er dem Mann, der ihn da belauscht hatte, einfach diesen Verstärker mitsamt dem kleinen Kopfhörer weggerissen habe und dann damit davongegangen sei, drohende Bemerkungen von wegen Handelsspionage vor sich hinmurmelnd, so daß der Mann nicht mal einen Versuch unternommen habe, sich die Sachen wiederzuholen. «Sie machte eine Pause.»Setzen Sie mal den Kopfhörer auf. Dann können Sie alles hören, was irgend jemand irgendwo hier in der Firma sagt. Das Ding ist ziemlich leistungsstark. Eigentlich unheimlich.«

Ich setzte den kleinen, ultraleichten Kopfhörer auf und drückte die EIN-Taste auf dem zigarettenschachtelgroßen Verstärker — und schon konnte ich Annette auf der anderen Seite des Flurs zu Lily sagen hören, sie solle daran denken, sich bei Derek für den Zahnarzt freigeben zu lassen.

Ich nahm den Kopfhörer wieder ab und sah June an.

«Was haben Sie gehört?«fragte sie.»Geheimnisse?«

«Diesmal nicht, nein.«

«Aber unheimlich ist’s schon.«

«Sie sagen es.«

Die Klangqualität war wirklich hervorragend, das Mikrophon und der Verstärker für diese Größe von erstaunlicher Empfindlichkeit. Einige von Grevilles Spielsachen waren, so dachte ich, ganz entschieden unerfreulich.

«Mr. Franklin hat mir auch gesagt, daß da irgendwo ein Stimmenumwandler dabei ist, den man ans Telefon anschließen kann und der die Klangfarbe einer Stimme verändern, eine Frau wie einen Mann klingen lassen kann. Er meinte, daß es ein ganz ausgezeichnetes Gerät gerade für Frauen sei, die allein lebten, würden sie dann doch nicht mit obszönen Anrufen belästigt werden. Niemand würde mitkriegen, daß sie allein und verwundbar seien.«

Ich lächelte.»Könnte aber auch einen echten Freund durcheinanderbringen, der in unschuldigster Absicht anruft.«

«Na ja, die würde man wohl warnen müssen«, stimmte sie zu.

«Mr. Franklin war immer sehr begeistert von Frauen, die sich zu schützen wissen.«

«Mm«, sagte ich nur.

«Er meinte, der Dschungel breite sich immer weiter aus.«

«Haben Sie auch so einen Stimmenumwandler zu Hause?«fragte ich.

«Nein, wir sprachen darüber erst kurz vor…«Sie schwieg eine Weile.»Nun ja… ach, möchten Sie ein Sandwich zum Lunch haben?«

«Ja, bitte.«

Sie nickte und war fort. Ich seufzte, versuchte, mich den schwierigen Briefen zu widmen, und war froh über die Unterbrechung, als das Telefon klingelte.

Am Apparat war Elliot Trelawney und bat darum, falls es mir nichts ausmache, ihm sofort und durch Boten die Vaccaro-Aufzeichnungen zu schicken, da sie noch am heutigen Nachmittag eine Ausschußsitzung hätten.

«Vaccaro-Aufzeichnungen«, wiederholte ich. Ich hatte sie glatt vergessen. Einen Augenblick lang konnte ich mich nicht einmal mehr daran erinnern, wo sie waren.

«Sie sagten, Sie wollten sie mir heute morgen zuschik-ken«, sagte Trelawney mit der Andeutung eines höflichen Vorwurfs.»Erinnern Sie sich?«

«Ja«, sagte ich unbestimmt.

Wo, zum Teufel, hatte ich sie? O ja, sie waren in Grevilles Wohnzimmer. Irgendwo in dem Chaos dort. Irgendwo dort, sofern der Dieb sie nicht mitgenommen hatte.

Ich entschuldigte mich. Ich sagte nicht gerade, daß ich zweimal nahe daran gewesen war, umgebracht zu werden, seit ich das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte, und daß dies meiner Konzentrationsfähigkeit nicht gut bekommen war. Ich sagte vielmehr, alles mögliche sei mir dazwischengekommen. Es tue mir wirklich leid. Ich würde versuchen, sie ihm ins Gericht zu schicken, sagen wir, bis… ja, bis wann?

«Der Ausschuß tritt um zwei Uhr zusammen, und Vac-caro steht als erster auf der Tagesordnung«, sagte er.

«Die Aufzeichnungen liegen noch in Grevilles Haus«, antwortete ich,»aber ich sorge dafür, daß Sie sie bekommen.«

«Wahnsinnig nett von Ihnen. «Er war wieder umgänglich.»Es ist wirklich schrecklich wichtig, daß wir diesen Antrag abschmettern.«

«Ja, ich weiß.«

Vaccaro, so schoß es mir zu meinem Unbehagen durch den Kopf, als ich den Hörer auflegte, Vaccaro wurde beschuldigt, seine Kokain schmuggelnden, aber zum Aussteigen entschlossenen Piloten mit Schüssen aus fahrenden Autos ermordet zu haben.

Ich starrte in die Luft. Es gab für Vaccaro nicht einen einzigen Grund auf Erden, mich zu erschießen, einmal angenommen, daß er überhaupt von meiner Existenz wußte. Ich war nicht Greville, und ich hatte nicht die Macht, um mich seinen Plänen entgegenzustellen. Alles, was ich hatte, oder wahrscheinlich hatte, waren die Notizen über seine Verbrechen, und woher sollte er das wissen? Und woher sollte er gewußt haben, daß ich am Sonntagnachmittag in einem Auto auf der Straße zwischen Lambourn und Hungerford unterwegs sein würde? Und selbst wenn Gre-villes Aufzeichnungen geklaut worden waren — konnte nicht auch irgend jemand anderes Angaben dieser Art machen?

Ich schüttelte meine Ängste ab und ging hinunter in den Hof, um nachzusehen, ob Brad im Auto säße, was der Fall war. Er las in einer Anglerzeitschrift.

Angeln?» Ich wußte gar nicht, daß Sie angeln«, sagte ich.

«Tu ich auch nich.«

Ende der Unterhaltung.

Innerlich lachend, bat ich ihn, sich auf eine Reise zu begeben. Ich gab ihm den einfachen Schlüsselbund mit den drei Schlüsseln und bereitete ihn darauf vor, was für eine Unordnung er im Haus vorfinden würde. Ich beschrieb ihm die Vaccaro-Aufzeichnungen sehr genau, mit Umschlag und allem, und schrieb ihm Elliot Trelawneys Name und die Adresse des Gerichts auf.

«Schaffen Sie das?«fragte ich, ein klein wenig im Zweifel.

«Wollja. «Mein Tonfall schien ihn gekränkt zu haben, und er nahm den Zettel mit der Adresse unwirsch entgegen.

«Tut mir leid«, sagte ich.

Er nickte, ohne mich dabei anzusehen, ließ den Motor an, und als ich gerade den Hinterausgang des Bürogebäudes wieder erreichte, fuhr er aus dem Hof hinaus.

Oben sagte Annette, daß gerade ein Anruf aus Antwerpen gekommen sei und daß sie mir die Nummer aufgeschrieben habe, damit ich zurückrufe.

Antwerpen.

Mit Mühe dachte ich zurück und an die fernen Gespräche vom vergangenen Donnerstag. Was war es doch gleich, was ich bei Antwerpen erinnern sollte?

Van Ekeren. Jacob. Sein Neffe Hans.

Ich drang bis zu der belgischen Stadt durch und wurde mit dem Klang der sanften, zweisprachigen Stimme belohnt, die mir mitteilte, daß er inzwischen in der Lage gewesen sei, mit seinem Onkel zu sprechen.

«Sie sind sehr freundlich«, sagte ich.

«Ich bin nicht sicher, ob wir Ihnen sehr behilflich sein können. Mein Onkel meint, daß er Ihren Bruder sehr lange, aber nicht sehr gut gekannt habe. Ihr Bruder habe jedoch vor ungefähr sechs Monaten bei ihm angerufen, um sich nach einem Sightholder zu erkundigen. «Er machte eine Pause.»Es scheint, daß Ihr Bruder die Absicht hatte, Diamanten zu kaufen, und daß er dem Urteil meines Onkels vertraute.«

«Aha«, sagte ich hoffnungsvoll.»Und hat Ihr Onkel ihm jemanden empfohlen?«

«Ihr Bruder nannte drei oder vier ihm möglich erscheinende Namen. Mein Onkel sagte ihm daraufhin, das seien alles vertrauenswürdige Leute, er könne sich an sie alle wenden.«

Ich seufzte.»Erinnerte er sich vielleicht noch daran, wer sie waren?«

Hans sagte:»Er weiß noch, daß einer davon Guy Servi hier in Antwerpen war, weil wir selbst oft geschäftlich mit ihm zu tun haben. An die anderen kann er sich nicht erinnern. Er weiß auch nicht, für wen sich Ihr Bruder dann entschieden hat und ob es überhaupt zu diesem Kauf gekommen ist.«

«Hm. In jedem Falle herzlichsten Dank.«

«Mein Onkel möchte Ihnen sein tiefempfundenes Beileid aussprechen.«

«Sehr freundlich.«

Er legte mit Höflichkeit auf, nachdem er mir sorgfältig Name, Anschrift und Telefonnummer von Guy Servi diktiert hatte, also von jenem Sightholder, von dem sein Onkel noch wußte, daß Greville sich nach ihm erkundigt hatte.

Ich wählte sogleich diese Nummer und mußte erneut den ganzen Hokuspokus über mich ergehen lassen, das heißt mich von Stimme zu Stimme weiterreichen lassen, bis ich jemanden hatte, der sowohl über die erforderlichen sprachlichen Fähigkeiten als auch über die gewünschten Informationen verfügte.

Mr. Greville Saxony Franklin, inzwischen verstorben, sei mein Bruder? Sie würden in den Unterlagen nachschauen und zurückrufen.

Ich wartete ohne viel Geduld, während sie all die Sicherheitsüberprüfungen vornahmen, die sie für notwendig erachteten, und nach einer langen Stunde meldeten sie sich schließlich wieder.

Worum es denn gehe, wollten sie wissen.

«Mein Problem ist, daß unser Büro durchwühlt worden ist und eine Menge Unterlagen verschwunden sind. Ich habe hier nach Grevilles Tod die Verantwortung übernommen und versuche nun, Ordnung in seine Angelegenheiten zu bringen. Könnten Sie mir bitte sagen, ob es Ihr Haus gewesen ist, das Diamanten für ihn gekauft hat?«

«Ja«, sagte die Stimme in sachlichem Ton,»das haben wir getan.«

Wahnsinn, dachte ich. Ich beruhigte meine Atmung und versuchte, nicht übereifrig zu klingen.

«Könnten Sie mich, äh, über die Einzelheiten ins Bild setzen?«fragte ich.

«Gewiß doch. Wir haben bei dem im Juli abgehaltenen Sight der CSO in London eine Sightbox mit Diamanten der Färbung H und einem Durchschnittsgewicht von drei Komma zwei Karat gekauft und davon einhundert Steine im Gesamtgewicht von 320 Karat an Ihren Bruder geliefert.«

«Er hat sie doch… äh… im voraus bezahlt, nicht wahr?«

«Natürlich. Die Summe von eins Komma fünf Millionen US-Dollar in bar. Deswegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.«

«Danke«, sagte ich, Ironie unterdrückend.»Äh, als Sie die Steine lieferten, haben Sie da irgend so etwas wie einen, äh, Lieferschein mitgeschickt?«

Es schien, als finde mein Gesprächspartner das plebejische Wort» Lieferschein «einigermaßen schockierend.

«Wir haben die Diamanten durch Boten zugestellt«, sagte er streng.»Unser Mann brachte sie zur Privatadresse Ihres Bruders in London. Wie es bei uns üblich ist, überprüfte Ihr Bruder die Sendung in Anwesenheit des Boten, wog die Steine nach und unterschrieb, mit dem Ergebnis zufrieden, eine Empfangsbestätigung. Irgendeinen anderen, hm, äh, Lieferschein gab es nicht.«

«Leider kann ich die Durchschrift nicht finden.«

«Ich versichere Ihnen, Sir.«

«Ich zweifle nicht an Ihren Worten«, sagte ich schnell.»Es ist ja nur so, daß die Steuerfritzen die dumme Angewohnheit haben, Belege zu verlangen.«

«Ah. «Seine Gekränktheit flaute wieder ab.»Ja, natürlich.«

Ich dachte ein Weilchen nach und fragte dann:»Als Sie ihm die Steine lieferten, waren sie da roh oder geschliffen?«

«Natürlich roh. Er wollte sie erst im Laufe der Zeit und ganz nach Bedarf schleifen und polieren lassen, glaube ich. Es war so einfacher für ihn, aber auch für uns, die Rohdiamanten alle auf einmal zu kaufen.«

«Sie wissen nicht zufällig, wer sie für ihn schleifen sollte?«

«Soviel mir bekannt ist, sollten sie für einen speziellen Kunden geschliffen werden, und zwar nach dessen besonderen Vorgaben. Aber wer das machen sollte, nein, das hat er nicht gesagt.«

Ich seufzte.»Immerhin, erst einmal vielen Dank.«

«Wir schicken Ihnen gern Fotokopien von den diese Transaktion betreffenden Unterlagen zu, sollte Ihnen das von Nutzen sein.«

«Ja, bitte«, sagte ich.»Das wäre eine große Hilfe.«

«Wir geben sie noch heute nachmittag zur Post.«

Ich legte mit langsamer Hand den Hörer auf. Jetzt mochte ich ja zwar wissen, woher die Diamanten stammten, war aber in der Frage, wohin sie geraten waren, noch kein Stück weitergekommen. Ich fing an zu hoffen, daß sie bei irgendeinem Schleifer ruhten, der mir zu gegebener Zeit höflichst mitteilen würde, daß sie zum Versand bereitlägen. Eigentlich kein unmöglicher Traum. Aber wenn Greville sie an einen Diamantschleifer geschickt hatte — warum gab es dann keinen Beleg dafür?

Vielleicht hatte es einen gegeben, der nur gestohlen worden war. Wenn er aber gestohlen worden war, dann wußte der Dieb lediglich, daß sich die Diamanten bei einem Schleifer befanden. Und er wußte, daß es keinen Zweck hatte, sein, das heißt Grevilles Haus danach zu durchsuchen. Nutzlose Gedanken, die sich im Kreise drehten.

Ich reckte Hals und Rücken, lockerte ein paar der Muskeln, die seit dem Autounfall ein bißchen schmerzten.

June kam herein und sagte:»Sie sehen ziemlich geschafft aus«, legte dann erschrocken die Hand vor den Mund und fügte hinzu:»Also, zu Mr. Franklin hätte ich so etwas nie und nimmer gesagt.«

«Ich bin nicht er.«

«Nein, aber… Sie sind der Chef.«

«Dann denken Sie mal darüber nach, wer uns eine Liste mit Diamantschleifern liefern könnte, und zwar vor allem von solchen, die auf Sonderanfertigungen spezialisiert sind, angefangen mit Antwerpen. Was wir brauchen, ist so was wie Gelbe Seiten, ein Telefonverzeichnis der Branche. Nach Antwerpen auch von New York, Tel Aviv und Bombay, stimmt’s? Sind das nicht die vier wichtigsten Zentren?«Ich war gut vorbereitet.

«Aber wir handeln doch nicht mit…«

«Sagen Sie’s nicht«, unterbrach ich sie.»Wir tun’s nämlich doch. Greville hat welche für Prospero Jenks gekauft, der sie so geschliffen haben möchte, daß sie zu seinen Skulpturen oder Phantasiestücken, oder wie immer man das nennt, passen.«

«Oh. «Sie sah mich erst verständnislos und dann interessiert an.

«Ja, gut, ich bin sicher, daß ich das erledigen kann. Soll ich es gleich machen?«

«Ja, bitte.«

Sie ging bis zur Tür, drehte sich dann mit einem Lächeln zu mir um.»Sie sehen noch immer ziem.«

«Mm. Raus mit Ihnen und an die Arbeit.«

Ich beobachtete, wie ihre Rückansicht verschwand. Grauer Rock, weiße Bluse. Blondes Haar, von Kämmen hinter den Ohren gehalten. Lange Beine. Flache Schuhe. June ab.

Der Tag schleppte sich dahin. Ich stellte im Tresorraum selbst drei Bestellungen zusammen und ließ Annette nachprüfen, ob auch alles stimmte, was allem Anschein nach der Fall war. Dann begab ich mich auf einen langsamen Rundgang durch alle Räume, schaute bei Alfie vorbei, um zu sehen, wie er seine Pakete packte, schaute Lily zu, die mit ihrer verknautschten Gouvernantenmiene endlos von kleinem Schubfach zu kleinem Schubfach lief und Sendungen zusammenstellte, sah Jason mit den schweren Kartons gerade eingegangener Lieferungen hantieren, verweilte einen Augenblick neben der kräftig aussehenden Tina, die ich am wenigsten kannte und die die Neuzugänge anhand der Lieferscheine prüfte und in flache Schalen sortierte.

Niemand schenkte mir groß Beachtung. Ich war ihnen bereits so vertraut wie die Tapete. Alfie machte keine anzüglichen Bemerkungen mehr über >Dozen Rosesc, und Jason behielt seine Witze für sich, warf mir allerdings einen dunklen Seitenblick zu. Lily sagte voller Demut:»Ja, Derek«, Annette blickte ängstlich drein, June war beschäftigt. Ich kehrte in Grevilles Büro zurück und unternahm einen erneuten Anlauf, um endlich die Post zu erledigen.

Bis vier Uhr hatte June — neben ihren normalen, den Lagerbewegungen geltenden Computerarbeiten — Reaktionen auf ihre» ausgestreckten Fühler «erhalten, wie sie das nannte, und eine lange Liste von Diamantschleifern in Antwerpen und eine kürzere von solchen in New York vorliegen. Tel Aviv» kam«, hatte aber Sprachprobleme, und für Bombay lag nichts vor, aber sie glaubte auch nicht, daß Mr. Franklin etwas dorthin geschickt haben würde, denn angesichts der Nähe von Antwerpen wäre das recht witzlos gewesen. Sie brachte mir die Listen und ging dann.

Bei der Geschwindigkeit, mit der die übervorsichtigen Diamantenhändler arbeiteten, dachte ich und nahm die Namensliste in die Hand, würde es allein schon eine ganze Woche dauern, um zunächst nur von denen in Antwerpen simple Ja/Nein-Antworten zu bekommen. Vielleicht war es aber den Versuch doch wert. Es mußte dringend was geschehen. Einer der Briefe war von der Bank, die daran erinnerte, daß Kreditzinsen fällig seien.

Plötzlich fing Junes winziger Wecker zu piepen an. Alle anderen Stücke auf der Schreibtischplatte blieben stumm und unbewegt. June kehrte mit hoher Geschwindigkeit durch die Tür zurück und wandte ihnen ihre lebhafte Aufmerksamkeit zu.

«Noch fünf Minuten«, sagte ich ruhig.»Sind alle Spielsachen gut sichtbar aufgebaut?«

Sie überprüfte schnell die Schubladen und spähte in die Aktenschränke, ließ alles weit offenstehen.

«Kann keine mehr finden«, sagte sie.»Wieso kommt es so darauf an?«

Sie sah mich an. Ich lächelte schief.

«Greville hat auch mir ein Rätsel hinterlassen«, sagte ich.»Ich versuche es zu lösen, obwohl ich gar nicht weiß, wo ich eigentlich ansetzen soll.«

«Oh. «Irgendwie ergab das auch ohne weitere Erklärungen einen Sinn für sie.»Wie meine Gehaltserhöhung?«

Ich nickte.»Etwa in der Art. «Aber nicht so positiv, dachte ich. Nicht so sicher. Ihr hatte er wenigstens zu verstehen gegeben, daß die Lösung, die sie suchen sollte, tatsächlich vorhanden war.

Die Minuten vergingen, und als es nach Junes Uhr genau zwanzig nach vier war, erklang prompt der leise Weckton. Sehr fern, ganz und gar nicht laut. Eindringlich. June blickte ziemlich alarmiert auf die versammelten Gerätschaften und legte ihr Ohr an sie.

«Ich werde täglich um vier Uhr zwanzig an Dich denken.«

Clarissa hatte das auf die Karte geschrieben, die sie zusammen mit den Rosen zur Bestattung geschickt hatte. Greville hatte offensichtlich eben dies auch täglich in seinem Büro getan. Das war ihre eigene, ganz private Zwiesprache gewesen, hatte überhaupt nichts mit Diamanten zu tun. Ich mußte mit Bedauern eingestehen, daß ich nichts erfahren würde von dem, was er da benutzt hatte, um sich selbst daran zu erinnern, daß er liebte und geliebt wurde.

Der gedämpfte Weckton verstummte wieder. June hob den Kopf und runzelte die Stirn.

«Von denen hier war’s keins«, sagte sie.

«Nein. Es kam noch immer aus dem Inneren des Schreibtisches.«

«Aber das kann nicht sein. «Sie war verwirrt.»Ich habe doch alles herausgenommen.«

«Es muß noch eine weitere Schublade geben.«

Sie schüttelte den Kopf, aber es war die einzig vernünftige Erklärung.

«Fragen Sie mal Annette«, schlug ich vor.

Annette, befragt, sagte mit besorgtem Schmollen, daß sie nicht das geringste von einem weiteren Schubfach wisse. Wir blickten alle auf die keinerlei Antwort gebende, sechs Zentimeter dicke Schreibtischplatte aus schwarzem, stark gemasertem Holz hinab. Sie konnte in gar keinem Falle ein weiteres Fach sein, aber trotzdem gab es keine andere Möglichkeit.

Ich dachte an das grüne Steinkästchen. An das Schlüsselloch, das gar kein Schlüsselloch war, und an den herausgleitenden Boden.

Zum großen Erstaunen von Annette und June ging ich in die Knie und besah mir die Platte von unten, wo der freie Raum für die Beine war und man sie sehen konnte. Das Holz sah dort genauso solide aus wie die Oberfläche, aber in der Mitte, ungefähr zehn Zentimeter von der Vorderkante entfernt, war etwas, das wie eine Art Riegel aussah. Befriedigt setzte ich mich wieder auf den schwarzen Lederstuhl und tastete nun unter der Platte nach dem Riegel. Ich entdeckte, daß er sich, wenn man Druck auf ihn ausübte, von einem fortbewegte. Ich tat dies, schob ihn nach vorn, und absolut gar nichts passierte.

Etwas mußte aber geschehen sein, überlegte ich. Der Riegel war doch nicht nur so zum Spaßvergnügen dort. Nichts war bei Greville umsonst da. Ich drückte ihn wieder mit aller Kraft nach vorn und versuchte nun gleichzei-tig, alles andere, was ich sonst noch zu erreichen vermochte, anzuheben, wegzuschieben oder sonst irgendwie zu bewegen. Nichts rührte sich. Ich schlug frustriert mit der Faust auf den Schreibtisch, und da fiel ein Stück von der Vorderkante der so solide aussehenden Platte ab und mir in den Schoß.

Annette und June hielten den Atem an. Das Teil, das abgefallen war, sah wie ein Stück Furnier aus, das mit Metallklammern versehen war, die es an Ort und Stelle festgehalten hatten. Darunter war auch Holz, aber diesmal mit einem Schlüsselloch darin. Annette und June sahen gespannt zu, wie ich Grevilles Schlüsselbund aus der Tasche zog und alle Schlüssel durchprobierte, die so aussahen, als hätten sie die richtige Größe. Einer davon ließ sich ganz leicht und fast ohne klickendes Geräusch im Schloß herumdrehen. Jetzt zog ich den im Schlüsselloch steckenden Schlüssel auf mich zu, und wie geölt glitt eine breite, flache Lade heraus.

Wir blickten alle auf ihren Inhalt hinab. Reisepaß. Kleine, flache, schwarze Geräte, vier oder fünf davon.

Keine Diamanten.

June war begeistert.»Da ist ja der Hexer«, sagte sie.

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