3

Marcus Mezentius Manilianus an Tullia.


Als Briefanfang habe ich meinen Namen hingeschrieben und den Deinen, Tullia. Aber wenn ich den eigenen Namen auf dem Papyrus sehe, muß ich mich verwundert fragen, ob tatsächlich ich es bin, der da schreibt, oder ob es irgendein Fremder in mir ist. Ich bin nicht mehr der gleiche wie früher; und manchmal argwöhne ich während dieser längsten Tage meines Lebens, jüdische Zauberkunst hätte mich verhext. Wenn sich all das wirklich so zugetragen hat, wie ich es zweifelnd und prüfend sich zutragen sah, dann habe ich entweder Dinge erlebt, die sich nie zuvor ereignet haben, oder ich werde auch viele Berichte, die uns durch Philosophen und Skeptiker seit langem als sinnbildlich gemeint dargelegt wurden, wörtlich glauben müssen.

Ich weiß noch nicht, ob ich mich je dazu aufraffen werde, Dir dieses Schreiben zu senden. Auch meine beiden früheren Briefrollen liegen noch immer unabgeschickt hier. Und vielleicht ist es gut so; denn wenn Du jemals diese Zeilen lesen solltest, würdest Du Dich kaum des Eindrucks erwehren können, der arme Marcus habe den letzten Rest seines Verstandes verloren. Aber ich selbst halte mich nicht für einen Phantasten, obwohl ich seit jeher – mit stets wachem Argwohn und kritisch abwägendem Sinn – nach etwas in dieser Welt gesucht habe, das jenseits aller Freuden der Sinnlichkeit und auch der Tugenden liegt. Ich gestehe, daß ich infolge meiner Abkunft als junger Mann zu allerlei Maßlosigkeit neigte und nie den Mittelweg des wirklich Weisen zwischen Enthaltung und Sinnentaumel finden konnte. Solche Maßlosigkeit lag in meinen Nachtwachen, Fasten und körperlichen Übungen während der Schulzeit in Rhodos. Maßlos wurde auch meine Liebe zu Dir, Tullia; auch darin war ich unersättlich.

Trotz allem liegt, das kann ich Dir versichern, im Grunde meines Wesens etwas Kühles, Beobachtendes, das mich vor der Selbstzerstörung bewahrt. Ohne diesen nüchternen Wächter hätte ich kaum Rom verlassen; eher hätte ich meinen Besitz und vielleicht selbst mein Leben verwirkt, als mich von Dir zu trennen. Jetzt, während ich schreibe, ist dieser Wächter ganz besonders rege; die ganze Zeit über bemühe ich mich nämlich auseinanderzuhalten, was ich selbst gesehen, was ich bloß gehört habe und was ich in ausreichendem Maße als schlüssig bewiesen betrachten kann.

Es drängt mich, meine Erlebnisse genauer aufzuzeichnen, auch wenn ich diese Briefe Dir nie schicken sollte. Ich werde auch viel Überflüssiges einbeziehen, weil ich noch nicht zwischen dem Belanglosen und dem Wesentlichen unterscheiden kann. Aber ich glaube, ich bin Zeuge der Herabkunft eines Gottes auf unsere Welt geworden. Diese Behauptung wird natürlich jedem, der die Dinge nicht selbst miterlebt hat, als Wahnwitz erscheinen. Für den Fall jedoch, daß ich mit meiner Meinung recht habe, mögen sich späterhin die geringsten Kleinigkeiten als bedeutungsvoll erweisen. Nimm das als Rechtfertigung dafür, daß ich so viele Worte mache! Denn falls meine Annahme zutrifft, wird diese Welt sich wandeln oder hat sich schon gewandelt – und ein neues Zeitalter ist angebrochen.

Indes bleibt mein Wächter rege und warnt mich, Dinge zu glauben, die bloß Ausgeburten meiner eigenen Erwartungen sein könnten. Aber hätte ich je etwas so Unvorstellbares erwarten können? Nein. Es wäre mir unmöglich gewesen, etwas Derartiges zu ersinnen oder zu erträumen. Wenn ich überhaupt an etwas Bestimmtes dachte, so an ein neues Reich auf dieser Erde; aber von derlei kann überhaupt keine Rede sein. Es handelt sich um etwas anderes, mir noch Unverständliches.

Ich sage mir selbst vor, daß ich, vielleicht aus bloßer Eitelkeit, geneigt bin, mehr in die Dinge hineinzudeuten, als sie wirklich enthalten. Wer bin denn ich, Marcus, daß gerade mir solches widerfahren sollte? Ich gebe mich keinen Täuschungen über meine Bedeutung hin. Andererseits kann ich nicht meine eigenen Erlebnisse verleugnen. Darum erzähle ich sie.

Als ich meinen vorigen Brief beendet hatte, war es spät geworden. Meine Finger krampften, und zuerst konnte ich nicht einschlafen. Dann schlief ich fest, aber nur kurze Zeit; denn noch vor dem Morgengrauen weckte mich ein zweites Erdbeben, das länger und unheimlicher war als das erste. Das Klirren zerbrochener Tonkrüge und das Poltern von den Wandgestellen fallender Schilde riß alles in Antonia aus den Betten. Unter meinen Füßen schwankte der Steinboden so heftig, daß ich beim Verlassen des Zimmers der Länge nach hinfiel. Die Wachen im Hof bliesen Alarm. Ich konnte nur die Manneszucht der Legionäre bewundern; denn trotz ihrer Schlaftrunkenheit und der Finsternis rannte keiner der Soldaten ohne Waffen hinaus, obwohl ihr erster Gedanke gewesen sein mußte, sich vor einsturzgefährdeten Dächern ins Freie zu retten.

Es war noch so dunkel, daß im Hof Fackeln angezündet werden mußten. Als der erste Wirrwarr und Trubel sich legten, stellte man fest, daß zwar die Mauern an einigen Stellen Risse abbekommen hatten, jedoch kein Todesopfer in der Festung zu beklagen war. Nur einige harmlose Verstauchungen, Beulen und Wunden wurden gemeldet; und sogar diese Verletzungen rührten eher von dem Gehaste in der Dunkelheit her als von dem Erdbeben selbst. Der Festungskommandant schickte unverzüglich Patrouillen in die Stadt, um festzustellen, ob Schäden entstanden waren, und ließ die Legionsfeuerwehr alarmieren. Oft richten ja die nach Erdbeben ausbrechenden Brände mehr Unheil an als die Bodenerschütterungen selbst.

Der Prokurator kam geradewegs aus dem Bett ins Freie, hatte nur einen Mantel umgeworfen und stand barfuß auf der Treppe, ohne in den Hof hinunterzugehen oder seine Stimme in die Kommandorufe zu mengen. Da die Erdstöße sich nicht wiederholten und von der Stadt her die ersten Hahnenschreie ertönten, hielt er es nicht für nötig, die Frauen aus der Festung hinaus in Sicherheit bringen zu lassen. Indes verspürte nach diesem Schreck begreiflicherweise niemand Lust, sich nochmals ins Bett zu legen. Der Himmel wurde lichter, und sobald die Sterne verblaßten, schmetterten vom Judentempel wiederum die mächtigen Hornrufe, zum Zeichen dafür, daß die gottesdienstlichen Verrichtungen begannen, als wäre nichts geschehen.

Die Soldaten wurden aus der Alarmaufstellung entlassen und zu ihren regelmäßigen Obliegenheiten zurückgeschickt, erhielten aber nur kalte Verpflegung, da die Köche vorsichtshalber noch keine Feuer anzünden durften. Eine Patrouille nach der anderen kehrte zurück, und alle meldeten, in der Stadt herrsche zwar große Bestürzung und Verwirrung, viele Leute seien in das offene Gelände außerhalb der Stadt geflohen, doch bis auf ein paar zusammengestürzte Hausmauern sei kein ernstlicher Schaden entstanden. Offenbar hatte sich das Erdbeben auf einen ganz kleinen Bereich, hauptsächlich auf die Gegend der Festung und des Tempels, beschränkt.

Die Wachen wurden abgelöst, und mit bloß geringfügiger Verspätung marschierte die erste Kohorte durch die Stadt zum Exerzieren in das Amphitheater. In diesem kostspieligen Gebäude werden seit Jahren keine Gladiatorenkämpfe oder Tierhetzen mehr veranstaltet; die Arena dient ausschließlich als Truppenübungsplatz.

Am Boden liegende Scherben von Tongefäßen zertretend, ging ich in mein Zimmer zurück, wusch mich und kleidete mich sorgsam an. Während ich noch damit beschäftigt war, kam ein Bote und forderte mich auf, zum Prokonsul zu kommen. Pontius Pilatus hatte sich am Fuß der Treppe einen Stuhl für die Audienz des Tages hinstellen lassen. Obwohl nichts an seiner Miene irgendwelche Besorgnis vor einer Wiederkehr des Erdbebens verriet, glaube ich doch, daß auch er ganz gern im Freien saß.

Vor ihm standen der Festungskommandant und der Legionsschreiber, ferner Adenabar und zwei Legionäre, die nach syrischer Art beim Reden zur Unterstützung ihrer Aussagen und Erklärungen heftig gestikulierten, während sie sich gleichzeitig bemühten, aus Ehrerbietung vor ihrem Oberbefehlshaber Haltung zu bewahren. Der Statthalter wandte sich gereizt zu mir und sagte:

»Am Morgen hat sich wegen des Erdbebens die Wachablösung verzögert. Diese beiden syrischen Tölpel hätten als neue Wache an dem verwünschten Grab dort drüben aufziehen sollen. Sechs Soldaten waren dort die ganze Nacht, und es sollten immer zwei Dienst tun, während die anderen schliefen. Jetzt sind die beiden Syrer zurückgekommen mit der Meldung, das Legionssiegel sei erbrochen, der Stein vom Grufteingang weggewälzt und die abzulösende Wachmannschaft spurlos verschwunden.«

Er wandte sich an die Legionäre und fuhr sie an: »War der Leichnam noch im Grab?«

Die beiden Einfaltspinsel antworteten wie aus einem Munde: »Ins Grab sind wir nicht gegangen. Dazu hatten wir keinen Auftrag.«

Pilatus fragte: »Warum ist nicht wenigstens einer von euch dort geblieben, während der andere mit seiner Meldung zurücklief? Jetzt kann jeder, der nur will, in die Grabkammer hinein.«

Ohne Ausflüchte gestanden sie: »Wir hätten uns keiner getraut, allein an diesem Ort zu bleiben.«

Der Festungskommandant fühlte sich verpflichtet, für seine Leute einzutreten, weil die letzte Verantwortung ihn traf. Er sagte kurz: »Die Soldaten haben strengen Befehl, außerhalb der Burg immer nur paarweise aufzutreten.«

Aber von den Mienen der beiden Legionäre konnte ich leicht ablesen, daß sie nicht um ihr Leben gebangt hatten; was sie erschreckt und mit abergläubischem Grauen erfüllt hatte, war sichtlich das offene Grab gewesen und das Verschwinden ihrer Kameraden. Der Statthalter schien der gleichen Ansicht zu sein; denn er sagte in ungestümem Töne:

»An dem, was sich da zugetragen hat, ist nichts Übernatürliches. Den Stein vom Grabe weggeschoben hat selbstverständlich das Erdbeben. Die Wachtposten, diese abergläubischen syrischen Feiglinge, haben sich ihrem Dienst entzogen und wagen nicht zurückzukommen. Man muß sie als Fahnenflüchtige verfolgen; sie haben strengste Bestrafung verdient.«

Er wandte sich zu mir und erklärte: »Hier geht es um die Ehre der Legion, und ich kann mich deshalb auf niemanden, der ihr angehört, verlassen. Andererseits wünsche ich keine Beschönigungsversuche welcher Art immer. Was wir brauchen, ist eine unparteiische Zeugenschaft. Du, Marcus, bist ein aufgeklärter Mensch und hinreichend gesetzeskundig. Nimm Adenabar und diese beiden Soldaten mit dir – meinetwegen könntest du die ganze Kohorte als Bedeckung mit haben, zur Absperrung und Bewachung des Geländes, damit nicht auch noch diese beiden Helden durchgehen – und stelle am Grab selbst fest, was geschehen ist! Dann komm zurück und berichte mir!«

Sofort rief der Festungskommandant laut nach seinem Hornisten. Das machte den Statthalter noch zorniger, als er schon war; er schlug mit der Faust auf seine Handfläche und schrie: »Seid ihr denn samt und sonders von Sinnen? Das mit der Kohorte war doch nicht ernst gemeint. Ihr braucht nur einige verläßliche Männer. Es wäre verrückt, die allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen und so diese für uns schmähliche Angelegenheit erst recht an den Tag zu bringen. Jetzt aber macht euch gefälligst auf die Beine!«

Adenabar wählte rasch zehn Mann aus, ließ sie im Hof antreten und dann im Laufschritt abmarschieren. Pilatus mußte Halt gebieten und uns klarmachen, daß ein Eilmarsch durch die Stadt das beste Mittel war, uns eine ganze Schar neugieriger Juden an die Fersen zu heften. Ich war froh über diese Mahnung; denn, ungeübt, wie ich jetzt bin, hätte ich, auch ohne Gepäck, kaum mit rasch marschierenden Legionären Schritt halten können, obwohl wir keinen weiten Weg hatten.

Unterwegs trafen wir viele Leute, die wegen des Erdbebens aus der Stadt geflohen waren und nun zurückkehrten. Aber sie hatten an ihren eigenen Gedanken genug, und wir fielen nicht weiter auf. Die Juden vergaßen sogar, hinter den Legionären auszuspucken und ihnen die üblichen Fluchworte nachzurufen.

Der Garten des Joseph von Arimathia entzog das Grab zum Teil unseren Blicken; doch schon aus einiger Entfernung konnten wir sehen, daß aus der offenen Gruft zwei Juden kamen. Zweifellos waren es Anhänger des Nazareners; denn in dem einen glaubte ich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit den stattlichen jungen Mann zu erkennen, den ich am Hinrichtungshügel die trauernden Frauen beschützen sah. Der andere war ein stämmiger, bärtiger, rundköpfiger Mann. Als sie uns bemerkten, ergriffen sie die Flucht und waren bald, obwohl wir sie riefen, wie vom Erdboden verschwunden.

»Da haben wir jetzt die Bescherung!« wetterte Adenabar, schickte aber niemanden den beiden nach. Er fand es klüger, unsere Kräfte nicht zu verzetteln, zumal er wußte, daß die Juden in diesem Gewirr von Gärten und Hürden, Kuppen und Hohlwegen jeden Verfolger in die Irreführen konnten.

Aber wir hatten immerhin genug gesehen, um sicher zu sein, daß die beiden Männer nichts weggetragen hatten.

Als wir die Grabstätte erreichten, stellten wir fest, daß der Stein offenbar durch sein eigenes Gewicht den Rand der Bodenrille ausgebrochen hatte und von der Gruft weg auswärts umgekippt sein mußte; dann war er den Hang hinuntergeglitten, bis er an einen Felsblock prallte und zerschellte. Wir konnten keine Spuren der Anwendung von Werkzeugen entdecken. Jeder, der etwa das Grab von außen öffnen wollte, hätte den Stein, wie es bezweckt war, in der Bodenrille zur Seite gerollt. Von dem abgerissenen Legionssiegel baumelten nur noch Schnurstücke am Rande der Gruftöffnung. Zweifellos hatte das Erdbeben den Stein losgerüttelt. Aus dem dunklen Grabesinneren drang ein starker Geruch nach Myrrhe und Aloe in die feuchte Morgenluft.

»Geh du voraus, ich komme nach«, bat Adenabar. Er war grau im Gesicht vor Angst und zitterte am ganzen Leibe. Die Legionäre hatten in respektvollem Abstand vom Grabe haltgemacht und drängten sich zusammen wie ein Häuflein Schafe.

Wir traten hintereinander in den Vorraum und dann durch eine schmälere Öffnung in die eigentliche Gruftkammer. Solange unsere Augen sich an die Dunkelheit nicht gewöhnt hatten, konnten wir die weißen Totenlinnen auf der Steinbank nur verschwommen erkennen. Anfangs meinten wir beide, der Leichnam liege ohnedies noch an Ort und Stelle. Als wir jedoch allmählich deutlicher sahen, stellten wir bald fest, daß der Körper aus seiner Umkleidung geglitten und verschwunden war. Die harzgesteiften Hüllen zeigten noch die Umrisse des Rumpfes, der darin gelegen hatte; davor bauschte sich, durch einen kleinen Spalt getrennt, das Schweißtuch, das über den Kopf gebreitet worden war.

Zuerst traute ich meinen Augen nicht und schob die Hand zwischen Körperhülle und Schweißtuch. Ich griff ins Leere; der Tote lag nicht mehr da. Aber das Linnen war nicht auseinandergewickelt, sondern nur etwas eingesunken und wahrte weiterhin die Körperformen. Es wäre unmöglich gewesen, den Leichnam zu entfernen, ohne die Hüllen zu öffnen. Und doch hatte er sich spurlos verflüchtigt. Unser eigener Augenschein bezeugte es.

Adenabar flüsterte: »Siehst du das gleiche wie ich?«

Meine Zunge gehorchte mir nicht. Ich nickte bloß. Wieder flüsterte er: »Habe ich nicht gesagt, er war ein Gottessohn?«

Dann ermannte er sich, unterdrückte sein Zittern, trocknete sich den Schweiß von der Stirn und sagte: »So ein Zauberkunststück habe ich im Leben noch nicht gesehen. Es ist vielleicht am besten, wir bleiben vorläufig die einzigen Zeugen dieses Geschehnisses.«

Übrigens hätten selbst Drohungen die mit uns gekommenen Legionäre kaum dazu gebracht, das Grab zu betreten; derart großer Schreck hatte sich ihrer bemächtigt, darüber, daß ihre Kameraden auf rätselhafte Weise verschwunden waren, ohne daß man in der Umgebung irgendwelche Spuren eines Kampfes entdecken konnte.

Adenabar und ich brauchten einander nicht zu erklären, daß kein menschliches Wesen imstande sein konnte, aus versteiften Grablinnen zu schlüpfen, ohne sie zu sprengen. Und wenn andererseits diese so fest durch Myrrhe und Aloe verklebten Tücher auseinandergerissen worden wären, hätten wir bestimmt Anzeichen dafür bemerkt. Ich glaube, nicht einmal die geschickteste Hand hätte sie nachher so zurechtlegen können, daß sie wieder die Körperformen nachbildeten.

Sobald ich das voll begriffen hatte, überkam mich ein Gefühl tiefen Friedens, und ich hatte nicht mehr die geringste Angst. Adenabar schien Ähnliches zu empfinden. Woher jedoch unsere Furchtlosigkeit kam, könnte ich keineswegs erklären, hatten wir doch eben erst ein Wunder festgestellt, über das wir nach allen Maßstäben unserer menschlichen Logik heftiger hätten erschrecken müssen als je im Leben. Völlig gelassen traten wir aus dem Grabe und teilten den Legionären mit, daß der Leichnam verschwunden war.

Die Soldaten zeigten nicht die geringste Lust, in das Grab zu treten und sich von dem Sachverhalt zu überzeugen; wir hätten sie auch gar nicht hineingelassen. Einige entsannen sich jetzt, daß es um die Ehre der Legion ging, begannen umherzublicken und wiesen darauf hin, daß auch von zwei alten, aus dem gleichen Felsen gehauenen Gräbern die Steine weggerollt waren. Offenbar sei gerade hier das Erdbeben am heftigsten gewesen – ein Umstand, der mich persönlich nicht überraschte. Sie schlugen vor, wir sollten aus einem der alten Gräber einen Leichnam nehmen und anstelle des Judenkönigs hinlegen. Ich verbot ihnen in schroffem Ton, an solche Schliche auch nur zu denken.

Während wir noch überlegten, was wir tun sollten, tauchten aus einem Gebüsch zwei Legionäre auf und kamen zögernd heran. Adenabar erkannte sofort, daß sie zu den vermißten Ausreißern gehörten, und schrie ihnen zornig zu, sie sollten die Waffen niederlegen. Aber die beiden begannen sich leidenschaftlich zu verteidigen; sie beschworen, sie hätten ihre Pflicht genau erfüllt und die Grabstätte von einem sicheren Platz aus fest im Auge behalten. Tatsächlich hatte niemand angeordnet, wie nahe dem Grab sie stehen müßten.

Sie berichteten: »Wir beide und zwei andere schliefen, während die beiden übrigen Wache standen, als in den ersten Morgenstunden das Erdbeben losging. Dieser Stein hier löste sich vom Grabe und kam mitten zwischen uns gesprungen. Wir können von Glück reden, daß niemand zermalmt wurde. Daraufhin zogen wir uns – noch immer in Sichtweite – etwas zurück, weil wir neue Erdstöße befürchteten. Vier von uns liefen weg, um den Hohenpriestern zu erzählen, was geschehen war; den Juden zuliebe haben wir ja das Grab bewacht, und nicht im Interesse der Legion.«

Sie rechtfertigten sich mit solchem Übereifer, daß man schon daraus den Eindruck gewann, sie redeten nicht frei von der Leber weg. Unter anderem sagten sie noch: »Später haben wir zwar zwei Gestalten als Ablösung kommen sehen. Trotz ihrer Rufe zeigten wir uns aber nicht, weil wir die Rückkehr unserer Kameraden abwarten wollten, mit denen wir gemeinsam, einer für alle und alle für einen, das Grab bewachten. Wenn in dieser Sache etwas aufzuklären ist, so werden wir das alle sechs im Einvernehmen tun und uns vorher darüber besprechen, was wir sagen sollen und was nicht.«

Adenabar und ich fragten sie aus und erfuhren, sie hätten bei Tagesanbruch zwei bündeltragende Jüdinnen bemerkt, die sich zum Grabe schlichen. Vor dem Eingang hätten sie gezögert; eine sei dann eingetreten, aber bald wieder herausgekommen. Gerade in diesem Augenblick sei die Sonne aufgegangen und habe die Augen der Soldaten geblendet; doch eines könnten sie beeiden: daß nichts hinein- oder herausgetragen worden sei. Ihre Bündel hätten die Frauen draußen hingelegt, dann aber wieder genommen und damit eilends das Weite gesucht, obwohl die Soldaten nichts gegen sie unternommen hätten.

Knapp vor unserem Eintreffen seien zwei Juden, auch in Eile, hier aufgetaucht; zuerst ein Jüngling, der sich aber nicht allein in das Grab getraut, sondern nur durch die Öffnung gespäht habe, und kurze Zeit später ein atemloser älterer Mann, der gleich eingetreten sei, worauf auch sein Begleiter sich dazu aufgerafft habe, ihm zu folgen. Zweifellos seien sie von den Frauen herbeigeholt worden, hätten aber nur kurz in der Gruft verweilt und nichts hinausgetragen. Die Soldaten versicherten uns, sie hätten die beiden Männer von ihrem Versteck aus genau im Auge behalten, um sie sofort festzunehmen, falls sie den Leichnam zu stehlen versuchten.

»Wir sind ja hierher beordert worden, um den Leichnam zu bewachen, und das haben wir nach bestem Wissen und Gewissen vorschriftsmäßig getan. Nicht einmal durch das Erdbeben ließen wir uns vertreiben. Wir haben uns nur in sichere Entfernung vom Grabe zurückgezogen«, erklärten sie wie aus einem Munde.

Aber ich beobachtete sie scharf und entnahm ihren Mienen und unsteten Blicken, daß sie etwas verhehlten. »Jedenfalls ist der Leichnam weg!« bemerkte ich barsch.

Daraufhin begannen sie auf syrische Art mit den Händen umherzufuchteln und riefen: »Dafür können wir nichts. Wir haben die Gruft keinen einzigen Moment lang aus den Augen gelassen.«

Mehr war aus ihnen nicht herauszubringen. Außerdem wurde das Verhör dadurch unterbrochen, daß jetzt von der Stadt her die vier anderen Wachsoldaten kamen, in Begleitung dreier jüdischer Ältester, die von weitem an ihren Kopfbedeckungen zu erkennen waren. Als die vier Legionäre ihre beiden Kameraden im Gespräch mit uns sahen, schrien sie ihnen schon aus ziemlich großer Entfernung warnend zu: »Hütet eure Zungen und plappert nicht darauf los! Die Sache ist schon mit den Juden vollkommen bereinigt. Wir haben alles einbekannt, und sie waren so verständig, unseren Fehler nachzusehen.«

Die drei Juden waren offenbar Ratsmitglieder; denn als sie herankamen, grüßten sie uns würdevoll und sagten: »Wir erscheinen hier recht spät. Aber zuerst wollten wir rasch den Rat zusammenberufen und die Sache unter uns besprechen. Die Legionäre haben das Grab für uns auf unser Ansuchen bewacht, und wir wünschen nicht, daß sie für ihren Unverstand bestraft werden. Wie konnten sie ahnen, daß die Jünger dieses verdammten Nazareners so hinterlistig sein würden? Wir haben die Sache einvernehmlich beigelegt und lassen die Wachsoldaten in Frieden gehen. Und geht jetzt auch ihr in Frieden! Weder wir noch die Römer haben hier noch etwas zu tun. Die Nachlässigkeit ist nun einmal geschehen, und wir wollen es dabei bewenden lassen, um Aufsehen und überflüssiges Gerede zu vermeiden.«

Ich entgegnete: »Nein, nein. Für diese Angelegenheit ist römisches Heeresrecht zuständig, und wir müssen eine regelrechte Untersuchung durchführen. Der Leichnam eures Königs ist verschwunden, und diese Wachmannschaft trägt die Verantwortung dafür.«

Sie fragten: »Wer bist du? Wie kommst du dazu, uns ins Wort zu fallen? Du bist glattwangig und noch ein junger Mann. Du solltest Rang und Alter hochachten. Wenn die Sache schon erörtert werden muß, so wollen wir das mit dem Statthalter tun und nicht mit dir.«

Aber nach dem Anblick, der sich mir eben in der Grabkammer geboten hatte, fühlte ich nur Widerwillen gegen diese schlauen Alten, die ihren König verurteilt und den Prokurator gezwungen hatten, ihn kreuzigen zu lassen. Deshalb beharrte ich auf der Feststellung:

»Euer König ist aus dem Grab verschwunden, und dieser Fall muß mit aller Gründlichkeit untersucht werden.«

Aufgebracht wandten sie ein: »Er war nicht unser König. Er hat sich nur so genannt. Und untersucht haben wir den Fall schon selbst. Törichterweise haben die Wachsoldaten sich schlafen gelegt, und während sie schliefen, sind seine Jünger herangeschlichen und haben den Leichnam gestohlen. Die Legionäre sind bereit, das zu bestätigen und ihren Fehler nach Kräften wiedergutzumachen. Deshalb verzeihen wir ihnen und verlangen keine Bestrafung.«

Ihre Behauptungen widersprachen derart dem gesunden Menschenverstand und meinem eigenen Augenschein, daß ich die bestimmte Empfindung hatte, die Ratsherren müßten irgendwelche Ränke ausgeheckt und sie Soldaten für sich gewonnen haben. So sagte ich zu Adenabar: »Nach römischem Recht werden Soldaten, die auf ihren Wachposten einschlafen oder ihn unerlaubt verlassen, zu Tode geknüttelt oder enthauptet.«

Unsere beiden Legionäre zuckten vor Schreck zusammen und beäugten einander. Die vier mit den Juden gekommenen Soldaten stießen jedoch ihre Kameraden an, zwinkerten ihnen zu und bedeuteten ihnen mit allerlei Gesten, sie hätten nichts zu befürchten. Die Juden wiederholten: »Die Leute haben für uns Wache gestanden und nicht für Rom. Es ist also unsere Sache, ihre Bestrafung zu verlangen oder Nachsicht walten zu lassen.«

Plötzlich packte mich übermächtig der Wunsch dahinterzukommen, was sich wirklich zugetragen hatte, und nun beging ich einen Fehler. Um den Juden bange zu machen, schlug ich ihnen vor: »Geht in die Grabkammer, seht selbst nach und befragt dann die Wachen wieder, wenn ihr wollt – und euch traut!«

Adenabar war klüger als ich und rief rasch: »Warum solltet ihr, so fromme Männer, euch zwecklos durch das Betreten einer Begräbnisstätte verunreinigen?«

Indes schlossen die Juden aus meiner Aufforderung und Adenabars Einwurf, daß in der Gruft etwas Besonderes zu sehen sein mußte. Nachdem sie sich in ihrer heiligen Sprache, die ich nicht verstehe, beraten hatten, traten sie hintereinander in gebückter Haltung ein, und natürlich konnten wir sie jetzt nicht mehr daran hindern. Obwohl der Raum für drei Personen sicherlich sehr eng war, blieben sie lange drinnen. Schließlich ging ich hin und blickte in die Felskammer. Ich sah die gekrümmten Rücken der Juden und hörte ihr lebhaftes Reden.

Endlich tauchten sie, mit roten Gesichtern und unsteten Blicken, wieder auf und sagten: »Jetzt haben wir uns verunreinigt, um bezeugen zu können, daß alles genau so verlaufen ist, wie die Wachsoldaten geschildert haben. Und da uns nun nichts mehr unreiner machen kann, als wir schon sind, wollen wir gleich zum Statthalter gehen und die Sache mit ihm durchsprechen, um falschen Gerüchten und lügenhaften Darstellungen vorzubeugen.«

Von schlimmen Vorahnungen erfüllt, eilte ich in das Grab. Sobald ich mich an das Dunkel gewöhnt hatte, stellte ich fest, daß die Juden in ihrer Erregung bei der vergeblichen Suche nach dem Leichnam alle Grabtücher auseinandergerissen hatten.

Heftige Wut packte mich über meine eigene Dummheit, die den Verlust des einzigen Beweisstückes für die übernatürliche Auferstehung des Königs verschuldet hatte. Im selben Augenblick aber begann mir der Kopf zu schwindeln, wohl ebensosehr aus Erschöpfung und Schlafmangel wie durch den betäubenden Myrrhengeruch in der kleinen Grabkammer. Ein schattenhaftes Gefühl der Unwirklichkeit überkam mich, und ich glaubte ganz stark die Gegenwart einer höheren Macht zu spüren. Es war, als hielten unsichtbare Hände mich an den Schultern fest und hinderten mich daran, hinauszustürzen und den Juden sinnlose Vorwürfe zu machen. Ich gewann meine Selbstbeherrschung und damit meine Gemütsruhe wieder, so daß ich mit gesenktem Kopf ins Freie trat, ohne die Juden anzureden oder auch nur anzublicken.

Mit kurzen Worten erzählte ich Adenabar, was sie angerichtet hatten. Er sah mich unschlüssig an, als wollte er fragen, was wir jetzt am besten tun sollten. Schließlich begnügte er sich damit, resigniert auf syrische Art die Finger zu spreizen. Nochmals forderte er die Soldaten auf, ihre Waffen niederzulegen. Aber sie fingen wieder an, sich herauszureden, und sagten: »Ist das als Befehl aufzufassen? Wenn wir unsere Waffen niederlegen, sieht es so aus, als würden wir eine Pflichtverletzung zugeben. Im Namen des Stiergottes, wir haben doch hier ein jüdisches Grab auf jüdisches Ersuchen bewacht. Da kann es kein Verbrechen gewesen sein, wenn wir auf unserem Posten schliefen. Im Gegenteil, es beweist, daß wir tapfere Leute sind und uns vor der Finsternis nicht fürchten. Wenn du uns unsere Waffen beläßt und es den Juden anheimstellst, die Sache beim Prokonsul aufzuklären, sollst du das nicht bedauern. Dafür bürgen wir, und auch die Juden.«

Wieder warf Adenabar mir einen verstohlenen Blick zu, als wollte er mir nahelegen, auch selbst ein wenig Nutzen aus einer Lage zu ziehen, an der nichts mehr zu ändern war; aber den Mund zu öffnen wagte er doch nicht. So marschierten wir alle wohlgeordnet durch die Stadt in die Burg zurück. Die Juden folgten uns, da ihnen eine weitere Bewachung des Grabes überflüssig erschien, nachdem der Leichnam, wie sie weiterhin steif und fest behaupteten, inzwischen gestohlen worden war. Die sechs Soldaten der Wachmannschaft schritten in einer geschlossenen Gruppe und tuschelten miteinander.

Als wir den Burghof erreichten, saß Pontius Pilatus noch in seinem schweren, rot überzogenen Richterstuhl am Fuße der Turmtreppe. Er hatte einen Tisch neben sich stellen lassen, kaute eben an einem Stück Brathuhn und warf die Knochen hinter sich. Auch Wein war aufgetragen worden, und die Stimmung des Statthalters schien sich völlig gewandelt zu haben.

»Nur heran, ihr alle!« forderte er uns in leutseligstem Töne auf. »Du, Marcus, stelle dich hier neben mich! Du bist ja ein gebildeter Mann und ein unparteiischer Zeuge. Aber halte dir immer vor Augen, daß die Juden großzügige Leute sind! In geschäftlichen Dingen kann man wirklich sehr gut mit ihnen auskommen. Bringt Stühle für diese ehrwürdigen Ratsherren, die uns Römer nicht verachten! Mein Privatsekretär wird selbst das Protokoll führen. Und ihr, ihr Sündenböcke der Legion, kommt näher! Habt keine Angst vor mir, sondern erzählt mir unbeschönigt, was euch widerfahren ist!«

Die Soldaten glotzten bald ihn, bald die Juden an; dann trat ein breites Grinsen auf ihre verstockten syrischen Gesichter. Sie schoben einen Sprecher vor, der seine Geschichte mit feierlichen Beteuerungen einleitete:

»Bei Cäsars Schutzgeist und beim Stiergott, dies sind Worte der Wahrheit. Mit deiner Genehmigung haben die Juden uns zur Bewachung des Grabes, in das der gekreuzigte Nazarener gelegt worden war, gedungen. Gestern abend sind wir alle sechs hinmarschiert. Nachdem wir uns davon überzeugt hatten, daß das Siegel unverletzt war, ließen wir die Tageswache abrücken, lagerten uns auf dem Boden vor der Gruft und machten es uns gemütlich. Dank der Freigebigkeit der Juden hatten wir reichlich Wein, um uns die Nachtkälte vom Leibe zu halten. Zuerst wollten wir es so machen, daß immer zwei Nachtwache hielten und die vier anderen schliefen. Aber an 'diesem Abend hatte niemand Lust zum Schlafengehen. Wir würfelten, sangen und unterhielten uns, und eigentlich fehlten nur ein paar Mädel zu unserem vollen Glück. Daß die jüdischen Weine heimtückisch sein können, weißt du ja, Herr. Im Verlaufe der Nacht geriet uns die Reihenfolge der Ablösungen durcheinander, und wir kamen in Streit darüber, weil niemand mehr bestimmt sagen konnte, wer von uns wachen mußte und wer schlafen durfte. Offen gestanden waren wir so beschwipst, daß wir anscheinend alle sechs eingeschlafen sind, wobei jeder glaubte, zwei von den anderen wären wach und auf Posten.«

Er wandte sich zu seinen Kameraden, die eifrig nickten und dreist bestätigten: »Genau so war es. Das ist die volle Wahrheit.«

Der Sprecher setzte seinen Bericht fort: »Wir erwachten erst durch das Erdbeben, und da sahen wir, daß die Jünger des Gekreuzigten in die Gruft eingedrungen waren und gerade den Leichnam heraustrugen. Es war ihrer ein ganzer Haufen – grimmige Kerle, die zu jeder Bluttat fähig schienen. Als sie bemerkten, daß wir aufgewacht waren, wälzten sie den Stein vom Grufteingang auf uns hinunter und konnten so entkommen.«

Pilatus tat sehr interessiert und fragte: »Wie viele waren ihrer?«

»Zwölf«, erklärte der Sprecher ohne Zögern. »Sie ließen ihre Waffen klirren und brüllten fürchterlich, um uns Angst einzujagen.«

Einer der jüdischen Ratsherren mischte sich ins Gespräch mit der Bemerkung: »Es können kaum mehr als elf gewesen sein. Den zwölften, den Mann, der sich von ihnen losgesagt hatte, haben sie nämlich aus Rache ermordet. Zumindest fanden heute früh die Hirten seine Leiche in der Nähe der Stadtmauer. Man hat ihn mit seinem eigenen Gürtel erdrosselt und ihn in eine Schlucht geworfen, so daß sein Bauch barst und alle Eingeweide herausquollen.«

Pilatus fragte: »Trugen die Jünger den Leichnam des Gekreuzigten so weg, wie er dagelegen hatte, oder haben sie vorher in der Gruft die Totenlinnen abgestreift?«

Der Sprecher geriet etwas aus der Fassung, warf seinen Kameraden einen Seitenblick zu und sagte dann: »Ach, die Leiche muß wohl noch eingehüllt gewesen sein. Die Räuber hatten es ja eilig, wegen des Erdbebens.«

Die Juden sprangen von ihren Stühlen auf und riefen erregt: »Nein, nein, das stimmt nicht. Sie haben das Linnen in der Grabkammer losgewickelt, um die Leute glauben zu machen, der Mann wäre von den Toten auferstanden. Wir haben das Zeug selber dort liegen sehen, wirr durcheinandergeworfen.«

Der Soldat erwiderte: »Mag sein. Wie hätten wir dasein der Finsternis erkennen sollen, wo wir noch dazu vom Wein und vom Erdbeben benommen waren?«

»Aber sonst habt ihr trotz der Dunkelheit alles, was vorging, deutlich gesehen und beobachtet«, bohrte Pilatus. »Ihr seid tüchtige Burschen und macht der zwölften Legion alle Ehre.«

Seine Worte klangen so hämisch, daß die Soldaten einander ansahen, dann die Köpfe senkten und von einem Fuß auf den anderen traten. Schließlich stießen sie ihren Sprecher an, der schuldbewußt zu den Juden hinüberschaute und stammelte: »Nun, eigentlich …« Dann wiederholte er: »Eigentlich …« Aber die Worte blieben ihm in der Kehle stecken.

»Gestatte, Herr«, begann ich. Doch Pilatus winkte mir zu schweigen und verkündete seine Entscheidung.

»Ich habe den Bericht dieser vertrauenerweckenden Männer angehört, und gewichtige Gründe veranlassen mich zu der Annahme, daß sie rückhaltlos die Wahrheit sagten. Auch unsere jüdischen Freunde sind zufriedengestellt und verzichten auf eine Sühne. Ich sehe also keinen Anlaß, persönlich in Fragen der soldatischen Zucht innerhalb der Legion einzugreifen. Habe ich recht gesprochen?«

Die jüdischen Ältesten bestätigten wie aus einem Munde: »Wirklich sehr recht!« Und die Soldaten trampelten beifällig und riefen: »Richtig hast du gesprochen! Mögen die Götter Roms und unsere Götter dir alles Gute bescheren!«

Der Prokurator sagte: »Nun, ich habe also die Sache vollkommen geklärt und halte sie für abgeschlossen. Falls aber jemand noch etwas vorzubringen hat, möge er es jetzt tun und nicht später.«

»Gestatte mir eine Bemerkung!« bat ich. Dieses Zerrbild einer Untersuchung schien mir eher eine Szene aus einer derben oskischen Komödie als eine wirkliche Begebenheit.

Mit vorgetäuschter Verwunderung wandte Pilatus sich zu mir und fragte: »Ach, du bist also auch die ganze Zeit über dort gewesen und hast alles miterlebt?«

»Natürlich nicht«, entgegnete ich. »Das behaupte ich auch keineswegs. Aber du selbst hast mich nachher als Zeugen hingeschickt; du selbst wolltest, ich möge feststellen, was sich zugetragen hat.«

»Gesehen hast du also nichts«, wehrte der Statthalter ab. »Die Soldaten dagegen waren Augenzeugen, und du tätest also besser, über Dinge, die dir unbekannt sind, nicht zu reden. Als ich dich hinschickte, war ich der Meinung, die Soldaten wären fahnenflüchtig geworden und der gute Ruf der Legion könnte in Gefahr kommen. Aber da stehen ja die Ausreißer, fromm wie Lämmer, und haben alles offen einbekannt.«

Mit einer spöttischen Verbeugung erhob er sich, um den Juden zu zeigen, daß er von ihnen genug hatte. Sie dankten ihm und zogen sich zurück. Als sie durch den Torbogen verschwanden, wollten auch die Soldaten sich entfernen. Doch der Prokurator winkte ihnen lässig und befahl: »Wartet ein bißchen!« Dann wandte er sich an den Festungskommandanten mit den Worten:

»Aus deiner finsteren Miene schließe ich, daß der Schatzmeister des Hohenpriesters es nicht nötig fand, sich deiner Freundschaft zu versichern. Wie schön gesagt, es ist nicht meine Sache, in disziplinare Angelegenheiten der Legion einzugreifen. Ich habe mich zwar diesen Burschen gegenüber nachsichtig erwiesen; aber das braucht dich nicht daran zu hindern, gegen sie geeignete Verfügungen zur Wahrung der Zucht zu treffen. Meiner Meinung nach wäre es angezeigt, sie vorerst einmal in Haft zu setzen, damit sie darüber nachdenken können, was tatsächlich vorgefallen ist.«

Mit leiser Stimme fügte er hinzu: »Ebenso spricht nichts dagegen, daß du feststellst, wieviel Geld der jüdische Rat ihnen als Unterpfand für die Wahrheitsliebe gegeben hat.«

Das angespannte Gesicht des Kommandanten ging in einem fröhlichen Grinsen auseinander. Er gab einige Befehle, und ehe die Wachsoldaten recht begriffen, wie ihnen geschah, waren sie entwaffnet. Man führte sie in den Arrestkeller hinunter, und der Kommandant folgte, um sich zu vergewissern, daß die Geldbeträge, die sie bei sich trugen, einwandfrei gezählt würden.

Als sie gegangen waren, lächelte der Prokurator vor sich hin und sagte: »Adenabar, du bist selbst ein Syrer. Geh jetzt und versuche, aus diesen Halunken herauszubekommen, was sie wirklich gesehen haben!«

Steifbeinig stieg Pilatus die Treppe hinauf und winkte mir höchst leutselig, ihm zu folgen. Ich ging mit in seinen Amtsraum. Er befahl den anderen, sich zurückzuziehen, setzte sich stöhnend hin, rieb seine Knie, erlaubte auch mir, Platz zu nehmen, und sagte anspornend: »Sprich! Ich merke es dir an, daß du vor Mitteilungsdrang am Bersten bist.«

Zerstreut zog er einen Lederbeutel hervor, riß die versiegelte Schnur auf und ließ sich die mit dem Kopf des Tiberius geprägten Münzen aus purem Gold in die Hand und durch die Finger gleiten.

»Herr«, sagte ich nach kurzer Überlegung, »ich weiß nicht, warum du so gehandelt hast, wie du es eben tatest; aber ich nehme an, du hast deine Gründe dafür. Es steht mir nicht zu, Maßnahmen zu bekritteln, die du als römischer Amtsträger ergreifst.«

Er klimperte mit den Goldmünzen und antwortete: »Wie ich dir eben andeutete, habe ich schwerwiegende Gründe dafür – die gewichtigsten Gründe auf Erden, solange die Welt bleibt, wie sie ist. Du weißt selbst, daß die Zensoren jetzt den Statthaltern auf dem Nacken sitzen. In den Provinzen reich zu werden, ist heutzutage nicht mehr so leicht wie zu Zeiten der Republik. Aber wenn die Juden mir, aus purer Freundschaft, mit Gewalt Geschenke aufzwingen, wäre ich verrückt, sie abzulehnen. Ich muß an meine alten Tage denken. Selbst bin ich nicht begütert, und Claudia hält auf dem, was ihr gehört, fest die Daumen. Soviel ich weiß, bist du so wohlhabend, daß du mir sicherlich meine Geschenke nicht neiden wirst.«

Natürlich beneidete ich ihn um nichts; aber ich war derart erfüllt von dem in Jesu Grab Gesehenen, daß ich ausrief: »Solange die Welt bleibt, wie sie ist – hast du gesagt. Ich glaube, sie wird nicht lange so bleiben. Denn der Judenkönig, den du gekreuzigt hast, ist von den Toten auferstanden. Das Erdbeben hat den Stein vom Grufteingang weggeschoben, und der Tote ist aus seiner Umhüllung von Grablinnen und Schweißtuch herausgeglitten und hat seine Felskammer verlassen. So war es wirklich – da mögen die Legionäre lügen und die Juden schwatzen, so viel sie wollen.«

Pilatus blickte mich forschend an, ohne seine eigenen Gedanken preiszugeben. Ich erzählte ihm, was Adenabar und ich festgestellt hatten, als wir den Boden vor dem Grab und dann die Gruft selbst untersuchten. »Die übereinandergewickelten Lagen des Linnens waren unversehrt und klebten noch zusammen«, rief ich. »Um dieses Beweismittel zu vernichten, haben die jüdischen Ältesten die Grabtücher wütend auseinandergerissen. Sonst hättest du dich selbst überzeugen müssen, daß Jesus, seiner Voraussage gemäß, am dritten Tage von den Toten auferstanden und aus dem Grab gestiegen ist. Adenabar kann meine Angaben bestätigen.«

Pontius Pilatus lächelte mit unverhohlenem Spott und meinte: »Hast du dir wirklich vorgestellt, ich würde mich so weit erniedrigen, selbst hinzugehen und mir die Taschenspielerstücke der Juden anzugucken?« Er sagte in derart mitleidigem Töne, daß ich einen Moment lang dem eigenen Augenschein mißtraute und mir alle die Gauklerstücke ins Gedächtnis rief, mit denen in Ägypten einfältige Leute betört werden.

Der Statthalter tat die Münzen wieder in den Beutel, zog die Verschlußschnur zu und schleuderte den Beutel beiseite, daß es klirrte. Dann sagte er in ernstem Töne: »In Wirklichkeit bin ich mir ja völlig im klaren darüber, daß die Wachsoldaten sich diese Geschichte, als Gegenleistung für jüdische Bestechungsgelder, aus den Fingern gesogen haben. Kein Legionär schläft auf seinem Posten, wenn er das Siegel der eigenen Truppe zu bewachen hat. Überdies sind die Syrer von Natur aus so abergläubisch und nachtscheu, daß sie es schon deshalb kaum gewagt hätten einzuschlafen. Gewiß, es muß, wie du sagtest, das Erdbeben gewesen sein, das den Grufteingang freilegte. Was ich aber wissen möchte, ist, wie die Dinge sich nachher abspielten.«

Er stützte die Ellbogen auf die Knie und sein schmales Kinn in die Hände und starrte vor sich hin. »Natürlich hat er mich sehr beeindruckt, dieser jüdische Wundertäter«, gestand er. »Tiefer, als du glauben würdest – tiefer, als Claudia meint. Wundertäter, Propheten und angebliche Messiasse sind ja in Judäa auch schon früher aufgetreten; sie haben alle das Volk aufgewiegelt und Verwirrung gestiftet, bis man sie unschädlich machte. Doch dieser Jesus war kein solcher Aufrührer. Er war derart demütig, daß ich ihm bei meinem Verhör kaum in die Augen schauen konnte. Du mußt wissen, ich hatte Gelegenheit, ihn zu befragen, ohne daß ein Hebräer zugehört hätte. Dabei nannte er sich, so wie die Juden in ihrer Anklage behauptet hatten, einen König und stellte sich damit gegen Cäsar. Aber es war offenkundig, daß er sein Königtum als bloß sinnbildlich betrachtete; und soviel ich weiß, hat er sich auch nie geweigert, die Steuern an den römischen Staat zu entrichten. Sein Reich sei nicht von dieser Welt, so erklärte er mir; und dann sagte er auch, er sei dazu geboren worden und dazu in die Welt gekommen, um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen. Selbstverständlich hat mich das tief ergriffen, so abgebrüht ich auch sonst sein mag. Indes haben die Sophisten längst bewiesen, daß es auf der Welt keine absolute Wahrheit gibt, daß alle Wahrheiten nur bedingt gelten und gegeneinander abgewogen werden müssen. Übrigens habe ich ihn selbst gefragt, was Wahrheit sei. Aber darauf wollte oder konnte er nicht antworten.«

»Nein, ich fand keine Schuld an diesem Menschen«, fuhr Pilatus nachdenklich fort. »In seiner jämmerlichen Verfassung nach den Mißhandlungen der Juden schien er mir im Gegenteil der harmloseste und, in edlem Sinne, schlichteste Mensch, dem ich je begegnet bin. Er hatte gar keine Angst vor mir; er verteidigte sich nicht einmal. In ihm war echte Seelenstärke. Ich muß gestehen, daß ich mich, trotz meiner hohen Stellung als Prokonsul, ihm gegenüber irgendwie als der Schwächere empfand. Aber das war kein demütigendes Gefühl. Eher könnte ich sagen, daß es mir wohltat, mit ihm zu sprechen und seine gelassenen Antworten zu hören. Er versuchte nie, sich zu rechtfertigen, und wurde nie ausfällig.«

Pilatus blickte mich an, lächelte wieder und fügte in versöhnlichem Töne hinzu: »Ich hielt es für angezeigt, dir das alles zu sagen, damit du mich nicht falsch beurteilst. Ich wollte sein Bestes; aber die politischen Umstände hatten sich unerbittlich gegen ihn verschworen. Es war unmöglich, ihn zu retten, da er selbst keinen Finger zu seinen Gunsten rührte. Im Gegenteil, es war, als hätte er nur auf sein Schicksal gewartet und es im voraus genau gekannt.«

Sein Gesicht wurde hart; er starrte mich finster an und sagte schließlich: »Ein außergewöhnlicher Mann, vielleicht sozusagen ein Heiliger! Aber Gott war er keiner, Marcus – gib dich da nicht einer Täuschung hin! Er war ein Mensch, ein lebendes Menschenwesen, so wie wir alle. Du selbst hast ihn nach Menschenart sterben sehen. Nicht einmal die Furien selber könnten mir die Wahnvorstellung einflößen, daß ein Toter auferstehen und durch die Leichenhüllen in die Luft entschwinden kann. Alles auf dieser Welt findet eine natürliche – und gewöhnlich ziemlich einfache – Erklärung.«

So sprach er zu mir, weil die Angelegenheit ihn ständig beunruhigte und weil er sich als römischer Beamter auf greifbare Tatsachen beschränken wollte. Er mußte es tun. Ich sah das ein und widersprach ihm nicht, sondern schwieg hartnäckig. Später bereute ich dieses Schweigen; denn hätte ich ihn gefragt, so wäre er in diesem Augenblick der Gewissenserforschung sicherlich bereit gewesen, mir alles zu erzählen, was während des Verhörs vorgegangen war und was der Nazarener ihm geantwortet hatte.

Nun aber trat Adenabar ein. Der Prokurator nickte ihm zu und sagte: »Sprich!«

Der Zenturio rieb sich aufgeregt die Hände und fragte: »Herr, was willst du, daß ich dir berichte?«

Pilatus entgegnete barsch: »Es handelt sich hier nicht um ein gerichtliches Verhör, sondern um eine vertrauliche Unterredung von Mensch zu Mensch. Ich fordere dich nicht auf, die Wahrheit zu reden; Wahrheit ist etwas, worüber wir beide, du und ich, wenig wissen. Erzähle mir einfach, was diese Burschen tatsächlich gesehen zu haben glauben!«

»Sie haben jeder dreißig Silberstücke bekommen«, begann Adenabar. »Dafür legten ihnen die Juden in den Mund, was sie aussagen sollten. In Wirklichkeit hatten sie während der Nacht Angst und trauten sich kaum, in der Nähe des Grabes zu schlafen, aus Furcht vor Gespenstern. Als die Erde zu beben anfing, waren bestimmt zwei der Soldaten ordnungsgemäß auf Wache. Der Erdstoß warf sie zu Boden. Sobald der Stein vor der Grufttür losbrach, wachten alle auf und hörten in der Finsternis etwas Schweres auf sich zukollern. Und dann …«

Adenabar hielt verlegen inne und meinte entschuldigend: »Ich wiederhole nur, was mir gesagt wurde. Die Burschen mußten nicht einmal ausgepeitscht werden, so redselig waren sie von selbst, wohl aus Bedauern darüber, daß wir ihnen das Geld weggenommen hatten. Als sie dem rollenden Stein entgangen waren, zitterten sie alle vor Entsetzen, und sie sahen ein blendend weißes Licht, einem Blitze gleich, obwohl kein Donner zu hören war. Der Blitzstrahl schleuderte sie wieder zu Boden, so daß sie eine Zeitlang des Augenlichtes beraubt und betäubt dalagen, wie Tote. Als sie es endlich wagten, sich dem Grabe wieder zu nähern, vernahmen sie keine Bewegung, kein Geräusch, keine Schritte. Sie sahen auch keine menschlichen Gestalten und sind der festen Meinung, niemand hätte, ohne von ihnen bemerkt zu werden, in die Gruft eintreten und sie wieder verlassen können. Nachdem sie untereinander beraten hatten, ließen sie zwei Männer als Wache zurück, während die vier anderen – ohne den Mut aufzubringen, sich durch eigenen Augenschein Gewißheit darüber zu verschaffen, ob der Leichnam noch vorhanden war – sich eilends davonmachten, um den Juden das Geschehene zu melden.«

Pilatus sann über diesen Bericht nach. Dann wandte er sich an mich und fragte: »Marcus, welche Version hältst du für glaubwürdiger: die von den Juden für wahr hingestellte oder die uns eben geschilderte?«

Ich antwortete freimütig: »Ich kenne die Logik der Sophisten und die Wahrheit der Kyniker. Ich bin auch in Mysterien eingeweiht worden, für die ich mich übrigens, bei aller Schönheit ihrer Sinnbilder, nicht erwärmen konnte. Die Philosophie hat einen Zweifler aus mir gemacht. Aber die Frage nach dem Wahrheitsgehalt dieser Welt hat mir immer wie ein Dolch im Herzen gebohrt. Jetzt durchschaue ich diese Dinge völlig. Mit eigenen Augen habe ich Jesus sterben sehen. Und mit eigenen Augen habe ich mich heute davon überzeugt, daß keine irdische Macht ihm den Weg aus dem Grabe geöffnet hat. Wie du selbst vorhin sagtest: die Wahrheit ist einfach. Heute morgen kam das Reich dieses Heiligen zur Erde herab. Die Erde bebte und legte das Grab frei. Als er sich erhob und die Gruft verließ, blendete sein Glanz die Wachen. Wie einfach ist das alles! Warum sollte ich statt dessen irgendwelche zusammengebrauten Geschichten glauben, die nichts mit den Tatsachen zu tun haben?«

»Marcus, mach dich nicht lächerlich!« wehrte der Prokurator ab. »Denke daran, daß du römischer Bürger bist! Und du, Adenabar, für welche Auffassung bist du?«

»Herr, in dieser Sache habe ich keine eigene Meinung«, erwiderte der Zenturio diplomatisch.

»Marcus«, beschwor der Statthalter mich, »willst du ernstlich, daß ich mich zum allgemeinen Gespött mache, indem ich die Legion, alle Besatzungen in Judäa, zur Gefangennahme eines aus seinem Grabe Entwichenen aufbiete? Das wäre ja, wenn du recht hättest, meine Pflicht. Besondere Merkmale: eine bis ins Herz reichende Stichwunde an der Seite; Nägelmale an Händen und Füßen; nennt sich König der Juden.«

Etwas ruhiger fuhr er fort: »Aber ich will dir die Wahl erleichtern. Ich habe dich nicht gefragt, was du für die Wahrheit hältst, sondern, welche der beiden Versionen dir für die Welt, in der wir leben, glaubwürdiger erscheint. Oder, noch besser, welche von den beiden politisch sachdienlicher ist, sowohl vom jüdischen wie vom römischen Gesichtspunkt. Du' wirst gewiß verstehen, daß ich ohne Rücksicht auf meine eigene Meinung den politisch zweckmäßigsten Weg einschlagen muß.«

»Ja, und jetzt verstehe ich auch deine Frage an ihn: ›Was ist Wahrheit?‹«, entgegnete ich erbittert. »Mag es also bei deiner Auffassung bleiben! Jedenfalls bist offenbar du damit zufrieden. Die Juden haben sich auf deine Seite geschlagen und dir zweierlei ins Haus geliefert: eine glaubwürdige Geschichte und ein Geschenk, damit die Fabel dir süßer eingeht. Natürlich ist ihre Version sachdienlicher. Ich gedenke nicht, den Kopf in deine Schlinge zu stecken und die Gelegenheit zu bieten, mich politischer Ränke zu zeihen. So töricht bin ich nicht. Aber vielleicht gestattest du mir, persönlich bei meiner eigenen Ansicht zu bleiben. Ich werde sie nicht austrompeten.«

»Dann sind wir alle drei der gleichen Meinung«, erklärte Pilatus sehr gelassen. »Je rascher wir die Sache vergessen, desto besser. Du, Adenabar, und der Festungskommandant könnt euch jeder ein Drittel des Judengeldes nehmen – das ist nur recht und billig. Gebt aber den Wachsoldaten je zehn Silberstücke, um ihnen die Mäuler zu stopfen. Morgen soll man sie freilassen und zu gelegener Zeit über die Grenze abschieben, womöglich nach verschiedenen Himmelsrichtungen. Falls sie jedoch unangebrachterweise alberne Gerüchte zu verbreiten anfangen, müssen wir raschest einschreiten.«

Ich nahm diese Bemerkung als Wink, daß auch ich gut daran tat zu schweigen, zumindest, solange ich in Judäa bleiben wollte. Aber wenn ich es recht überlege, könnte ich ohnedies nirgends in der ganzen gesitteten Welt offen von meinen Erlebnissen reden. Man würde mich sonst entweder für einen Wirrkopf halten oder für einen Aufschneider, der sich wichtig machen möchte. Im schlimmsten Falle könnte Pilatus mich als politischen Unruhestifter anzeigen, der sich zum Schaden Roms in jüdische Angelegenheiten mische. Heutzutage kommt es vor, daß aus nichtigeren Gründen Bürger um einen Kopf kürzer gemacht werden.

Diese Erwägungen bedrückten mich. Doch ich tröstete mich damit, daß ich die Wahrheit in erster Linie für mich selbst herausfinden wollte und nicht, um sie anderen zu erzählen.

Als Adenabar gegangen war, fragte ich den Prokurator in aller Bescheidenheit: »Aber nachgehen darf ich doch dieser Sache mit dem Judenkönig? Nicht seiner Auferstehung; darüber will ich schweigen. Aber über seine Taten und Lehren möchte ich etwas erfahren. Vielleicht kann ich einigen Nutzen daraus ziehen. Du sagst ja selbst, er sei ein außergewöhnlicher Mensch gewesen.«

Pilatus rieb sich das Kinn, blickte mich wohlwollend an und erwiderte: »Ich glaube, am besten tätest du, diesen Mann ganz zu vergessen und dir mit dieser jüdischen Religion nicht das Hirn zu zermartern. Du bist noch jung, du bist wohlhabend und ungebunden, du hast einflußreiche Freunde, und das Leben lächelt dir zu. Aber des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Solange du also deine Neugierde behutsam und unauffällig befriedigst, werde ich dir nichts in den Weg legen. Augenblicklich ist in Jerusalem dieser Jesus noch in aller Munde; aber du ahnst nicht, wie kurz das Gedächtnis der Menschen ist. Seine Schüler werden bald in alle Winde zerstreut sein und nach Hause zurückkehren. Glaube mir, in ein paar Jahren redet kein Mensch mehr von dem Manne.«

Ich verstand, daß damit unser Gespräch beendet war, und ging, da der Statthalter mich nicht zu sich eingeladen hatte, in die Offiziersmesse essen. Mich quälte solche Unrast, daß ich kaum hörte, was man zu mir sprach, und nach dem Mahle konnte ich nicht wie die anderen der Muße pflegen. Unschlüssig verließ ich die Burg und streifte planlos in der Stadt umher. Die Straßen waren voll Menschen, die nach dem Fest heimkehrten. Ich sah Vertreter sämtlicher Rassen der Erde und versuchte, mir in den jüdischen Läden die Waren aus aller Herren Länder anzuschauen. Aber dergleichen hatte ich schon in anderen großen Städten gesehen, und ich fand keinerlei Vergnügen daran.

Nach einiger Zeit merkte ich, daß mein Blick sich nur auf eines heftete: auf die an den Häuserwänden kauernden Bettler, auf ihre verkrüppelten Glieder, blinden Augen und schwärenden Beulen. Darüber wunderte ich mich; denn an Bettler gewöhnt der Reisende sich derart, daß er sie ebensowenig beachtet wie die ihn umschwirrenden Fliegen. Die armen Kerle saßen reihenweise beiderseits der Straße vor dem Tempel, und jeder schien seinen angestammten Platz zu haben. Sie streckten die Hände aus, riefen laut mit weinerlicher Stimme und stießen und knufften einander.

Es schien, als wäre mit meinen Augen irgend etwas nicht in Ordnung; denn statt der Putzläden, statt der Pharisäer mit ihren mächtigen Mantelquasten und der morgenländischen Händler, statt des anmutigen Schreitens der Wasserträgerinnen erblickte ich allenthalben nur Bettler, verstümmelte, jammervolle Gestalten. So wurde ich der Stadtstraßen müde, trat durch ein Tor der Rundmauer ins Freie und sah wiederum den Hinrichtungshügel vor mir. Ich eilte an ihm vorbei und trat in den Garten, wo das Grab war. Ich bemerkte, daß dieser Platz mit seinen Obstbäumen und Kräuterbeeten sich lieblicher ausnahm, als ich gedacht hatte. Jetzt, während der Mittagsruhe, war es hier menschenleer. Meine Schritte führten mich zu der Felsengruft; nochmals betrat ich sie und sah mich darin um. Die Linnen waren entfernt worden, und nichts mehr Ungewöhnliches fiel dem Betrachter auf, außer vielleicht dem Geruch nach Spezereien.

Sobald ich das Grab verließ, übermannte mich so ungeheure Müdigkeit, wie ich sie noch nie empfunden zu haben glaube. Ich hatte zwei Nächte nicht richtig geschlafen, und die vergangenen beiden Tage schienen mir, ebenso wie der jetzige dritte, die längsten meines Lebens. Vor Erschöpfung taumelnd schleppte ich mich in den Schatten eines Myrtenstrauches, warf mich ins Gras, hüllte mich in meinen Mantel und schlief sofort ein.

Als ich erwachte stand die Sonne tief, und es war schon die zehnte Stunde. Vogelgezwitscher umgab mich; der Wohlgeruch von Reseden und die Kühle frischer Luft hüllten mich ein. Ich setzte mich auf und fühlte mich wunderbar ausgeruht. Meine Unrast war verflogen, und ich spürte keinen Drang mehr, mich mit törichten Gedanken abzuquälen. Ich sog die würzige Luft ein; die ganze Welt schien mir verjüngt. Und plötzlich bemerkte ich, daß der trockene, lästige Wüstenwind sich gelegt hatte und daß alles auf Erden erquickt war. Der Wind mochte schon am Morgen abgeflaut sein, ohne daß ich etwas davon gemerkt hatte. Aber jetzt schmerzte mir der Kopf nicht länger, meine Augen brannten nicht mehr vor Schläfrigkeit, ich hatte keinen Hunger, keinen Durst. Ich spürte nur, daß es herrlich war, zu atmen, zu leben, da zu sein als Mensch in der Menschenwelt.

Ich sah einen Gärtner durch den Garten wandeln, die Äste der Obstbäume heben und die Fruchtansätze betasten. Er war wie ein Mann aus dem Volke gekleidet, in einen schlichten Überwurf mit kleinen Quasten, und zum Schutz vor der Sonne hatte er den Kopf bedeckt. Ich dachte mir, der Mann könnte böse werden darüber, daß ich mich unerlaubt in seinem Garten schlafen gelegt hatte; die jüdischen Bräuche sind ja sehr verwickelt, und ich wußte wenig davon. Deshalb erhob ich mich rasch, ging auf den Gärtner zu, grüßte ihn und sagte: »Dein Garten ist prächtig, und ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, daß ich hier geruht habe, ohne um Erlaubnis zu fragen.« In diesem Augenblick hätte ich niemanden auf der ganzen Welt kränken wollen.

Er wandte sich mir zu und lächelte so gütig, wie noch kein Jude mir zugelächelt hatte, mir, einem glattwangigen Römer. Mehr noch aber überraschte mich seine Antwort. Er entgegnete freundlich, fast verlegen: »In meinem Garten ist auch für dich Platz. Ich kenne dich ja.«

Ich nahm an, er sei vielleicht kurzsichtig und verwechsle mich mit irgendwem anderen. Erstaunt sagte ich: »Wie du bemerken wirst, bin ich Ausländer. Woher solltest du mich denn kennen?«

In der rätselvollen Art der Juden entgegnete er: »Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich.«

Er winkte mir zu, mit ihm zu kommen. In der Meinung, er wolle mir etwas zeigen oder mir irgendwie seine Gastfreundschaft erweisen, folgte ich gerne der Aufforderung. Er schritt voraus, und ich bemerkte, daß er stark hinkte, obwohl er mir noch keineswegs alt vorkam. An einer Wegbiegung hob er wieder einen herabhängenden Ast, und ich sah, daß seine Hand verletzt war. Er hatte eine häßliche Wunde an der Handwurzel, die noch nicht verheilt schien. Bei diesem Anblick blieb ich wie versteinert stehen, und für eine Weile versagten die Beine mir den Dienst. Nochmals ließ der Gärtner vertraulich den Blick auf mir ruhen und setzte dann seinen Weg fort, um einen steilen Abhang herum.

Sobald ich mich wieder in der Gewalt hatte, lief ich laut rufend dem Manne nach; doch als ich um die Böschung bog, war er verschwunden. Obwohl das Weglein sich fortsetzte, konnte ich ihn nirgends entdecken, ebensowenig aber eine Stelle, wo er sich in so kurzer Zeit hätte verstecken können. Die Knie schlotterten mir, und ich setzte mich ratlos mitten auf den Weg.

Den ganzen Vorfall habe ich hier genau so geschildert, wie er sich zutrug. Nun, da diese Zeilen niedergeschrieben sind, will ich ehrlich gestehen, daß ich eine Zeitlang fest daran glaubte, in der Gestalt des Gärtners dem auferstandenen Judenkönig begegnet zu sein. Die häßliche Wunde an seiner Handwurzel war genau an der Stelle gewesen, wo bei der Kreuzigung der Henker den Nagel einschlägt, damit die Knochen das Gewicht des an ihnen zerrenden Körpers aushalten. Der Mann hatte behauptet, er kenne mich. Wie wäre das anders möglich gewesen als dadurch, daß er mich vom Kreuz herab erblickt hatte?

Aber die kurze Spanne seelischer Entrückung ging vorbei, die Erde verblaßte vor meinen Augen wieder zu stumpfem Grau, und die Vernunft meldete sich. Ich saß auf einem staubigen Weg, und ein freundlicher Jude hatte mir zugelächelt. Weshalb war ich dadurch so außer Rand und Band geraten? Es mochte wohl noch manche Juden geben, die zu Fremden höflich waren. Lahme hatte ich in der Stadt mehr als genug gesehen, und an den Händen verletzt ein Gärtner sich bei der Arbeit leicht. Seine Gebärde muß ich mißverstanden haben; wahrscheinlich hatte er mich damit gar nicht auffordern wollen, ihm zu folgen, und war schließlich in eine ihm bekannte Höhle oder dergleichen getreten.

Vor allem: wenn er der Judenkönig gewesen wäre, warum hätte er sich ausgerechnet mir zeigen sollen? Wer bin ich, daß er so etwas täte? Und andererseits: falls er es doch war und irgendeinen besonderen Grund für sein Erscheinen hatte, wäre er sicherlich mir gegenüber auf seine Absichten und Anliegen zu sprechen gekommen; sonst entbehrte ja sein Sichtbarwerden jeden Sinnes.

Zunächst nahm ich an, ich hätte einfach geträumt. Als ich mich jedoch aufrappelte und den Weg zurückging, fand ich die Stelle, wo ich unter dem Myrtenstrauch im Grase geschlafen hatte. Nein, Traum war es keiner gewesen. Ich streckte mich wieder hin, und mein durch Schulung geschärfter Verstand lehnte sich gegen die Unsinnigkeit meines Hirngespinstes auf. Natürlich wäre ich überglücklich gewesen, den gekreuzigten König auferstanden und lebend zu sehen; aber ich hatte kein Recht, meinen Wunsch für Wahrheit zu nehmen und mir einzureden, ich hätte tatsächlich in Gestalt des Gärtners Jesus erblickt.

Derart teilten sich meine Gedankengänge, und mich erfaßte das erschreckende Gefühl, in zwei verschiedene Wesen gespalten zu sein, von denen das eine zu glauben begehrte, während das andere sich über solche Leichtgläubigkeit lustig machte. Der Spötter hielt mir vor, ich hätte einfach an Jugendlichkeit und Spannkraft verloren. Die Belastungen jenes alexandrinischen Winters, den ich abwechselnd mit Weingelagen in leichtfertiger Gesellschaft und mit dem Studium dunkler Weissagungen verbracht hatte, seien Gift für meine Seele gewesen. Die Fußwanderung von Joppe hierher, die erschütternden Vorfälle, deren Zeuge ich durch eine Laune des Zufalls geworden war, seien zusammen mit durchwachten Nächten und übertriebener Schreibwut der bekannte letzte Tropfen zum Überlaufen eines randvollen Bechers gewesen oder die vielberufene Feder der Sophisten, die einem Kamel das Rückgrat bricht. Ich könne meinen eigenen Sinnen nicht mehr trauen, geschweige denn meiner Urteilskraft. Pontius Pilatus sei älter als ich und dazu ein erfahrener, klarsichtiger Mensch. Wenn ich klug wäre, müßte ich mich an seinen Rat halten: mich ausruhen, die heilige Stadt Jerusalem besichtigen und meine Erlebnisse vergessen.

Mir fielen die bösen Geister ein, die nach jüdischen Sagen in schwachmütige Menschen fahren und von ihren Körpern Besitz ergreifen. Ich hatte bei Gräbern geschlafen und mich den dort lauernden Gefahren ausgesetzt. Das Schwierige für mich war nur, zu entscheiden, was in meinem Innern einem solchen Dämon entstammen mochte: jene Stimme, die mich glauben ließ, der Judenkönig sei von den Toten auferstanden und ich hätte ihn, als Gärtner verkleidet, gesehen, oder aber die Stimme, die mit all dem nur ätzenden Spott trieb.

Ich hatte kaum Zeit, diese Gedankengänge zu verfolgen; denn schon begehrte der Lästerer in mir auf: ›So weit bist du also, daß du an die jüdischen Dämonen glaubst! Du hast doch den Ärzten in Alexandria beim Zerstückeln menschlicher Leichen zugeschaut und hast gehört, daß sie auch zum Tode verurteilten Verbrechern bei lebendigem Leibe den Rumpf aufgeschnitten haben, um ihre Seele zu suchen. Gefunden haben sie nichts. Du gaukelst dir vor, daß ein Mensch, den du am Kreuze sterben sahst und dem ein verhärteter Legionär das Herz mit einer Lanze durchbohrt hat, als einziger unter allen Menschen von den Toten auferstanden sein könnte. Solche Dinge sind unmöglich; und Unmögliches ereignet sich nicht.‹

Aber mein glaubensbereites Ich widersprach: ›Marcus, wenn du jetzt aufgibst und dich zurückziehst, wirst du nie mehr im Leben Frieden finden. Unablässig wirst du dich mit dem Gedanken quälen, vor deinen Augen sei etwas geschehen, was nie zuvor geschah. Laß dich nicht zu sehr von der Vernunft leiten! Alle Vernunft ist beschränkt und irreführend, wie die Sophisten bewiesen haben. Nichts hindert dich daran, unvoreingenommen und sachlich alles zu erforschen. Erst wäge, dann wage! Die Tatsache, daß sich etwas dergleichen bisher nie zugetragen hat, beweist nicht, daß es sich nie zutragen kann. Hier geht es um etwas weit Größeres als bei den Anzeichen und Vorboten, an die du stets wenigstens halb und halb geglaubt hast. Verlaß dich mehr auf dein Gefühl als auf deinen Verstand! Du bist nicht einer der sieben Weltweisen, und niemand hat, auf welchem Gebiet immer, Erfolg gehabt, wenn er den Verstand allein sprechen ließ. Sulla hat sich auf sein Glück verlassen; Cäsar aber glaubte nicht, daß die Iden des März ihm Verderben bringen würden. Sogar die vernunftlosen Tiere verhalten sich unbewußt klüger als der Mensch. Denke daran, wie vor dem Erdbeben die Vögel zu singen aufhörten und der Esel scheu wurde! Denke an die Ratten, die das Schiff verlassen, weil es bei der nächsten Ausfahrt dem Untergang geweiht ist!‹

Ein solcher innerer Zwiespalt läßt sich schwer beschreiben, und ich glaube, niemand, der ihn nicht selbst erlebt hat, wird ihn verstehen. Es ist ein schreckliches Erlebnis, und ich hätte wohl darüber den Verstand verloren, würde nicht in meinem Innersten eine kühle Gelassenheit wohnen, die mich stets auch durch die schwersten Stürme der Seele schützend geleitet hat. Aus Erfahrung wußte ich, daß es in diesen Fällen am besten ist, stillzuhalten und sich vor unnützem Grübeln zu hüten.

Als ich mich wieder gesammelt hatte, war der Abend schon nahe, und die Schatten der Hügel fielen in die Täler; oben aber, hoch über dem Häusergewirr, leuchtete der Judentempel purpurn in der Sonne. Ich ging in die Stadt und machte mich auf die Suche nach dem Hause des jüdischen Bankiers, um meinen Kreditbrief einzulösen; ich sah voraus, daß ich für meine Nachforschungen ziemlich viel Geld brauchen würde. Das Gebäude befand sich in der Nähe des Theaters und des Hohenpriester-Hauses in einem erst kürzlich aufgebauten Stadtviertel.

Nachdem ich mein Anliegen dem mir öffnenden Bedienten mitgeteilt hatte, empfing mich der Bankier selbst. Nach all der jüdischen Ruppigkeit, der ich bisher gewöhnlich begegnet war, wurde sein Betragen zu einer wirklichen Überraschung für mich. Er forderte mich gleich auf, ihn mit seinem griechischen Namen, Aristainos, anzureden, und sagte:

»Ich habe schon von dir gehört. Ein Brief aus Alexandria hat dich mir angekündigt; und als du nicht gleich kamst, fürchtete ich schon, du wärest unterwegs Räubern in die Hände gefallen. Gewöhnlich sprechen ausländische Reisende zuallererst bei mir vor, um ihr Geld einzuwechseln und sich zu erkundigen, wie man es am besten loswerden kann; während des Festes ist nämlich Jerusalem, so trübselig es aussehen mag, eine recht fröhliche und vielseitige Stadt. In der Regel erscheinen dann die Kunden ein zweitesmal bei mir: um sich Geld für die Heimreise auszuborgen. Und bei dieser Gelegenheit verdiene ich, offen gestanden, mehr als bei der Einlösung eines Kreditbriefes. Falls du während deines hiesigen Aufenthaltes in irgendwelche Schwierigkeiten gerätst, so besuche mich ohne Zögern! Mich setzt nichts in Erstaunen, was lebenslustige junge Männer auf Reisen tun. Nach den Festtagen kommt es vor, daß in der Frühe, wenn die Tempelhörner blasen und meine Haustür geöffnet wird, auf der Schwelle einer meiner Kunden liegt, der in der Nacht sogar Mantel und Sandalen durchgebracht und dann zum Schlafen den Kopf auf die nackten Steine gebettet hat.«

Er sprach lässig, wie ein Mann von Welt. Trotz seiner angesehenen Stellung war er nicht viel älter als ich. Der Form halber trug er einen kurzen Bart, und seine Mantelquasten waren so winzig klein, daß man sie fast nicht bemerkte. Sein Haar war auf griechische Art gekräuselt und roch nach kostbaren Ölen. Er war in jeder Beziehung ein stattlicher, ansehnlicher Mann.

Ich erzählte ihm, daß ich in der Burg Antonia als Gast des Statthalters wohnte, weil mir die Römer aus Furcht vor Unruhen abgeraten hatten, während des Passahfestes in der Stadt Quartier zu nehmen. Aristainos breitete bestürzt die Arme aus und rief:

»Das ist eine Verleumdung! Das ist falsches, böswilliges Gerede! Unser Hoher Rat verfügt über eine Polizeitruppe, die durchaus in der Lage ist, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Ich glaube, mit Aufwieglern und Fanatikern werden unsere eigenen Priester sogar besser fertig als die Römer. Natürlich kann die Stadtbevölkerung die syrischen Legionäre nicht leiden; aber der Grund hierfür liegt hauptsächlich in dem herausfordernden Betragen der Soldaten. Ein reisender Ausländer jedoch, der Geld in die Stadt bringt, unsere Bräuche achtet und die Ordnungsvorschriften einhält, kann der besten Aufnahme sicher sein. Man hegt und pflegt ihn; Fremdenführer wetteifern darin, ihm die Sehenswürdigkeiten zu zeigen, während viele Schriftgelehrte bereit sind, ihm unsere Glaubenswahrheiten darzulegen. Er kann sich einen Gasthof in jeder beliebigen Preislage wählen, vom teuersten bis zum bescheidensten; und innerhalb der Mauern gewisser Häuser sind alle erdenklichen Vergnügen ägyptischer, griechischer oder babylonischer Art erlaubt und den Fremden zugänglich. Sogar indische Tanzmädchen findest du hier, wenn du etwas ganz Erlesenes zu sehen wünschst. Aber natürlich tut der Reisende gut daran, in dem neuen Stadtteil beim Forum zu wohnen.«

Ich erklärte, der Ostwind hätte mir lästige Kopfschmerzen bereitet, und es sei recht ungemütlich, in aller Herrgottsfrühe durch ein Erdbeben und das Poltern herabfallender Schilde geweckt zu werden.

Aristainos nahm seine Stadt noch eifriger in Schutz und wandte ein: »Diese beiden kleinen Erdstöße waren doch ganz belanglos; sie haben keinen nennenswerten Schaden angerichtet. Wenn du hier in diesem besseren Stadtteil gewohnt hättest, würdest du, glaube ich, das Beben am Morgen überhaupt kaum bemerkt haben. Ich nahm mir nicht einmal die Mühe, das Bett zu verlassen. In der Antonia-Gegend muß man die Sache allerdings stark gespürt haben, wenn dort sogar die Schilde von den Wänden gefallen sind.«

Nun aber wollte ich, obwohl mir die darin liegende Unhöflichkeit bewußt war, das Gespräch auf Jesus von Nazareth bringen und sagte, wie, um mich über einen weiteren Mißstand zu beklagen: »Und dann seid ihr hingegangen und habt euren König gekreuzigt, gerade, als ich in der Stadt ankam. Das war kein lieblicher Anblick.«

Die Miene des Bankiers verdüsterte sich. Doch er klatschte in die Hände, bestellte Honigwein und Backwerk und erwiderte: »Du bist ein seltsamer Reisender; nur unangenehme Dinge bemerkst du in dieser Stadt, der einzigen wirklich heiligen auf der Welt. Sei so freundlich und setze dich! Nachdem du offenbar von diesen Dingen wie der Blinde von der Farbe redest, möchte ich dir einiges klarmachen. Wir Juden kranken allerdings an unseren heiligen Schriften und Weissagungen; aber das scheint mir keineswegs verwunderlich. Unsere Glaubenslehre ist ja die merkwürdigste auf Erden, und unsere Geschichte ist ganz unerhört. Unter allen Völkern verehren allein wir einen einzigen Gott, der uns keine anderen Götter gestattet; und von allen Ländern ist Israel das einzige mit nur einem Tempel, hier in Jerusalem, wo wir unseren Gott nach Vorschriften anbeten, die er selbst uns durch die großen Führer unseres Volkes geoffenbart hat.«

Lächelnd forderte er mich auf, einen Becher Wein zu nehmen und das Backwerk zu kosten. Doch den Becher kredenzte er mir nicht mit eigener Hand, und ich bemerkte auch, daß meine Kuchen auf einer anderen Schüssel lagen als seine. Er folgte meinem Blick und erklärte mit einem Schmunzeln:

»Du wirst dir denken, daß ich eben ein Jude bin und noch dazu ein in Vorurteilen befangener Jude. Aber wenn ich nicht aus dem gleichen Becher trinke und in die gleiche Schüssel greife wie du, so geschieht es nur der Dienstboten wegen. Glaube nicht, daß ich mich irgendwie besser dünke als du! Ich bin ja ein aufgeklärter Mensch und verletze unsere Glaubensvorschriften vielfach, obwohl ich mich nach außenhin bemühe, sie einzuhalten. Wir haben unsere Pharisäer, die sich und dem ganzen Volk das Leben unerträglich vergällen durch die Forderung, die Überlieferung müsse bis zur letzten Silbe befolgt werden. Das ist der Streitpunkt zwischen ihnen und uns. Im übrigen aber sichert unser Gesetz die Einheit des Volkes. In allen Städten der Welt hält dieses gleiche Gesetz alle Juden zusammen und bewahrt sie davor, sich mit den Fremden zu vermischen und von ihnen aufgesogen zu werden. Sonst hätte unser Volk, das schon in Ägypten und dann in Babylon versklavt war, längst seine Eigenständigkeit verloren. Ich selbst bin ein gebildeter Mann, im Herzen Grieche, und kann einer Bindung des Geistes durch den Buchstaben nicht beipflichten; aber wenn es darauf ankäme, würde ich mich für unseren Gott und den Tempel in Stücke hauen lassen.

Unsere Geschichte zeigt, daß wir Juden das auserwählte Volk Gottes sind. Gewiß muß man als vernünftiger, Mensch zugeben, daß es im Vergleich zu der unfaßbaren Glorie unseres Gottes wenig bedeutet, wie jemand ißt oder trinkt oder seine Hände und sein Geschirr reinigt. Aber diese komplizierten Sitten und Bräuche, die Beschneidung, die Sabbatheiligung und alle anderen Vorschriften, die einem Ausländer darzulegen viel zu umständlich wäre – alle diese Dinge halten unser Volk hier in diesem kleinen Land zwischen Ost und West zusammen, so daß wir nicht in anderen Nationen aufgehen, wenn der Messias auf die Erde kommt und sein Reich gründet.«

Er warf mir einen Seitenblick zu und fügte rasch bei: »So haben unsere Propheten es vorausgesagt. Aber nimm das keineswegs wörtlich oder auch nur als politischen Traum, in dem Sinne, daß eines Tages die Juden unter Führung des Messias die Welt beherrschen sollten. Bloß die einfachen Leute – die Plebejer, wie du als Römer sie nennen würdest – hängen solchen Hirngespinsten nach. Allerdings sind wir Juden alle miteinander Schwärmer; deshalb taucht in unserer Mitte ein Messias nach dem anderen auf und versucht sein Glück. So armselig kann kein Würdenträger sein, daß er nicht, sofern er nur an sich selbst glaubt, etliche simple Menschen um sich schart. Aber wenn und falls der wirkliche Messias kommt, dann werden wir ihn, dessen sei versichert, von den falschen Anwärtern unterscheiden können. Da haben wir einige Erfahrung. Einer unserer Makkabäerkönige ließ dreitausend fanatische Volksbetrüger ans Kreuz schlagen. Wozu kränkst du dich also ausgerechnet über den einen, der jetzt wieder das Volk glauben machen wollte, er sei der König und der Messias?«

Während er sprach, hatte ich Honigwein getrunken und Backwerk gegessen. Der Wein stieg mir belebend zu Kopf, und ich vergalt meinem Gastgeber lachend seinen Spott von vorhin: »Wozu dieser Wortschwall und diese Leidenschaftlichkeit, wenn die Sache wirklich so belanglos ist, wie du behauptest?«

Er erklärte: »Glaube mir: Messiasanwärter kommen und gehen; aber unser Gott bleibt ewig, und der Tempel sammelt alle Juden, nun und immerdar. Wir haben Ursache, den Römern dankbar zu sein, die unsere glaubensbedingte Sonderstellung unter den Völkern erkannt haben und uns Selbstverwaltung gewähren. Beide Kaiser, Augustus und Tiberius, waren uns gnädig und haben unseren Beschwerden Gehör geschenkt, so daß unsere Lage jetzt gefestigt ist. Ja, es geht dem Lande unter der römischen Herrschaft und Zivilisation besser, als wenn wir ein unabhängiger Staat wären und für ein stehendes Heer und für ständige Kriege mit neidischen Nachbarn Geld ausgeben müßten. Heute haben wir Förderer und Fürsprecher in jeder bedeutenden Stadt der Erde, sogar in Gallien und Britannien und an den skythischen Küsten; denn auch die Barbaren schätzen unser Geschick als Kaufleute. Ich beschäftige mich zum Zeitvertreib mit der Ausfuhr von Obst und Nüssen nach Rom. Mein einziger Kummer ist, daß wir keine eigene Flotte besitzen, weil wir Juden aus irgendwelchen Gründen eine Scheu vor dem Meer haben. Aber zum Tempel wird jeder fromme Jude, wenn er es körperlich vermag, immer wieder reisen, um sein Opfer darzubringen; und mit diesen Pilgern fließt unserem Tempel in Form von Weihegeschenken stets wachsender Reichtum zu. Darum wirst du vielleicht verstehen, daß wir nicht untätig zusehen können, wenn die Leute durch Königsträume aus dem Gleichgewicht gebracht werden.«

Ihm schien viel daran zu liegen, mich davon zu überzeugen, daß die Politik des Hohen Rates richtig war. Er beugte sich näher zu mir und fuhr fort: »Aber bei allem Wohlstand leben wir am Rande eines Abgrunds. Jeder habgierige Statthalter kann sich darauf einstellen, in unserem Lande durch Entzweiung zu herrschen, also etwa machtgierigen Männern aus unserem Volke ein gewisses Maß an Unterstützung zu gewähren und uns dann plötzlich der Widersetzlichkeit und Auflehnung zu zeihen, so daß er unsere Selbstverwaltung einschränken und den Tempelschatz plündern kann. Es liegt in unserem und eigentlich auch in Roms wohlverstandenem Interesse, daß die gegenwärtige Lage erhalten bleibt und noch gefestigt wird, indem man dem politisch unvoreingenommenen Hohen Rat alle Unterstützung zuteil werden läßt.

Was dieser Hohe Rat ist, wirst du vielleicht am besten verstehen, wenn ich dir sage, daß er etwa dem römischen Senat entspricht und sich durch eigene Zuwahl ergänzt. Dem Rat gehören die Hohenpriester an, ferner die hervorragendsten Schriftgelehrten und, als Laienmitglieder, jene Männer, die wir die Ältesten nennen, obwohl sie keineswegs alle alt sind, sondern durch Geburt oder Vermögen die Anwartschaft auf diese Würde besitzen. Das Volk selber ist politisch ungeschult, und wir können ihm kein Mitspracherecht einräumen. Deshalb müssen wir jeden aus den unteren Schichten kommenden Versuch, ihre politischen Rechte zu erweitern oder eine vom Volk getragene Monarchie wieder einzuführen, im Keime ersticken, so harmlos ein solches Unterfangen auch aussehen mag – etwa, wenn es unter dem Deckmantel religiöser Beweggründe oder, sagen wir, aus Menschenliebe ins Werk gesetzt wird.«

Mein geringschätziges Schweigen reizte ihn offenbar, sich noch eifriger zu rechtfertigen, als hätte er doch irgendwie ein schlechtes Gewissen. Er erklärte: »Als Römer bist du nur Götterstatuen zu verehren gewohnt und kannst dir den ungeheuren Einfluß, den die Religion hier hat, nicht vorstellen. Unser Glaube ist unsere Stärke, aber gleichzeitig eine schwere Gefahr, weil die Frömmigkeit des Volkes jeden politischen Schwärmer zwingt, sich, was auch immer seine geheimen Absichten sein mögen, auf unsere heiligen Schriften zu berufen und aus ihnen darzutun, daß seine Ziele rechtmäßig sind. Nun wirst du natürlich sagen, daß dieser Jesus von Nazareth, den gerade noch vor dem Passahfest ans Kreuz zu bringen wir uns so beeilt haben, ein argloser, rechtschaffener Mann war, ein hervorragender Krankenheiler und ein großer Lehrer. Das mag zutreffen. Aber gerade solche untadeligen Idealisten, die durch ihre Persönlichkeit das Volk für ihre Neuerungspläne gewinnen, sind gefährlich. Aus politischer Unerfahrenheit glaubt ein solcher Mensch von jedem das Beste und wird zum Werkzeug von Ehrgeizlingen – von Männern, denen es nicht das geringste ausmacht, wenn unsere ganze Gesellschaftsordnung zusammenbricht und das Volk dem Zorne Roms zum Opfer fällt, sofern nur sie selber für eine Zeitlang ihrer Machtgier frönen können. Glaube mir, jemand, der sich selbst als Messias ausgibt, wird dadurch politisch zum Rechtsbrecher und verwirkt sein Leben, mag er auch, rein menschlich gesehen, noch so ehrenhaft sein.«

Er hielt inne und fügte dann rasch hinzu: »Natürlich macht er sich gleichzeitig der Gotteslästerung schuldig, auf die bei uns die Todesstrafe steht; doch für uns aufgeklärte Menschen ist das Nebensache. Hätte aber der Nazarener sich nochmals im Tempel gezeigt, während des Passahfestes, so wäre ein Aufstand ausgebrochen; Fanatiker hätten, mit ihm als Aushängeschild, selbst die Führung an sich gerissen, und es wäre Blut geflossen. Dann hätten die Römer eingegriffen, und mit unserer Selbstverwaltung wäre es vorbei gewesen. Besser, es stirbt ein Mensch, als daß das ganze Volk zugrunde geht.«

»Dieses Schlagwort habe ich schon einmal gehört«, warf ich ein.

»Denke nicht weiter an den Mann!« riet Aristainos mir eindringlich. »Wir sind nicht stolz auf seine Hinrichtung; mir persönlich tut er im Gegenteil aufrichtig leid. Anscheinend war er ja wirklich ein guter Mensch, dieser Jesus. Er hätte in Galiläa bleiben sollen; dann wäre er kaum zu Schaden gekommen. Dort haben ihn sogar die Steuereinheber gern gehabt, und der Besatzungskommandant von Kapernaum soll mit ihm befreundet gewesen sein.«

Mir wurde klar, daß ein Hinweis' auf Jesu Auferstehung diesem Mann gegenüber sinnlos gewesen wäre; er hätte nur jede Achtung vor mir verloren und mich für einen leichtgläubigen Tölpel gehalten. Ich überlegte ein wenig und sagte dann: »Du hast mich überzeugt, und ich verstehe vollkommen, daß vom jüdischen Standpunkt aus der Tod das Nazareners politisch wünschenswert war. Aber auf meinen Reisen pflege ich immer allerhand merkwürdige Begebnisse zu sammeln; da kann ich dann später die Leute mit meinem Wissen unterhalten, und vielleicht lerne ich auch selbst ein bißchen dabei. Unter anderem interessieren mich Wunderheilungen. In Antiochia habe ich als junger Mensch einen berühmten syrischen Zauberkünstler gesehen, der ganz erstaunliche Heilungen bewirkte; und auch in Ägypten gibt es Wallfahrtsorte, wo Kranke auf unerklärliche Art gesund werden. Deshalb möchte ich gern mit irgendwem, den Jesus geheilt hat, zusammenkommen und etwas über sein Verfahren dabei erkunden.«

Ich tat, als fiele mir plötzlich etwas anderes ein. »Am interessantesten wäre es natürlich, einen seiner Jünger kennenzulernen«, rief ich. »So bekäme ich aus erster Hand Mitteilungen darüber, was er von sich dachte und wo er eigentlich hinauswollte.«

Aristainos machte eine verdrossene Miene und sagte: »Seine Gefolgsleute halten sich jetzt natürlich verborgen oder sind nach Galiläa geflohen. An unmittelbaren Jüngern hatte er, soviel ich weiß, nur zwölf, von denen noch dazu einer dem Hohen Rat sein Versteck verriet. Es sind durchwegs einfache Leute, Fischer vom See Genezareth und dergleichen, bis auf einen gewissen Johannes, einen jungen Mann aus guter Familie, der vermutlich gebildet ist und griechisch spricht. Auch ein Zöllner ist übrigens unter ihnen. Also, wie du siehst, recht armselige Kerle! Ich glaube kaum, daß du viel aus ihnen herausbekommen könntest.«

»Aber«, fuhr er zögernd fort, »wenn du wirklich so neugierig bist – ich sehe, offen gestanden, keinen rechten Grund für einen solchen Wissensdrang, wo du doch statt dessen in Jerusalem ein lustiges Leben führen könntest –, so gibt es da einen Ratsherrn namens Nikodemus, der dir einiges sagen könnte. Er ist ein frommer Schriftforscher und sozusagen ein Mann der Erwartung, der Sehnsucht. An ihm ist nichts auszusetzen, obwohl er im Rat durch sein Eintreten für Jesus großen Unwillen erregt hat. Nur ist er für eine so hohe Stellung zu weltfremd. Darum wurde er auch zu der Nachtsitzung des Rates nicht beigezogen; es wäre ihm sehr nahegegangen, an dem Todesurteil gegen den Nazarener mitbeteiligt zu sein.«

»Von ihm habe ich schon gehört«, bemerkte ich. »War nicht er es, der euren König vom Kreuz nahm und ins Grab legte? Er soll auch hundert Pfund Spezereien für die Bestattung beigestellt haben.«

Das Wort ›König‹ ärgerte Alistarnos; aber er berichtigte mich wenigstens nicht, wie andere Juden es getan haben. Widerstrebend gab er zu: »Du bist ja ausgezeichnet unterrichtet. Mit diesem Vorgehen haben Nikodemus und Joseph von Arimathia zweifellos ihr Mißfallen an der Hinrichtung öffentlich bekunden wollen; aber man muß ihnen zugute halten, daß sie vor allem ihr eigenes Gewissen entlasten wollten. Joseph ist nur ein Ältester; Nikodemus ist jedoch einer der Lehrer Israels und hätte es besser wissen können. Indes soll man nie nach dem äußeren Schein die Absichten eines Menschen beurteilen. Vielleicht wollten die beiden durch die Grablegung des Galiläers eine Kampfgruppe innerhalb des Rates um sich scharen, um die Macht des Hohenpriesters einzuengen.«

Die Vorstellung schien ihm Vergnügen zu bereiten; denn er rief: »Und dagegen hätte ich nichts einzuwenden! Die Unverfrorenheit des Kaiphas beginnt schon unseren Erwerb zu schädigen. Den gesamten Handel mit Opfertieren und auch den Geldwechsel im Tempel hat er seinen unzähligen Verwandten zugeschanzt. Du wirst es kaum glauben, aber nicht einmal ich habe im Tempelvorhof einen Wechslertisch, wenigstens nicht unter eigenem Namen. Mag also sein, daß Nikodemus, bei all seiner Arglosigkeit, ein wirklich guter Politiker ist. Aus dem Tempelvorhof einen lärmenden Marktplatz zu machen, ist unziemlich, ja gesetzwidrig. Und beim Geldwechsel sollte ein gewisses Maß an Wettbewerb zugelassen bleiben. Alle frommen Pilger würden daraus Nutzen ziehen, wenn ihnen nicht von Kaiphas ein Zwangskurs für den Tempelschekel aufgenötigt würde.«

Die Geschäftsangelegenheiten des Bankiers interessierten mich nicht. Ich sagte: »Mit Nikodemus würde ich gerne zusammenkommen. Aber er dürfte kaum geneigt sein, mich, einen Römer, zu empfangen.«

»Im Gegenteil, teurer Freund!« rief Aristainos. »Römer zu sein ist bei ihm nur eine Empfehlung. Ein jüdischer Gelehrter rechnet es sich zur Ehre an, wenn ein römischer Bürger unseren Glauben kennenzulernen wünscht. Du mußt dich bloß für die Eingottlehre höchst interessiert zeigen. Das öffnet dir Tür und Tor und verpflichtet dich zu nichts. Wenn du willst, führe ich dich gern bei Nikodemus ein.«

Wir kamen überein, daß er meinen Besuch ankündigen würde. Am nächsten Abend sollte ich ohne weiteres nach Einbruch der Dämmerung bei Nikodemus vorsprechen. Ich hob etwas Geld ab, beließ aber den größten Teil meines Guthabens bei Aristainos. Er wollte mir unbedingt einen seiner Bedienten aufdrängen, der ein erfahrener Fremdenführer sei und mir zu allen geheimen Vergnügungen Jerusalems Zutritt verschaffen könne. Aber ich deutete an, nach dem ausschweifenden Winter in Alexandria hätte ich ein bestimmtes Gelübde abgelegt. Er nahm das für bare Münze, bewunderte meine Willenskraft, bedauerte jedoch zugleich, daß mir dadurch vielerlei entgehen werde.

Wir schieden wie Freunde. Er begleitete mich bis zum Haustor und hätte mir einen Vorläufer mitgegeben, der mir den Weg durch die Stadt bahnen sollte; aber ich wünschte keine unnütze Aufmerksamkeit zu erregen. Nochmals versicherte Aristainos mir, ich könne, wenn ich in Schwierigkeiten geraten sollte, jederzeit zu ihm kommen. Fraglos ist er der umgänglichste Jude, den ich bisher kennengelernt habe. Trotzdem konnte ich seine Freundschaftlichkeit nicht rückhaltlos erwidern. Seine Art, die Dinge zu sehen, war so unpersönlich und nüchtern, daß mich fröstelte und mein Mißtrauen von neuem erwachte; daraus entsprang wohl eine gewisse Widerborstigkeit in mir.

Als ich in die Burg zurückkam, erfuhr ich, daß Claudia Procula einigemal nach mir geschickt hatte. Ich begab mich eilends in ihre Turmgemächer. Sie war schon zu Bett gegangen, kam aber, in ein leichtes Seidengewand gehüllt und einen Überwurf um die Schultern, von ihrer Kammerfrau begleitet, heraus, um mit mir zu reden. In ihren Augen funkelte es beängstigend, und die Linien ihres blassen Gesichts waren wie verstrichen. Allem Anschein nach war sie in einer Art Verzückung befangen.

Sie faßte mit jeder Hand eine meiner Hände und rief: »Marcus, Marcus, er ist von den Toten auferstanden! Dieser Judenkönig ist auferstanden!«

Unwillig fragte ich sie: »Hat der Prokonsul dir nicht erzählt, daß seine Jünger in der Nacht seinen Leichnam aus dem Grab gestohlen haben? Darüber gibt es ein amtliches, von sechs Legionären beglaubigtes Protokoll.«

Claudia Procula stampfte mit dem Fuß auf und schrie: »Meinst du, daß Pontius an etwas anderes glaubt als an seinen Geldbeutel und den eigenen Vorteil? Aber ich habe Freundinnen in Jerusalem. Hast du nicht davon gehört, daß eine seiner Anhängerinnen beim ersten Morgengrauen zum Grab gekommen ist – jene Frau, aus der er sieben böse Geister vertrieben hat? Die Gruft war leer. Nur ein Genius stand dort, in blendendweißem Kleid und mit einem Gesicht, flammend wie Feuer.«

»Da müssen wohl«, entgegnete ich schroff, »die Dämonen von neuem in diese Frau gefahren sein.« Und niedergeschlagen dachte ich: In welche Dinge habe ich mich da eingelassen? Ist meine Narrheit schon so weit gediehen, daß ich im Geiste mit faselnden Weibern einen Wettstreit aufnehme?

Claudia Procula war gekränkt und bitter enttäuscht. »Also auch du, Marcus!« schluchzte sie vorwurfsvoll. »Ich dachte, du wärest auf meiner Seite, nachdem du, wie ich erfuhr, selbst in der Grabkammer warst und sie leer gefunden hast. Glaubst du dem Statthalter und seinen bestechlichen Soldaten mehr als dem eigenen Augenschein?«

Mir wurde weich ums Herz, denn während sie weinte, breitete sich über ihr entzücktes Gesicht ein seltsames Leuchten. Gerne hätte ich sie getröstet; aber ich erkannte, daß es gefährlich gewesen wäre, dieser überschwenglichen Frau anzuvertrauen, was ich gesehen hatte. Nach meinem Empfinden kam das aufgeregte Weibergerede in Jerusalem über Auferstehung, Visionen und Genien bloß dem jüdischen Hohen Rat zupaß, weil es alles nur noch unglaubwürdiger machte, als es schon war.

»Nimm dir meine Worte nicht so zu Herzen!« bat ich. »Du weißt, daß ich etwas zu viel von den Lehren der Kyniker in mich aufgenommen habe. Daher kann ich mich schwer entschließen, an übernatürliche Dinge zu glauben. Andererseits liegt es mir fern, etwas von vornherein als unmöglich hinzustellen. Wer ist also deine Zeugin und wie heißt sie?«

»Sie heißt Maria«, erwiderte Claudia, eifrig bemüht, mich zu überzeugen. »Das ist ein sehr häufiger Name bei den Juden; aber diese Maria führt den Beinamen Magdalena, weil sie aus Magdala am See Genezareth stammt. Sie ist eine wohlhabende Dame und eine weithin bekannte Taubenzüchterin. Ihre Taubenschläge bringen jedes Jahr Tausende untadeliger Tiere hervor, für die Tempelopfer. Als die Dämonen von ihr Besitz ergriffen, kam sie allerdings in Verruf; nach der Heilung durch Jesus von Nazareth änderte sie sich aber von Grund aus und folgte dem Lehrer überallhin auf seinen Wanderungen. Ich habe sie kennengelernt, als ich eine hochgestellte jüdische Dame meines Bekanntenkreises besuchte, und ihre Erzählungen über den Lehrer haben tiefen Eindruck auf mich gemacht.«

»Um ihren Bericht zu glauben, müßte ich ihn aus ihrem eigenen Munde hören«, erklärte ich. »Vielleicht ist sie einfach eine verstiegene Träumerin, die sich um jeden Preis interessant machen will. Was meinst du – könnte ich irgendwie mit ihr zusammenkommen?«

»Ist es etwa ungehörig, Träume zu haben?« begehrte Claudia Procula auf. »Mich haben Träume derart fürchterlich verfolgt, daß ich meinen Mann davor warnte, einen so frommen Menschen wie Jesus zu verurteilen. Mitten in der Nacht wurde mir die Kunde von seiner Verhaftung überbracht, mit der Bitte, meinen Einfluß auf Pontius zugunsten des Gefangenen geltend zu machen. Aber die vorangegangenen Träume trieben mich stärker als die heimliche Botschaft. Bei mir steht es für immer fest, daß mein Gatte die größte Torheit seines Lebens beging, als er den jüdischen Lehrer dem Kreuzestod preisgab.«

»Glaubst du, daß ich diese Maria sehen könnte?« beharrte ich.

Claudia Procula meinte ausweichend: »Für eine Jüdin gilt es als unziemlich, mit einem unbekannten Mann – und gar noch mit einem Ausländer – zusammenzutreffen. Übrigens weiß ich nicht einmal, wo sie wohnt. Ich muß zugeben, daß sie zum Gefühlsüberschwang neigt, und ein argwöhnischer Mann wie du könnte bei einer Begegnung mit ihr einen falschen Eindruck gewinnen. Aber das hindert mich nicht daran, ihre Erzählung zu glauben.«

Immerhin begann Claudias Begeisterung etwas abzuflauen.

»Falls ich aber zufällig diese Maria Magdalena treffe«, fragte ich, »kann ich dann deinen Namen erwähnen und ihr versichern, daß sie über ihr Erlebnis getrost zu mir sprechen kann?«

Claudia murmelte, ein Mann könne nie das Vertrauen einer Frau so gewinnen, wie eine andere Frau es vermag, und außerdem könne ein Mann eine Frau überhaupt nie richtig verstehen. Immerhin gab sie widerstrebend ihre Zustimmung. »Aber wenn du ihr die geringste Verdrießlichkeit oder Unannehmlichkeit bereitest«, drohte sie, »so bekommst du es mit mir zu tun.«

Damit endete unser Gespräch, während Claudia Procula offenbar mich dahin zu bringen gehofft hatte, an die Auferstehung des Judenkönigs zu glauben und ihr Entzücken darüber zu teilen. Eigentlich muß ich ja wirklich an dieses Wunder glauben, da ich selbst die Grabtücher unberührt in der leeren Gruft gesehen habe. Aber es drängt mich, die Sache vom Standpunkt der Vernunft aus zu untersuchen.

Загрузка...