Wir hatten keineswegs die Diamanten gefunden. Auf dem Monitor stand die Nachricht:
Wenn Sie dies gelesen haben, June, dann kommen Sie doch schnurstracks in mein Büro und bitten um eine Gehaltserhöhung. Sie wären es zwar wert, in Ihrem Monatsstein aufgewogen zu werden, ich kann Ihnen aber nur eine Erhöhung Ihrer Bezüge um zwanzig Prozent bieten.
Mit freundlichen Grüßen
Greville Franklin
«Oh!«Sie saß wie versteinert da.»Das war’s also, was er gemeint hat.«
«Erklären Sie’s mir«, sagte ich.
«Eines Morgens…«Sie hielt inne, und ihr Mund verzog sich bei dem Bemühen, nicht in Tränen auszubrechen. Sie brauchte eine Weile, bis sie weitersprechen konnte, und dann sagte sie:»Eines Morgens meinte er zu mir, daß er ein kleines Rätsel für mich erfunden habe und mir sechs Monate Zeit gebe, es zu lösen. Nach sechs Monaten werde es sich selbst vernichten. Er lächelte dabei so fröhlich. «Sie schluckte.»Ich fragte ihn, was für eine Art von Rätsel es sei, aber er wollte es mir nicht verraten. Er sagte nur, er hoffe sehr, daß ich es lösen könne.«
«Und haben Sie gesucht?«
«Aber natürlich. Ich durchforschte die ganze Firma, obwohl ich eigentlich gar nicht recht wußte, nach was ich da suchte. Ich suchte auch im Computer, und zwar nach einer neuen Datei, aber ich kam einfach nicht auf den Gedanken, daß es eine Geheimdatei sein könnte. Das Wort >Per-le< übersah ich völlig, weil ich es ja so häufig vor Augen habe. Wie albern. Richtig dumm.«
Ich sagte:»Ich glaube nicht, daß Sie dumm sind, und ich werde das Versprechen meines Bruders einlösen.«
Sie schenkte mir einen schnellen, erfreuten Blick, schüttelte dann aber den Kopf ein wenig und sagte:»Ich hab’s ja nicht gelöst. Ich hätte es nie gefunden, wenn Sie nicht gewesen wären. «Sie zögerte.»Wie wäre es mit zehn Prozent?«
«Zwanzig«, sagte ich bestimmt.»Ich werde Ihre Hilfe und Ihr Wissen brauchen, und wenn Annette persönliche Assistentin ist, wie da an der Tür ihres Büros steht, dann sind Sie eben jetzt stellvertretende persönliche Assistentin, und dies mit den Bezügen, die für diese neue Stelle vorgesehen sind.«
Sie errötete und befaßte sich angelegentlich damit, einen Ausdruck von Grevilles Anweisungen herzustellen, den sie zusammenfaltete und einsteckte.
«Ich werde das Geheimnis im Computer lassen«, sagte sie mit verschleierter Zuneigung.»Niemand wird es je dort finden. «Sie drückte ein paar Tasten, der Monitor war wieder leer, und ich fragte mich, wie oft sie wohl so ganz für sich allein die magischen Worte aufrufen würde, die Greville ihr hinterlassen hatte.
Ich stellte mir auch die Frage, ob sie sich tatsächlich selbst löschen würden, das heißt, ob man einem Computer wirklich etwas mit dem Befehl eingeben konnte, sich zu einer bestimmten Zeit selbst zu vernichten. Ich konnte nicht sehen, warum so etwas nicht möglich sein sollte, aber ich dachte auch, daß Greville ihr wohl vor Ablauf der sechs Monate deutlichere Hinweise gegeben hätte.
Ich bat June, mir zuerst eine Liste von allem auszudruk-ken, was sich augenblicklich im Tresorraum befand, und dann eine Aufstellung all der Dinge, von denen sie glaubte, daß sie mir dabei helfen könnten, das Geschäft besser zu verstehen — also zum Beispiel Umfang und Wert der Verkäufe, die an einem Tag, in einer Woche, in einem Monat getätigt wurden, oder welche Sachen am häufigsten verlangt wurden und welche am seltensten.
«Ich kann Ihnen auf alle Fälle schon mal sagen, daß im Augenblick schwarzer Onyx sehr beliebt ist. Vor fünfzig Jahren, sagt man, ging nichts über Bernstein, heute kauft ihn kein Mensch mehr. Schmuck kommt in Mode und wieder aus der Mode, wie alle anderen Dinge auch. «Sie fing an, auf ihren Tasten herumzutippen.»Geben Sie mir ein bißchen Zeit, und ich drucke Ihnen einen Schnellkurs aus.«
«Danke«, sagte ich lächelnd und wartete, während der Drucker eine gewaltige Menge glitzernder Facetten ausspuckte. Dann begab ich mich mitsamt der Liste auf die Suche nach Annette, die ich in den Lagerräumen fand und fragte, ob sie mich als Führerin auf einem Rundgang — in schnellem Galopp — durch den Tresorraum begleiten könne.
«Es gibt dort keine Diamanten«, sagte sie mit Entschiedenheit.
«Ich sehe mir besser mal an, was es da gibt.«
«Sie sehen gar nicht wie ein Jockey aus«, sagte sie.
«Wieviele kennen Sie denn?«
Sie sah mich mit großen Augen an.»Keinen, außer Ihnen.«
«Im großen und ganzen«, sagte ich milde,»sind Jockeys Menschen wie alle anderen auch. Hätten Sie das Gefühl, daß ich besser in der Lage wäre, den Laden hier zu schmeißen, wenn ich, sagen wir mal, Klavierstimmer wäre? Oder Schauspieler? Oder Geistlicher?«
«Nein«, sagte sie schwach.
«Na gut, da haben wir also einen Jockey am Hals. Schicksal. Tun Sie Ihr Bestes für den armen Kerl.«
Ganz unfreiwillig lächelte sie ein echtes Lächeln, das ihr so bekümmertes Gesicht in wunderbarer Weise aufhellte.»Also«, sagte sie und fuhr erst nach einer kleinen Pause fort.»In mancherlei Hinsicht sind Sie wirklich wie Mr. Franklin. Die Art und Weise, wie Sie Sachen sagen. Sei ehrlich in deinem Tun, sagte er immer, und schlafe bei Nacht.«
«Sie erinnern sich hier alle an das, was er gesagt hat, nicht wahr?«
«Natürlich.«
Er hätte, so nahm ich an, wohl mit Freude festgestellt, daß er ein so positives Erbe hinterlassen hatte. So viele Lehren. So viel Weisheit. Aber nur so wenige Schilder, die den Weg zu seinem Privatleben wiesen. Und auch keinen sichtbaren Wegweiser, der zu den Diamanten führte.
Im Tresorraum zeigte mir Annette, daß auf jedem Etikett neben der chemischen Formel eine Zahl stand — wenn ich bei dieser Zahl auf der Liste nachschaute, die mir June ausgedruckt hatte, würde ich dort die Formel wiederfinden, dazu aber auch den Namen der Steine, die Farbe, Form und Größe sowie das Herkunftsland.
«Warum hat er dieses Verfahren gewählt?«fragte ich.»Das erschwert es doch nur, Sachen zu finden.«
«Ich glaube, genau das war seine Absicht«, antwortete sie.»Ich sagte Ihnen ja, er war sehr auf Sicherheit bedacht.
Hier arbeitete mal eine Sekretärin, der es gelang, eine ganze Menge von unseren wertvollsten Türkisen aus dem Tresorraum zu stehlen. Damals stand auf dem Etikett schlicht >Türkis<, was ihr die Sache leichtmachte. Das ist heute anders.«
«Und was steht heute da?«
Sie lächelte und zeigte auf eine Reihe von Pappkartons. Ich besah mir die weißen Aufkleber, auf denen allen zu lesen stand: CuAl6(PO4)4(OH)8-4-5(H2O).
«Genug, um einen für den Rest des Lebens abzuschrek-ken«, sagte ich.
«Genau. Das ist der Witz dabei. Mr. Franklin konnte die Formeln so gut lesen wie Wörter, und ich habe mich inzwischen auch an sie gewöhnt. Niemand außer ihm und mir handhaben die Steine hier drinnen. Wir packen sie mit eigner Hand in kleine Schächtelchen und versiegeln diese, bevor sie zu Alfie in den Versand gehen. «Sie blickte die Reihe der Etiketts entlang und tat ihr Bestes, mich aufzuklären.»Wir verkaufen diese Steine zu einem auf dem Karat basierenden Preis. Ein Karat sind 200 Milligramm, das heißt fünf Karat sind ein Gramm, 142 Karat eine Unze und 5000 Karat ein Kilo.«
«Langsam, langsam«, bat ich.
«Sie sagten doch, daß Sie schnell lernen.«
«Geben Sie mir ein oder zwei Tage.«
Sie nickte und meinte, daß sie sich, wenn ich sie nicht mehr brauchte, lieber wieder den Büchern zuwenden würde.
Die Bücher, dachte ich, und mir wurde ganz mulmig. Mit ihnen hatte ich mich noch gar nicht befaßt. Ich erinnerte mich an die Freude, mit der ich der Universität von Lancaster, an der ich den Studiengang» Independent Stu-dies «belegt hatte, nach den Abschlußexamina den Rücken gekehrt und mir geschworen hatte, mich nie wieder in meinem Leben nur aus Pflicht in irgendwelche Bücher zu vertiefen. Statt dessen war ich (den schriftlich geäußerten Wünschen meines Vaters zuwider) auf geradem Wege zu einem Steeplechase-Stall geeilt, wo ich eine ganze Reihe von Tagen als Amateur herumgehangen hatte. Es stimmte schon, daß ich auf dem College schnell gelernt hatte, dies aber vor allem deshalb, weil ich dazu gezwungen gewesen war. Oft genug hatte ich die halbe Nacht durchgearbeitet und war so dem väterlichen Mahnschreiben wenigstens teilweise gerecht geworden. Er hatte gehofft, daß ich der Verführung, die Pferderennen, wie er wohl wußte, für mich bedeuteten, langsam entwachsen würde, aber sie waren und blieben alles, was ich je gewollt hatte — ich wäre nie und nimmer imstande gewesen, mich irgend etwas anderem zuzuwenden. Das hätte, langfristig gesehen, doch keinerlei Zukunft, hatte er mir geschrieben. Außer der Tatsache, daß es an jeder finanziellen Sicherheit fehle, gebe es da auch noch das fortwährende Risiko der Invalidität.»Ich bitte Dich, vernünftig zu sein«, hatte er geschrieben,»Dir die Sache noch mal genau durch den Kopf gehen zu lassen und Dich dagegen zu entscheiden.«
Da hatte er Pech gehabt!
Seufzend hing ich dem Gedanken nach, daß ich in jenen Tagen noch mit solcher Leichtigkeit so sicher hatte sein können. Und doch würde ich, könnte ich noch einmal von vorne beginnen, alles wieder ganz genauso machen. Das Rennreiten hatte mir tiefste Erfüllung gebracht, und wenn mein Geist gealtert war, dann deshalb, weil dies das Leben so mit sich brachte. Enttäuschungen, Ungerechtigkeiten, kleine Treuebrüche — das waren Dinge, die allen Menschen widerfuhren. Ich erwartete nicht mehr, daß immer alles glatt ginge, aber es war doch bislang stets glatt genug gegangen, um mich im Gleichgewicht der Zufriedenheit zu halten.
Ohne das Gefühl, daß mir die Welt etwas schuldig geblieben sei, unterzog ich mich der gerade anstehenden, langweiligen Aufgabe, jeden Umschlag in jeder Pappschachtel zu öffnen — auf der Suche nach kleinen Stückchen reinen Kohlenstoffs. Es war keineswegs so, daß ich die Diamanten dort zu finden hoffte, sondern es wäre mir nur dumm erschienen, nicht nachzuschauen — für den Fall, daß sie vielleicht doch dort waren.
Ich arbeitete mich methodisch voran, stellte den jeweils untersten Pappkarton auf das Regalbrett, das an der rechten Wand angebracht war, und faltete dann das steife weiße Papier mit dem weichen Innenfutter auf, um mir unzählige Peridote, Chrysoberylle, Granate und Aquamarine anzuschauen, bis sich mir alles im Kopf drehte. Ich hörte schließlich wieder auf, obwohl ich erst etwa ein Drittel der Bestände durchgesehen hatte, denn abgesehen von dem im Tresorraum herrschenden Sauerstoffmangel war es für mich ungemein ermüdend, die ganze Zeit auf einem Bein stehen zu müssen, waren die Krücken hier doch nur teilweise hilfreich und ebensooft im Weg. Ich faltete den letzten Umschlag mit XY3Z6[(O, OH, F)4(BO3)3Si6O18] (Turmalin) zusammen und ließ es für heute gut sein.
«Was haben Sie in Erfahrung gebracht?«fragte Annette, als ich wieder in Grevilles Büro erschien. Sie sortierte dort noch immer Papiere in die Fächer ein, in die sie gehörten, ein Tun, das sich aber offensichtlich seiner Vollendung näherte.
«Genug, um Juwelierläden mit ganz anderen Augen zu sehen«, sagte ich.
Sie lächelte.»Wenn ich eine Illustrierte lese, schaue ich mir nicht die Kleider der Leute an, sondern den Schmuck.«
Das paßte zu ihr. Ich dachte, daß es mir von nun an, mir selbst zum Trotz, leicht genauso gehen könnte. Ich würde obendrein vielleicht auch noch eine Vorliebe für Manschettenknöpfe aus schwarzem Onyx entwickeln.
Es war jetzt vier Uhr nachmittags an diesem allem Anschein nach sehr langen Tag. Ich besah mir das Rennprogramm in Grevilles Taschenkalender, kam zu dem Schluß, daß Nicholas Loder die Rennen in Redcar, Warwick und Folkestone sehr wohl ausgelassen haben könnte, und wählte seine Nummer. Seine Sekretärin meldete sich — ja, Mr. Loder sei zu Hause, und ja, er sei für mich zu sprechen.
Dann meldete er sich und dies fast gänzlich ohne jene Erregung, die er am gestrigen Abend gezeigt hatte, denn diesmal waren die Schwingungen der Baßtöne ganz deutlich durch den Draht zu hören.
«Ich habe mit Weatherby und dem Jockey Club gesprochen«, sagte er ganz entspannt,»und glücklicherweise gibt’s keinerlei Probleme. Sie sind dort auch der Ansicht, daß vor der Testamentsanerkennung die Pferde weiterhin der Firma Saxony Franklin und nicht Ihnen gehören, und sie werden sie nicht für die Rennen sperren, wenn sie unter diesem Besitzer laufen.«
«Gut«, sagte ich und war ein wenig überrascht.
«Sie haben natürlich auch darauf hingewiesen, daß es zumindest einen registrierten, von der Firma beauftragten Bevollmächtigten geben muß, der für die Pferde verantwortlich zeichnet, wobei diese Vollmacht mit dem Siegel der Firma versehen und bei Weatherby eingetragen sein muß. Nun hat Ihr Bruder sich selbst und mich als registrierte Bevollmächtigte eingesetzt, und unabhängig von seinem Tod bleibe ich das und bin befugt, selbständig im Namen der Firma zu handeln.«»Ah!«sagte ich.
«Und da dem so ist«, sagte Loder befriedigt,»nimmt >Do-zen Roses< wie vorgesehen an dem Rennen in York teil.«
«Und wird gut laufen?«
Er kicherte.»Das wollen wir hoffen.«
Dieses Kichern, dachte ich, war Ausdruck der größten Zuversicht.
«Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie in Zukunft Saxony Franklin darüber informieren würden, wo die Pferde jeweils laufen sollen«, sagte ich.
«Ich habe Ihren Bruder immer persönlich verständigt und ihn unter seiner Privatnummer angerufen. Das kann ich in Ihrem Falle kaum tun, da Sie nicht der Besitzer der Pferde sind.«
«Nein«, stimmte ich ihm zu.»Ich meinte auch, ob Sie bitte die Firma unterrichten würden. Ich gebe Ihnen die Nummer. Fragen Sie dann bitte nach Mrs. Annette Adams. Sie war Grevilles Stellvertreterin.«
Er konnte das nicht gut ablehnen, und deshalb sagte ich ihm die Telefonnummer, die er wiederholte, während er sie sich notierte.
«Vergessen Sie aber nicht, daß bei den Flachrennen die Saison nur noch einen Monat dauert«, sagte er.»Die Pferde werden also wahrscheinlich jedes nur noch einmal laufen. Im Höchstfall zweimal. Danach verkaufe ich sie dann für Sie, was wohl die beste Lösung wäre. Kein Problem, überlassen Sie das nur mir.«
Was er da sagte, war zwar vernünftig, aber ganz unvernünftigerweise hatte ich doch etwas gegen seine Eile.
«Ich muß als Testamentsvollstrecker meines Bruders jedem Verkauf zustimmen«, sagte ich und hoffte, daß ich recht damit hatte.»Vorher.«»Ja, ja, natürlich. «Ermutigende Herzlichkeit.»Ihre Verletzung«, sagte er dann,»wie sieht die genau aus?«
«Kaputtes Fußgelenk.«
«Ah. Wirklich Pech. Sie machen aber doch Fortschritte, hoffe ich?«Das Mitgefühl klang in meinen Ohren mehr nach Erleichterung als nach irgend etwas anderem, und wieder vermochte ich nicht zu sagen, warum.
«Es geht voran«, sagte ich.
«Gut, gut. Auf Wiedersehen also. Das Rennen am Samstag in York wird ja im Fernsehen gezeigt, und ich nehme an, daß Sie’s sich anschauen?«
«Ich denke schon.«
«Schön. «Er legte gut gelaunt auf und überließ mich der Frage, was mir da wohl entgangen sein mochte.
Gleich darauf aber klingelte Grevilles Telefon erneut, und diesmal war es Brad, der mir mitteilte, daß er von seinem Tagesausflug zu einer obskuren Tante in Walthamstow zurück und unten in der Halle sei — genau genommen war alles, was er sagte:»Bin wieder da.«
«Großartig. Ich bin hier bald fertig.«
Die Antwort war ein Klicken — Ende des Gesprächs.
Ich hatte tatsächlich bald gehen wollen, aber dann kamen ziemlich kurz hintereinander zwei weitere Anrufe. Der erste war von einem Mann, der sich als Elliot Trelawney vorstellte und ein Kollege von Greville am Westlondoner Magistratsgericht war. Er habe, so sagte er, mit größter Betroffenheit von Grevilles Tod erfahren, und das klang durchaus aufrichtig. Eine feste Stimme, die es gewohnt war, daß man ihr Aufmerksamkeit schenkte — der Anklang sonoren Nachdrucks war da zu hören.
«Außerdem«, sagte er,»würde ich gerne mit Ihnen über ein paar Dinge sprechen, mit denen Greville und ich gerade befaßt waren. Ich möchte vor allem auch seine Aufzeichnungen dazu bekommen.«
Ich sagte verständnislos:»Was für Dinge? Was für Aufzeichnungen?«
«Ich könnte Ihnen das weitaus besser bei einem persönlichen Gespräch erläutern«, sagte er.»Dürfte ich Sie um ein Treffen bitten? Sagen wir, morgen am frühen Abend, auf einen Drink? Sie kennen doch sicher den Pub bei Grevilles Haus gerade um die Ecke? Den >Rook and Castle Dort. Wir haben uns häufig dort getroffen. Halb sechs, sechs, wann würde es Ihnen passen?«
«Halb sechs«, sagte ich entgegenkommend.
«Wie erkenne ich Sie?«
«An meinen Krücken.«
Das ließ ihn einen Augenblick lang in Schweigen versinken. Ich befreite ihn aus seiner Verlegenheit.
«Ich brauche sie nur vorübergehend«, sagte ich.
«Äh, ja, also gut. Bis morgen dann.«
Er legte auf, und ich fragte Annette, ob sie ihn kenne, diesen Elliot Trelawney? Sie schüttelte den Kopf. Sie könne nicht ernsthaft behaupten, daß sie irgend jemanden außerhalb des Büros kenne, mit dem Greville privat Umgang gehabt habe. Wenn man Prospero Jenks nicht mitrechne, meinte sie zweifelnd. Aber auch da gelte, daß sie ihn nie richtig kennengelernt, sondern immer nur mit ihm telefoniert habe.
«Prospero Jenks… alias Faberge?«
«Ja, genau der.«
Ich dachte nach.»Würde es Ihnen etwas ausmachen, ihn gleich mal anzurufen?«sagte ich.»Informieren Sie ihn über Grevilles Geschick und fragen Sie ihn, ob ich ihn mal besuchen dürfte, um mit ihm über die Zukunft zu sprechen. Sagen Sie nur, ich sei Grevilles Bruder, sonst nichts.«
Sie grinste.»Keine Pferde? Pas de Hottehüs?«
Annette taute wirklich langsam auf, dachte ich belustigt.
«Keine Pferde«, bestätigte ich.
Sie rief an, aber ergebnislos — Prospero Jenks sei erst morgen wieder zu erreichen. Sie werde es dann noch einmal versuchen, sagte sie.
Ich stemmte mich hoch und sagte, daß ich jetzt gehen, wir uns morgen wieder sehen würden. Sie nickte, hielt es wohl für ganz selbstverständlich, daß ich am morgigen Tag wieder in die Firma kommen würde. Der Treibsand gewann die Oberhand, schoß es mir durch den Kopf. Ich war immer weniger in der Lage, mich aus ihm zu befreien.
Ich ging den Flur hinunter und schaute bei Alfie vorbei, dessen Tagewerk in Form von Säulen gepackter Pakete vor der Tür stand, die nur noch darauf warteten, der Post anvertraut zu werden.
«Wieviele davon schicken Sie so pro Tag raus?«fragte ich und deutete auf sie.
Er sah kurz von seiner Arbeit auf, die darin bestand, ein weiteres Päckchen mit Klebeband zu schließen.»Im Normalfall etwa zwanzig, fünfundzwanzig, aber von August bis Weihnachten mehr. «Er schnitt das Band geschickt ab und brachte mit schnellen Bewegungen einen Adressenaufkleber an.»Heute bis jetzt achtundzwanzig.«
«Wetten Sie eigentlich, Alfie?«fragte ich.»Und lesen Sie die Rennzeitschriften?«
Er sah mich halb abwehrend und halb herausfordernd an, wobei beide Reaktionen gänzlich unnötig waren.»Ich wußte ja, daß Sie der sind«, sagte er.»Die andern haben alle gemeint, daß das nicht sein könnte.«
«Kennen Sie auch >Dozen Roses«
In seinem Gesicht zeigte sich ein Anflug von Verschlagenheit.»Hat wieder angefangen zu gewinnen, was? Hab ihn beim ersten Mal verpaßt, aber ja, seither hab ich ein kleines Sümmchen gewonnen.«
«Er läuft am Samstag in York, geht aber als Favorit an den Start.«
«Wird er aber auch gewinnen? Werden sie’s wollen? Ich würde da nicht mein letztes Hemd drauf setzen.«
«Nicholas Loder meint, er wird.«
Er wußte, wer Nicholas Loder war, brauchte nicht zu fragen. Voller Sarkasmus stellte er das gerade gepackte Paket auf eine stabile Waage und schrieb das Ergebnis mit einem dicken schwarzen Stift auf den Karton. Er mußte schon weit über sechzig sein, dachte ich — diese tiefen Linien, die von seiner Nase zu den Mundwinkeln hinabführten, und diese blasse, schlaffe Haut überall, die ihre Elastizität weitgehend eingebüßt hatte! Seine Hände, auf denen sich die Adern des Alters dunkelblau abzeichneten, waren allerdings noch beweglich und kräftig, und er bückte sich mit großer Geschmeidigkeit, um die nächste schwere Schachtel hochzuheben. Ein zäher alter Bursche, dachte ich, der weit besser wußte, was draußen auf der Straße los war, als der so sehr von sich eingenommene Jason.
«Mr. Franklins Pferde haben eine sehr schwankende Form«, sagte er spitz.»Als Jockey wird Ihnen das ja nicht entgangen sein.«
Bevor ich mir noch schlüssig darüber werden konnte, ob er mich da absichtlich beleidigen wollte oder nicht, kam Annette über den Flur gelaufen, laut meinen Namen rufend.
«Derek… ah, da sind Sie ja. Zum Glück noch nicht weg, denn da ist ein Anruf für Sie. «Sie machte gleich wieder kehrt und lief in Grevilles Büro zurück. Mit Interesse vermerkend, daß sie das» Mister «weggelassen hatte, folgte ich ihr. Was gestern noch undenkbar gewesen war, war heute ganz selbstverständlich, jedenfalls seit ich als Jockey etabliert war. Und dagegen war ja auch nichts einzuwenden — solange es nicht zu weit führte.
Ich nahm den Hörer auf, der neben dem Apparat auf der schwarzen Tischplatte lag, und sagte:»Hallo, Derek Franklin hier.«
Eine vertraut klingende Stimme sagte:»Gott sei Dank. Ich hab den ganzen Tag versucht, dich in Hungerford zu erreichen. Dann erinnerte ich mich an die Sache mit deinem Bruder…«Er sprach sehr laut, von Dringlichkeit getrieben.
Milo Shandy, der Trainer, für den ich nun schon seit drei Jahren ritt — ein unverbesserlicher Optimist im Angesicht einer Welt voller Korruption, Habgier und Lügen.
«Ich bin in einer Krise«, bellte er,»könntest du mal herkommen? Kannst du alles dransetzen, gleich morgen früh rauszukommen?«
«Aber, äh, wozu denn?«
«Du kennst doch die Ostermeyers? Sie sind von Pittsburgh rübergekommen, weil sie irgendwas in London zu tun haben. Sie riefen mich an, und ich erzählte ihnen, daß >Dattelpalme< zum Verkauf steht. Du weißt ja, daß ich ihn hierbehalten kann, wenn sie ihn kaufen, ich ihn sonst aber zur Auktion geben muß. Und sie wollen, daß du hier bist, wenn sie ihn sich bei der Arbeit in den Downs ansehen, haben aber nur morgen ganz früh Zeit und halten dich halt für den großen King, also komm um Himmels willen bitte her.«
Es war nicht schwer, sich seine Erregung zu erklären. >Dattelpalme< war nämlich das Pferd, mit dem ich den
Gold Cup gewonnen hatte — ein siebenjähriger Wallach, der — mit etwas Glück — noch am Anfang einer vielversprechenden Karriere als Steepler stand. Seine Besitzerin hatte kürzlich bei Milo die Bombe der Nachricht platzen lassen, daß sie England zu verlassen und einen Australier zu heiraten gedenke, und wenn er >Dattelpalme< zu der astronomisch hohen Summe, die sie genannt hatte, an einen seiner anderen Besitzer verkaufen könne, dann werde sie das Pferd nicht zur Auktion geben, das heißt aus seinem Stall holen müssen.
Seitdem war Milo die meiste Zeit über in einem Zustand der Panik gewesen, weil bislang noch keiner der anderen Besitzer den genannten Preis für angemessen erachtet hatte, zumal da sie den Sieg im Gold Cup für reines Glück hielten, das sich dem Fehlen einer Reihe von weit etablierteren, aber an Husten erkrankten Tieren verdankte. Sowohl Milo als auch ich waren der Auffassung, daß >Dat-telpalme< weit besser als sein Ruf war, und mir war so sehr wie ihm daran gelegen, daß das Pferd dem Stall erhalten blieb.
«Beruhige dich, ich werde kommen«, versicherte ich ihm.
Erleichtert stieß er eine Menge Luft aus.»Sag den Ostermeyers, daß er ein wirklich gutes Pferd ist.«
«Das ist er«, sagte ich,»und ich werd’s ihnen schon beibringen.«
«Danke, Derek. «Seine Stimme senkte sich zu normaler Lautstärke herab.»Ach, übrigens gibt es kein Pferd namens >Koningin Beatrix< und wird es wohl auch nie geben. Bei Weatherby sagt man, daß Beatrix die Königin der Niederlande sei, und sie sehen es nicht gerne, wenn Leute ihre Pferde nach Personen aus königlichem Hause benennen.«
«Oh«, sagte ich,»herzlichen Dank für die Auskunft.«
«Gern geschehen. Bis morgen also. Sei um Himmels willen pünktlich. Du weißt ja, daß die Ostermeyers noch vor den Hühnern aufstehen.«
«Was ich brauche«, sagte ich zu Annette und legte den Hörer auf,»ist ein Terminkalender, damit mir nicht entfällt, wo ich versprochen habe, wann zu erscheinen.«
Sie fing an, in der Schublade mit dem technischen Spielzeug zu suchen.
«Mr. Franklin hatte so ein elektronisches Ding, in das er seine Termine einzugeben pflegte. Das könnten Sie doch erst einmal benutzen. «Sie kramte in der schwarzen Sammlung herum, aber ohne Erfolg.»Warten Sie einen Augenblick«, sagte sie und schloß das Fach wieder,»ich frage mal June, ob sie weiß, wo es ist.«
Sie eilte geschäftig davon, und ich dachte darüber nach, wie ich den Ostermeyers, die sich alles leisten konnten, was sie haben wollten, nahebringen könnte, daß >Dattel-palme< ihnen, wenn schon nicht ihre Dollars zurück, so doch Ruhm und Ehre bringen würde. Sie hatten immer mal wieder Springpferde bei Milo stehen gehabt, aber jetzt schon fast ein ganzes Jahr nicht mehr. Ich hätte schon viel erreicht, dachte ich, wenn ich sie davon überzeugen könnte, daß es an der Zeit sei zurückzukehren.
Ganz leise und gedämpft erklang ein Ton, so ein Weckton, wie sie diese modernen Quarzwecker von sich geben, aber ich schenkte dem anfangs keinerlei Beachtung. Als aber das Piepsen nicht wieder aufhörte, zog ich das Spielzeugfach auf, um dort nachzuschauen, und natürlich verstummte es sofort, als ich dies tat. Ich zuckte die Achseln und schloß die Schublade wieder, und in diesem Augenblick kehrte auch Annette zurück und brachte zwar ein Stück Papier, aber keinen elektronischen Terminkalender mit.
«June weiß auch nicht, wo der Hexer geblieben ist, und deshalb lege ich Ihnen zunächst einmal einen Behelfskalender auf diesem einfachen Blatt Papier an.«
«Was ist das denn, der Hexer?«fragte ich.
«Dieser Rechner. Oder Minicomputer. June meinte, der könne alles, außer Eier kochen.«
«Und warum nennen Sie ihn >Hexer«wollte ich wissen.
«Das ist der Markenname, der da draufsteht. Das Ding hat etwa die Größe eines Taschenbuchs und war Mr. Franklins Lieblingsgerät. Er nahm es überallhin mit. «Sie runzelte die Stirn.»Vielleicht liegt’s im Auto, wo immer sich das befinden mag.«
Das Auto! Noch ein Problem.»Ich werde den Wagen schon finden«, sagte ich mit mehr Zuversicht, als ich verspürte. Irgendwie würde ich das Auto finden müssen.»Vielleicht ist ja der Hexer auch bei dem Einbruch hier entwendet worden«, sagte ich.
Sie sah mich an, und ihre Augen öffneten sich weit.»Der Dieb hätte aber wissen müssen, um was es sich da handelt. Das Gerät wird flach zusammengelegt, und man kann keine Tasten mehr sehen.«
«Diese Geräte lagen alle auf dem Fußboden, nicht wahr?«
«Ja. «Das verwirrte sie.»Warum das Adreßbüchlein? Warum die Oktober-Termine? Warum den Hexer?«
Wegen der Diamanten, dachte ich ganz spontan, konnte das aber nicht begründen. Vielleicht hatte jemand — wie ich — nach der Karte gesucht, auf der das Versteck des Schatzes mit einem X markiert war. Vielleicht hatte er gewußt, daß es diesen Minicomputer gab. Vielleicht hatte er ihn gefunden.
«Ich werde morgen ein paar Stunden später kommen«, sagte ich zu Annette.»Und um fünf muß ich wieder weg, weil ich um halb sechs mit Elliot Trelawney verabredet bin. Wenn Sie also Prospero Jenks erreichen sollten, dann fragen Sie ihn, ob ich zu irgendeiner Zeit dazwischen bei ihm vorbeikommen könnte. Oder wenn das nicht paßt, dann eben irgendwann am Donnerstag. Halten Sie den Freitag frei, wegen der Bestattung.«
Greville ist erst vorgestern gestorben, dachte ich. Das schien schon wieder eine Ewigkeit her zu sein.
Annette sagte:»Ja, Mr. Franklin«, und biß sich bestürzt auf die Lippen.
Ich lächelte sie an.»Nennen Sie mich doch Derek. Ganz einfach Derek. Und legen Sie da hinein, wonach immer Ihnen zumute ist.«
«Es ist alles so verwirrend«, sagte sie schwach.»Von einer Minute zur anderen.«
«Ja, ich weiß.«
Mit einer gewissen Erleichterung fuhr ich im Servicelift nach unten und schwang mich an meinen Krücken über den Hof zu Brad, der im Auto saß. Er sprang heraus und verfrachtete mich auf den Rücksitz, dazu die Krücken, und wartete, bis ich mein Bein auf dem Lederpolster zurechtgelegt und mich selbst für die Fahrt in bequemstem Winkel in der Ecke zurechtgesetzt hatte.
«Nach Hause?«fragte er.
«Nein. Wie ich schon auf der Herfahrt sagte, würde ich gern noch nach Kensington, wenn’s recht ist.«
Er nickte kaum wahrnehmbar mit dem Kopf. Ich hatte ihn am Morgen mit einer großmaßstäbigen Karte von West-London ausgestattet und ihn gebeten, sich mal genau anzuschauen, wie wir zu der Straße gelangen könnten, in der Greville gewohnt hatte, und ich hoffte inständig, daß er das auch getan hatte, denn ich fühlte mich sehr viel erschöpfter, als ich zugeben wollte, und nicht mehr dazu in der Lage, jetzt noch in nervenaufreibenden Kreisen in dem vom Verkehr verstopften London herumzufahren.
«Achten Sie doch bitte auch mal auf einen Pub namens >The Rook and Castle<«, sagte ich, als wir uns der Gegend von Grevilles Haus näherten.»Ich muß nämlich dort morgen um halb sechs jemanden treffen.«
Brad nickte und entdeckte den Pub dann mit dem unfehlbaren Gespür des Biertrinkers sehr schnell, wobei er nur heftig gestikulierte, um mich darauf aufmerksam zu machen.
«Großartig«, sagte ich, was er mit einem Zucken seiner Schultern beantwortete.
Er steuerte Grevilles Adresse mit einer solchen Sicherheit an, daß ich mich fragte, ob es sein könnte, daß er schon mal früher am Tage zu Erkundungszwecken hier gewesen war — seine Tante wohnte theoretisch allerdings in genau entgegengesetzter Richtung. Wie auch immer, er reichte mir meine Krücken, öffnete die Pforte zu dem kleinen Vorgarten und sagte redselig:»Ich werd im Auto warten.«
«Es kann gut eine Stunde oder länger dauern. Könnten Sie nicht mal schnell nachschauen, ob in dieser oder in den umliegenden Straßen ein alter Rover mit diesem Kennzeichen hier steht?«Ich gab ihm ein Kärtchen, auf dem ich die Nummer notiert hatte.»Das Auto meines Bruders«, sagte ich.
Er nickte mir kurz zu und ging davon, während ich an dem hohen Stadthaus emporblickte, in das Greville erst vor etwa drei Monaten eingezogen war und das ich noch nie betreten hatte. Es hatte einen hellgrauen Anstrich, an-sprechende Proportionen, eine Treppe mit Balustrade, die zu der schwarzen Haustür hinaufführte, und irgendwie nüchtern-geschäftsmäßig, zugleich aber auch dekorativ wirkende Eisengitter hinter dem Glas aller Fenster zwischen Kellergeschoß und Dach.
Ich durchquerte den grasbewachsenen Vorgarten, stieg die Treppenstufen hinauf und entdeckte, daß die Haustür mit drei Schlössern gesichert war. Leise schimpfend zog ich Grevilles eine halbe Tonne wiegenden Schlüsselbund hervor und gelangte dank beharrlichen Probierens endlich in seine Festung hinein.
Die Spätnachmittagssonne schien schräg und gelblich in ein langgestrecktes Wohnzimmer, das sich auf der linken Seite des Hausflurs befand, und warf das Muster der Gitterstäbe als Schatten auf den graubraunen Teppichboden. Die Wände, blaß lachsfarben gehalten, schmückten farbenfrohe Bilder mit den Glasfenstern von Kathedralen, und der Bezugsstoff von Sesseln und Sofas zeigte ein grobes Fischgrätmuster in dunkelbraun und weiß — recht verwirrend für die Augen. Ich stellte mir traurig die Frage, ob dies alles Grevilles eigenen Geschmack wider spiegelte oder ob er es vom Vorbesitzer des Hauses übernommen hatte. Ich wußte nur, was ihm in bezug auf Kleidung, Essen, technische Apparaturen und Pferde gefiel. Und das war nicht sehr viel. Nicht genug.
Das Wohnzimmer war sehr ordentlich und sauber — unbewohnt. Ich kehrte in den Hausflur zurück, von dem aus Treppen nach oben und unten führten. Aber bevor ich mich ihnen zuwandte, ging ich erst einmal durch eine Tür im rückwärtigen Teil des Flurs und in ein sehr viel kleineres Zimmer, in dem ein anheimelndes Durcheinander von Büchern, Zeitschriften, Zeitungen, schwarzen Ledersesseln, Uhren, Chrysanthemen im Topf, einem Tablett mit Trinkbarem und gerahmten mittelalterlichen Reiberdruk-ken auf tiefgrünen Wänden herrschte. Dies war ganz und gar Greville, dies war sein Zuhause.
Ich verließ den Raum erst einmal wieder und hopste die Treppe hinab in das Zwischengeschoß, in dem sich eine Schlafkammer befand, die unbenutzt war, ferner ein kleines Bad, ein ganz nach Innenarchitekt aussehendes Eßzimmer, durch dessen vergitterte Fenster man auf den Garten hinter dem Haus schaute, und daneben eine makellos saubere, etwas enge Küche.
Am Kühlschrank war mit einer magnetischen Erdbeere ein Zettel angeheftet.
Lieber Mr. Franklin, ich wußte nicht, daß Sie an diesem Wochenende weg sein würden. Ich habe alle Zeitungen gebracht, sie liegen im Hinterzimmer. Sie haben Ihre Wäsche nicht rausgelegt, deshalb konnte ich nichts mitnehmen. Danke für das Geld. Bin wie üblich Dienstag wieder da.
Mrs. P.
Ich sah mich nach einem Bleistift um, fand einen Kugelschreiber, zog den Zettel unter der Magneterdbeere hervor und schrieb auf seine Rückseite die Bitte an Mrs. P., sie möge doch die folgende Nummer (die von Saxony Franklin) anrufen und nach Derek oder Annette fragen. Ich unterschrieb nicht, sondern steckte den Zettel zurück an seinen alten Platz, wo er, wie ich annahm, eine weitere Woche hängen würde — eine traurige Nachricht in Warteposition.
Ich sah in den Kühlschrank, der nur wenig enthielt — bloß Milch, Butter, Weintrauben, eine Schweinefleischpastete und zwei Flaschen Champagner.
Diamanten in den Eiswürfeln? Ich glaubte nicht, daß er sie an einem so riskanten Ort verstecken würde, denn er war ja schließlich sicherheitsvernarrt und nicht verrückt.
Ich schleppte mich wieder nach oben in den Flur und dann weiter hinauf in die nächste Etage, in eine aus Schlafzimmer und Bad bestehende Suite in selbstbewußtem Schwarz-weiß. Dort hatte Greville geschlafen, denn die Schränke und Kommoden enthielten seine Sachen, das Bad seine Privatsphäre. Er war, was seine diesbezügliche Habe anbetraf, sehr sparsam gewesen und hatte nur wenige Paar Schuhe, ein paar weiße Hemden auf Bügeln, sechs verschiedene Anzüge und einen Halter voller Seidenkrawatten hinterlassen. In den Schubladen lagen fein säuberlich Pullover, Freizeithemden, Unterwäsche und Socken. Unsere Mutter wäre stolz auf ihn gewesen, dachte ich lächelnd. Sie hatte mit allen Mitteln und gänzlich erfolglos versucht, uns beide zur Ordentlichkeit zu bekehren, und es sah ganz so aus, als hätten wir uns da mit zunehmendem Alter doch gebessert.
Es gab nicht sehr viel mehr zu sehen. Die Schublade im Nachttisch wies Tabletten gegen Verdauungsbeschwerden, eine Taschenlampe und ein Taschenbuch von John D. MacDonald vor. Keine Spielsachen und keine Karte für Schatzsucher.
Mit einem Seufzer betrat ich den einzigen sonst noch auf dieser Etage befindlichen Raum. Er war unmöbliert und mit schreiend metallisch-silbrigen Rosen tapeziert, die an einer Stelle heruntergerissen worden waren. So viel zu den Künsten des Innenarchitekten.
Von diesem Stockwerk aus führte wiederum eine Treppe noch weiter nach oben, aber ich stieg sie nicht hinauf. So, wie die Sache aussah, würde ich dort wohl nur noch unbenutzte Zimmer finden, und die würde ich, so nahm ich mir vor, erst genauer in Augenschein nehmen, wenn das Treppensteigen nicht mehr gar so mühsam war. Es schien so, als ob sich alles, was in diesem Hause von wirklichem Interesse war, in dem kleinen hinteren Wohnzimmer befände, weshalb ich lieber dorthin zurückkehrte.
Ich setzte mich ein Weilchen in den Stuhl, der ganz eindeutig Grevilles Lieblingsplatz gewesen war, denn von dort aus konnte er das Fernsehgerät sehen, aber auch einen Blick in den Garten werfen. Es ging mir durch den Kopf, daß man Orte, die andere Menschen für immer verlassen haben, mit ihren Augen sehen sollte. Greville war in diesem Zimmer noch sehr gegenwärtig — und auch in mir.
Neben seinem Sessel stand ein kleines antikes Tischchen und auf seiner polierten Platte ein Telefon mitsamt einem Anrufbeantworter. Ein rotes Lämpchen zeigte strahlend an, daß Gespräche eingegangen waren, und deshalb drückte ich nach einer Weile auf den Knopf, auf dem REWIND stand, dann auf den mit PLAY.
Die Stimme einer Frau sagte, auf jede Vorrede verzichtend:»Liebling, wo steckst du denn? Bitte ruf mich an.«
Es folgten mehrere klickende Geräusche, dann war wieder die gleiche Stimme zu hören, diesmal übervoll von Besorgtheit.
«Bitte, bitte ruf an, Liebling. Ich mache mir solche Sorgen. Wo bist du, Liebling? Bitte ruf mich an! Ich liebe dich.«
Wieder ein Klicken, aber keine weiteren Botschaften.
Arme Frau, dachte ich. Schmerz und Tränen standen auf Abruf für sie bereit.
Ich stand wieder auf, um mir das Zimmer noch etwas genauer anzuschauen, und blieb vor zwei Schubfächern in einem Tisch neben dem Fenster stehen. Darin fand ich zwei schmale, schwarze, nicht identifizierbare Geräte, die mich verwirrten und die ich in die Tasche steckte, ferner ein mit Schlitzen versehenes Brettchen, in denen eine recht hübsche Sammlung kleiner Bären steckte, aus dunkelrosa, braunem und schwarzem Stein gefertigt und poliert. Ich stellte das Brett auf den Tisch neben ein paar Chrysanthementöpfe und stieß als nächstes auf ein Kästchen, das aus grünem Stein gemacht, ebenfalls glänzend poliert und — getreu der Gewohnheit Grevilles — fest verschlossen war. Ich überlegte, ob vielleicht einer der Schlüssel passen würde, und zog den Bund wieder aus der Tasche, um zunächst den kleinsten auszuprobieren.
Ich stand dem Fenster zugewandt, mit dem Rücken zum Zimmer. Auf einem Bein balancierend, mit der Hüfte gegen den Tisch gelehnt und den Armen nicht auf den Krük-ken, war ich ganz mit meiner Untersuchung des Kästchens befaßt und von sträflicher Unachtsamkeit. Ich bemerkte erst, daß außer mir noch jemand im Haus war, als ich hinter mir einen gedämpften Ausruf vernahm und, mich umdrehend, eine dunkelhaarige Frau durch die Tür hereinkommen sah, den wilden Blick starr auf das grüne Steinkästchen geheftet. Ohne innezuhalten kam sie schnell auf mich zu, wobei sie einen schwarzen, wie eine lange, dicke Zigarre aussehenden Gegenstand aus der Tasche zog.
Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie ließ ihre Hand mit dem Ding in geschwungener Linie kräftig herabsausen. Dabei verlängerte sich der schwarze Gegenstand um mehr als das Doppelte zu einem dicken, silbrigen, flexiblen Stock, der mit vernichtender Gewalt gegen meinen linken Oberarm krachte. Der Schlag war so stark, daß er auch einen Schwergewichtsboxer schon in der ersten Runde gestoppt hätte.