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Marcus grüßt nochmals Tullia.


Im Herzen weiß ich, daß ich mich Dir schon seit langem entfremdet habe, Tullia. Nichts, was ich niederschrieb, könnte Dich überzeugen – auch das weiß ich. Falls Du es lesen solltest, würdest Du meiner nur spotten und Dir denken, die Juden hätten mir das Hirn vernebelt. Dennoch verfolgt mich die seltsame Vorstellung, daß ich Dich eines Tages anblicken und daß dann Dein Gewand von Dir abfallen und selbst Dein Körper eine überflüssige Hülle werden könnte; daß ich dann Deine Seele sehen und Dich dazu bringen könnte, zu glauben, wie ich selbst glaube. Das würde natürlich für Dich den Verzicht auf vieles bedeuten, was du in diesem Leben schätzenswert und angenehm findest. Aber wenn ich Dich derart anzublicken vermöchte, hätte nichts mehr auf dieser Welt Bedeutung für Dich, und so würdest Du nur auf wertlose Dinge verzichten. Doch diese Vorstellung ist sicherlich ein Hirngespinst. Eines solchen Glaubens ist man nur fähig, sobald man gewisse Dinge selbst erlebt und gesehen hat. Und es gibt viele Leute, die auch, nachdem sie diese Dinge mit eigenen Augen gesehen haben, nicht glauben.

Aber ich will berichten, was weiterhin geschah. Am Tage des Wagenrennens berief Claudia Procula mich zu sich und teilte mir als Erweis höchster Gunst mit, sie lade mich in ihre Loge ein, und ich dürfe hinter ihr sitzen. Sie war in Purpur und Seide gekleidet, was vielleicht etwas unbedacht schien; aber sie konnte immer auf ihre weitläufige Verwandtschaft mit Cäsar hinweisen. Ihr Haar war prächtig frisiert, und ein kostbares Diadem schmückte ihre Stirn. Für mich hatte sie Tunika und Toga vorbereitet, und ein Barbier wartete darauf, mich zu rasieren und mir die Haare zu kräuseln.

»Es ist höchste Zeit, daß du diesen jüdischen Unsinn aufgibst und dich wieder als Römer unter den Barbaren zeigst«, erklärte Claudia.

Ich wies auf das völlige Kleiderdurcheinander bei den Kurgästen hin und darauf, daß sogar der römische Berater orientalische Gewandung übernommen und sich einen Bart hatte wachsen lassen, um nicht bei Hofe unnütz sein Römertum zur Schau zu stellen. Aber schließlich mußte ich ihr reinen Wein einschenken.

»Sei mir nicht böse, Claudia«, sagte ich, »aber ich habe keine Lust, jetzt von hier wegzugehen und dem Rennen beizuwohnen. Vielmehr möchte ich jeden Augenblick erreichbar und reisefertig sein. Ich habe nämlich Grund zur Annahme, daß Jesu Gefolgsleute sich demnächst versammeln sollen, um ihn zu treffen. Ich hoffe, von dem Zeitpunkt rechtzeitig verständigt zu werden, so daß ich seinen Anhängern in einiger Entfernung folgen und den Versammlungsplatz finden kann.«

Claudia Procula entgegnete barsch: »Du erzählst mir da keine Neuigkeit. Johanna weiß das alles. Wenn ich jünger und in Rom wäre und genügend verläßliche, verschwiegene Beschützer hätte, würde ich mich vielleicht auch zu diesem Abenteuer bestimmen lassen und verkleidet zu dem Berge wandern. Der Treffpunkt ist ja ein Berg, nicht wahr?«

Erstaunt fragte ich: »Warum hat Johanna mir nichts davon gesagt? Traut sie mir nicht?«

»Ich glaube, es ist ihr Stillschweigen auferlegt worden«, bemerkte Claudia leichthin. »Aber sie hat mir versprochen, zu Jesus von Nazareth über mich zu reden. Es ist ja bekannt, daß er Kranke auch aus der Ferne geheilt hat. Oder vielleicht gibt er Johanna ein Stück Stoff, das er vorher an seinen Körper hielt. Dich braucht man dort in keiner Weise, Marcus. Komm doch zur Vernunft und sei endlich wieder ein Römer! Dieses Rennen ist das größte Ereignis des Jahres in ganz Galiläa und allen Nachbarländern.«

Ich starrte sie an und traute meinen Ohren nicht. »Du gibst also Gottes Sohn für ein Wagenrennen hin!« rief ich vorwurfsvoll.

»Alles zu seiner Zeit«, verteidigte sich Claudia. »Die Bäder haben mir gut getan, und ich bin jetzt anscheinend bei klarerem Verstand als du. In vollem Ernst, mir scheint, du hast jeden Sinn für die Rangordnung der Dinge verloren.«

»Claudia Procula«, rief ich streng, »dein Gatte hat Jesus zum Tode verurteilt; von dieser Schuld konnte ihn alles nachträgliche Händewaschen nicht reinigen. Hast du nicht Angst beim Gedanken an den Gekreuzigten?«

Sie breitete die Hände aus. »Aber, Marcus, ich habe alles getan, um ihn zu retten. Das muß er doch wissen oder zumindest erfahren. Außerdem hat Johanna mir sehr eingehend dargelegt, daß alles genauso geschehen mußte, um die heiligen Schriften der Juden zu erfüllen. Deshalb, so meint sie, sollte Jesus eigentlich dem Pontius Pilatus dankbar sein dafür, daß er unter dem Druck der Juden bei dieser Erfüllung mithalf. Die jüdische Philosophie ist zwar dunkel und vieldeutig; aber ich kann wohl glauben, daß Johanna recht hat. Übrigens kommt sie auch mit zum Rennen, auf die Gefahr hin, daß sich dadurch ihr Eintreffen auf dem Berge verzögert. Daraus ersiehst du, was für ein besonderes Ereignis dieses Rennen ist.«

Schließlich mußte ich mich fügen. Aber den Bart ließ ich mir nicht abnehmen, sondern nur stutzen und salben, so daß er nun, dem Barbier zufolge, der Barttracht der Herodianer entspricht.

Der Zirkus des Herodes Antipas ist kein großer Bau; er dürfte nicht einmal dreißigtausend Zuschauer fassen. Jedenfalls war er gedrängt voll mit einer schreienden, erregten Menschenmenge. Auf den Bänken schienen mehr Ausländer als Galiläer zu sitzen.

Für Claudia Procula hatte Herodes ein Podium, gegenüber dem seinen, auf der anderen Seite der Rennbahn aufbauen lassen. Ihre Loge war nur um eine Stufe niedriger als die des Fürsten, und von der Brüstung hingen rote Teppiche. All dies zeigt, daß Herodes sich mit dem römischen Statthalter gut stellen wollte. Auch für die arabischen Häuptlinge und andere auf Besuch weilende Würdenträger hatte er Estraden errichten lassen. Seinen Hofleuten waren entsprechende Anweisungen gegeben worden, und als Claudia mit ihrem Gefolge erschien, wurde sie von allen Seiten mit Beifallsrufen empfangen, in die das Volk einstimmte, um seiner erwartungsvollen Spannung Luft zu machen.

Wir sahen Herodias und ihre junge Tochter die Fürstenloge betreten. Soweit man von der anderen Seite der Arena her erkennen konnte, war die Frau des Tetrarchen überaus prunkvoll gekleidet. Jedenfalls seufzte Claudia Procula und murmelte, diese geltungssüchtige Ehebrecherin hätte ihr und Rom den Gefallen tun können, sich ein bißchen weniger protzig anzuziehen. Auch Herodias war von verschiedenen Seiten mit lauten Rufen begrüßt worden; aber diesmal stimmte das Volk nicht ein, und als die Fremden bemerkten, daß die Rufer sogar geknufft und geschlagen und bedroht wurden, verstummten auch sie sehr bald. Damit mußte die Fürstin sich abfinden und nahm Platz. Schließlich erschien Herodes Antipas und breitete, alle Anwesenden leutselig begrüßend, die Arme weit aus. Wie um ihre Mißbilligung für seine Gattin noch zu betonen, bereitete die Menge ihm durch Erheben von den Sitzen, Zurufe und Trampeln einen herzlichen Empfang.

In die Arena trat nun eine Schar Gladiatoren, die sich zu zweien oder in größeren Gruppen miteinander maßen; aber ihre Waffen waren stumpf, und es floß kein Blut. Wegen des jüdischen Gesetzes wagte Herodes nicht, zum Tode verurteilte Verbrecher um ihr Leben kämpfen zu lassen. Dann zeigten seine Reiter verschiedene Kunststücke, bis die Zuschauer aufstampfend den Beginn der Wagenrennen verlangten.

Als nun in einer einleitenden Schaurunde ein Gespann nach dem anderen die Bahn durchfuhr, zeigte es sich, daß die Rennwagen wirklich prächtig und die Pferde in hervorragender Verfassung waren. Buchmacher begannen mit ihren großen Wachstafeln durch die Bankreihen zu gehen, um Wetten entgegenzunehmen. Dem Rappengespann des Fürsten selbst schien man die größten Gewinnaussichten zu geben. Übrigens waren keineswegs alle Gespanne derart auf eine einheitliche Farbe der Pferde abgestimmt; vielmehr hatten die barbarischen Wagenlenker ihre Rosse nach eigenem Geschmack aus den Stallungen ihrer Herren ausgewählt. Die für die Wetten maßgebenden Farben waren nur an den Wagen selbst und an den Trachten der Lenker ersichtlich. Die Buchmacher riefen auch ein idumäisches und ein syrisches Gespann aus, die beide überhaupt keine bestimmte Farbe führten.

Das zuletzt einfahrende Gespann war das eines arabischen Fürsten; es hatte schneeweiße Pferde. Aber die vorherigen Wagen hatten schon die übliche lästige Stockung am Eingang verursacht, und die feurigen Schimmel sanken stolpernd auf die Vorderknie, als ihr Lenker sie scharf zügeln mußte, während sie gerade zum vollen Galopp für die Schaurunde ansetzten. Das war ein so böses Omen, daß viele Zuschauer laut zu lachen begannen. Der Wagenlenker wurde wütend und gab seinen Pferden die Peitsche zu kosten; das machte sie natürlich nur noch störrischer.

Bei einem regelrechten, ungefährlichen Wagenrennen, wie es Sachkundige schätzen, weil es vernünftige Wetten gestattet und weil mit jeder folgenden Rennphase die Spannung wächst, werden die Wagen gewöhnlich paarweise abgelassen, und jedes Paar durchfährt die Bahn bloß einigemal. Die verlierenden Gespanne scheiden aus, und das letzte Rennen spielt sich zwischen den beiden noch im Bewerbe gebliebenen Gespannen ab. Aber die Barbaren hier lieben Geschwindigkeit und Lärm, zu meiner größten Überraschung reihten sich alle Gespanne nebeneinander auf, in einer vom Los bestimmten Anordnung. Ich hörte, sie sollten vierzig Runden fahren. Mir taten die Pferde leid, von denen viele sich unweigerlich die Beine brechen würden; außerdem konnte man fast mit Sicherheit damit rechnen, daß ein solches Rennen dem einen oder anderen Teilnehmer das Leben kosten würde.

Als ich die sich aufbäumenden Schimmel des arabischen Gespannes betrachtete, fiel mir ein, was der einsame Fischer mir gesagt hatte, und ich fragte mich, ob ich wirklich an dieses Gespann Geld wagen sollte. Als ich mich erkundigte, erfuhr ich, daß es zu den aussichtsreichen Bewerbern gezählt hatte, daß aber jetzt wegen des schlimmen Vorzeichens niemand mehr darauf wetten wollte. In einem so harten Massenrennen konnten kräftige Pferde und geistesgegenwärtige Lenker bei einigem Glück auch raschere Gespanne besiegen.

Claudia Procula hob begeistert die Arme und rief: »Das Herodesgespann!« Die schimmernden Rappen und ihr dunkelhäutiger Lenker flößten tatsächlich Vertrauen ein. Die Farbe des Gespanns war übrigens rot, weil kein vernünftiger Mensch auf Schwarz gesetzt hätte. Claudia wandte sich zerstreut zu mir und sagte: »Ich nehme an, du hast genug Geld bei dir?«

Natürlich hätte ich gleich erraten können, warum sie solchen Wert darauf gelegt hatte, mich bei sich zu haben. Eine Frau wettet ja nie mit eigenem Geld. Wenn sie verliert, macht es ihr keine Mühe, das Darlehen zu vergessen und nur das Pech zu bedauern; gewinnt sie aber, so kann man froh sein, wenigstens den Einsatz zurückzubekommen.

»Hundert Drachmen«, schlug ich widerstrebend vor.

Claudia Procula drehte sich mit einem entgeisterten Blick zu mir herum. »Marcus Mezentius Manilianus«, rief sie, »willst du mich beleidigen? Oder bist du wirklich schon ein Jude geworden? Sage zumindest hundert Goldstücke – und auch das ist noch zu wenig für so herrliche Pferde!«

So viel Geld hatte ich nicht bei mir; aber alle Bankiers und Geldwechsler von Tiberias gingen zwischen den Bänken der reichen Zuschauer umher und nahmen auch Wetten entgegen. Ich rief den Namen aus, den mir Aristainos in Jerusalem genannt hatte, und man zeigte mir einen Mann, der nach Gesichtszügen und Kleidung sein Zwillingsbruder hätte sein können. Ich erzählte ihm von meiner Verlegenheit. Er war bereit, mir Kredit zu geben, sagte aber, es würde schwerhalten, auf das Gespann des Herodes einen günstigen Gegeneinsatz zu finden. Tatsächlich war das Beste, was er schließlich vermitteln konnte, eine Eins-zu-Eins-Quote seitens eines hochgestellten Idumäers, der diese Wette, wie er sagte, nur aus Höflichkeit gegen die Gattin des Prokurators von Judäa abschloß.

»Denke an mich, wenn du nach dem Siege dein Geld zählst!« rief der Bankier lachend Claudia Procula zu, als hätte er ihr ein Geschenk gemacht; und er verzeichnete die Wette auf seiner Wachstafel.

Nochmals musterte ich die Gespanne, die nur mit großer Mühe zum Stillstehen gebändigt werden konnten. Daß so lange zugewartet wurde, lag zum Teil daran, daß man zum Abschluß der Wetten Zeit lassen wollte; zum Teil sollten dadurch auch die Pferde erregt und die Lenker nervös gemacht werden. Ich befürchtete, einige Wagen würden gleich nach dem Rennbeginn umstürzen. Das Schimmelgespann des arabischen Häuptlings war sichtlich die barbarische Massenbeteiligung nicht gewohnt; denn die Pferde schlugen nach dem Wagen aus und warfen, gegen die Zügelung aufbegehrend, die Köpfe derart hin und her, daß ihnen aus den Mundwinkeln der Speichel sprühte.

»Was bietest du mir auf das weiße Gespann?« fragte ich den Bankier.

Lächelnd erwiderte er: »Wenn du ernstlich dein Geld an mich verlieren willst, übernehme ich selbst die Wette, und zwar sieben zu eins. Wie hoch stellst du deinen Einsatz?«

»Notiere dir vierzig Goldstücke für Marcus auf das weiße Gespann, sieben zu eins!« entschied ich im letzten Augenblick, als Herodes schon seinen Speer hob. Der Bankier verzeichnete die Wette, und schon bohrte sich der bewimpelte Speer in den Sand. Die Wagenlenker schrien auf, und mit Getöse fuhren die Gespanne los. Die erfahreneren Lenker lehnten sich zurück und zügelten ihre Pferde mit aller Kraft, damit die tollkühnen Neulinge vorpreschen und sich vielleicht gleich das Genick brechen sollten. Aber es war fast unmöglich, die ungestümen Pferde zurückzuhalten. Zwei Gespanne sausten im Galopp davon; die Lenker beugten sich vor und gebrauchten die Peitsche, um einen möglichst großen Vorsprung zu gewinnen und den durch drei Steinkegel bezeichneten Wendepunkt der Bahn raschest zu erreichen. Nur so konnten sie ihr Leben retten und verhindern, daß sie von den dicht hinterherfolgenden Gespannen niedergetrampelt würden.

Unwillkürlich sprang ich auf und stellte mich auf die Bank; einen so stürmischen Start hatte ich nie erlebt. Das Rappengespann des Herodes bahnte sich geschickt einen Weg durch das Massengedränge, und der Fahrer ließ erbarmungslos seine schwere Peitsche sausen, um seine nächsten Rivalen abzuschütteln. Ich sah, wie die Peitschenschnur das linke Außenpferd des Schimmelgespanns in der Augengegend traf, und bildete mir ein, den Peitschenknall bis zu mir zu hören. Der Wagen des Arabers stieß so heftig gegen den Schutzsockel des Wendepunkts, daß die Funken stoben und das Rad nur wie durch ein Wunder heil blieb.

Beim zweiten Umlauf fuhr der schwere Wagen der Reiterei aus Cäsarea mit seinen braunen Pferden rücksichtslos den Idumäerwagen an, der dadurch umstürzte. Der idumäische Lenker wurde an den Zügeln über die Rennbahn geschleift, bis das Außenpferd niederbrach. Das Gespann der Braunen kam weit voran. Dann aber brach der Herodeswagen durch und nahm die Verfolgung auf. Der Idumäer erhob sich schwankend, mit blutüberronnenem Körper, griff dem gefallenen Pferd in die Nüstern und riß es hoch; es gelang ihm sogar, den Wagen aufzurichten und sich wieder in das Rennen einzureihen. Aber das gestürzte Pferd lahmte derart, daß sein Gespann für das Rennen nicht mehr zählte und nur die anderen behindern konnte. Ich vermutete, daß der Lenker den Kampf bloß wiederaufgenommen hatte, um sich an dem Römer zu rächen.

In einem derartigen Wettkampf, bei dem ziemlich gleichwertige Gespanne die Bahn durchrasen, ist es praktisch fast unmöglich, um mehr als eine Runde zu führen. Die Nachzügler der vorigen Runden versperren den Weg, und der Fahrer, der bis zu ihnen vorgedrungen ist, würde wider alle Vernunft das Schicksal herausfordern, wenn er sie überholen wollte. Das Schimmelgespann geriet jetzt völlig aus dem Takt, weil das gleich anfangs von einem Peitschenhieb getroffene Pferd ständig vor Schmerz den Kopf hin und her warf. Der Lenker war außer sich; er schlug mit der Peitsche ein, fluchte und schüttelte, als er an der Fürstenloge vorbeikam, die Faust zu Herodes hin. Aber das Rappengespann kam den Braunen mit ihrem schweren Wagen immer näher. Claudia Procula sprang auf, schrie gellend und stampfte mit ihren Goldsandalen.

Ich konnte weder die Runden zählen noch allen Einzelheiten des Rennens folgen. Aber plötzlich sah ich das syrische Gespann, Wagen und Pferd, wie von einer Wurfmaschine geschleudert, aus dem Haufen der Rennwagen in das Zirkusrund hinausfliegen. Die Pferde überschlugen sich, und der Fahrer, dem die Zügel noch an den Gürtel geknotet waren, sauste zwischen die wild strampelnden Hufe. Ich weiß nicht, was schrecklicher war, sein Todesschrei oder das letzte Aufwiehern eines der Pferde.

Kurz darauf preschte das Schimmelgespann an einem der Wendepunkte vor und drängte einen anderen Wagen gegen die Steinsockelung, so daß er umkippte. Das arabische Gespann kam unbeschädigt vorbei; vielleicht verdankte es das der Augenverletzung seines Außenpferdes, das wahrscheinlich bei erhaltenem Sehvermögen des linken Auges kaum so dicht an das Hindernis herangerast wäre. Der Fahrer des umgestürzten Wagens brachte unter Lebensgefahr seine Pferde noch seitwärts aus der Rennbahn, knapp bevor das nächste Gespann hinter ihm herkam. Ich mußte die Geschicklichkeit der Wagenlenker bewundern. Dieser Mann sah die Stallknechte ihm entgegenlaufen, machte einige Schritte auf sie zu, fiel aber dann der Länge nach hin und konnte sich nicht mehr erheben.

Wieder begann man, mitten in der ungeheuren Aufregung, Wetten abzuschließen. Das braune Gespann der römischen Reiterkohorte schien jetzt eingeschätzt zu werden, und viele setzten darauf gegen den Herodeswagen, besonders Araber, die ihre Mäntel schwenkten und das Verhältnis ihrer Wetteinsätze mit den Fingern anzeigten. Nachdem sie ihrem nationalen Gespann keine Gewinnaussichten mehr gaben, zogen sie das römische dem herodianischen vor. Die Rappen hatten schon einigemal die Braunen zu überholen versucht; aber immer wieder verstellte der Römer kaltblütig durch Auswärtskurven den Weg und ließ seine Peitsche knallen. Herodes sprang in seiner Loge auf, stampfte mit den Füßen und forderte seinen Wagenlenker durch laute Zurufe auf, sich vorzukämpfen. Alle Pferde waren von schaumigem Schweiß bedeckt, und in der Luft schwebten große Staubwolken, obwohl man die Bahn vor dem Rennen reichlich mit Wasser besprengt hatte.

Das erstaunlichste aber war, daß die Schimmel sich trotz aller Rückschläge durch ihre Schnelligkeit an den dritten Platz vorgearbeitet hatten, obwohl ihr leichter Wagen dabei einige rauhe Stöße abbekam. Die prächtigen Pferde fanden sich langsam immer mehr und liefen nun wieder wunderbar. Das am Auge verletzte Tier hob den Kopf und wieherte laut. Der Fahrer beugte sich vor und redete ihm zu; es hörte dann tatsächlich auf, von seinen Gefährten wegzustreben.

Ein weiterer Wagen fiel durch Verlust eines Rades aus. Dem Lenker gelang eine Wendung, so daß der Wagen außerhalb der Rennstrecke einwärts umkippte und so den übrigen nicht den Weg verlegte. Aber das losgebrochene Rad rollte geradeaus weiter, und das unmittelbar dahinter folgende braune Gespann mußte ihm ausweichen. Diese Gelegenheit benutzte der Fahrer des Herodes geschickt. Weit vorgebeugt schlug er auf seine Rosse ein und kam tatsächlich dem Römer zuvor. Unter Beifallsrufen und Gebrüll sprangen die Zuschauer auf, und Claudia Procula schrie vor Freude, obwohl es eigentlich recht würdelos von ihr war, über das Mißgeschick des römischen Gespanns zu frohlocken. Doch die in ihrer Nähe Sitzenden klatschten ihr Beifall, und viele andere lächelten ihr zu.

Die Zahl der im Rennen gebliebenen Wagen war zusammengeschmolzen; aber die letzten Nachzügler hinderten den Wagenlenker des Herodes daran, seinen Vorsprung auszunützen. Der blutüberströmte Idumäer, von dessen einer Gesichtshälfte die Haut abgeschunden war, blickte um sich, winkte und wich aus, um den Herodianer vorbeizulassen. Dann aber fuhr er absichtlich dem dahinterkommenden römischen Gespann in den Weg und verminderte dabei noch seine Geschwindigkeit. Das spielte sich mitten in der Renngeraden ab, nicht an einem der Wendepunkte, und der Römer fluchte wütend, weil dieses Manöver natürlich gegen alle Regeln war. Aber wie wollte man das nachweisen? Der Idumäer konnte für sein Tun immer irgendeine Rechtfertigung vorschützen. Jene Araber, die auf den Römer gewettet hatten, begannen zu brüllen und die Fäuste zu schütteln. In diesem Augenblick aber schoß das Schimmelgespann sowohl an dem Römer wie an dem Idumäer vorbei, kam vor ihnen zum Wendepunkt und schmiegte sich dicht an den Innenrand der Bahnkurve, wo es sich knapp hinter den Herodeswagen setzte. Dieser Anblick verschlug den Zuschauern den Atem, und für eine Weile verstummten alle Zurufe; so etwas hätte niemand für möglich gehalten.

Nach der Kurve nahm der Römer die äußere Fahrbahn und konnte unschwer mit dem Idumäer gleichziehen. Er hätte das in seiner Leistungsfähigkeit beeinträchtigte Gespann leicht vor der nächsten Biegung überholen können; aber er hielt seine Pferde zurück und versetzte dem Idumäer mit Bedacht einen Peitschenhieb auf den Kopf, so daß der Mann im Wagen auf die Knie sank. Über diese Roheit brüllte die Menge. Manche klatschten Beifall; doch in anderen flammte der Haß gegen Rom auf, und ich sah auf den Bänken an vielen Stellen Handgemenge entbrennen.

Aber das dauerte nur einen Augenblick, so rasch folgten nun die Ereignisse aufeinander. Der Idumäer rappelte sich in seinem Wagen auf, holte aus seinen Pferden ein Letztes heraus, überflügelte das römische Gespann und bog wieder in die Bahn seines Gegners. Das war kein Rennen mehr, sondern glatter Mord. Die mächtigen Braunen prallten mit voller Wucht an den Idumäerwagen, und beide Gespanne wälzten sich auf dem Boden. Durch den plötzlichen Ruck flog der Römer kopfüber aus seinem Wagen, so daß er sich trotz Lederhaube und Sturzhelm an der steinernen Umrandung vor den Sitzreihen den Schädel zerschmetterte und leblos liegenblieb. Auch der Idumäer starb noch vor Beendigung des Rennens; er hatte von einem der Pferde einen schweren Hufschlag bekommen.

Das Freimachen der Bahn nach diesem Zusammenstoß hätte die übrigen Gespanne zur Verlangsamung ihrer Fahrt zwingen müssen. Der Wagenlenker des Herodes aber brüllte und schwang die Peitsche, so daß die Stallburschen, die den Römer wegtragen wollten, den Leichnam wieder fallen ließen und sich durch einen raschen Sprung in Sicherheit brachten. Der Herodianer versuchte, sein Gespann über den entseelten Körper des Römers zu treiben; aber die Rappen waren keine Soldatenpferde und weigerten sich, einen Menschen niederzutrampeln. Sie bäumten sich wild auf und rissen den Wagen zur Seite, so daß er beinahe umkippte.

Fast im Schritt lenkte nun der arabische Fahrer seine Schimmel an dem Herodesgespann vorbei. Ein Rad streifte die Steinumrandung und stieg an ihr hoch; aber der Wagen blieb aufrecht und erreichte den Wendepunkt, ehe der Herodianer den Leichnam umfahren und seine Pferde wieder zu geregeltem Ausgreifen gebracht hatte. So unglaublich es scheinen mochte, das Schimmelgespann lag jetzt, dem üblen Omen zum Trotz, in Führung, und es waren nur mehr wenige Runden ausständig. Nun war an mir die Reihe, aufzuspringen und Beifall zu rufen, und alle Araber stimmten mit ein. Aber die unbefestigte Bahn war jetzt so voll von Furchen und Höckern wie ein frischgepflügtes Feld und ebenso gefährlich zu befahren.

Zum erstenmal verlor der Rappenlenker die Selbstbeherrschung; er schlug auf seine Tiere ein und versuchte einigemal mit Gewalt, an dem Schimmelgespann vorbeizukommen. Doch die rasche und gleichmäßige Gangart der Araberpferde bewahrte sie vor dieser Gefahr, und da ihr Wagen leicht war, brauchte der Lenker die Wendepunkte nicht ganz knapp zu umfahren, sondern konnte, auf seine Geschwindigkeit vertrauend, einen etwas weiteren Bogen nehmen, ohne befürchten zu müssen, daß der Herodianer sich einschieben würde.

Nur drei andere Gespanne waren noch im Rennen geblieben. Der Schimmelfahrer versuchte sie regelrecht an der Außenseite zu überholen. Der Herodianer jedoch brüllte ihnen zu, sie sollten ihn vorbeilassen. Zwei ließen sich einschüchtern; der dritte indes, der ein kräftiges, aber langsames Gespann fuhr, dem niemand eine Chance gegeben hatte, weigerte sich, Platz zu machen. Wieder griff der Herodianer zur Peitsche, brachte sein Gespann absichtlich aus der Gangart und trieb die Nabe seines linken Rades in die rechten Radspeichen des gegnerischen Wagens, so daß er ihn mühelos, einfach durch Geschwindigkeit und Gewicht seines Fahrzeugs, umwarf. Der Lenker wurde arg zugerichtet und gab das Rennen auf. Die beiden anderen Nachzügler aber fuhren weiter in der Hoffnung, Glück zu haben und den beiden Siegesanwärtern den Weg verlegen zu können.

Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Die Flagge wurde geschwungen, und blitzschnell galoppierten die Schimmel in den Sieg. Die Zuschauer brachen in wildes Brüllen aus und jubelten auch dem Herodesgespann zu, das nur um ein paar Pferdelängen zurücklag. Die beiden Fahrer reihten ihre Wagen höflich Seite an Seite, hielten an, begrüßten sich mit gespielter Hochachtung und Dankbezeugungen für einen ehrenhaften Kampf. Der Araberhäuptling sprang über die Brüstung seiner Loge auf die Fahrbahn und lief mit wehendem Mantel zu seinen Pferden. Er sprach ihnen zu, klopfte sie ab und küßte aufschluchzend das geschwollene Auge des vom Peitschenhieb getroffenen Tieres. Auf den Zuschauerbänken kam es zu Raufereien; aber die Aufseher stellten die Ordnung bald wieder her. Die Wettverlierer suchten sich zumindest damit zu trösten, daß sie ein überaus spannendes Rennen genossen hatten.

Der Bankier kam heran, beglückwünschte mich ebenso wie den idumäischen Kaufmann und händigte ihm in meiner Gegenwart die hundert Goldstücke aus, die Claudia Procula verloren hatte. Mir zählte er hundertachtzig Goldstücke hin, so daß ich nach Abzug des Einsatzes hundertvierzig Goldstücke gewonnen hatte, einen Betrag, der für viele Leute ein kleines Vermögen bedeutet. Darum hegte ich keinen Groll mehr gegen Claudia Procula.

Wie seinerzeit berichtet, hatte ich in der Nacht nach dem Gewitter von einem Schimmel geträumt. Aus irgendeinem Grund war der Traum so lebhaft gewesen, daß ich davon mit Tränen in den Augen erwachte. Dieses Traumes mochte ich mich dunkel entsonnen und ihn unwillkürlich als Vorzeichen genommen haben, sobald ich das schöne Schimmelgespann erblickte. Vielleicht hätte ich auch aus eigenem Antrieb auf dieses Gespann gesetzt; das ist möglich, aber keineswegs sicher. Die Pferde waren beim Einzug gestolpert; und so mißtrauisch man gegen ein solches Omen sein mag, ganz in den Wind schlägt man es als vernünftiger Mensch nicht. Deshalb fühlte ich mich verpflichtet, nun jenes Mädchen zu suchen, dessen Bruder gestorben war, wobei ich allerdings keinen anderen Anhaltspunkt hatte als die Worte des einsamen Fischers, wonach die trauernde Schwester sich in dieser Nacht im griechischen Theater der Stadt aufhielt.

Claudia Procula forderte mich auf, sie zum Gastmahl des Herodes zu begleiten, obwohl ich nicht dazu eingeladen worden war. Offenbar meinte sie, dieser Gunstbeweis sei hundert Goldstücke wert. Aber ich hatte keine Lust, mich ungebeten unter die Menge der Gäste einzudrängen, die Herodes Antipas aus politischen Gründen zu bewirten für nötig erachtete. Claudia Procula war übrigens nicht böse, als ich mich verabschiedete; nur wird sie es wohl albern von mir gefunden haben, eine solche Gelegenheit ungenutzt zu lassen.

Während der Zirkus sich leerte, wimmelte es in den Straßen der Stadt von Menschen aller Rassen, und mir ahnte, daß trotz der überall zur Aufrechterhaltung der Ordnung aufgestellten Wächter und Legionäre eine unruhige Nacht bevorstand. Unschwer fand ich den Weg zu dem kleinen griechischen Theater. Aber hier war keine Vorstellung angekündigt. Trotzdem standen die Tore offen, und arme Stadtbesucher, die nirgends sonst untergekommen waren, schienen auf den Zuschauerbänken nächtigen zu wollen. Manche hatten sogar Feuer angezündet und kochten ihre Mahlzeiten; man konnte sich also vorstellen, wie dieses schöne Theater am nächsten Tag aussehen würde.

Ich ging zwischen Bühne und Sitzreihen hinunter, und niemand hinderte mich am Betreten der Kellerräume, wo Bühnendekorationen aufbewahrt werden und manchmal Wandertruppen die Nacht verbringen, wenn sie keinen Gönner haben, der ihnen Quartier böte. Alles war verlassen und leer und – wie jedesmal unter der Bühne eines Theaters, wenn die Schauspieler gegangen sind – ein bißchen gespenstig, als schwebten Gestalten und Worte aus allen Aufführungen noch unsichtbar in der Luft. Diese finsteren Kellerräume eines Theaters haben mich immer an das Totenreich gemahnt, wie Dichter es beschrieben. Ich mochte nach einer Vorstellung noch so begeistert hinuntergeeilt sein, ein Geschenk für einen Schauspieler, der meine Seele aufgewühlt hatte, in der Hand, jedesmal überlief mich ein Frösteln, ein Gefühl der Unwirklichkeit. Ein Darsteller, der sein Bühnenkostüm abgelegt hat, ist nicht mehr die Person, die er auf der Szene war.

Während ich durch diese unterirdischen Räume schritt, spürte ich, wie weit ich mich in kurzer Zeit von meinem früheren Leben und von allem entfernt hatte, was mir einst Freude und Vergnügen bereitete. Alles Vergangene war nur mehr Erinnerung, und es gab mir einen Stich, als ich mir darüber klar wurde, daß ich diese Dinge nie mehr auf gleiche Art würde erleben können.

Ich glaubte, das Gespenst eines Toten zu erblicken, als durch den finsteren Korridor ein alter Grieche heranschlurfte. Er hatte einen Hängebauch, und seine Augen waren von unmäßigem Trinken verquollen. Er schwenkte seinen Stock gegen mich und fragte fluchend, was ich suchte und wie ich hierher unter die Bühne gekommen sei.

In beschwichtigendem Töne erkundigte ich mich, ob in den Kellerräumen jemand wohne. Er wurde noch wütender und brüllte: »Du meinst doch nicht diese Schurken, diese ägyptischen Landstreicher, die mich mit windigen Flausen hintergangen und mir Unglück gebracht haben, indem sie einen Leichnam ins Theater trugen? Ich wäre froher als du, wenn ich sie erwischen könnte.«

Ich sagte: »Man hat mir erzählt, ich könnte hier ein Mädchen finden, dem der Bruder gestorben ist. Ich habe etwas zu überbringen.«

Der Alte sah mich mißtrauisch an und fragte: »Du bist hoffentlich nicht auch so ein Flausenmacher, was? Das Mädchen halte ich als Pfand zurück. Ich habe der Gauklerin die Kleider und Schuhe weggenommen und gebe sie erst frei, wenn ihre Schuld bis zum letzten Groschen bezahlt ist.«

»Man hat mich geschickt, um sie auszulösen«, erklärte ich und klimperte mit meiner Geldbörse. »Bringe mich zu ihr, und es wird dich nicht reuen.«

Unschlüssig führte der argwöhnische Alte mich weiter durch den unterirdischen Gang und öffnete die Tür eines Gelasses, in das nur durch eine Mauerritze etwas Licht drang. In dieser Beleuchtung gewahrte ich ein mageres, nacktes Mädchen, das, wie versteinert vor Kummer, in einer Ecke kauerte und auch bei unserem Eintreten das von herabhängendem Haar bedeckte Gesicht nicht erhob. In dem Raum war nichts Eßbares, keine Schale Wasser, nicht einmal etwas zum Zudecken.

»Ist sie krank?« fragte ich.

»Störrisch ist sie! Sie hat mir den Bart gerauft, als ich sie am Tor tanzen lassen wollte«, erwiderte der Alte. »Die Stadt ist voll Fremde, und für das Tanzen hätte man der Gauklerin vielleicht ein bißchen Geld zugeworfen. Du mußt begreifen: Ich war gezwungen, das Begräbnis ihres Bruders zu bezahlen, damit niemand erfährt, daß im Theater ein Leichnam gelegen hat. Und das ist keineswegs alles, was diese ägyptischen Betrüger mir schulden.«

Ich berührte die Gefangene an der Schulter und warf meine Börse vor sie hin. »Man hat mich hergeschickt, um dir hundertvierzig Goldstücke zu überbringen«, sagte ich laut. »Zahle damit alle Schulden und verlange deine Kleider und Habseligkeiten zurück! Dann kannst du ungehindert hingehen, wohin du willst.« Aber das Mädchen regte sich nicht.

»Hundertvierzig Goldstücke!« rief der alte Grieche und machte eine Geste mit der rechten Hand, als wollte er Dämonen abwehren. »Das habe ich ja immer befürchtet. Der Wein ist zu Ende, und ich sehe Gespenster und höre Geisterstimmen.« Dann aber versuchte er doch, die Börse zu packen; ich nahm jedoch das Geld, da das Mädchen es nicht anrührte, wieder an mich und fragte den Alten, was er zu bekommen habe.

Er begann sich die Hände zu reiben, verdrehte scheinheilig die aufgequollenen Augen, rechnete und murmelte und sagte schließlich mit schlauer Miene: »Ich bin kein Ausbeuter und will es die Gauklerin nicht entgelten lassen, daß sie Unglück über mich gebracht hat. In einem runden Betrage macht die Schuld zehn Goldstücke aus. Ich hole gleich ihre Sachen; und ein bißchen Speise und Wein lasse ich dreingehen. Wahrscheinlich ist sie so von Hunger erschöpft, daß sie kein Wort herausbringt; und in dieser Verfassung hättest du kein Vergnügen an ihr.«

Dann klopfte er mir auf die Schulter und flüsterte mir ins Ohr: »Hundertvierzig Goldstücke ist ein Wahnsinnspreis für so eine Person. Du bist anscheinend von Sinnen. Es genügt, wenn du ihre Schulden bezahlst; dann kannst du sie nehmen und mit ihr tun, was du willst. Für ein einziges weiteres Goldstück stelle ich dir die nötigen Papiere aus, so daß du ihr als deiner Sklavin nach Recht und Gesetz dein Eigentümerzeichen auf das Hinterteil einbrennen lassen kannst. Sie hat nämlich keinen Beschützer.«

Ohne den Kopf zu heben, strich das Mädchen sich die Haare aus den Augen und zischte: »Zahl dem schäbigen alten Schuft fünf Goldstücke aus! Damit sind meine Schulden und die aller anderen mehrfach gedeckt. Und dann gib ihm noch für meine Rechnung einen Tritt zwischen die Schenkel!«

Ich öffnete meine Geldbörse und reichte dem Alten fünf Goldstücke. Er war so begeistert, daß er nicht einmal zu feilschen versuchte, sondern sofort die Kleider des Mädchen holen ging. Nachdem er das Bündel gebracht hatte, rief er beflissen, er werde gleich Essen und Wein besorgen. Als wir allein waren, warf ich dem Mädchen wieder die Börse hin und wandte mich zum Gehen. Aber die Unbekannte hielt mich zurück und fragte: »Was begehrst du von mir? So viel Vergnügen kann ich dir nicht bieten, daß es hundertvierzig Goldstücke wert wäre. Heute nacht wollte ich mich an meinen Haaren erhängen.«

»Ich begehre nichts von dir«, erwiderte ich. »Ich bin bloß mit dem Geld hergeschickt worden.«

»So etwas gibt es nicht«, meinte sie ungläubig. Zum erstenmal hob sie den Kopf und blickte mich an. Zu meiner größten Überraschung stellte ich fest, daß es Myrina war, die Tänzerin, die ich auf dem Schiff nach Joppe kennengelernt hatte. Aber sie erkannte mich nicht gleich, wegen meines Bartes und meiner jüdischen Kleidung.

»Myrina!« rief ich. »Ich hatte keine Ahnung, daß du es bist. Was ist mit dir geschehen? Warum bist du so unglücklich, daß du dir das Leben nehmen wolltest?«

Myrina zuckte vor Scham zusammen, verbarg ihre nackten Lenden mit den Haaren und beschwor mich: »Schau mich nicht an, so wie ich jetzt bin! Dreh dich wenigstens um, während ich mich anziehe!« Sie öffnete ihr Bündel, suchte einen Kamm hervor, kämmte sich das Haar und steckte es mit einem Band auf, legte eine kurze Tunika an und befestigte ein Paar bunte Sandalen an den Füßen. Dann aber begann sie bitterlich zu weinen, umarmte mich mit ihrem ganzen schmächtigen Körper, schmiegte ihr Gesicht an meine Brust und benetzte meinen Mantel mit ihren Tränen.

Ich streichelte ihr die Schultern, sprach ihr Trost zu und fragte: »Ist dein Bruder wirklich gestorben und weinst du seinetwegen?«

Stoßweise schluchzend brachte Myrina hervor: »Ihn habe ich schon beweint. Ich glaube, jetzt muß ich deshalb weinen, weil es noch jemanden auf der Welt gibt, der es gut mit mir meint. Noch eine Nacht, und ich wäre tot gewesen, ohne auch nur einen Obolus zu hinterlassen, den man mir für den Fährmann hätte in den Mund legen können.«

Sie preßte sich enge an mich und weinte noch bitterlicher. Ich konnte kaum ein vernünftiges Wort aus ihr herausbekommen. Endlich beruhigte sie sich so weit, daß sie mir von dem Mißgeschick erzählen konnte, das die Wandermimen seit unserer Meerfahrt betroffen hatte. Die Truppe war nach Peräa gereist und dort in der Urlaubersiedlung der Legion aufgetreten; dann jedoch waren alle Mitglieder an Fieber erkrankt. Auf dem Rückweg fristeten sie ihr Dasein durch Tänze auf den Dreschtennen der Bauernhäuser; zuletzt aber hatten die Juden sie gesteinigt. In Tiberias wollten sie im Zusammenhang mit dem Wagenrennen eine Aufführung veranstalten. Doch Myrinas Bruder ertrank beim Baden im See. Obwohl sie gleich nach ihm tauchten, ihn an Land zogen und Myrina ihm ihren Atem einzuhauchen versuchte, kam er nicht mehr ins Leben zurück. Sie trugen ihn verstohlen ins Theater, und schließlich half der alte Grieche mit, ihn nächtlicherweise zu begraben, damit nicht das Theater rituell gereinigt werden müßte, wie es bei Bekanntwerden der Einbringung eines Leichnams erforderlich gewesen wäre. Die anderen Mitglieder der Truppe flohen und ließen Myrina und ihre Habseligkeiten als Pfand zurück. Aber die durch ihren Tanz heraufbeschworene Steinigung hatte ihr derartigen Schreck eingejagt, daß sie nicht mehr zu tanzen vermochte.

Sie erklärte: »Solange mein Bruder lebte, haben wir eine Stütze aneinander gehabt, und ich war nicht ganz allein auf der Welt. Seit er jedoch tot und begraben ist, fühle ich mich schutzlos und bin überzeugt davon, daß mich überallhin ein Unheil und Bosheit verfolgen werden. Darum habe ich keinen Lebenswillen mehr. Ich kann nichts essen und trinken, meine Glieder sind wie gelähmt, und ich mag nichts mehr auf der Welt sehen, nichts mehr hören, nichts mehr schmecken und riechen. Ich habe genug von allem und trauere nur um meinen Bruder.«

»Und dich kann ich nicht verstehen«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Dein Geld muß eine neue Art von Lug und Trug sein, damit ich mein zweckloses Leben weiterführe und in immer anderes Elend gerate. Nein, nein! Nimm dein Geld wieder und laß mich hier allein sterben! Ich mag keine weiteren Enttäuschungen erleben, jetzt, wo ich weiß, was für ein unsicherer, hoffnungsloser Aufenthalt diese Erde ist.«

Der alte Grieche kam mit Brot und Grützebrei zurück, goß mit zittrigen Händen Wein in eine Schale und reichte sie Myrina. »Kommt mit in das Beschließerzimmer!« sagte er. »Dort ist mehr Licht, und auch ein Bett. Ich mache es euch bequem.«

»Uns genügt, glaube ich, jeder Raum«, erwiderte ich. »Laß uns jetzt allein! Wir haben viel zu besprechen.«

Dienstfertig erklärte er, wir könnten nach Belieben bis zum Morgen bleiben; und auch frischen Wein würde er uns, wenn wir wollten, bringen. Mit dem Weinschlauch unter dem Arm ging er weg, und Myrina begann zu essen, zuerst widerstrebend, allmählich aber mit immer größerem Appetit, bis die Schüssel leer wurde und kein Krümchen Brot übrigblieb.

Dann fragte sie: »Was ist Böses an meinem Tanzen? Und warum liegt anscheinend ein Fluch auf mir, so daß ich meinen Gliedern nicht mehr traue und Angst habe? Du hast mich auf dem Schiff tanzen sehen – du weißt, daß ich es nicht tue, um Männer zu verführen, sondern, um die Leute zu unterhalten und durch meine Körperbeherrschung zu verblüffen. Was liegt schon daran, wenn ich nackt tanze? Flatternde Kleider behindern mich nur und bringen mich aus dem Gleichgewicht. Und an meinem mageren Leib ist nicht viel zu sehen; er besteht nur aus durchgearbeiteten Muskeln. Nicht einmal Brüste habe ich. Warum die Juden mich so erbarmungslos gesteinigt haben, ist mir unverständlich.«

Sie zeigte mir die blutunterlaufenen Flecke und eine schlecht verheilte Platzwunde am Kopf unter den Haaren und erzählte mir: »In einem Dorf haben wir ums Essen gebeten und wollten dafür die Leute nach besten Kräften mit Singen, Spielen und meinem Tanz erfreuen. Aber sie hätten mich, wenn unser nicht so viele gewesen wären, zu Tode gesteinigt. Mich quält die Vorstellung, daß ich etwas Ungehöriges getan haben könnte, und ich werde bestimmt nie mehr so tanzen können wie früher.«

Ich überdachte ihren Bericht und sagte: »Ich glaube zu wissen, warum sie so wütend waren. Wie es heißt, hat die Fürstin Herodias ihre Tochter vor dem sittenlosen Herodes Antipas tanzen lassen, um ihm die Hinrichtung eines jüdischen Propheten, der schlecht von ihr gesprochen hatte, abzulisten. Deshalb verabscheuen fromme Juden in dieser Gegend alle heidnischen Tänze besonders.«

Myrina schüttelte den Kopf. »Ich war stolz auf meine Kunst und habe das freie, abwechslungsreiche Leben in einer Wandertruppe geliebt. Aber uns ist ein Unheil nach dem anderen zugestoßen, bis ich schließlich ganz verschreckt war und an jedem Morgen schon Angst vor dem kommenden Tage hatte. Der Tod meines Bruders war der größte Schlag für mich und hat mich völlig niedergeschmettert.«

Als sie mir jedoch so ihr Herz ausgeschüttet hatte, begann sie, sich über die letzte Wendung der Dinge zu wundern. Sie öffnete die Börse, befingerte die Goldstücke und fragte, weshalb ich ihr das Geld gegeben und wie ich sie überhaupt gefunden hätte. Ich erzählte ihr von dem einsamen Fischer und von meiner Rennwette und schloß mit den Worten: »Ich glaube, jener Mann muß dein Weinen über den ganzen See hinweg gehört haben. Aber wie das zuging und wieso er vom Tode deines Bruders wußte, dafür wage ich nicht einmal eine Erklärung zu suchen. Jedenfalls gehört das Geld dir, und du kannst jetzt tun und lassen, was dir beliebt.«

Myrina zog die Stirn nachdenklich in Falten und sagte: »Beschreibe mir den Mann! Sah er aus, als hätte er viel gelitten und wäre ganz erschöpft? War er würdevoll und gütig, so daß du sein Gesicht nicht vergessen kannst? Hatte er Narben an den Handgelenken und den Füßen?«

Lebhaft erwiderte ich: »Offenbar denkst du an den gleichen Mann wie ich. Du mußt ihn auch gesehen haben.«

Myrina berichtete mir: »Nachdem wir den wütenden Juden entkommen waren, hatten wir nichts zu essen als Kornähren, die wir von den Feldern pflückten. Schließlich gelangten wir zu einem Brunnen und beschlossen, dort über Nacht zu bleiben. Wir waren ganz verzagt. Da kam dieser Mann müde auf der Straße heran und bat: ›Laßt mich trinken!‹ Aber wir waren alle aufgebracht gegen die Juden. Die Männer ließen ihn nicht zum Brunnen, und mein Bruder lästerte: ›Und wenn du in eurer jüdischen Hölle wärest, würde ich nicht eine Fingerspitze in Wasser tauchen, um dich verfluchten Juden zu laben.‹ Mir aber tat er doch leid. Ich schöpfte Wasser, gab ihm zu trinken und wusch seine wunden Füße; er war nämlich so schwach, daß er es nicht selbst hätte tun können. Niemand hinderte mich daran. Mimen sind im Herzen freundliche Leute. Wahrscheinlich hat mein Bruder nur gescherzt und hätte ihn schließlich ohne weiteres zum Brunnen gelassen; wir waren nur gerade damals alle voll Groll gegen die Juden. Als der Mann getrunken und ich ihm die Füße reingespült hatte, warf er mir einen gütigen Blick zu, segnete mich und sagte: ›Was du mir getan hast, hast du dem getan, der mich gesandt hat. Wegen dieser einen guten Tat wird dir viel vergeben werden. Könige und Fürsten werden dich beneiden, weil du mir zu trinken reichtest, als ich durstig war.‹«

»Das hat er wirklich zu dir gesprochen, Myrina?« fragte ich erstaunt.

»Genau mit diesen Worten«, bekräftigte Myrina. »Sie sind mir im Gedächtnis geblieben, obwohl ich sie nicht verstand. Ich habe sie mir eingeprägt, weil er ein so merkwürdiger Mann war. Dann drehte ich mich für einen Augenblick zu meinen Gefährten um, und inzwischen verschwand er. Wir waren so hungrig, daß wir Rinde kauten, als wir uns beim Brunnen schlafen legten. Etwas später kam aber eine alte Frau die Straße entlang und schaute umher, als suchte sie etwas. Sie hatte Gerstenbrot und Hammelfleisch in einem Korb und bot es uns an. Wir gestanden ihr, daß wir keinen Groschen Geld hatten. Doch sie sagte: ›Nehmet und esset! Mir ist verheißen worden, daß mir alles, was ich freiwillig wegschenke, vielfach wiedergegeben wird.‹ Wir nahmen Brot und Fleisch und aßen und wurden alle satt. Die Männer meinten, wahrscheinlich sei den Juden, nachdem sie uns so übel mitgespielt hatten, bange geworden, und sie versuchten nun, uns zu versöhnen. Aber die Frau sammelte die Überbleibsel unseres Mahles in ihren Korb und ging ihres Weges. Ich hatte die Empfindung, daß der müde Mann sie getroffen und ihr aufgetragen hatte, uns Essen zu bringen, weil ich freundlich zu ihm gewesen war. Wer kann das sein, wenn er tatsächlich der gleiche Mann war, mit dem du am anderen Ufer des Sees zusammengekommen bist?«

Ich wußte nicht recht, wieviel ich ihr sagen durfte, und erklärte deshalb: »Ich weiß es nicht und begreife das alles nicht. Jedenfalls hat er dich für einen Trunk Wasser fürstlich belohnt. Aber ich hätte nicht im Traum gedacht, daß ich hier dich, Myrina, wiedersehen würde oder daß du es sein solltest, der ich meinen Wettgewinn zu übergeben hatte. Ich kann das nur als Zeichen und als Mahnung betrachten, daß ich nicht ganz aus eigenem Entschluß jenes Schiff in Alexandria bestiegen habe. Doch jetzt Friede mit dir, Myrina! Und nütze das Geld, wie dir am besten scheint! Ich muß nun gehen, weil ich auf eine Nachricht warte.«

Myrina faßte mich am Arm, zog mich mit Gewalt wieder zu sich auf den Lehmboden hinab und rief: »Nein, du wirst nicht gehen! Das lasse ich nicht zu. Der Mann, von dem du mir erzählt hast, kann kein gewöhnlicher Mensch sein. So redet und handelt nicht ein Mensch.«

Aber ich gedachte nicht, das Geheimnis des Reiches mit einem wildfremden Mädchen anrüchigen Berufes zu erörtern und sagte schroff: »Du hast von ihm alles bekommen, was du dir erwarten konntest, und noch mehr. Setze mir nicht weiter zu!«

Erbost drückte Myrina mir die Börse in die Hand zurück und fuhr mich an: »Behalte deine Goldstücke! Und mögen sie dir bis ans Ende deiner Tage auf der Seele brennen! Mit Geld kannst du dich von mir nicht loskaufen. Geld ist kein Heilmittel für meine Qual. Lieber erhänge ich mich. Erzähle mir sofort, was du von jenem Mann weißt, und dann führe mich zu ihm!«

Ich merkte, daß ich in eine Klemme geraten war, und rief, von Zorn übermannt: »Sein Tun ist nicht Menschentun, und mit meinem Menschenverstand begreife ich ihn nicht. Gibt es hier im Lande nicht genug jüdische Witwen und Waisen, die Gott verehren und das Reich suchen? Warum hat er sich ausgerechnet eine Ägypterin erwählt – ein Mädchen, das von Kind auf gesündigt hat?«

Myrina entgegnete gekränkt: »Ich bin keine niedrige Ägypterin. Ich wurde auf einer der Inseln geboren, von guten griechischen Eltern. Und was du mit dem ›Sündigen von Kind auf‹ meinst, weiß ich nicht. Meines Berufs brauche ich mich keineswegs zu schämen; ich schenke damit vielen Leuten Freude und Vergnügen. Ich will nicht behaupten, daß ich nie einem Mann gehört habe; aber zu einer solchen Sünde gehören zwei, und ich möchte wissen, wer sündiger war: ich oder der Mann, der meine Armut ausnützte, um mich zur Sünde zu verführen. Übrigens habe ich unter mein früheres Leben einen so dicken Strich gezogen, als hätte ich mich wirklich schon erhängt. Ich sehne mich nach einem neuen und besseren Dasein. Aber für Geld kann ich es mir nicht kaufen. Darum mußt du mir helfen, als wärest du mein Bruder.«

Am liebsten hätte ich heulen mögen. Kaum war ich Maria von Beeroth losgeworden, und schon klammerte sich ein anderes, noch fremderes, noch fragwürdigeres Mädchen an meine Mantelfalte. Aber ich mußte Rede und Antwort stehen. Ich dachte nach, was ich sagen sollte, und begann so: »Ich weiß nicht, wieviel du von dem allen verstehst; immerhin hast du die Welt gesehen und wahrscheinlich auch schon andere unerklärliche Dinge erlebt. Also höre! Ich habe Grund zur Annahme, daß der Mann, dem du am Brunnen Wasser gereicht hast und mit dem ich beim See gesprochen habe, ein gewisser Jesus von Nazareth ist.«

»Aber von ihm weiß ich ja!« unterbrach Myrina mich zu meinem Staunen. »In der Dekapolis haben die Legionäre kaum von etwas anderem geredet. Er hat Wunder gewirkt, Kranke geheilt und sogar Tote auferweckt; und er hat versprochen, den Juden ein Reich zu errichten. Deshalb wurde er in Jerusalem gekreuzigt, und seine Jünger haben seinen Leichnam vor der Nase des Pontius Pilatus aus dem Grab gestohlen, um dem Volke einzureden, er wäre von den Toten auferstanden. Oder glaubst du, daß er wirklich aus dem Grab gestiegen ist und daß er es war, dem ich am Brunnen begegnet bin?«

»Er ist von den Toten auferstanden«, bekräftigte ich. »Deshalb ist er der Sohn Gottes, und ich glaube, daß er alle Gewalt im Himmel und auf Erden besitzt. Etwas Derartiges hat sich bisher nie zugetragen. Nach seiner Auferstehung wanderte er hierher nach Galiläa und hat die Seinen ihm nachkommen geheißen. Während dieser Wanderung mußt du ihn getroffen haben. Er hat zugesagt, sich den Seinen nochmals auf einem Berg zu zeigen.«

»Aber«, wandte Myrina mit handfestem Menschenverstand ein, »wie kann er, wenn er wirklich Gottes Sohn war, durstig gewesen sein?«

»Woher soll ich das wissen?« entgegnete ich verdrossen. »Ich habe selbst die Geißelschwielen auf seinem Rücken gespürt, wenn es tatsächlich er gewesen ist. Daß er Fleisch und Blut war, kann ich bezeugen. Er ist ein Mensch unter Menschen und zugleich der Sohn Gottes. Frage mich nicht, wie das möglich und warum es so ist! Es wird wohl das größte Wunder an ihm sein, eben das ganz Einmalige, noch nie Dagewesene. Deshalb kann sein Reich nicht, wie die Juden es sich vorstellen, ein bloß irdisches Reich sein.«

Mit weit aufgerissenen Augen blickte Myrina um sich, sann lange über meine Worte nach und sagte dann: »Wenn dem so ist, dann hat er mir dich als Ersatz für meinen Bruder geschickt und nicht bloß als Überbringer des Geldes. Damit hat er uns zusammengebunden, wie man ein Paar Tauben an den Füßen zusammenbindet. Auch ich sehne mich nach seinem Reich, welcher Art es auch sein mag, wenn es nur nicht dem irdischen Leben gleicht; denn dieses Dasein hier habe ich gründlich satt bekommen. Gehen wir miteinander zu jenem Berg, werfen wir uns gemeinsam vor Jesus hin und bitten wir ihn, uns in sein Reich aufzunehmen, nachdem er mir dich zum Bruder und mich dir zur Schwester gegeben hat!«

»Myrina«, betonte ich entschieden, »ich wünsche mir keine Schwester und brauche keine. Wirklich nicht. Das ist ein großer Irrtum. Und zum Berge gedenke ich dich keinesfalls mitzunehmen, schon, weil ich nicht einmal sicher bin, ob ich selber ihn erreiche. Wer weiß, ob nicht seine Jünger mich erschlagen in der Meinung, ich spionierte ihre heiligen Geheimnisse aus? Du mußt wissen, daß sie sein Reich nur beschnittenen Juden vorbehalten wollen. Sie lassen keine Römer oder Griechen zu, nicht einmal Samariter – niemanden, der den Vorrang ihres Tempels nicht anerkennt. Die ganze Sache ist viel schwieriger und gefährlicher, als du denkst. Aber wenn du versprichst, dich ruhig zu verhalten und mich nicht zu bedrängen, werde ich dich nach meiner Rückkehr aufsuchen und dir von Jesus erzählen, falls er nicht vielleicht jene, die er als die Seinen anerkennt, gleich in das Reich aufnimmt. In diesem Falle komme ich nicht zurück. Aber ich hoffe, du wirst mir trotzdem ein freundliches Andenken bewahren.«

Mit einer heftigen Bewegung schleuderte Myrina mir die Börse an den Kopf. »Nun gut!« rief sie erbittert. »Ein Ertrinkender klammert sich an einen Strohhalm. Darum wollte ich mich an Jesus von Nazareth klammern und dich zum Bruder nehmen, obwohl du meinem Bruder nicht einmal nahekommst. Er und ich, wir haben uns mit halben Worten und mit Blicken verständigt. Wir haben über die gleichen Dinge gelacht und uns über alles, auch über Hunger und Demütigungen, lustig gemacht, so daß wir das elende Dasein der wandernden Mimen ertragen konnten. Geh nur deines Weges, du hartherziger Mann, wenn du dir einbildest, Menschen für Geld kaufen zu können! Eile nur freudig zu deinem Berg! Aber ich weiß nicht, welche Art von Reich dich dort erwarten mag, wenn du mich hier der Verzweiflung und dem Tode überläßt. Ach, du reicher Mann, was weißt du von Schutzlosigkeit und Ausgesetztheit?«

Ich starrte sie an und erkannte an dem Blick ihrer funkelnden grünen Augen, daß sie in dieser Gemütsverfassung tatsächlich imstande sein konnte, sich aus Kummer und wildem Trotz zu erhängen, wenn auch vielleicht nur, um mir etwas anzutun. Sie hatte mit solcher Überzeugtheit gesprochen, daß Zweifel über meine Haltung mir am Herzen zu nagen begannen. Vielleicht hatte Jesus von Nazareth tatsächlich gewünscht, ich sollte mich fügen und Myrina, so unerhört es scheinen mochte, zur Schwester nehmen! Mir dämmerte, daß sein Reich nicht reines Wohlbehagen bedeutete, sondern schwer erfüllbare Anforderungen stellte.

»Myrina, meine Schwester«, sagte ich mit saurer Miene, »gehen wir also miteinander! Und trage mir meine Worte nicht nach!«

Aber damit gab Myrina sich nicht zufrieden. Sie rief: »Rede nicht so verdrossen zu mir! Wenn du mich mitnimmst, so tu es wie ein Bruder, bereitwillig und freudig! Sonst hat mein Mitkommen keinen Sinn.«

Mir blieb nichts übrig, als ihren schmächtigen Körper brüderlich zu umarmen, sie auf die Wangen zu küssen und mit freundlichen Worten zu besänftigen. Sie zerdrückte noch ein paar Tränen; dann aber machten wir uns davon. Der alte Grieche, der in seinem Pförtnerverschlag lallend über einem Kruge Wein saß, hielt uns nicht auf.

Eben war die Sonne hinter den Bergen untergegangen, und in der von Regsamkeit brodelnden Stadt wurden zahllose Lampen und Pechfackeln angezündet. Ich hatte es so eilig, in den Gasthof zu kommen, daß ich nicht daran dachte, in welchem Aufzug Myrina neben mir ging. Wegen ihrer kurzen Schauspielertunika und der bunten Sandalen riefen viele Passanten ihr unziemliche Worte zu, und es kostete mich einige Mühe, sie unbelästigt aus der Stadt und zu den Thermen zu bringen. Ich hatte das Vorgefühl, die Jünger Jesu würden sich schon in dieser Nacht auf den Weg machen. Einen besseren Zeitpunkt konnten sie sich ja nicht wünschen; am nächsten Tag verließen viele Leute Tiberias, und auf den Straßen fielen dann Wanderer, die zu dem Berge wollten, in keiner Weise auf. Deshalb beeilte ich mich.

Erst als ich atemlos und erhitzt unter den strahlenden Lampen des griechischen Gasthofs stand, wurde ich gewahr, daß ich eine Dummheit begangen hatte. Der würdevolle Gastwirt, der im allgemeinen gewohnt war, die Schrullen der reichen Kurgäste ohne Wimpernzucken mit anzusehen, trat auf uns zu, musterte Myrina von oben bis unten und rief vorwurfsvoll: »Römer, du bist ja ein Sack ohne Boden! Zuerst hattest du eine Jüdin zur Kurzweil bei dir; da habe ich nichts gesagt, weil du sie in deinem Zimmer hinter zugezogenen Vorhängen hieltest. Aber daß du in einer Festnacht mit einer liederlichen Gauklerin anrückst, die, sobald du einschläfst, dein Zimmer verläßt, sich für ein paar Drachmen anderen Gästen anbietest, Krach macht und Bettlaken stiehlt – das geht denn doch zu weit! Wir haben unsere Erfahrung mit solchen Weibspersonen.«

Ich warf einen Blick auf Myrina und sah, wie zerlumpt und besudelt ihre kurze Tanztunika war, wie abgescheuert ihre hübschen Sandalen und wie schmutzig ihre Knie waren. Nach ihrem noch vom Weinen ganz aufgedunsenen Gesicht konnte man wirklich annehmen, sie käme geradewegs von einer Orgie. Unter dem Arm trug sie die fünfrohrige Pansflöte ihres Bruders, und solche Musikinstrumente sind keine Empfehlung für jemanden, der in einem vornehmen Gasthof Quartier sucht. Ich verstand den Wirt, und Myrina starrte zu Boden, weil sie spüren mochte, daß sie am besten den Mund hielt, obwohl sie bestimmt allerhand zu sagen gewußt hätte.

Immerhin ärgerte ich mich über die Worte des Gastwirts. Offenbar hatte er eine geringe Meinung von meinem – des vielgereisten römischen Bürgers! – Geschmack. Plötzlich kam mir die Unsinnigkeit meiner Lage voll zu Bewußtsein. Ich schlug die Hände über dem Kopf zusammen und erklärte: »Du verkennst mich vollkommen, guter Mann! Dieses Mädchen ist meine Schwester. Wir haben uns auf der Schiffsreise von Alexandrien nach Judäa zerstritten, und aus Trotz hat sie sich einer Truppe wandernder Komödianten angeschlossen. Jetzt habe ich sie im Theater von Tiberias aufgestöbert, und sie hat genug von ihrem Abenteuer. Warte nur, bis sie gebadet und frisiert und anständig gekleidet ist! Aber schweige ihrem Ruf zuliebe über alles, was du gesehen hast, und es soll dein Schade nicht sein.«

Der Gastwirt glaubte mir nicht recht und murmelte ärgerlich, noch nie sei ihm ein so betrunkener Gast untergekommen, daß er, um eine Dirne in sein Zimmer zu schmuggeln, darauf verfallen wäre, sie als seine Schwester auszugeben. Als er aber bemerkte, daß ich stocknüchtern war und Myrina anscheinend wirklich von früher kannte und nicht eben erst von der Straße aufgelesen hatte, ließ er uns ein und gab entsprechende Anweisungen. Eine Sklavin mußte Myrina ins Bad führen, der Barbier sich bereitmachen, um ihr das Haar zu locken, und der Garderobenverwalter in meinem Zimmer Kleider zur Auswahl und zum Kauf auslegen. Ich wollte für Myrina nur ein nettes, unauffälliges Reisekleid anschaffen. Als sie jedoch aus dem Bade kam, bestand sie darauf, verschiedene Gewänder zu probieren und sich von vorn und von hinten in dem Spiegel, den eine Sklavin ihr hielt, zu betrachten, bis ich das Getue satt hatte, mich ins Bett warf, das Gesicht in die Kissen vergrub und mir die Ohren zuhielt, um das unerträgliche Geschnatter der beiden Frauenzimmer nicht länger mit anhören zu müssen.

Als Myrina merkte, daß ich ihr ernstlich zürnte, warf sie die Kleider beiseite, entließ die Sklavin, setzte sich neben mich, tippte mir auf die Schulter und sagte: »Die besten Heilmittel für Kummer und Verzweiflung einer Frau sind wohlriechende Salben und frisch gelegte Locken und hübsche Kleider. Aber glaube mir, daß die zerfetzte Tunika und die abgetragenen Sandalen mir unvergleichlich wertvoller wären, wenn ich sie noch in Gesellschaft meines leiblichen Bruders tragen und ein Stück Gerstenbrot mit ihm teilen könnte. Nachdem ich versuche, dich aufzuheitern und dir die trüben Gedanken aus dem Kopf zu scheuchen, könntest du wenigstens in mein Lachen einstimmen.«

Ich preßte die Hände an die Schläfen und sagte: »Ach, Schwester, ich freue mich, daß deine Trauer sich lindert. Aber dafür scheint deine Seelenqual auf mich übergegangen zu sein. Es ist schon tiefe Nacht, und meine Angst wächst mit jeder Stunde. Ich weiß nicht, was ich befürchte; aber im Herzen bete ich zu Jesus, er möge uns nicht im Stich lassen. Sprich mir nicht von Frisuren und Kleidern! Mir ist es gleichgültig, was ich anziehe oder esse und trinke, jetzt, da die Stunde der Erfüllung naht und Jesus sich bald den Seinen zeigen wird.«

Myrina schmiegte sich neben mich, schlang die Arme um mich, legte ihre magere Wange an meine Schulter und flüsterte: »Kam dir das vom Herzen, als du mich jetzt Schwester nanntest? Wenn ja, so wünsche ich mir nichts weiter. Genauso habe ich in den Armen meines Bruders geruht, den Kopf an seiner Schulter geborgen.«

Im Nu schlummerte sie in meinen Armen ein, noch im Schlaf ein paarmal leise aufschluchzend. Ich selber konnte jedoch vor Unruhe nicht richtig einschlafen. Dösend sah ich ein schreckliches Traumbild vor mir. Alt und grauhaarig wanderte ich auf einem endlosen Pfad durch die Wüste, barfuß, in zerlumptem Überwurf. Neben mir ging Myrina, hager und abgehärmt, mit einem Bündel auf dem Rücken. Hinter uns aber ritt auf einem zottigen Esel Maria von Beeroth, so dick und mit so scharfen Gramfalten um den Mund, daß ich sie nur an ihren Augen erkannte. Irgendwo weit vor uns schritt eine strahlende Gestalt, die sich von Zeit zu Zeit umsah und zurückblickte. Aber ich wußte, daß ich diese Gestalt, mochte ich mich auch noch so eilen, nie einholen würde.

In Schweiß gebadet, erwachte ich aus diesem Traum. Wenn das wirklich ein Bild meiner Zukunft war und wenn jenes Reich, das Jesus von Nazareth seinen Anhängern bot, so aussah, dann geriet mein Vorsatz, ihn zu suchen, ins Wanken. Mir fiel ein, daß er mir auch anderes Übel vorhergesagt hatte, in jener Nacht am See – falls der Fischer tatsächlich Jesus gewesen war. Eine Anfechtung übermannte mich, und mir schien, daß ein Dunkel, tiefer als das Dunkel der Nacht, körperliche Gestalt annahm und mich zu umschlingen suchte.

»Jesus von Nazareth, Sohn Gottes, erbarme dich meiner!« rief ich laut in meiner Qual. Das Dunkel wich. Ich preßte die Handflächen aneinander und wiederholte das Gebet, das Susanna mich gelehrt hatte. Als ich die letzten Worte: »… sondern erlöse uns von dem Bösen!«, gesprochen hatte, fiel ich in ruhigen Schlummer und schlief bis zum Morgengrauen.

Ich erwachte dadurch, daß Myrina an meiner Seite plötzlich auffuhr. Durch die Ritzen der Fensterläden sah ich den bleichen Morgen. Aber Myrina starrte mit leuchtenden Augen und lächelndem Gesicht vor sich hin und rief dann: »O mein Bruder Marcus, was für ein wunderbarer Traum!«

Und sie erzählte mir ihn: »Wir, du und ich und noch jemand, stiegen eine brennende Treppe hinauf. Aber das Feuer versengte uns nicht. Wir stiegen höher und höher, und es wurde lichter und lichter. Du wurdest müde und wolltest nicht mehr weiter. Aber ich nahm dich an der Hand und half dir von Stufe zu Stufe. Es war der schönste Traum, den ich im Leben gehabt habe. Er kündet uns Gutes.«

»Auch ich habe geträumt«, sagte ich, und mich durchzuckte der Gedanke, beide Träume könnten dieselbe Bedeutung gehabt haben. Man kann ja die gleiche Sache von ganz verschiedenen Seiten betrachten.

In diesem Augenblick klopfte es an der Tür, und eine verschlafene Magd trat schüchtern mit den Worten ein: »Sei nicht böse, Herr, aber unten fragt jemand nach dir. Ich hätte mich nie getraut, dich zu wecken, wenn dieser Mann mit seinen beiden Eseln nicht so hartnäckig gewesen wäre. Er sagt, du mußt dich sofort auf den Weg machen.«

Ich warf meinen Mantel um und eilte hinunter. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Vor Kälte zitternd, erblickte ich Nathan und stieß einen Freudenschrei aus. Nathan war so aufgeregt, daß er seine Schweigsamkeit brach und mir berichtete: »Heute nacht haben sie Kapernaum verlassen. Alle wurden verständigt. Sie gingen in einzelnen Gruppen, jeder mit Familie und Verwandtschaft. Auch Susanna haben sie mitgenommen, und ich gab ihr einen der Esel. Einen zweiten habe ich Simon Petrus geliehen, dessen Schwiegermutter alt und krank ist. Er weiß zwar noch nicht, wessen Reittier er geborgt hat; aber ich dachte, es könnte nur nützen, wenn du bei ihm einen Stein im Brett hast. Allerdings glaube ich nicht, daß die Jünger irgendwen, der die Botschaft erhalten hat, wegschicken werden; denn heute ist ein Tag des Heils. Vielleicht wird in der kommenden Nacht in Israel das Reich errichtet werden.«

»Soll ich mein Schwert mitnehmen?« fragte ich rasch.

»Nein«, entgegnete Nathan. »Jesus hat gesagt: ›Alle, die das Schwert ergreifen, werden durch das Schwert umkommen.‹ Wenn es not tut, kann er eine Legion Engel zu Hilfe rufen. Aber jetzt wollen wir uns beeilen und zum Berge ziehen!«

Ich fragte ihn, ob es weit bis dorthin sei, und er antwortete, er kenne die Gegend und auch den Weg, und es sei eine lange Tagesreise. Seiner Meinung nach würde es klug sein, zur Vermeidung jeden Aufsehens nicht vor dem Abend dort einzulangen. Ich bat ihn, sich eine Weile zu gedulden; ich wolle mich ankleiden und auch meiner Begleiterin auftragen, sich fertigzumachen.

Erst als ich mit Myrina hinunterkam, fiel mir ein, daß Nathan mich noch in Gesellschaft Marias von Beeroth wähnte. Er warf Myrina einen verwunderten Blick zu und sah mich dann vorwurfsvoll an. Ich war schuldbewußt, als hätte ich sein Vertrauen mißbraucht; aber ich bemühte mich eifrig, den Sachverhalt aufzuklären: »Das ist Myrina, eine Ausländerin wie ich selbst. Ihr ist der Bruder gestorben, und ich habe sie an Schwester Statt angenommen. Hab Erbarmen mit ihr, um Jesu Willen! Wenn du sie nicht mitnimmst, kann auch ich nicht mit dir gehen, weil ich feierlich gelobt habe, sie zum Berge zu bringen.«

Ich sank in der Achtung des gestrengen Nathan, und er hielt mich wohl für einen Windbeutel. Aber er hob bloß die Hände und nahm meinen Entschluß widerspruchslos zur Kenntnis. Nach der langen Wartezeit fühlte er sich offenbar so erleichtert, das er mir notfalls und über inständiges Flehen sogar Herodes Antipas als Begleiter zugestanden hätte. Ich war frohen Mutes und hoffte, auch die Jünger würden in ihrer freudigen Erwartung es Jesus anheimstellen, wen er zulassen und wen er abweisen wollte.

Nathan führte uns auf einem Abkürzungspfad an der Stadt vorbei zu der Straße ins Landesinnere. Wie ich vermutet hatte, waren viele Leute unterwegs, hauptsächlich Besucher des Wagenrennens, die in Tiberias übernachtet hatten. Als wir höher hinauf in die Berge kamen, blickte ich zurück und genoß die prächtige Aussicht über den See und auf die Stadt mit ihren Säulenhallen. Die Straße hinter uns wimmelte von Menschen, und vor uns schwebten Staubwolken, die uns die Richtung wiesen.

In kurzen Abständen waren längs der Straße und bei jeder Brücke Legionäre aufgestellt. Augenscheinlich hatten die römischen Behörden beschlossen, an diesem Tage ein dichtes Netz von Ordnungshütern über das ganze Land zu legen; denn die Soldaten hielten alle Fahrzeuge, Esel, Kamele, Pferde und Ochsengespanne an und hoben Straßenzoll ein. Von den Fußgängern verlangten sie keine Abgabe, holten sich aber von Zeit zu Zeit einen Wanderer, der ihnen verdächtig vorkam, heraus, stellten ihm Fragen und untersuchten ihn auf Waffen.

Als wir jenseits einer Hügelkette gegen das Landesinnere abzusteigen begannen, schien mir ganz Galiläa ein einziger großer Garten zu sein, so dicht gedrängt lagen die Anpflanzungen beiderseits unseres Weges. Viele Wanderer verließen, wenn sie einen Wachtposten erblickten, aus Furcht vor den Römern die Straße und wollten querfeldein ziehen. Aber die Bauern liefen herbei und jagten mit Flüchen und Vorwürfen jene zurück, die bei ihrem Versuch, den Wachen auszuweichen, Felder zertrampelten oder ummauerte Weingärten beschädigten.

Wir selber hatten zwar wegen der beiden Esel dreimal Zoll zu zahlen, wurden aber weder befragt noch durchsucht. Zu Mittag machten wir bei einem Brunnen halt, aßen und ließen die Tiere ruhen. Plötzlich fiel mir etwas ein, was mich mit Sorge erfüllte. Ich fragte Nathan, ob Maria Magdalena bestimmt verständigt worden sei oder ob ich umkehren und sie aufsuchen sollte. Nathan beruhigte mich und erklärte, allen, die auf die Botschaft gewartet hätten, sei sie zweifellos zugegangen.

Während wir rasteten, beobachtete ich die Leute, die, ohne sich auch nur während der Mittagshitze einen Augenblick Ruhe zu gönnen, vorbeihasteten. Ich fragte mich, wie viele und welche von ihnen wohl auch zum Berge unterwegs waren. Es mochten jene sein, die vor freudiger Erwartung strahlten und offenbar weder Straßenstaub noch Müdigkeit verspürten. Die heimkehrenden Besucher des Wagenrennens dagegen schritten mit gesenkten Köpfen einher, und alles schien ihnen zuwider. Viele Wanderer hatten belaubte Äste abgebrochen und benutzten sie als Sonnenschirme; denn es war ein heißer Tag. Ein hübscher Jüngling kam vorbei, der einen blinden Greis führte.

Gerade als wir uns wieder auf den Weg machen wollten, hörten wir von weitem Räderrollen und Hufgetrappel und bald auch Warnungsrufe: ein Grauschimmelgespann vom gestrigen Rennen sauste vorbei. Der Wagenlenker hatte im Gedränge der Lastfuhrwerke beim Kontrollposten warten müssen und wollte jetzt ohne Rücksicht auf die Fußgänger die verlorene Zeit hereinbringen. Mir kam vor, bei diesem Tempo und diesem dichten Straßenverkehr könne es gar nicht ausbleiben, daß er jemanden niederrannte.

Als wir zur nächsten Straßenbiegung kamen, sahen wir, daß tatsächlich ein Unfall geschehen war. Menschen hatten sich angesammelt und schüttelten die Fäuste hinter dem in der Ferne verschwindenden Wagen her. Dem jungen Mann, der den Blinden geführt hatte, war es zwar gelungen, den Greis beiseitezureißen; er selbst aber war arg zugerichtet worden. Er blutete aus einer Stirnwunde und schien sich auch ein Bein gebrochen zu haben; denn als er sich aufzurichten versuchte, konnte er auf dem Bein nicht stehen. Der Blinde begriff nicht recht, was geschehen war, murmelte aber zornige Klageworte.

Als die Leute erkannten, daß Hilfe nötig war, verkrümelten sie sich rasch und setzten ihren Weg fort. Der junge Mann wischte sich das Blut vom Gesicht und befühlte vorsichtig seinen Fuß. Ich blickte ihn neugierig an und dachte mir, er könne von Glück reden, daß er noch am Leben war. Mit zusammengebissenen Zähnen begegnete er meinem Blick, wandte sich dann zu dem Blinden und beschwor ihn mit ein paar eindringlichen Worten, sich zu beruhigen. Auch wir wären weitergewandert, hätte nicht Myrina dem wie gewöhnlich schweigenden Nathan zugerufen, er möge haltmachen. Sie schwang sich behende vom Rücken ihres Esels, kniete neben den jungen Mann hin, betastete mit beiden Händen seinen Fuß und rief uns zu: »Er hat sich den Knöchel gebrochen.«

»Wenn deine Neugier befriedigt ist«, sagte ich scharf, »so komm! Wir haben es eilig!«

Der junge Mann flehte uns an: »Kinder Israels, erbarmt euch um Himmels willen meines blinden Vaters! Wir sind nicht sündhafte Leute; doch mein Vater hat das Augenlicht verloren. Jetzt aber wurde ihm versichert, jemand würde ihn heilen, wenn er bis heute abend bei diesem Heiler sei. Morgen ist es schon zu spät. Ob ich hinkomme, ist nicht wichtig. Meinen Vater aber nehmt, bitte, bis zur Ebene von Nazareth mit! Dort wird bestimmt jemand kommen, ihm helfen und ihn den rechten Weg führen.«

»Es gibt viele Wege und manche falsche Wegweiser«, warf Nathan ein. »Bist du selber deines Weges ganz sicher, junger Mann?«

Trotz seiner Schmerzen lächelte der Jüngling, und dieses Lächeln machte ihn, obwohl er mit blutüberrieseltem Gesicht auf dem Boden kauerte, ausgesprochen schön. »Es gibt nur einen Weg«, entgegnete er frohgemut.

»Dann gehen wir ja alle in die gleiche Richtung«, bemerkte Nathan und warf mir einen fragenden Blick zu. Widerstrebend stieg ich von meinem Esel und sagte: »Komm, blinder Mann! Ich helfe dir auf mein Reittier und gehe selber zu Fuß.«

Myrina meinte: »Wenn wir das gleiche Ziel haben – wenn also diese beiden auch zum Berge wollen –, warum sollten wir dann den jungen Mann seinem Schicksal überlassen? Wir können ihm doch die Wunden verbinden und ihn auf meinen Esel heben. Ich bin das Gehen gewohnt.«

Der junge Mann sagte: »Ich möchte euch nicht zur Last fallen. Aber wenn wir Kinder desselben Vaters sind, wird er euch bestimmt für eure Hilfe segnen.«

Ich konnte mich nur schwer in den Gedanken finden, daß ein armseliger Galiläer mit gebrochenem Knöchel und sein wütend vor sich hinbrüllender blinder Vater meinesgleichen sein und ebensolches Anrecht wie ich – wenn nicht größeres, da sie Juden waren – haben sollten, Jesus von Nazareth zu suchen. Als ich aber die Billigkeit dieser Betrachtungsweise erkannte, war ich Myrina dankbar dafür, daß ihre angeborene Herzensgüte meine Gedankenstumpfheit besiegt hatte. Gemeinsam wuschen wir dem jungen Mann das Gesicht, verbanden ihm den Kopf, schienten seinen Unterschenkel und schnitten einen festen Stock zurecht, mit dessen Hilfe er auf einem Bein bis zu meinem Esel humpeln konnte. Inzwischen war sein blinder Vater auf das andere Tier gestiegen und wäre gern schon losgeritten. Ungeduldig hatte er den Kopf gewandt und horchte, was wir redeten. Plötzlich rief er im Befehlston: »Wer ist diese junge Frau, deren Stimme ich höre und die nur ein paar Worte unserer Sprache kann? Laß dich nicht von ihr berühren, Sohn! Sprich nicht zu ihr und schau sie nicht einmal an, damit wir uns auf unserer frommen Reise nicht verunreinigen!«

Der junge Mann machte eine verlegene Miene und sagte: »Mein Vater kennt das Gesetz genau und hat es sein Leben lang peinlich befolgt. Nicht aus Mangel an Frömmigkeit ist ihm sein Unheil zugestoßen. Ihr müßt ihn verstehen. Er will sich nicht der Gefahr aussetzen, daß er unrein wird, ehe er vor den tritt, der ihn heilen soll.«

Trotz seiner Feindseligkeit klammerte der Blinde sich mit beiden Händen so fest an den Esel, daß man ihn auch unter Gewaltanwendung nur mit Mühe hätte herunterheben können. Meine wohlwollende Stimmung war verflogen, und ich schalt ihn barsch: »Deine eigenen Landsleute sind weitergezogen, ohne sich um dich zu kümmern. Das Mädchen ist Griechin, und ich selber trage zwar jüdische Kleidung, bin aber ein unbeschnittener Heide. Ich hoffe, daß wenigstens mein Esel, auf dem du so fest sitzt, dich nicht verunreinigen wird.«

Nathan sagte beschwichtigend: »Du brauchst die beiden nicht zu fürchten, blinder Mann. Ich bin ein Sohn Israels und einer der Stillen im Lande. Meine Begleiter suchen ebenso den Weg wie ich. Wisse, daß ich früher in der Wüste gelebt habe, in einem abgeschiedenen Hause, wo ich die Schriften lesen lernte. Ich habe meinen ganzen Besitz den Kindern des Lichtes hingegeben und am gleichen Tisch mit ihnen gegessen. Aber zum Schriftgelehrten eignete ich mich nicht, und so verließ ich die Wüste, um einen neuen Lehrer der Gerechtigkeit zu suchen, und schloß mich dem Propheten im Kamelhaargewand an, der verkündete, das Reich sei nahe. Ich ließ mich von ihm taufen. Dann wurde er hingerichtet, und ich habe ein Schweigegelübde abgelegt, um nicht in Versuchung zu kommen, von Dingen zu reden, die nur ein wahrer Lehrer der Gerechtigkeit wissen kann. Aber die Stunde ist gekommen, sie ist da. Und so löse ich mich von meinem Gelübde. Glaube mir, blinder Mann, in dieser Zeit und diesem Lande findet sich unter allen unseren Geschlechtern kein einziger Mensch, der ganz rein oder sündlos wäre. Waschungen und Opfer können niemanden reinigen, und nicht einmal der beste Lehrer kann es. Aber Gottes Weisheit hat sich verkörpert und hatte unter uns ihr Zelt aufgeschlagen; doch wir erkannten sie nicht. Jesus wurde gekreuzigt und ist von den Toten auferstanden, um uns von unseren Sünden zu befreien. Wenn du an ihn glaubst, wird er dir das Augenlicht wiedergeben. Aber falls du dich reiner dünkst als wir anderen, wird er dich, glaube ich, nicht heilen.«

Der blinde jammerte laut und tastete mit einer Hand nach den Nähten seines Mantels, um ihn zu zerreißen. Aber der Sohn hielt ihn zurück und sagte: »Die Reinen haben uns im Stich gelassen. Diese Fremdlinge aber erwiesen uns Gutes. Kränke sie nicht durch deine Hartherzigkeit. Unseres Vaters Sonne scheint über Gerechte und Ungerechte, über die Kinder Israels und über die Heiden. Bilde dir nicht ein, daß du strahlender leuchtest als seine Sonne – du, der schon mit Blindheit geschlagen wurde!«

Aber der Greis hieß ihn den Mund halten und befahl Nathan, seinen Esel ein Stück vorauszuführen, damit wir ihm nicht zu nahe seien. Myrina und ich blieben zurück. Doch der junge Mann zügelte seinen Esel, so daß er an unserer Seite blieb, blickte uns treuherzig an und erklärte: »Die Alten hängen stets am Alten. Aber der Mann, der euch führt, hat recht. Es gibt auf der Welt niemanden, der ohne Fehl ist. Ich selber habe alles getan, um die Gebote und das Gesetz zu halten, bin aber deshalb keineswegs frei von Sünde. Ich dünke mich nicht besser als irgendein Heide und würde nie auf den Gedanken kommen, eure Barmherzigkeit könnte uns verunreinigen.«

Ich blickte ihn an. Sein Gesicht war fahl vor Schmerz; er biß die Zähne zusammen und versuchte, sich mit Gewalt auf seinem Esel aufrecht zu halten. Ich sagte: »Deine Stirn ist rein; deine Augen sind klar. Ich glaube nicht, daß du bewußt der Sünde Raum gibst.«

Er entgegnete: »Gott hat den Menschen als sein Ebenbild erschaffen. Aber durch den Sündenfall unserer Ureltern Adam und Eva wurde dieses Ebenbild in uns getrübt, und vor Gott fühlen wir uns nackt und schämen uns.«

»Davon habe ich gelesen und gehört«, antwortete ich. »Doch ich habe es nie verstanden. Übrigens hat mir ein jüdischer Gelehrter in Alexandria erklärt, diese Geschichte vom Sündenfall sei nur sinnbildlich aufzufassen.«

Der junge Mann versuchte zu lächeln. »Wie sollte ein ungebildeter Jüngling wie ich solche Dinge begreifen? Aber ich habe Jesus von Nazareth beim See gesehen. Er gab den Blinden das Augenlicht wieder und machte Lahme gehen. Er sagte, er sei das Brot des Lebens. Ich wäre ihm mit Freuden gefolgt; aber mein Vater ist sehr strenge. Einem sanften und gütigen Vater wäre ich vielleicht entlaufen. So jedoch sagte das Herz mir, ich würde, wenn ich mich dem Nazarener anschlösse, es nur tun, um mich der Härte meines Vaters zu entziehen. Er stand mehr auf Seite der Synagogenlehrer, die Jesus wegen seines Umgangs mit Sündern verdammten. Wiederholt hat er mich geschlagen, weil ich meine Alltagspflichten vernachlässigte, um dem neuen Lehrer zu lauschen. Mein Vater hielt ihn für einen Volksaufwiegler. Dann wurde er ganz plötzlich mit Blindheit geschlagen. Eines Abends sprach er sein Gebet und legte sich schlafen; morgens aber beim Erwachen sah er nichts und dachte zuerst, es sei noch Nacht.

Er wurde ganz verzweifelt, und niemand konnte ihn heilen. Da entschloß er sich, an den Nazarener zu glauben und ihn aufzusuchen. Inzwischen aber war Jesus nach Judäa gegangen und in Jerusalem gekreuzigt worden. So wandte mein Vater sich zu den Stillen im Lande, die ihm Jesu Auferstehung kundtaten; von ihnen erfuhren wir auch den Tag und die Stunde und die Straße, auf der wir nun ziehen. Der Vater glaubt fest daran, daß Jesus ihn zu heilen vermag, wenn wir nur rechtzeitig hinkommen. Auch ich glaube es. Doch mir wäre lieber, mein Vater würde das Reich begehren und nicht bloß sein Augenlicht.«

Myrina fragte mich neugierig, was der junge Mann gesagt habe, und ich erzählte es ihr. Sie wunderte sich sehr und meinte: »Dieser Jüngling hat einen so strahlenden Blick; sein Herz ist bestimmt rein. Ich hätte nie gedacht, daß es solche Menschen geben könnte. Warum mußte gerade ihn dieser Unfall treffen?«

»Wenn er selbst sein Mißgeschick ohne Murren trägt«, erwiderte ich, »so darfst du eine solche Frage nicht stellen. Er ist so erfüllt davon, seinem griesgrämigen Vater alles Gute zu wünschen, daß er den eigenen Schmerz vergißt. Die Juden haben ein Gebot, Vater und Mutter zu ehren.«

Nathan, der Griechisch verstand, hörte meine Worte, wandte sich um und sagte: »So war das Gebot. Aber Jesus von Nazareth soll gelehrt haben, um des Reiches willen müsse der Gatte sein Weib verlassen, der Sohn Eltern und Geschwister, der Begüterte Haus und Hof. Wenn Jesus rief, mußten die Fischer ihre Netze im See lassen und die Pflüger ihre Ochsen auf dem Felde; und einer, der zuerst seinen Vater begraben wollte, durfte ihm nicht folgen.«

Wieder begann der Blinde zu jammern und rief: »Ich bin unter Gotteslästerer gefallen, und Satan selbst führt meinen Esel. Kann man Gutes erwarten von einem Wege, auf dem Menschen wandern, die das Gesetz mit Füßen treten?«

Die Miene des Sohnes verfinsterte sich; aber er beschwichtigte den Vater: »So etwas habe ich Jesus nie sagen hören. Er hat die Sanftmütigen und die Friedensstifter selig genannt. Er hat uns verboten, Übles zu reden oder Böses mit Bösem zu vergelten. Er befahl uns, unsere Feinde zu lieben und für die zu beten, die uns verfolgen. Er sagte, sein Vater kenne alle unsere Bedürfnisse; er werde sie befriedigen, wenn wir, ohne uns um den morgigen Tag zu sorgen, nur das Reich suchen.«

Verwundert und erbittert rief ich: »Nun habe ich schon viel über ihn und seine Lehren gehört. Diese Berichte sind voll von Widersprüchen, offenbar je nachdem, wer den einen oder anderen Anspruch weitergegeben hat. Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.«

Aber Myrina blickte uns erstaunt an und fragte: »Warum streitet ihr plötzlich über ihn, wo wir doch gerade unterwegs zu ihm sind? Mir kommt vor, ich bin am glücklichsten unter euch, weil ich wenig von ihm weiß und wie ein leeres Gefäß bin, das er nach Belieben füllen kann.«

Ihre Worte trafen mich ins Herz. Während ich hinter den Reittieren herging und in den Straßenstaub starrte, vergegenwärtigte ich mir der Reihe nach alles, was mir widerfahren war, und alle die verschiedenen Stimmungen, in denen ich meine Erlebnisse aufgenommen hatte. Ich fand nichts Gutes mehr in mir und nicht genug Liebe. Aber nochmals beteuerte ich vor mir selber, daß ich keineswegs bloß aus Neugier den Auferstandenen suchte. Innerlich betete ich im Namen Jesu und flehte, alle meine Eitelkeit und Selbstsucht mögen von mir abfallen, all mein Wissen und meine irdische Klugheit, ja selbst mein gesunder Menschenverstand, so daß auch ich nur ein leeres Gefäß würde, bereit, Jesu Wahrheit aufzunehmen, wenn er sie in mich ergießen wollte.

Nach diesem Gebet hob ich die Augen und sah einen Berg sich über die Ebene erheben, dessen gerundete Kuppe von der Nachmittagssonne vergoldet war. Sofort wußte ich: das war der Berg, zu dem wir wanderten. Hoch, ebenmäßig, wohlgeformt, beherrschte er die ganze Umgebung. Wir folgten der Straße noch ein Stück weit, bis über ein aufgetrocknetes Flußbett hinweg, und schlugen dann einen südwärts an den Berg geschmiegten Fußpfad ein, um eine Stadt zu vermeiden, die, wie Nathan uns erzählte, am Nordhang des Berges lag. Wir kamen an das Ende der Anpflanzungen. Nun verlief der Weg ansteigend durch Buschwerk, und wir wanderten im Bergschatten. Rings herrschte Schweigen. Wir hörten keine Tierstimmen und sahen keine Menschen. Alles war so still, daß ich mich zu fragen begann, ob wir den richtigen Weg gingen. Aber der Boden selbst, die Bäume und der schön geschwungene Hang sagten mir, daß der Berg heilig war. Friede senkte sich in meine Seele, und ich war nicht länger ungeduldig.

Auch Nathan eilte sich nicht. Ich glaube, er hatte diesen beschwerlichen Pfad nur gewählt, um den Menschen auf der Straße und überflüssigen Fragen zu entgehen. Nun richtete er die Augen zum Himmel und auf die tiefer werdenden Schatten und ließ die Esel zu einer Rast halten. Als Römer wunderte ich mich darüber, daß wir auf keine Wächter der Stillen gestoßen waren; wo es sich um eine so große geheime Zusammenkunft handelte, mußten doch Jesu Gefolgsleute auf alle zum Berge führenden Straßen Männer ausgesandt haben, um den Berufenen den Weg zu weisen, die Ungebetenen aber zurückzuschicken. Als drei Sterne am Himmel erschienen waren, setzten wir unsere Wanderung fort, und im Dunkel kamen wir an eine Stelle nahe dem Gipfel, wo eine große Menschenmenge in kleinen Gruppen wartend lagerte.

Alles war unglaublich ruhig. Die Leute flüsterten nur miteinander, so daß eine sanfte Brise über den Berg hin zu wehen schien. Nathan band die Esel unter einer Baumgruppe an und half dem Blinden absteigen. Myrina und ich stützten den jungen Mann. So näherten wir uns der Menge und setzten uns an deren Rand hin, wenige Schritte von den nächsten Gruppen. Jenseits der Lagernden sahen wir immer neue Schatten, gegen den Nachthimmel abgehoben, heranschreiten. Ohne jemanden zu fragen, setzten die Ankömmlinge sich auf den Boden und warteten gleich den übrigen. Aus dem Klang des Flüsterns entnahm ich, daß viele Hunderte hier versammelt sein mußten, und ich hätte nie gedacht, daß eine so große Menge derart still sein könnte.

So verstrich die erste Nachtwache. Aber niemand wurde des Wartens müde, niemand stand auf oder ging weg. Es war mondlos; doch das Sternenlicht strahlte und übergoß die Erde mit Silber. Immer mehr wurde ich das Walten einer starken Macht gewahr; ich legte den Arm um Myrina und spürte, daß ihr magerer Leib vor Erwartung erstarrt war. So wie einst in meinem Zimmer in Jerusalem schienen schwere Regentropfen auf mich zu fallen; als ich jedoch mein Gesicht befühlte, war es nicht feucht.

Ich bemerkte, daß jetzt viele sich erhoben, wie, um besser zu sehen, und ich tat desgleichen. Mitten in der Menge stand eine mächtige Gestalt aufrecht unter dem Sternlicht und rief mit gewaltiger Stimme: »Leute! Brüder!«

Alle verstummten; rings herrschte völlige Stille. Der Mann fuhr fort: »Das Korn reift dem Schnitt entgegen, das Erntefest steht vor der Tür, und die vierzig Tage, die Jesus uns gab, neigen sich dem Ende zu. Die Stunde naht, und mit ihr der Abschied. Wo er hingeht, dahin können wir ihm nicht folgen. Er war das Brot, das vom Himmel kam. Wer von diesem Brote ißt, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das er uns reichte, war sein Fleisch, hingegeben für das Leben der Welt. Und wir streiten nicht, wie einst die feindlichen Juden untereinander, darüber, wie er uns sein Fleisch zu essen geben kann; denn wir Sendboten haben es erlebt und können es bezeugen. Uns hat er das Geheimnis des Reiches anvertraut. Wahrlich, wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esset und sein Blut nicht trinket, so habt ihr das Leben nicht in euch. Wer aber sein Fleisch ißt und sein Blut trinkt, hat ewiges Leben und wird am Jüngsten Tage erweckt werden. Sein Fleisch ist die wahre Speise, und sein Blut ist der wahre Trank. Wer sein Fleisch ißt und sein Blut trinkt, bleibt in Jesus und Jesus in ihm. Wenn aber jemand unter euch ist, der daran Ärgernis nimmt und solche Worte abstoßend findet, so möge er aufstehen und gehen! Keiner wird ihn verdammen.«

Aber niemand erhob sich zum Gehen. Auch ich tat es nicht, obwohl mir dieses Geheimnis Schrecken einflößte. Selbst wenn ich gewollt hätte, wäre ich übrigens nicht imstande gewesen aufzustehen, weil die Beine mir den Dienst versagten. Ich wagte kaum zu atmen.

Lange schwieg der Sprecher und stand im Sternenlicht mitten in der lautlosen Volksmenge, unbewegt wie ein Fels. Dann hob er wieder an und erzählte so schlicht wie ein Kind und als wunderte er sich selbst darüber: »Wir aßen das Osterlamm mit ihm, in jener Nacht, da er verraten wurde. Er nahm das Brot, segnete und brach es, gab es uns und sprach: ›Dies ist mein Leib!‹ Dann nahm er den Kelch, sprach das Dankgebet, reichte ihn uns und sprach: ›Trinket alle daraus! Denn dies ist mein Blut, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.‹«

Nachdem er das berichtet hatte, streckte er beide Arme empor und rief: »Tut also desgleichen! Eßt und trinkt, ihr alle, die ihr ihn liebt und daran glaubt, daß er der Christus ist und der Sohn Gottes! Segnet euer Brot in seinem Namen und brecht es und teilt es unter euch; segnet den Wein in seinem Namen und gebt einander davon zu trinken! Wer hat, der gebe dem, der nicht hat, damit niemand Hunger oder Durst leide! Wenn wir gegessen und getrunken haben, wollen wir wachen und auf ihn warten.«

Nach diesen Worten setzte er sich. Nun kam Leben und Bewegung in die Menge. Alle standen auf, um sich die Hände zu waschen oder sie sich gegenseitig hilfsbereit zu begießen. Wir hatten nur wenig Wasser; aber Nathan goß ein bißchen uns ebenso wie dem Blinden und seinem Sohne über die Hände. Dann nahm ich den Wasserschlauch und benetzte Nathans Finger; und er nahm keinen Anstoß daran. Wir hatten Speise und Trank für alle; der Blinde indes fing an zu zittern und bat flüsternd, er wolle sein eigenes Brot essen und seinen eigenen Wein trinken. Noch immer sprach niemand laut; doch das Murmeln der Menge war wie auffrischender Wind.

Ich nahm es dem Blinden nicht übel, daß er sich geweigert hatte, das Mahl mit uns zu teilen. Nathan segnete das Brot des Greises im Namen Jesu Christi, brach es in zwei Hälften und reichte sie ihm und seinem Sohn. Dann segnete er in gleicher Weise unser Brot, gab davon mir und Myrina und nahm selbst ein Stück. Zu mir sagte er: »Möge dieses Brot, wie es verheißen wurde, das Brot der Unsterblichkeit sein! Möge es auch dir zum Leben und nicht zum Tode gereichen!«

Demütig erwiderte ich: »Sein Wille geschehe; denn er ist der Sohn Gottes. Wenn er es mir, weil ich ein Fremdling bin, zum Tode gereichen lassen will, so sei es so!«

Als wir von dem Brote gegessen hatten, segnete Nathan das Getränk des Blinden und reichte es ihm und seinem Sohne. Uns mischte er Wasser in den Wein und sprach über den Becher das Dankgebet. Zuerst trank ich, dann er und schließlich Myrina. So hielten wir unser Mahl, wie es alle um uns, ihre Vorräte miteinander teilend, taten.

Aber der Blinde aß nur ein paar Bissen. Dann brach er in Tränen aus, wiegte den Kopf hin und her und klagte: »Ich habe vom Leibe des Gottessohnes gegessen und sein Blut getrunken. Ich bin überzeugt davon, daß bei ihm alles möglich ist. Möge er sich meines Unglaubens erbarmen!«

Von Myrina wanderte jetzt der Becher zu mir, dann zu Nathan und wieder zu Myrina zurück. Wir tranken alle drei. Dann neigte Myrina den Becher, blickte verwundert hinein und flüsterte: »Der Wein wird nicht weniger.«

Ebenso verblüfft stellte ich fest: »Ich dachte, wir hätten das Brot aufgegessen. Aber neben mir liegt ein ganzer Laib. Hast du ihn hergelegt, Nathan?«

Er antwortete: »Nein. Aber vielleicht haben wir mehr Brot mit, als ich glaubte.«

Wieder tranken wir, und noch immer wurde der Becher nicht leer. Doch jetzt staunte ich über nichts mehr; denn alles schien wie ein lebhafter Traum, obwohl ich auf dem Boden saß und seine Kühle spürte, obwohl ich den Sternenhimmel über mir sah und das Murmeln der Menge wie ferne Brandung hörte. In mir war kein anderer Gedanke als die jubelnde Gewißheit, daß Jesus von Nazareth kommen und ich ihn sehen würde. Sein Brot war mir nicht in der Kehle steckengeblieben; sein Wein hatte mir nicht den Lebensodem benommen.

So verbrachten wir die zweite Nachtwache, und niemand schlief, glaube ich; alle warteten, dieses Warten hatte nichts von Ungeduld; es war wie eine Vorbereitung. Plötzlich hob der Blinde den Kopf und fragte: »Bricht schon der Morgen an? Ich sehe eine Helle.« Jählings drehte er sich um und starrte in die Volksmenge.

Auch wir reckten die Hälse und bemerkten, daß der Auferstandene erschienen war und mitten unter den Seinen stand. Wie und wann er sich ihren Blicken gezeigt hatte, vermag ich nicht zu sagen. Aber daß er es war, litt keinen Zweifel. Weiße Gewänder umhüllten ihn und warfen das Sternlicht zurück, so daß er selbst Licht auszustrahlen schien. Und auch sein Antlitz leuchtete. Sehr langsam schritt er durch die Menge, blieb da und dort stehen, wie, um die Seinen zu grüßen, und streckte ihnen segnend die Hände entgegen.

Allmählich hatten alle die Köpfe erhoben und blickten in die gleiche Richtung. Aber niemand wagte es, aufzuspringen und dem Herrn entgegenzueilen. Plötzlich hörten wir einen Schrei, unnatürlich laut, und eine Frau warf sich mit ungestümer Gebärde vor Jesus auf den Boden nieder und rief mit Tränen und Jubel in der Stimme: »Mein Herr und mein Gott!« Ein Schauder lief durch die Menge. Der Nazarener bückte sich und streichelte der Frau den Kopf, und mit einem Male wurde sie ganz ruhig. Wir hörten das stöhnende Atmen der Menge, und immer mehr Leute flüsterten: »Das ist er. Der Meister ist zu uns gekommen.«

Der Blinde reckte den Hals, kniete mit hoch erhobenen Armen hin und rief: »Ich sehe ihn nicht. Ich sehe nur ein Licht, als schiene die Sonne mir geradewegs in die Augen.«

Ich wüßte nicht zu sagen, wie lange der Auferstandene unter uns weilte; denn die Zeit schien stillzustehen. Doch ich lebte ein volles Menschenleben, während er durch die Menge ging und bei jedem der Seinen, ohne irgendwen zu vergessen, anhielt. Alles war einfach und natürlich und so selbstverständlich, daß kein Zweifel mich anwandelte. Über nichts, was geschah, erstaunte ich. Ich kann nur annehmen, daß ich in dieser Nacht, solange ich den Herrn sehen konnte, in seinem Reiche weilte.

Nun kam er näher zu uns; und als er heranschritt, bebte und schwankte alles in mir, gleich einer Wasserfläche, die sich kräuselt. Er schien zu denen, die er segnete, zu sprechen; aber man hörte keinen Laut, obwohl ich einige Männer, wie zur Antwort, eifrig nicken sah. Schließlich stand er vor uns und blickte uns an. Sein Antlitz war müde, aber strahlend, und aus seinen Augen leuchtete das Reich. Ich sah die Lippen des Blinden sich lautlos bewegen und fragte mich, ob ich vielleicht mit Taubheit geschlagen worden sei. Jesus strich mit den Fingern leicht über die Augen des Greises und legte seinem Sohn die Hände auf den Kopf. Beide sanken vor ihm zu Boden und lagen reglos da. Auch andere in der Nähe lagen so; auch sie waren berührt worden.

Dann blickte er mich fest an, und ich wußte, daß ich sterben würde, wenn er mich berührte. Meine Lippen bewegten sich, und ich muß zu ihm gesprochen haben, obwohl ich die eigene Stimme nicht hörte. Ich glaube, ich flehte ihn an: »Herr, nimm mich in dein Reich auf!«

Er sprach: »Nicht jeder, der zu mir sagt: ›Herr, Herr!‹, wird in mein Reich eingehen, sondern nur, wer mein Wort hört und den Willen meines Vaters tut.«

Ich fragte: »Welches ist dein Wort? Und was ist deines Vaters Wille?«

Er antwortete: »Das weißt du schon. Was du einem jener Geringsten tust, das tust du mir.«

Ich muß noch etwas über sein Reich gefragt haben; denn er lächelte nachsichtig wie zu einem hartnäckigen Kinde und sagte: »Vom Himmelreich kann man nicht sagen, es sei hier oder dort. Das Reich liegt in dir und in allen, die mich kennen.«

Dann fügte er hinzu: »Ich verlasse niemanden, der mich anruft. Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen. Ich bleibe bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt. Und wenn du mich rufst, wirst du nie so allein sein, daß du ohne mich bist.«

Er wandte sich von mir ab und blickte Nathan an. Ich sah Nathan die Lippen bewegen, hörte aber kein Wort. Dann schaute Jesus auch Myrina freundlich an; doch ihre Lippen regten sich nicht. Schließlich kehrte er um und ging zu den Seinen zurück.

Der Blinde und sein Sohn lagen noch wie Tote da. Als aber Nathan bemerkte, daß ich beunruhigt war, schüttelte er den Kopf und flüsterte: »Sie sind nicht tot; sie schlafen. Rühre sie nicht an!«

Dann, sah ich die Elf sich um Jesus scharen, und es war, als spräche er liebevoll zu ihnen und als antworteten sie ihm. Aber Tränen trübten meinen Blick, so daß ich den Auferstandenen nur als leuchtenden Schimmer mitten unter seinen Sendboten sah. Als ich mich ausgeweint hatte, war er verschwunden, und ich kann nicht sagen, wann und wie er uns verließ. Daß er nicht mehr da war, erfaßte ich eher in der Seele als mit den Augen; ich merkte es darein, daß mit ihm eine starke Kraft aus unserem Kreise gewichen war. Mir kam vor, als erwache ich aus einem Schlafe. Ich mußte niesen und konnte meine Glieder regen.

Die Zeit trat wieder ihre Herrschaft an. An den Sternen erkannte ich, daß die dritte Nachtwache gekommen war und der Morgen nahte. Die Leute standen auf und blickten forschend umher. Ich hörte Rufe und lebhafte Gespräche, als wetteiferten alle darin, sich gegenseitig zu erzählen, was der Auferstandene jedem von ihnen gesagt hatte.

Auch ich rief frohlockend: »Nathan, Nathan, ich sprach zu ihm, und er antwortete mir. Du kannst bezeugen, daß er mich nicht aus seinem Reiche ausschloß.«

Aber Nathan schüttelte verwundert den Kopf und erwiderte: »Das kann ich keineswegs bezeugen. Ich sah wohl deine Lippen sich bewegen, doch deine Zunge muß gelähmt gewesen sein; ich hörte keinen Laut. Aber dafür habe ich zu ihm gesprochen, und er hat mir geantwortet.«

Myrina umklammerte mit beiden Händen meine Arme und berichtete verzückt: »Ich wagte nicht, ihn anzureden. Aber er erkannte mich und lächelte und sagte mir, ich würde nie mehr im Leben durstig sein, weil ich ihm zu trinken gab, als ihn dürstete.«

Nathan geriet außer sich und rief erbost: »Ihr seid von Sinnen, ihr beide! Zu euch hat er nichts gesagt. Zu mir allein von uns dreien sprach er und hat mir den Weg gewiesen. Er belehrte mich, daß nicht, was in den Mund eingeht, den Menschen unrein macht, sondern, was aus dem Mund hervorgeht. In seinem Reiche sind viele Wohnungen. Mit dem Maße, mit dem jeder mißt, wird auch ihm zugemessen werden – dem einen mehr, dem anderen weniger –; aber niemandem, der innig um etwas bittet, wird es verweigert werden. Ich muß den Sendboten vertrauen, weil er sie zu Trägern seiner Botschaft erwählt hat. Sein Reich ist wie ein Senfkorn; es wächst langsam, aber eines Tages wird es zu einem Baum, so daß aus allen Himmelsrichtungen die Vögel kommen und in seinen Zweigen Nester bauen.«

Nathan verstummte und starrte wie lauschend vor sich hin. Schließlich sagte er unbeholfen: »Noch vieles andere hat er mich gelehrt; aber ich habe es vergessen. Doch sicherlich wird mir alles zur rechten Zeit wieder einfallen.«

Ich verwunderte mich sehr. Indes wohnte nun Jesu Reich, wie er es gesagt hatte, in mir, und meine Seele war befriedigt. »Sei mir nicht böse, Nathan«, sagte ich, »aber ich dachte wirklich, er hätte zu mir gesprochen. Und ich glaube es noch immer. Vielleicht redete er mit jedem nur über die Dinge, die gerade ihn angingen. Wenn ich alles, was er heute nacht zu den Seinen sprach, wüßte und niederschreiben könnte, würde es sicherlich in keinem noch so großen Buche Platz finden. Es mag so eingerichtet gewesen sein, daß wir gegenseitig nicht hören sollten, was er zu jedem von uns redete.«

Nathan beruhigte sich, legte mir seine Hand auf die Schulter und erklärte: »Zumindest habe ich ihn dich anblicken sehen, und kein Übel traf dich. So berühre ich dich jetzt, und für mich bist du nicht unrein.«

Wir berieten miteinander und kamen überein, daß wir am besten täten, den Berg vor dem Morgengrauen zu verlassen, damit niemand uns erkennen sollte. Aber der Blinde und sein Sohn schliefen noch immer wie Tote, und wir wagten nicht, sie zu wecken; im Stiche lassen aber konnten wir sie auch nicht. So blieben wir und warteten. Bei Tagesanbruch wurde die Hochstimmung und Begeisterung der Menge immer lauter. Viele stimmten gemeinsam Danklieder an. Andere liefen atemlos von Gruppe zu Gruppe, um ihre Freunde zu begrüßen und ihnen zu bekunden, daß sie den Auferstandenen mit eigenen Augen gesehen hatten. Rot vor Aufregung riefen sie einander zu: »Friede sei mit dir! Sind auch dir die Sünden vergeben worden? Hat er auch dir ewiges Leben verheißen? Wahrhaftig, wir, die ihn hier auf dem Berge sahen, werden den Tod nicht schmecken.«

Der Boden unter mir war hart, meine Glieder wurden steif, und ich mußte die Hände verschränken, um mich zu vergewissern, daß noch Leben in ihnen war. Als in der zunehmenden Helligkeit alle einander erkennen konnten, gingen die Sendboten zu zweien oder dreien durch die Menge. Ich sah, daß sie jene, die nach der Berührung durch den Auferstandenen wie ohnmächtig hingesunken waren, weckten und aufrichteten.

Drei von ihnen kamen auf uns zu, und den ersten erkannte ich als den Mann, der in der Nacht die Stimme erhoben und so erschreckende Worte zu der Menge gesprochen hatte. Ich erkannte ihn an dem runden Kopf und den breiten Schultern; und im matten Morgenlicht sah ich, daß sein bärtiges Gesicht leidenschaftlich und trotzig war. Er hatte den jungen Johannes bei sich. Johannes war blaß von der durchwachten Nacht; dennoch hatte ich nie an einem Jüngling ein so reines und strahlendes Gesicht gewahrt. Dieser Anblick allein schon machte mich froh. Den dritten Mann kannte ich nicht, wußte aber nach seinem Aussehen, daß auch er einer der Sendboten sein mußte. Ich kann es nicht anders ausdrücken als so: seine Züge hatten etwas von Jesu Antlitz, nur weniger ausgeprägt, wie durch einen Schleier gesehen.

Während ich ihn betrachtete, fiel mir der einsame Fischer ein, mit dem ich eines Nachts beim See sprach. Jetzt, nachdem ich den Auferstandenen von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte, versuchte ich, mir auch die äußere Erscheinung jenes Fischers ins Gedächtnis zu rufen. Aber ich konnte noch immer nicht mit Gewißheit sagen, ob er wirklich Jesus gewesen war; immerhin glaube ich, dort am See mit ihm, ohne ihn zu erkennen, geredet zu haben. Warum er sich jedoch damals gerade mir gezeigt haben sollte, blieb mir unbegreiflich.

Je näher die drei Männer kamen, desto schuldbewußter wurde mir zumute; ich versuchte mein Gesicht abzuwenden und es vor ihnen zu verbergen. Ohne mir Beachtung zu schenken, beugten sie sich zunächst über den Blinden, schüttelten ihn, richteten ihn auf und riefen: »Erwache, Schläfer!«

Der Greis rieb sich die Augen, starrte die Jünger an und sagte:

»Ich sehe euch. Ihr seid drei Männer. Aber ich kenne euch nicht.«

Der erste der drei erwiderte: »Wir sind Sendboten, die Jesus von Nazareth, der Sohn Gottes, erwählt hat. Ich bin Simon, den er Petrus nannte. Aber wer bist du? Wir kennen dich nicht.«

Der Greis strich sich über die Stirn, blickte sehenden Auges um sich und rief voll Freude: »In der Nacht habe ich ein starkes Licht gewahrt. In meinen Augen wirkte eine Macht, so schmerzhaft, daß ich ohnmächtig wurde. Aber jetzt bin ich wach und sehe mit beiden Augen, während ich doch blind hierherkam.«

Frohlockend beugte er sich über seinen Sohn, rüttelte ihn wach, half ihm auf die Beine, umarmte ihn und jubelte: »Der auferstandene Jesus von Nazareth hat mich in der Nacht geheilt! Gesegnet sei sein Name. Alle Tage meines Lebens will ich Gott preisen, der ihn gesandt hat.«

Im Halbschlaf streifte der junge Mann sich den Verband vom Kopf. Die Stirnwunde war geschlossen und vernarbt, und er stand, ohne Schmerzen zu spüren, auf beiden Beinen. Da er merkte, daß ihn noch etwas behinderte, bückte er sich und entfernte die Schienung, rieb sich die Wade und murmelte verwundert: »Mir scheint, mein Bein ist wieder in Ordnung!«

Simon Petrus erklärte: »In dieser Nacht hat Jesus alle geheilt, die er zu Zeugen seiner Auferstehung berufen hat, auf daß es viele solche Zeugen gebe. Wir alle haben ihn zur gleichen Zeit erblickt. Nicht nur hat er Blinden das Augenlicht, Tauben das Gehör und Lahmen die Beweglichkeit wiedergegeben; auch von unseren Sünden hat er uns geheilt und uns das Tor zum ewigen Leben geöffnet.«

Aber Johannes starrte mir ins Gesicht. Plötzlich stieß er Petrus an und sagte: »Die beiden kennen wir nicht und haben sie nicht gerufen; aber der Herr hat ihre Gebrechen geheilt. Auch andere sind ungeladen gekommen, und er hat diese Nacht niemanden weggeschickt.« Dann wies er anklagend mit dem Finger auf mich und fuhr fort: »Doch diesen hier kenne ich. Er hat sich uns schon in Jerusalem aufgedrängt, uns mit lästigen Fragen zugesetzt, die Frauen irregeleitet und Simon von Kyrene und Zachäus in Versuchung geführt, so daß Levi ihm schließlich einschärfen mußte, den Namen unseres Herrn nicht zu mißbrauchen. Es ist ein gewisser Marcus, ein Heide und Römer. Ich verstehe nicht, wie er hier sein kann.«

Simon Petrus fuhr auf, ballte die großen Fäuste und rief: »Haben wir sogar hier einen Verräter unter uns?«

Doch Johannes und der dritte Sendbote hielten ihn an den Armen zurück und warnten: »Wir müssen jedes Aufsehen vermeiden. Nimm ihn beiseite, sonst könnten die Leute in Erregung geraten und ihn steinigen. Dann würde man uns wegen des Blutvergießens zur Rechenschaft ziehen. Er ist ja römischer Bürger.«

Petrus atmete schwer, warf mir einen finsteren Blick zu und erklärte: »Es gibt Heißsporne genug hier in der Menge. Was würdest du sagen, Römer, wenn ich dich ihnen überantworten wollte? Man würde dich in eine Höhle schleppen, aus der du nicht mehr zurückkämest.«

»Ich fürchte weder dich noch sonst einen Menschen«, erwiderte ich. »Warum sollte ich Angst haben, wenn euer Herr mich in dieser Nacht nicht fortgewiesen hat? Sicherlich hatte er doch die Macht, mein Kommen zu verhindern, wenn er es gewollt hätte. Oder bezweifelt ihr das?«

Aufgeregt führten die drei Männer uns schließlich zu der etwas abgelegenen Baumgruppe, wo unsere Esel angebunden waren, und berieten miteinander, ob sie die anderen Jünger verständigen sollten. Aus ihrem Gespräch entnahm ich, daß auch Nikodemus, Simon von Kyrene und Zachäus, die ich kannte, mit auf dem Berge waren. Aber Johannes meinte: »Je mehr Leute wir herbeirufen, desto größeres Aufsehen erregen wir. Der Römer hat recht: unser Meister hat ihn nicht weggeschickt. Wie das kommt, ist mir unverständlich. Aber der Diener soll sich nicht klüger dünken als der Herr.«

Nun, da wir allein waren, sprachen der Blinde und sein Sohn für uns und erzählten, was unterwegs geschehen war, wie ich mich ihrer erbarmt und sie zum Berge gebracht hatte. Aber Simon Petrus rief ergrimmt: »War es euch nicht Zeichen genug, daß die Pferde euch überrannten und dem jungen Mann den Knöchel brachen? Jesus hat euch nicht berufen und wollte nicht, daß ihr herkommt.«

Der junge Mann wurde traurig, warf sich vor Petrus auf die Knie und flehte: »Verzeiht mir, ihr heiligen Männer! Ich habe nichts Böses im Schilde geführt. Ich tat es nur um meines Vaters willen. Ich habe Jesus keineswegs gebeten, mein Bein gesund zu machen; daran dachte ich nicht einmal. Aber in einer Güte hat er mich berührt, und ich war geheilt. Vielleicht wollte er mir damit seine Vergebung kundtun. So vergebt auch ihr mir – mir und meinem Vater!«

Es fiel mir nicht schwer, mich vor den drei mich mißtrauisch anblickenden Jüngern gleichermaßen zu demütigen. »Auch ich bin bereit, vor euch hinzuknien, heilige Männer Gottes«, sagte ich. »Ich bitte euch um Verzeihung, da ihr seine Auserwählten seid und die Ersten in seinem Reich. Ich bin kein Verräter: ich will euch nicht übel. Wenn ihr es wünscht, werde ich über alles Geschehene schweigen. Aber ich bin, falls ihr es wollt, ebenso bereit, seine Auferstehung vor der ganzen Welt zu bezeugen – sogar vor Cäsar selbst.«

Ergrimmt fingerte Simon Petrus an seinem Gewände, als wollte er es zerreißen, und rief: »Schweig, du Tor! Was würden die Leute sagen, wenn ein Römer und Heide Zeugnis ablegen wollte über das Reich? Es wäre besser gewesen, du hättest nie vom Wege gehört. Heute nacht magst du der Unreinheit entronnen sein; aber du wirst wieder in ihren Bann geraten und zu deiner heidnischen Welt zurückkehren, wie der Hund zu seinem Brechsel. Für uns seid ihr Heiden nicht besser als Hundebrechsel.«

Zornig wandte er sich zu Nathan und sagte vorwurfsvoll: »Dich habe ich in Kapernaum gesehen und vertraue dir. Aber du hast uns hintergangen und einen Heiden zum Fest des ewigen Lebens geführt.«

Nathan rieb sich die Nase mit dem Zeigefinger und erwiderte: »Höre, Simon, du Menschenfischer! Habe ich dir nicht in Kapernaum einen Esel geborgt, damit du deine kranke Schwiegermutter hierherbringen kannst?«

Petrus wurde verlegen und sah seine beiden Gefährten schuldbewußt an. Aber er entgegnete hitzig: »Was soll das? Ich habe dir eben vertraut, und Susanna sprach für dich.«

»Dieser Esel gehört dem Römer hier«, stellte Nathan in gelassenem Töne fest. »Marcus ist sehr gutherzig. Aber wenn du ihn ärgerst, wird er, so mitleidig er sonst ist, vielleicht sein Reittier zurückverlangen. Dann kannst du mit deiner Schwiegermutter hier auf dem Berge bleiben. Allerdings wird dir wohl Susanna Gesellschaft leisten; sie ist nämlich auf einem anderen Esel dieses Römers geritten.«

Simon Petrus war verdutzt. Er scharrte mit dem Fuß auf dem Boden und meinte schließlich: »Meine Schwiegermutter hat einen sehr beredten Mund und ist seinerzeit sogar gegen Jesus ausfällig geworden, weil er mich veranlaßt hat, seinetwegen meine Netze zu lassen und, wie sie meinte, ein Faulenzerleben zu führen. Doch der Herr hat sie geheilt, als sie an einem Fieber erkrankt war und sterben zu müssen glaubte. Seither hütet sie ihre Zunge. Ich möchte sie nicht im Stich lassen. Wir Sendboten müssen aber jedenfalls sofort aufbrechen und Tag und Nacht wandern, wenn wir Jerusalem erreichen wollen, ehe die vierzig Tage um sind. Dann müssen wir nämlich dort bleiben und die Erfüllung der Verheißung abwarten. Wenn meine Schwiegermutter kein Reittier für die Heimkehr nach Kapernaum hat, weiß ich nicht, was ich tun soll.«

Beflissen versicherte ich ihm: »Ich vergelte nicht Böses mit Bösem. Behalte ruhig den Esel, auch wenn ich in deinen Augen nur Hundebrechsel bin. Nimm dazu noch diese beiden Tiere hier und lasse Frauen darauf reiten! Wir brauchen die Esel nicht mehr; wir können leicht zu Fuß wandern. Einigen wir uns also darauf, daß du vorläufig die Tiere behältst! Nathan wird sie dann in Kapernaum abholen. Ich gehe meines Weges, ohne jemandem lästig zu fallen. Aber verfluche mich nicht und hetze mir keine Fanatiker auf den Nacken; denn das würde, glaube ich, nicht in Einklang mit eurem Gesetz stehen.«

Nun mischte Johannes sich ins Gespräch und beschwor mich: »Römer, versuche uns zu verstehen! Vieles ist uns noch unklar, und die Verheißung wurde noch nicht erfüllt. Wir wissen nur, daß der Weg schmal und die Pforte eng ist; sie aus eigenem zu erweitern, wagen wir nicht.«

Der dritte Sendbote sagte: »Jesus hat uns aufgetragen, alle Völker zu Jüngern zu machen. Aber wann und wie das geschehen soll, ahnen wir nicht. Zuerst wollte Jesus sicherlich ein Reich für Israel gründen. Alles das werden wir in Jerusalem erfahren.«

Als ich die drei Männer so Hand in Hand, wie Brüder, dastehen und das Erbe erwägen sah, das Jesus ihrem Ermessen anvertraut hatte, beneidete und fürchtete ich sie plötzlich. Ich warf mich vor ihnen zu Boden und flehte sie nochmals an: »Euch und allen seinen Sendboten hat Jesus die Worte des ewigen Lebens hinterlassen. Ich füge mich widerspruchslos dieser Entscheidung, mögt ihr auch einfache Menschen sein. Wissenschaftlich geschulte Männer würden ja seine Lehre, jeder nach dem eigenen Kopfe, auslegen und ihr manches Persönliche hinzufügen. Ihr hingegen bemüht euch, seinen Absichten, so gut ihr könnt, gerecht zu werden. Er hat mein Kommen nicht verhindert und mich nicht von sich ferngehalten; ich durfte ihn sehen. In der Nacht war ich sogar überzeugt davon, daß er zu mir gesprochen hat; aber das will ich, wenn ihr es so wünscht, aus meinem Gedächtnis tilgen. Ich begehre auch keinen Unsterblichkeitstrank von euch. Nur laßt mich sein Reich in meinem Herzen bewahren und stoßt mich nicht ganz von euch! Ich will alles so glauben, wie ihr es darlegt, ohne etwas aus eigenem beizusetzen oder an irgendwelchem geheimen Wissen Anteil zu fordern. All mein Hab und Gut will ich zu eurer Unterstützung hingeben. Und falls man euch vor den Behörden zur Verantwortung zieht oder Jesu wegen verfolgt, mag ich als römischer Bürger euch von Nutzen sein.«

Simon Petrus hob abwehrend die Hände und sagte: »Nicht für Gold und Silber!«

Der dritte Sendbote fügte hinzu: »Ich, Jakobus, erinnere mich, daß er uns versichert hat, wir brauchten uns um unsere Verteidigung nicht zu sorgen, wenn wir vor die Richter geschleppt würden; in dieser Stunde werde er uns die nötige Rede und Weisheit in den Mund legen.«

Dem Johannes aber traten plötzlich Tränen in die Augen. Mit einem Blick voll Schönheit sah er mich an und sagte: »Römer, ich habe dich deiner Demut wegen liebgewonnen, und ich glaube dir, daß du uns nicht übelwillst. Jesus ist in die Unterwelt hinabgestiegen, hat ihre Tore gesprengt und die Toten befreit. Das habe ich von seiner Mutter gehört, die er mir unter dem Kreuz wie eine leibliche Mutter anvertraut hat. Warum sollte er dann nicht auch die Heiden befreien? Aber wie das geschehen soll, wissen wir noch nicht. Fasse dich in Geduld! Bete, faste und reinige dich! Aber sprich von Jesus nie zu anderen, damit du sie nicht durch Mißverständnisse in die Irre führst! Laß die Bezeugung unsere Sorge sein!«

Ich stand mit gesenktem Kopfe auf und bemühte mich nach Kräften, meines geistigen Hochmuts Herr zu werden. Indes quälte mich doch die Befürchtung, Jesu Erbe könnte, wenn diese ungebildeten Männer allein seine Hüter sein sollten, vertan und in alle Winde verstreut werden. Aber bestimmt – so tröstete ich mich – mußte Jesus selbst gewußt haben, wie es am besten war.

Zu Nathan sagte ich: »Nimm die Esel! Und sei unterwegs den Frauen behilflich, beschütze sie und geleite sie nach Kapernaum oder wohin sie sonst wollen. Dann raste nach deinen Mühsalen, und wenn du ausgeruht bist, so hole mich aus dem Badegasthof in Tiberias ab!«

»Es wird für dich nicht leicht sein, mit dem Mädchen als einziger Begleitung durch Galiläa zu wandern«, warnte Nathan. Und als ich mich umblickte, stellte ich fest, daß der von seiner Blindheit geheilte Mann die Gelegenheit ergriffen hatte, sich davonzustehlen und seinen Sohn mitzunehmen. Aber trotziger Wagemut überkam mich: sicherlich würde Jesus von Nazareth mich nicht im Stich lassen, auch wenn die Menschen es taten.

»Friede sei mit euch allen!« verabschiedete ich mich, nahm Myrina an der Hand und stieg den Berg hinab, auf dem gleichen Pfade, den wir im Dunkel hinaufgestiegen waren. Ich schaute mich nochmals um und sah, daß in die Menschenmenge Leben und Bewegung gekommen war; man suchte Bekannte und begrüßte sie mit lauten Zurufen. Viele allerdings hatten sich, von der durchwanderten Nacht müde, in ihre Mäntel gehüllt und nochmals auf den Boden hingestreckt, um vor ihrem Aufbruch eine Weile zu schlafen.

Unterwegs überdachte ich die Geschehnisse dieser Nacht. Daß der Blinde sein Augenlicht wiedererhalten oder daß seinem Sohn der gebrochene Knöchel – falls tatsächlich ein Bruch vorlag – heil geworden war, erstaunte mich gar nicht. Diese Wunder schienen mir völlig natürlich und das geringste an dem, was sich zugetragen hatte. So groß war Jesu Güte gewesen, daß er sich nicht nur den Seinen offenbarte, sondern auch jenen, die er nicht gerufen hatte, körperliche Gebrechen heilte.

Die vierzig Tage gingen zu Ende, und der Auferstandene sollte zu seinem Vater zurückkehren. Ich versuchte, mich an den Gedanken zu gewöhnen, daß er dennoch jederzeit, sobald ich ihn rief, zu mir kommen würde und ich nie mehr allein sein sollte. Es war eine seltsame Vorstellung, die mir, wenn jemand anderer sie mir dargelegt hätte, sinnlos vorgekommen wäre. Nun aber mußte ich daran glauben, so tief war der Eindruck gewesen, den Jesu Anblick auf mich gemacht hatte.

Mit diesen Gedankengängen beschäftigt, wanderte ich durch das Buschwerk bergab und führte Myrina an der Hand. Ein Fuchs huschte vor uns über den Weg. Myrina sah mich an und sagte: »Mir scheint, du hältst zwar meine Hand, hast aber ganz vergessen, daß du nicht allein bist.«

Verdutzt blickte ich sie, wie aus einem Traum erwachend, an, und mir wurde klar, daß Jesus offenbar, um sie vor dem Untergang zu bewahren, gerade mich ihr an Bruders Statt gegeben hatte. Einem Juden, der nur Verachtung für sie bezeugt hätte, konnte er sie nicht anvertrauen; deshalb war seine Wahl auf mich, einen Römer gefallen. Und alle diese Fürsorge für einen Trunk Wasser!

Aber ich, so dachte ich bestürzt, hatte dem Herrn nie etwas gegeben. Im Gegenteil, stets war er der Gebende gewesen, und zwar so weit, daß er – falls ich in dem einsamen Fischer wirklich Jesus erblicken durfte – am See Genezareth mich an seinem Feuer wärmen und die Kleider trocknen ließ und sein Mahl mit mir teilte. Meinem Dank dafür und meiner Dienstfertigkeit konnte ich jedoch dadurch Ausdruck geben, daß ich an Myrina Bruderstelle vertrat.

»Myrina«, sagte ich, »von dieser Stunde an bist du mir wie eine Schwester, und ich werde dich nie im Stich lassen. Was mein ist, ist auch dein. Übe Nachsicht mit meiner Überheblichkeit und meinen sonstigen Fehlern!«

Myrina drückte mir fest die Hand und entgegnete: »Marcus, mein Bruder, habe auch du mit mir Geduld! Vor allem aber erkläre mir, was uns eigentlich heute nacht wiederfahren ist und was diese drei Männer wollten und warum sie mich so unwillig ansahen!«

Da aber die Sendboten mir darüber zu sprechen verboten hatten, wagte ich nicht, Myrina etwas über Jesus und sein Reich, wie ich es verstand, zu erzählen. Ich erwiderte bloß: »Das waren heilige Männer, drei jener elf Jünger, denen Jesu das Geheimnis seines Reiches offenbart hat. Sie haben uns weggeschickt, weil wir nicht zu den Kindern Israels gehören, sondern Heiden und in ihren Augen unrein sind. Sie haben mir untersagt, über Jesus von Nazareth zu reden. Aber sage du mir, was nach deiner Auffassung die Geschehnisse dieser Nacht bedeuten!«

Myrina dachte nach und meinte dann: »Zuerst haben wir ein Opfermahl gegessen, wie man es auch in Syrien feiert, wenn Adonis begraben und wiedererweckt wird. Aber bei Jesus von Nazareth war es anders: er hat sich selbst als Opfer dargebracht und ist dann auferstanden. Seit heute nacht halte ich ihn für den Sohn Gottes. Unser Weinbecher wurde nie leer; und es ist uns Brot zugekommen, von nirgendsher. Aber nicht das hat mich überzeugt, sondern allein die Tatsache, daß ich Jesus, als er mich ansah, von Herzen liebgewann und daß es in diesem Augenblick nichts gab, was ich nicht ohne Zögern für ihn getan hätte. Darin liegt ein gewaltiges Mysterium, bestimmt gewaltiger als alle griechischen und sogar ägyptischen Mysterien. Offenbar ist sein Reich unsichtbar und doch gegenwärtig, so daß ich darin weile, während doch meine Füße auf diesem Wege auf dieser Erde schreiten. Nein, von seinem Reiche könnte ich mich, auch wenn ich wollte, nicht losreißen. Aber mir wird deshalb nicht bange; denn in diesem Reiche ist gut sein, und ich bin darin frei von Sünde.«

Verwundert blickte ich in Myrinas schmales Gesicht mit den grünen Augen und sagte neidvoll: »Bestimmt hat er dich auf dem Berge gesegnet, und du bist glücklicher als ich. Seine Wahrheit scheint wirklich so schlicht und zugänglich wie Brot oder Wein, so daß auch der Ärmste sie besitzen kann. In mir erhebt sich die Weltklugheit wie eine schwarze Mauer; das Wissen ist ein Netz, das mich zu umgarnen droht, und die Spitzfindigkeiten der Sophisten sind Fallstricke für meine Füße. Hilf mir, meine Schwester, damit ich es merke, wenn diese Lockungen mich bedrängen!«

In unser Gespräch versunken, kamen wir an den Fuß des Berges. Als ich umherblickte, erkannte ich, daß wir von dem gestern gegangenen Pfade abgekommen waren. Doch das beunruhigte mich nicht, weil ich die Richtung zur Hauptstraße nach der Sonne bestimmen konnte. Wir hatten es nicht eilig. Und in diesem Augenblick wurde mir bewußt: niemals mehr brauchte irgend etwas mir eilig zu sein, denn ich hatte ja in meinem Dasein schon alles erlangt, was mir erreichbar war. Ich besaß ein kleines Vermögen; bei sorgsamer Wirtschaft würde es mir und Myrinas für den Rest unserer Tage genügen.

Mit dieser Erkenntnis überkam mich plötzlich grenzenlose Mattigkeit, und ich hatte das Gefühl, nie im Leben so müde gewesen zu sein. »Myrina«, sagte ich, »ich kann keinen Schritt weiter. Von nun macht es mir nichts aus, wo ich mich befinde. Wir' wollen hier bleiben und uns im Schatten dieses Feigenbaums schlafen legen. Wir haben unser ganzes Leben vor uns und werden es gemeinsam durchwandern. Solange Jesu Reich noch um uns ist und wir uns so zufrieden fühlen, ist es gut ruhen.«

Wir legten uns unter den Feigenbaum, und ich nahm Myrina in die Arme. Wir fielen beide in tiefen Schlaf. Als wir erwachten, waren die Schatten weitergerückt, und die Sonne hatte den Scheitelpunkt ihrer Bahn überschritten. Wir begannen wieder unsere Wanderung auf Fußwegen und entlang der Feldraine, zur Hauptstraße hin. Wir sprachen nichts; aber ich fühlte mich wie neugeboren und empfand Myrinas schwesterliche Gegenwart. Galiläas reifegelbe Felder, bläuliche Hügel und bräunliche Bergkämme boten sich in Schönheit meinem Blick. Die Luft atmete sich leicht, und ich grollte niemandem auf Erden.

Zu meiner maßlosen Verwunderung waren die ersten Menschen, die wir auf der Straße vor uns sahen, Maria Magdalena und Maria von Beeroth. Die Taubenzüchterin ritt einen Esel; die junge Frau schritt barfuß im Staube hinterdrein und trieb das Reittier mit einer Gerte an. Überrascht schlug ich die Hände zusammen, eilte den beiden Frauen nach und begrüßte sie. Aber Maria Magdalena warf mir einen kühlen Blick zu und zeigte sich keineswegs erfreut, mich zu sehen.

»Ach, du bist es? So, so! Und du kommst vom Berge?« fragte sie mürrisch. »Ich wäre schön in der Patsche gesessen, hätte ich mich bloß auf deine Verständigung verlassen wollen. Und nachdem du gerade einer Versuchung um Haaresbreite entgangen bist, hast du schon wieder eine andere Begleiterin! Wer ist denn das?«

Beide Frauen musterten Myrina, und ich erkannte, daß Maria Magdalena erwartet hatte, ich würde sie zum Berg begleiten. Aber sie hatte nie etwas dergleichen mit mir verabredet und mir auch keine Nachricht geschickt. Ohne Nathans treue Fürsorglichkeit wäre ich nie auf den Berg gelangt. Doch jetzt mit Gegenvorwürfen zu erwidern, hatte wenig Sinn.

»Da du keinen Mann als Beschützer hast, werde ich dich, wenn du gestattest, heimbegleiten und unterwegs für deine Sicherheit sorgen«, schlug ich vor. »Es wird bald Abend. Wir wollen einen Gasthof aufsuchen und dort nach einem gemeinsamen Essen die Nacht verbringen. Und morgen gehe ich mit dir bis zu deinem Haus.«

Aber Maria Magdalena war über mein Anerbieten schwer gekränkt. Hochmütig fuhr sie mich an: »Früher hatte ich viele Begleiter; man hat mir Sänften angeboten, und es fehlte mir nie an Beschützern. Aber seit ich den Herrn auf dem Berge gesehen habe, ist er mir Schutz genug, und du brauchst mich nicht durch die Bemerkung zu beleidigen, ich hätte keinen Mann zur Begleitung.«

Ich konnte nur annehmen, daß ihr bei ihrem Aufbruch zum Berge nicht alles nach Wunsch gegangen war. Noch größer aber wurde mein Staunen, als auch Maria von Beeroth mich sehr frostig begrüßte und sagte: »Mir scheint, du bist ein recht leichtfertiger und flatterhafter Mann und hast dich rasch getröstet. Ich freue mich deinetwegen darüber, weil du dir bei mir keine Hoffnungen mehr machen kannst. Mir sind die Sünden vergeben worden; ich bin gereinigt und wieder unberührt, so daß ich mit dir, einem Römer und Heiden, nichts mehr zu schaffen haben darf. Schau mich also nicht begehrlich an! Und deiner plattnasigen Begleiterin verbiete gefälligst, mich derart unverschämt und krittlig mit ihren häßlichen Augen anzuglotzen!«

Zum Glück verstand Myrina nur wenig von diesen Worten; aber die Blicke der beiden Frauen verstand sie und senkte den Kopf. Sie tat mir leid, und ich fragte: »Was ist denn los mit euch? Warum redet ihr so unfreundlich zu mir?«

Maria von Beeroth erzählte nun: »Heute früh habe ich auf dem Berge einen jungen Mann gesehen. Seine Augen waren klar wie Quellwasser, und seine Wangen glichen Granatäpfeln, und sein Kinn war noch nicht von Bartwuchs struppig. Er hat mich angeblickt, und ich muß ihm gefallen haben; er versprach nämlich, er werde sofort seinen Freund zu Maria Magdalena schicken, um alles abzureden, damit er und ich miteinander den Weinbecher leeren können. Er kann es nicht aushalten vor Liebe, und auch ich beeile mich gern, solang ich noch rein bin. Sein Vater hat einen Acker und einen Weinberg, Ölbäume und Schafe, und ich wünsche mir nichts weiter als ein geruhsames Leben. Sein Vater ist auch mit mir einverstanden; weil Jesus von Nazareth ihm heute nacht das Augenlicht wiedergegeben hat, und weil er keinen Brautpreis für mich zu zahlen braucht, ist er bereit, an meine Unberührtheit zu glauben.«

Maria Magdalena unterbrach sie mit den Worten: »Das alles ist wahr. Kaum hatte ich sie einen Moment lang aus den Augen gelassen, fand sie schon einen Freier. Sonst hätte ich sie mit dir verheiraten müssen, und das wäre eine Sünde gewesen. In Israel sollen ja die Frauen mit Heiden keine Ehen schließen, während die Männer es leichter haben. Es war wirklich ein besonderer Glücksfall, daß der Vater des jungen Mannes sehend geworden ist und aus purer Freude darüber auch glauben will, daß Maria von allen ihren Sünden gereinigt wurde. Ein anderer Vater würde allerdings, selbst wenn er an diese Reinigung glaubte, kaum eine solche Schwiegertochter wünschen, wegen ihrer Vergangenheit.«

Ich musterte Maria Magdalenas marmorweißes Gesicht und erkannte, daß sie tatsächlich die Macht und die Kraft gehabt hätte, meine ehemalige Begleiterin, auch gegen meinen Willen, mit mir zu verheiraten. Erleichtert seufzte ich auf und meinte: »Ich kann bloß mein Glück preisen und auch deines, Maria von Beeroth. Immerhin verstehe ich die ganze Sache nicht recht. Ich erhielt nämlich im Schlaf ein Zeichen: mir träumte, daß ich mit diesem griechischen Mädchen durch die Wüste wanderte, und du warst dabei.«

Maria Magdalena wurde plötzlich neugierig und rief: »Erzähle den Traum ganz genau! Weißt du bestimmt, daß sie mit dir war?«

Ich schilderte getreulich meinen Traum; aber noch während ich sprach, verblaßte er in meinem Gedächtnis und wurde undeutlich. Doch ohne Zögern schloß ich: »Ganz bestimmt war auch sie dabei. Sie ritt einen Esel, war dick und aufgedunsen, und ich sah tiefe Kummerfalten um ihre Mundwinkel. Aber an ihren Augen erkannte ich sie sofort.«

Maria von Beeroth wurde zornig und rief: »Du hast kein Recht, so von mir zu träumen, und ich glaube dir nicht. Dick und aufgedunsen wirst du selber werden vor lauter Sünden; und dazu werden dir noch die Haare und die Zähne ausfallen!«

Ich hob die Hände und meinte: »Möge mein Traum nicht in Erfüllung gehen! Warum sollen wir uns gegenseitig beschimpfen, wo wir doch eben erst alle auf dem Berge waren und den Auferstandenen sahen? Niemanden von uns hat er weggeschickt, nicht einmal Myrina.«

Rasch berichtete ich ihnen, wie ich Myrina gefunden hatte und was ihr widerfahren und wie ihr Weinbecher voll geblieben war. Ich erzählte auch von dem Rennwagen, der den jungen Mann auf der Straße niedergestoßen hatte, und wie wir ihm und seinem blinden Vater halfen.

Maria Magdalena nickte verständnisvoll und sagte schließlich: »Bestimmt war das alles eine Fügung. So führt der Herr den Heiden mit der Heidin und den Juden mit der Jüdin zusammen. Aber die Schatten werden immer länger, und ich halte mich nicht gern in dieser einsamen Gegend auf, mit dem vielen Geld, das ich bei mir trage. Ich übergab es nicht den Sendboten, weil sie mich nicht nach Jerusalem mitnehmen wollten. Petrus befahl mir heimzukehren. Was sie in Jerusalem vorhaben, weiß ich nicht. Begleite mich also, und wir werden miteinander in einem Gasthof übernachten. Wenn du mich heil nach Hause gebracht hast, wollen wir uns als gute Freunde verabschieden.«

Wir setzten die Wanderung gemeinsam fort, und auf der Straße waren nicht mehr viele Leute. Während unseres Gespräches hatte Myrina mit gesenktem Blick geschwiegen, und das rechnete ich ihr hoch an. Nun fragte sie mich flüsternd, wer diese Frauen seien. Ich erklärte ihr, daß Maria Magdalena dem Herrn Gefolgschaft geleistet und als erste an seinem Grab geweilt und es leer gefunden hatte. Gleich empfand Myrina hohe Ehrfurcht für sie, ging zu ihr und bat sie, neben ihrem Esel einherschreitend, demütig: »Erzähle mir von dem Auferstandenen, o glücklichste der Frauen!«

Ihre Sanftmut gefiel Maria Magdalena so gut, daß sie Myrina freundlich ansah und ihr auf griechisch allerlei über Jesus zu erzählen begann. Auf dem Berge habe sie ein junges Ehepaar aus Kana kennengelernt, bei dessen Hochzeit der Herr sein erstes Wunder gewirkt und zur großen Freude der Gäste Wasser in Wein verwandelt hatte. Dann sprach sie von Jesu Geburt, wie seiner Mutter Maria ein Engel erschien, wie sie auf übernatürliche Art schwanger geworden war und wie Joseph, ihr Verlobter, sie im stillen zu entlassen gedacht hatte, bis ihm durch ein Traumbild Aufklärung wurde. Während ich zuhörte, begann ich, die von Jesus zu Sendboten erwählten Männer besser zu verstehen, und begriff, warum sie Maria Magdalena als zu redselig bezeichnet hatten. Aber Myrina verschlang jedes Wort und lauschte mit verhaltenem Atem und leuchtenden Augen.

Schließlich konnte ich mich nicht enthalten zu bemerken: »Auch nach den griechischen und römischen Sagen haben die Götter sich mit den Töchtern der Sterblichen vermischt und mit ihnen Kinder gezeugt. Sogar der Stammvater der Römer soll ein Söhn der Aphrodite gewesen sein. Heutzutage betrachten aufgeklärte Menschen derartige Erzählungen nur als Gleichnisse, in derselben Art, wie die jüdischen Schriftgelehrten in Alexandria ihre heiligen Schriften ausdeuten. Ich glaube nicht, daß Jesus von Nazareth irgendwelcher Legenden bedarf, um ihn als Sohn Gottes auszuweisen.«

Maria Magdalena war gekränkt; sie legte Myrina die Hand auf die Schulter und meinte: »Wir Frauen empfinden auf gleiche Art, ob wir nun Griechinnen sind oder Kinder Israels. Die Männer werden uns nie verstehen. Und du, Römer, solltest keine Vergleiche ziehen mit erdgebundenen Göttern, die den Menschen an die Trugbilder des irdischen Daseins fesseln. Diese Götter haben jetzt, nachdem Jesus zum Messias der Welt geworden ist, keine Macht mehr über das Menschengeschlecht, außer, wenn die Menschen sich freiwillig ihrer Herrschaft unterwerfen und den Weg des Verderbens wählen. Aber was ich berichte, weiß ich bestimmt, und es ist die reine Wahrheit. Maria, Jesu Mutter, hat es selber mir und anderen Frauen erzählt, als wir gemeinsam in seinem Gefolge wanderten. Selbst Herodes, der alte, grausame, glaubte daran, daß in Israel ein König zur Welt gekommen war, und ließ, um ihn aus dem Wege zu räumen, in Bethlehem alle Knäblein bis zu zwei Jahren ermorden. Dafür gibt es noch unzählige Zeugen.«

Ihre Worte machten mich nachdenklich. Maria Magdalena selbst mochte zu viele Erscheinungen und Engel sehen und zu lebhaft träumen; aber von Jesu Mutter konnte ich das nicht annehmen. Ich hatte ihr trauererfülltes Gesicht unter dem Kreuz erblickt und den Eindruck gewonnen, daß sie nicht mitteilsam war, sondern lieber schwieg und andere sprechen ließ. Welchen Grund könnte sie gehabt haben, solche Dinge, wie Maria Magdalena sie mir berichtet hatte, zu erzählen, wenn sie nicht der Wahrheit entsprachen? Die von Jesus gewirkten Wunder legten hinreichend Zeugnis ab für ihn. Wenn ich an diese Machttaten glaubte – und nach meiner Unterredung mit Lazarus blieb mir wohl nichts anderes übrig –, weshalb sollte ich dann gerade jene eine Sache bezweifeln? Warum konnte nicht, wenn Gott auf Erden als Mensch geboren werden sollte, ein überirdischer Geist in eine Frau den Keim dazu legen? Verglichen mit jenem Wunder der Menschwerdung Gottes, verblaßten alle anderen Wundertaten.

Myrina stellte noch weitere Fragen über Jesus, und Maria Magdalena erklärte mit einem tadellosen Blick auf mich: »Oft sprach er von einem Sämann, der zu säen ausging. Einige von den Samen fielen auf steinigen Grund und fanden keine Erde, um zu verwurzeln. Etliches fiel unter Dornen, und die Dornen wuchsen auf und erstickten es. Anderes aber fiel auf guten Boden und brachte vielfache Frucht.«

Nach einer Pause fuhr sie fort: »Nicht jeder also, der Jesu Wort gehört hat und an ihn glaubt, taugt deshalb schon für sein Reich. Dein Herz ist nicht hart, Römer; es ist zu weich. Das macht dich anfällig. Wenn du zu deinem eigenen Volk zurückkehrst, werden rings um dich Dornen und Disteln üppig aufschießen und dir den Weg ins Reich verlegen.«

Ihre Warnung erfüllte mich mit Angst. Ich blickte um mich, auf die roten Berge Galiläas und auf die dunkelgrünen Weinpflanzungen, über denen die Schatten sich dehnten, und sagte: »Wie könnte ich je vergessen? Bis zu meinem Todestage werde ich an dieses Galiläa und an den Berg denken und an Jesus, den ich in der vergangenen Nacht sah. Und ich werde nie so einsam sein, daß nicht er, wenn ich ihn rufe, bei mir wäre.«

Nach einigem Sinnen fügte ich hinzu: »Ich bin ihm ein schlechter Diener, dem König, der sich jetzt, da die vierzig Tage zu Ende gehen, in ein fernes Land begeben wird. Ich weiß nicht, ob er auch mir ein Pfund oder ein Talent anvertraut hat; wenn ja, muß ich es auf Gebot seiner Jünger in der Erde vergraben. Das bedrückt mich. Aber mir ist eine Verheißung geworden, an die ich glaube; von ihr erzähle ich dir, weil du mich sonst auslachen würdest.«

Ich dachte daran, daß ich eines Tages zur Verherrlichung des Namens Jesu sterben sollte. Es erschien mir unglaublich; aber so hatte der Fischer es mir in jener Nacht am See verkündet. Meinem Körper zuliebe freue ich mich, daß ich römischer Bürger bin und durch das Schwert hingerichtet werden muß; die Qualen einer Kreuzigung würde ich nie ertragen. Sonst jedoch empfinde ich diese Vorhersage nicht länger als erschreckend. Ein solcher Tod ist ja das einzige, wodurch ich Jesus zeigen kann, daß ich zu ihm gehöre.

Vor Einbruch des Abends bogen wir von der Landstraße auf einen Eselspfad ab, der, wie Maria Magdalena uns sagte, über die Berge nach Magdala führte. Sie kannte einen Gasthof, wo wir die Nacht verbringen konnten. Wir erreichten ihn bald nach Sonnenuntergang, ehe es noch ganz dunkel wurde. Die Herberge war voll besetzt, und zu essen gab es nichts mehr; aber für Maria Magdalena und ihre Begleiterin machte man höflich in dem Gebäude Platz. Ich sah viele Gäste rund um ihre Feuer sitzen, mit leuchtenden Augen leise Gespräche führend; sogar vom Dach her hörte man lebhaftes Gemurmel. Daraus schloß ich, daß alle diese Leute auch vom Berge kamen. Sie redeten freundlich miteinander, und wer Proviant besaß, teilte ihn, mit solchen, die keinen hatten. So durften auch Myrina und ich unser Brot in eine gemeinsame Schüssel tauchen.

Dennoch spürte ich, daß ich inmitten dieser Galiläer ein Fremdling war. Sobald die Nachtkälte kam, hätte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als neben ihnen zu sitzen und gleich ihnen über Jesu Erscheinen zu reden, über sein Reich, über Sündenvergebung und ewiges Leben. Aber sie sahen mich nicht als ihren Bruder an, und aufdrängen konnte ich mich ihnen nicht. Immerhin führte der Wirt die Esel einiger Herbergsgäste in den Hof, fegte eine Stallecke aus und breitete reines Stroh hin, so daß Myrina und ich nicht unter freiem Himmel schlafen mußten.

Da alle anderen auch noch, im schwachen Schein einer einzigen Laterne, miteinander flüsterten, sprach ich Myrina das Gebet vor, das Susanna mich gelehrt hatte. Sie fand, es eigne sich gut für sie und gebe ihr ein Gefühl der Sicherheit. Es sei auch eine große Erleichterung, daß man, um beten zu können, nicht erst darauf achten müsse, ob zunehmender oder abnehmender Mond sei, daß man nicht Salz auszustreuen, unverständliche Beschwörungsformeln zu wiederholen und sich aus Rebholz Götterbilder zu schnitzen brauche. Bei solchen Riten wisse man nie, ob man nicht etwas falsch gemacht oder ein unrechtes Wort gesprochen habe, womit dann das ganze Gebet seine Wirkung verliere.

Als ich am Morgen erwachte, sah ich als erstes Maria von Beeroth neben mir im Stroh kauern und mir ins Gesicht starren. Als sie merkte, daß meine Augen offen waren, begann sie, den Kopf hin und her zu wiegen und die Hände zu ringen. Leise sagte sie:

»Mir war drinnen zu heiß, und ich konnte nicht schlafen. Ich wollte schauen, was du tust und wie du die Hände hältst, wenn du mit dieser Ausländerin schläfst. Lieber als mit Maria Magdalena zusammen in einem schmalen Bett zu schwitzen und von Ungeziefer gebissen zu werden, hätte ich hier im Stroh geschlafen, den Kopf auf deiner Schulter. So haben wir beide am Jordan geruht, auf dem Wege nach Tiberias. Nimm mir meine boshaften Worte von gestern abend nicht übel! Ich war ganz bestürzt, als du so unerwartet mit dieser Griechin des Weges kamst und habe unüberlegt dahergeredet. Ich wußte nicht, was ich denken sollte, und weiß es eigentlich auch jetzt noch nicht. Die ganze Nacht hatte ich schreckliche Gewissensbisse, weil ich mich derart plötzlich in diesen jungen Mann verliebt habe und seinen Freund in Magdala zu erwarten versprach. Vielleicht bereut er die Sache schon, und es wird nie ein Abgesandter von ihm hinkommen.«

Ich beeilte mich, ihr zu versichern: »Der junge Mann ist ohne Falsch. Er wird bestimmt seinen Freund schicken und dich dann nach galiläischer Sitte zum Brautbett führen. Die Musikanten werden aufspielen, die Dorfleute werden Wein trinken und zum Klang der Flöten mit den Füßen den Takt schlagen, und Freudenlieder werden dir zu Ehren erklingen.«

Maria wurde ungehalten. Sie hörte auf, die Hände zu ringen, und erhob die Stimme: »Du mißverstehst mich absichtlich. Die ganze Nacht habe ich mich mit dieser Sache abgequält und kaum ein Auge zugetan. Nach zwei schlaflosen Nächten hintereinander mußt du mich mit meinen roten Augen sehr häßlich finden. Immerhin weiß ich, daß meine Sünden mir vergeben wurden und daß ich so unberührt bin, als hätte ich nie einen Mann gekannt. Auch du weißt das, nachdem du Jesus von Auge zu Auge gesehen hast. Dem jungen Mann habe ich allerdings nicht viel von meiner Vergangenheit erzählt, nur das Notwendigste, um ihn nicht unnütz zu bekümmern. Und nun schreckt mich der Gedanke, daß seine Verwandten und alle Leute im Dorf am nächsten Morgen das Bettlaken ausbreiten werden und vielleicht kein Anzeichen meiner Unberührtheit finden. Dann würde man mir den Ring wegnehmen und mich mit Steinen und Stöcken schmachvoll davonjagen. Ihr Römer seid in solchen Dingen weniger heikel; aber ich kenne meine Landsleute, und in Galiläa ist man da nicht anders als in Beeroth.«

Ich sagte: »Maria Magdalena ist eine erfahrene Frau und eine Taubenzüchterin. Vertraue dich ihr an! Auch die Römer pflegen an ihrem Hochzeitstag der Venus zwei Tauben zu opfern – sicherheitshalber, damit der Braut Schande erspart bleibt.«

Maria rief noch lauter: »Geh nicht wie die Katze um den heißen Brei herum! Du wirst doch nicht leugnen wollen, daß du mich aus Jerusalem mitgenommen hast, damit ich rein werde und für dich tauge. Natürlich verletze ich das Gesetz, wenn ich einen Römer heirate; aber im Namen Jesu bin ich dazu bereit, um einen der Geringsten unter den Seinen zu retten.«

Mit einem abschätzigen Blick auf Myrina fuhr sie fort: »Gegen diese Kleine hier hege ich keinen Groll. Sie ist es nicht wert. Ich werde nicht einmal etwas einwenden, wenn du sie zur Nebenfrau nimmst. Das wird einem Mann nicht als schwere Sünde angerechnet, und selbst Pharisäer sind in dieser Beziehung nicht ganz untadelig. Ich werde allerdings die Griechin auf ihren Platz verweisen, damit sie so demütig bleibt wie jetzt.«

Myrina war schon lange wach geworden. Sie hatte uns durch ihre Wimpern hindurch beobachtet und sich bemüht, Marias Worte zu verstehen. Jetzt öffnete sie die Augen weit, setzte sich auf und sagte: »Beim Schlafengehen habe ich mich geborgen und glücklich gefühlt. Jetzt im blassen Morgenlicht fröstelt mich. Aber die Zeit der Wahrheit ist ja das Morgengrauen und keineswegs die Abendwärme. Ich habe nicht alles erfaßt, aber soviel ist mir klargeworden: diese Jüdin hat Rechte auf dich. Wenn ich ihr im Wege stehe oder dir als deine Schwester zur Last falle, will ich meines Weges gehen. Ich habe die Goldstücke und kann mir damit auf irgendeine Art ein gesichertes Dasein kaufen. Mach dir also meinetwegen keine Sorgen! Und du brauchst auch nicht Rücksicht auf mich zu nehmen, wenn du mit diesem hübschen Judenmädchen deine Angelegenheiten besprechen willst.«

Maria verstand kein Wort Griechisch. Sie starrte Myrina argwöhnisch an und zeterte: »Glaube ihr nicht, glaube ihr kein Wort! Sie redet freundlich und wohlgesetzt. Aber ich weiß, wie verschlagen die Griechen sind. Und mit Frauen kennst du dich überhaupt wenig aus.«

Sie begann zu schluchzen, schlug die Hände vor das Gesicht und jammerte: »Schrecklich hartherzig bist du! Verstehst du denn nicht, daß ich dir zuliebe, um dich aus dem heidnischen Schmutz zu retten, alles verlassen und mit dir kommen will?«

Bestürzt sah Myrina sie mit ihren grünen Augen an, berührte meine Hand und fragte: »Warum läßt du sie weinen? Siehst du nicht, wie schön sie ist und wie ihre Augen leuchten und was für einen weichen, roten Mund sie hat? Schon gestern habe ich sie beneidet. Ich habe nicht einmal Brüste wie eine richtige Frau; meine Nase ist zu kurz, und meine Augen sind häßlich.«

Völlig aus der Fassung gebracht, schaute ich die beiden an und dachte mir, das sei es, was mein Traum bedeutet hatte. Maria zu heiraten, war mir nie in den Sinn gekommen. Ihr ganzes Leben lang würde sie sich als Tochter Israels mir überlegen dünken. Sie würde Myrina zu ihrer Dienerin machen und mich schließlich durch ewiges Nörgeln dazu bewegen, mich um des lieben Friedens willen beschneiden zu lassen. So ist es in Rom vielen schwachen Männern ergangen, obwohl sie alles Erdenkliche tun, um es geheimzuhalten.

Dann durchzuckte mich ein beklemmender Gedanke. Vielleicht führte der Weg zum Reich des Nazareners nur über den abbildlosen Gott der Juden. Vielleicht würden die Jünger mich nicht mehr von sich weisen, wenn ich dank Maria von Beeroth ein regelrechter Proselyt wurde. Ich hatte Rom verlassen und konnte mein Leben frei gestalten. Wenn nur ein schmerzhafter kleiner Schnitt mit einem jüdischen Feuersteinmesser mich von der Gemeinschaft mit Jesu Anhängern trennte, war das Opfer gering. Ich habe ärgere Schmerzen durchgemacht. Und römische Offiziere in Wüstengarnisonen unterziehen sich oft genug aus rein praktischen Gründen dieser Operation, um die von dem feinen Sand verursachten ständigen Schwellungen loszuwerden. Die Araber und Ägypter üben den gleichen Brauch.

Dennoch lehnte ich mich innerlich gegen diese einfache Erwägung auf. Es waren die höchsten Vertreter dieser Religion, die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Ältesten von Israel, gewesen, die Jesus von Nazareth zum Tode verurteilt hatten. Im Herzen fühlte ich, daß ich den Auferstandenen preisgeben und verraten würde, wenn ich den jüdischen Tempelbezirk, jenen prunkvollen Schlachthof, betrat und die Priester um Aufnahme in ihre Glaubensgemeinschaft bat. Lieber wollte ich schlicht und demütig im Herzen bleiben, statt mich unter falschem Vorwand beschneiden zu lassen, bloß, um vor den Augen der Jünger, die jetzt nichts mit mir zu tun haben wollten, Gnade zu finden.

Maria von Beeroth hatte zu weinen aufgehört und starrte mir erwartungsvoll ins Gesicht. Auch Myrina sah mich an, mit einem Blick, als hätte sie mich schon verloren. Wenn ich sie mit der zungenfertigen Maria verglich, spürte ich nur für Myrina Zärtlichkeit und wußte, daß sie mir immer näherstehen würde als Maria. Mein gesunder Menschenverstand gewann wieder die Oberhand, und ich erklärte entschieden: »Du brauchst mir kein Opfer zu bringen, Maria. Du würdest nur dich ins Verderben stürzen, wenn du dich mir, einem unreinen Heiden, zuliebe von Gottes auserwähltem Volke trennen wolltest. Denke daran, daß ich selber den jungen Mann, nachdem er sich den Knöchel gebrochen hatte, auf meinem Esel zum Berg brachte. Das ihm gegebene Versprechen darfst du nicht brechen. Ich muß auf dich verzichten, will dir aber gern ein so reiches Hochzeitsgeschenk geben, daß du nicht vollkommen von deinem Gatten abhängst.«

Maria mußte einsehen, daß mein Entschluß feststand. Sie hörte zu weinen auf und sagte bloß: »Undank ist der Welt Lohn, und jetzt glaube ich selber, daß die Römer, wie man sagt, Hunde sind. Aber vielleicht wirst du eines Tages, wenn du auf weichen Kissen hinter Vorhängen liegst und duftende Salben von dir träufeln, vergebens an mich denken. Vielleicht wirst du dich meiner zu Liebkosungen geschaffenen Hände erinnern, mit denen ich, krummrückig hingekauert, eine Handmühle drehen muß, und meiner Augen, die beim Brotbacken vor Rauch tränen.«

Ihre Worte rührten mich nicht, weil ich ihnen keineswegs Glauben schenkte. Ich vermutete, sie werde im Gegenteil ihren Gatten dazu antreiben, sich über seine Kräfte abzurackern, und ihre Verwandtschaft dazu, stets um sie herumzuscharwenzeln, und sie werde im Alter die Schwiegertöchter peinigen und die Schwiegersöhne ärgern. Aber natürlich konnte ich mich irren.

Nachdem sie sich redlich bemüht hatte, mich möglichst zu vergrämen, verzieh sie mir und meinte: »Von Rechts wegen sollte ich dir dein Angebot entrüstet an den Kopf werfen. Aber im eigenen Interesse muß ich wohl dein Hochzeitsgeschenk annehmen, um in der Achtung der Familie meines Mannes zu steigen. Ein Geschenk ist es übrigens nicht, sondern vielmehr die Abstattung einer Schuld, weil du alle deine Zusagen gebrochen hast.«

Es drängte mich, sie zu fragen, wann ich ihr je irgend etwas versprochen hätte; aber inzwischen war ich klüger geworden und schwieg. Während unseres Gespräches hatten die meisten anderen Herbergsgäste sich auf die Weiterreise gemacht. Jetzt kam Maria Magdalena mit strahlendem Gesicht zu uns und schalt:

»Was zankt ihr euch da? Schaut hinaus, wie herrlich jetzt, nachdem Jesu Reich auf die Erde gekommen ist, die Welt im Glanz seiner Sonne leuchtet! Ich grolle niemandem mehr, nicht einmal dem Petrus. In der Nacht hatte ich einen Traum, der mir anzeigte, daß der Welt Gnade widerfahren ist. Weiße Tauben schwebten vom Himmel herab und setzten sich den Menschen auf die Köpfe. Auch auf deinem Kopf, Römer, ließ sich eine nieder. Ich kann keinen Menschen mehr verachten. Denn allen wird, nach Verdienst oder auch unverdient, eine solche Fülle von Liebe zuteil werden, daß niemand leer ausgeht. Ein Vater mag sein Kind, wenn es ungehorsam ist, bestrafen: aber nie wird er es ganz verstoßen. Darum sehe ich heute keinen Unterschied zwischen Römern und Hebräern, und alle Menschen unter dem blauen Firmament sind meine Geschwister. Nicht einmal die Samariter nehme ich aus, obwohl es ein samaritischer Zauberer war, der sich die in mir hausenden bösen Geister dienstbar gemacht hat.«

Sie schlang mir die Arme um den Hals und küßte mich auf beide Wangen, und ich fühlte ihr solche Kraft entströmen, daß alles vor meinen Augen sich wandelte und ich am liebsten wie ein Kind getanzt und gelacht hätte. Auch der Griechin gab sie einen Kuß; und Maria von Beeroth drückte sie zärtlich an sich und nannte sie ihre Tochter. So empfanden wir alle nur jubelnde Freude. Ohne an Essen und Trinken zu denken, machten wir uns auf den Weg – derart erfüllt waren wir von Jesu Reich. An diesem Tage wanderten wir, mochten wir auch noch auf Erden weilen, in Wahrheit durch sein Reich.

Nachmittags sahen wir wieder den See Genezareth und erreichten Maria Magdalenas Haus. Ihre Bedienten entboten ihr begeisterten Willkomm. Sie hatte nämlich, mit Maria von Beeroth als einziger Begleiterin, heimlich ihr Haus verlassen, ohne jemanden zu verständigen; so war man ihretwegen beunruhigt gewesen und hatte schon gefürchtet, die Dämonen könnten wieder von ihr Besitz ergriffen haben. Aber jetzt befahl sie:

»Nehmt euch aus meiner Kleiderkammer jeder ein neues Gewand und bereitet für diesen Abend ein großes Festmahl! Tut euer Bestes! Die Tage der Freude und des Frohsinns sind gekommen. Unser Herr, Jesus von Nazareth, ist von den Toten auferstanden und hat sich den Seinen gezeigt. Wir waren unser mehr als fünfhundert, die das bezeugen können. Geht daher nach Magdala und ladet alle, die kommen wollen, zum Mahl, nur keine Pharisäer oder Synagogenvorsteher, keine Ältesten oder Reiche! Ladet die Armen und Elenden ein, die Zöllner und Steuereinnehmer, und auch Fremdlinge! Sagt ihnen allen: ›Maria Magdalena wünscht für diesen Abend nur Sünder als Gäste und keine Gerechten.‹ Auch der Herr hat ja nicht die Gerechten eingeladen, sondern die Sünder, und in seinen Augen war niemand unrein. Mit ihm ist die Vergebung der Sünden auf die Erde gekommen.«

So sprach sie wie in Verzückung zu ihren Bedienten, die kopfschüttelnd gehorchten. Mich führte sie beiseite, sah mir liebevoll in die Augen, legte mir die Hände auf die Schultern und sagte:

»Für uns ist die Zeit des Abschiednehmens gekommen. Aber zumindest ich betrachte dich als Kind des Reiches, mögen auch andere dich verwerfen. Böse Tage werden noch über dich kommen, und niemand ist ohne Sünde. Aber verhärte dein Herz nicht, trachte nicht nach dem Ruf der Frömmigkeit vor den Menschen und versprich nichts unbedacht! Wenn du in unvermeidbare Sünde fällst, so bekenne es und entschuldige dich nie mit der leeren Ausrede, du seiest nicht ärger als andre, die das gleiche tun! Sobald du aber an den begangenen Sünden so leidest, daß sie dir nur Verzweiflung und nicht Genüge bereiten, dann bist du reif zur Heilung. Und keine Sünde ist so furchtbar, daß Jesus sie dir nicht vergeben würde, wenn du ihn reuigen Herzen darum bittest. Nur Verstocktheit kann er nicht verzeihen; denn durch sie trennt der Mensch sich geflissentlich von Gott. Indes kann, glaube ich, niemand sich so weit von ihm entfernen, daß er den Rückweg nicht mehr finden könnte. Derart grenzenlos ist Gottes Gnade. Aber wenn du den Weg des Reiches gehst, wirst du dadurch allein viel Übel meiden. Und ich will dir eine wunderbare Erkenntnis anvertrauen, die mir in meinem Traum offenbart wurde: der Weg selbst ist schon das Reich.«

Mit Tränen in den Augen blickte sie mich an und fuhr fort: »Das ist meine Lehre, Maria Magdalenas Lehre. Sie muß wohl in mir gereift sein, als ich zu Jesu Füßen saß und ihm lauschte. Nach allen den großen Ereignissen, die sich zugetragen haben, wird der eine dies, der andere jenes über Jesus sagen, je nach seiner Urteilskraft. Mit meiner Auffassung treffe ich die Wahrheit nicht besser als irgendwer anderer – aber auch nicht schlechter, glaube ich.«

Nach einer Weile fügte sie noch hinzu: »Ich bin nur eine Frau. Die Jünger haben mir zu schweigen befohlen, und hinfort werde ich in ihrer Gegenwart demütig schweigen. Aber dir möchte ich sagen, daß Jesus deshalb als Mensch zur Welt gekommen ist und sich dem Elend der Körperlichkeit unterworfen hat, um die Welt zu erlösen. Er wußte, was ihm bevorstand, und hat oft klar und deutlich davon gesprochen. Er wollte als Menschensohn und Sohn Gottes die Sünden der Welt auf sich nehmen, sich für viele opfern und dadurch einen neuen Bund schließen. Mein Herz ist glückselig, wenn ich an ihn denke.«

So, von hinreißender Begeisterung erfüllt, belehrte sie mich, und ich nahm ihre Worte in mich auf, mochte ich auch manches nicht verstehen. Dann sprachen wir von Alltagsdingen und einigten uns über das Hochzeitsgeschenk, daß ich Maria von Beeroth schicken wollte, wenn wir nach Tiberias kamen. Sobald Maria Magdalena sie unter die Haube gebracht hätte, was sie auf Grund ihrer Kenntnis der Braut möglichst rasch zu tun gedachte, wollte sie nochmals nach Jerusalem reisen, um sich zu vergewissern, ob den Jüngern nichts abging; sie wußten ja selbst nicht, wie lange sie dort bleiben müßten. Thomas war der einzige, der gesagt hatte: »Wir bleiben dort und warten die Erfüllung seiner Verheißung ab, und wenn es zwölf Jahre dauern sollte.«

Schließlich begleitete sie mich zur Haustür, und beim Abschied weinte Maria von Beeroth so bitter, daß ihre Augen aufschwollen; und auch Myrina weinte, bloß aus Freundschaft für Maria. Mich aber erfüllte die tröstliche Gewißheit, daß ich, was auch immer mir zustoßen mochte, jederzeit, wenn ich meinen Seelenfrieden nirgends sonst zu finden imstande war, hierher zu Maria Magdalena kommen konnte. Ich hatte nicht die Absicht, es zu tun. Aber schon das Bewußtsein, in der Not eine Zuflucht zu haben, ist wohltuend.

Myrina und ich wanderten schweigend durch Magdala und bogen in die Straße nach Tiberias ein. Wir fühlten uns nicht müde und brauchten deshalb kein Boot zu mieten, was leicht möglich gewesen wäre. Als ich unterwegs um mich schaute und die reine Seeluft einatmete, dachte ich mir, ich hätte zwar in dem fremden Galiläa nichts mehr zu verrichten, aber auch anderswohin zu kommen eilte nicht. So tat es wohl, einfach an dem glitzernden Gewässer dahinzuschlendern. Und ich war nicht allein, ich hatte Myrina an meiner Seite.

Im roten Abendlicht kamen wir nach Tiberias, und ich wollte, ohne mich in der Stadt aufzuhalten, schon Myrinas wegen gleich weiter zu den Thermen jenseits des Ortes. Aber auf dem Forum des Herodes Antipas prallte ein tief in Gedanken versunkener Mann mit mir zusammen, ehe ich Zeit hatte auszuweichen, und ich mußte mich, um nicht zu fallen, an seinem Arm festhalten; denn er war groß und stark. Er fuhr wie aus dem Schlafe auf und blickte mich an. Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, daß es Simon von Kyrene war.

»Friede sei mit dir!« grüßte ich befangen, in Sorge, er würde, wenn er mich erkannte, zornig werden. Aber er lächelte nur verlegen und antwortete: »Bist du es, Römer? Auch mit dir sei Friede!«

Ich ließ seinen Arm los, ging aber nicht weiter. Wir standen da und blickten einander an. Seit den Ereignissen in seinem Hause hatten wir uns nicht getroffen; mir schien, als wäre er in der kurzen, seither verstrichenen Zeit sehr gealtert. Seine Augen waren ganz trübe, und er hielt den Kopf beharrlich gesenkt. Es war, als freute ihn nichts mehr auf dieser Welt.

Ich hätte überhaupt kein Gespräch mit ihm beginnen müssen; aber mir kam in den Sinn, daß die Begegnung vielleicht nicht ganz zufällig sein mochte. So fragte ich fügsam: »Hast du mir verziehen, was bei dir zu Hause geschah? Ich fühle mich verantwortlich dafür, obwohl die Schuld, glaube ich, nicht ausschließlich mich trifft. Wenn du mir noch grollst, so vergib mir jetzt!«

Er entgegnete: »Ich zürne dir nicht. Was ich tue, verantworte ich schon selber. Ich habe dir ja sagen lassen, daß ich dir nicht böse bin.«

»Aber wohlgesinnt warst du mir auch nicht«, erwiderte ich. »Du wolltest nichts mit mir zu tun haben. Glaubst du jetzt schon, daß ich kein Zauberer bin? Was denkst du von den Dingen, die sich inzwischen zugetragen haben?«

Er blickte argwöhnisch um sich; doch zu dieser Tagesstunde war das Forum verlassen. Ich hob die Hand und rief: »Mißtraue mir nicht! Ich komme vom Berge, ebenso wie du. Was denkst du also darüber?«

Mit einem Stoßseufzer meinte er ausweichend: »Nun ja, es waren unser mehr als fünfhundert. Da ist es kein Wunder, daß ich dich in der Menge nicht sah. Aber wenn du dort warst, mußt du selbst wissen, wie mir ums Herz ist.«

Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Als ich erfuhr, daß Jesus vor uns nach Galiläa gegangen war, verließ ich Hals über Kopf Jerusalem. Viele andere taten das gleiche. Aber die Wartezeit war zermürbend, die Nachrichten widersprachen einander, und nicht alle glaubten, daß er wirklich den Jüngern am See erschienen war. Manche kehrten enttäuscht nach Jerusalem zurück. Doch ich habe im Leben Geduld gelernt; als Sklave lernt man sie. Übrigens hatte ich auch geschäftlich in Galiläa zu tun, und die Zeit war nicht verloren. Im Herzen hoffte ich schon, die Jünger hätten nur geflunkert. Mein vergebliches Warten beschwichtigte mich allmählich, und ich freute mich darauf, nach Jerusalem, zu meiner früheren Lebensführung, die mir zusagte, zurückkehren zu können. Ich wollte meinen beiden Söhnen das Beste bieten, was ich auf der Welt gefunden hatte: die Gläubigkeit Israels, die Kultur Griechenlands, den Frieden Roms und ein sorgsam angelegtes Vermögen. Aber dann erhielt ich die Kunde und wanderte zum Berg. Und dort sah ich Jesus.«

Seine Gesichtsmuskeln begannen zu zucken, und er konnte nur mit Mühe weiterreden. »Nun mußte ich daran glauben, daß er wirklich auferstanden ist. Ich mußte ihn als den Christus anerkennen. Und so bin ich gezwungen, jetzt alles wieder von vorn zu beginnen. Es gibt also auf Erden mehr, als die Augen sehen und die Hände tasten oder als Maße und Gewichte feststellen können. Diese Erkenntnis ist furchtbar. Ich könnte den Tag verfluchen, da ich Jesus traf und sein Kreuz auf den Rücken nahm. Er ist schuld daran, daß von dem, was ich für meine Söhne so umsichtig aufgebaut habe, nichts mehr Bestand hat.

Du fragst mich, was ich zu dem allen meine. Ich kann nur daran denken, was ich tun muß, um für sein Reich zu taugen und um auch meine jungen zu würdigen Gliedern dieses Reiches zu machen. Jesu Forderungen entsprechen in keiner Weise unserem Gerechtigkeitsbegriff; sie sind erbarmungslos für jemanden, der sich aus der Sklaverei zu Freiheit und Wohlstand emporgearbeitet hat. Aber jetzt, da ich mich von seiner Auferstehung überzeugt habe, muß ich seinen Forderungen Rechnung tragen. Ich hoffte, ihm wenigstens etwas abhandeln zu können, wie es unter uns Menschen bei jedem vernünftigen Geschäft üblich ist. Aber er ist nicht einfach ein Mensch. Als ich ihn auf dem Berge sah, wußte ich plötzlich, daß es bei ihm kein Feilschen gibt. Ich muß sein Sklave werden, bin ihm mit Haut und Haaren verfallen. Mir bleibt nichts anderes übrig. Nachher liegt es an ihm, ob er mich zum Freigelassenen machen will oder nicht. Darauf steht mir kein Einfluß zu. Über alles das habe ich so angestrengt nachgegrübelt, daß ich geradewegs in dich hineingerannt bin, Römer.«

»Aber«-, verwunderte ich mich, »hast du keine Bedenken, dich mir, einem Römer und Heiden, derart anzuvertrauen?«

Simon blickte mich überrascht an und erklärte: »Seit ich alles mit neuen Augen betrachte, kommt es mir undenkbar vor, daß vor Jesus ein Jude irgendwie besser sein sollte als ein Römer oder Grieche. Seine Sache allein ist, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden. Ich wäre von Sinnen, wenn ich mir ein Urteil darüber anmaßen wollte, wer zu den Seinen gehört und wer nicht. Auch darin hält er sich in keiner Weise an menschliche Gerechtigkeitsbegriffe. Nein, durch Grübeln werde ich aus ihm nicht klug. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sich ihre Seligkeit davon erhoffen, daß sie sich in die Wildnis zurückziehen, fern von allen anderen. Ich bin ein Realist. Mir gelten Taten mehr als Worte. Ich muß mein Dasein unter Menschen verbringen, seien es Juden oder Römer. Übrigens habe ich für mein eigenes Volk böse Vorahnungen, falls durch Brot und Wein tatsächlich ein neuer Bund geschlossen wurde. Jesus selbst soll über Jerusalem geweint haben. Sollte sich der Tempel wirklich als unfähig erweisen, jemanden zu retten, so werde ich vielleicht einer zum Bankrott verurteilten Gemeinschaft mein Eigentum entziehen und mit meinen Söhnen in einem anderen Lande Zuflucht nehmen. Aber das weiß ich noch nicht sicher.«

Er sprach sehr schroff, und seine Gedanken schienen immer wieder Haken zu schlagen. Neugierig fragte ich: »Hast du mit Jesus auf dem Berge gesprochen?«

Simon starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren, und stieß hervor: »Wie hätte ich wagen können, ihn anzusprechen? Genug, daß ich ihn sah!«

Verzagt erzählte ich ihm: »Die Sendboten wollen nichts mit mir zu tun haben. Petrus hat mir sogar verboten, von Jesus zu reden, weil ich Römer bin.«

Aber Simon nahm die Sache nicht so ernst. »Wenn diese Männer einmal meine Jahre und meine Lebenserfahrung haben, werden sie verständiger sein«, versicherte er mir. »Sie sind nur Menschen, und jeder Mensch hat seine Fehler. Aber bedächtige, einfache Leute wie sie werden in einer so verantwortungsvollen Lage weniger Unheil anrichten als wenige Ehrgeizlinge. Mir genügt es, wenn sie ihr Erbteil nicht völlig vertun. Weit werden wir ja nicht kommen, falls sie allein das Reich betreuen sollen. Aber es ist noch immer besser, als wenn Schriftgelehrte sich über das Erbe in die Haare geraten. Vielleicht werden die Sendboten an ihrer Aufgabe wachsen. Derlei ist schon vorgekommen.«

»Und woraus besteht eigentlich deiner Meinung nach dieses Erbe?« wagte ich zu fragen. »Sag es mir!«

Ohne es selbst zu merken, hatten wir begonnen, auf dem Forum mit langen Schritten hin und her zu gehen, wie Sophisten im Wortgefecht. Myrina hatte sich unterdessen auf den Mittelpunktstein der Stadt gesetzt, um ihren Füßen Ruhe zu gönnen. Plötzlich hielt Simon inne und warf mir einen finsteren Blick zu; der Arm, den er ausgestreckt hatte, fiel schlaff herab.

»Wüßte ich es nur selber!« klagte er gequält. »Während der Wartezeit habe ich viel von Jesu Botschaft gehört; aber je mehr ich erfuhr, desto inbrünstiger hoffte ich, alles sei nur das Gestammel eines verrückten Propheten. Übrigens hielten auch Jesu Mutter und seine Verwandten ihn für einen Sonderling und versuchten, ihn, nachdem er in Galiläa zu predigen angefangen hatte, wieder nach Hause zu bringen, allerdings vergebens. Er war den Rechtschaffenen gegenüber zu erbarmungslos und den Sündern gegenüber zu nachsichtig. Es gibt sehr urteilsfähige Leute, die der Meinung sind, er habe seine Wunder mit Hilfe Beelzebubs gewirkt – eines bösen Geistes, eines jener alten Götter, die, wie du vielleicht gehört hast, noch im Lande leben. Ich habe mir auch nicht alles genau eingeprägt, was Jesus gesagt haben soll; es scheint ja heute dies und morgen das gewesen zu sein. Sogar Leute, die ihm an genau dem gleichen Tage gelauscht haben, berichten ganz verschieden darüber. Du kannst dir vielleicht vorstellen, was für ein heilloser Schreck es für mich war, als ich ihn lebend vor mir sah, jenen Mann, dem ich selbst auf meinem Rücken das Kreuz zur Schädelstätte getragen hatte. Ich kann ihn nicht verleugnen, aber auch nicht verstehen.«

»Vergib uns unsere Schulden«, fuhr er nach einer kleinen Weile, die Handflächen aneinanderpressend, fort, »wie auch wir vergeben haben unseren Schuldigern. Das verstehe ich, obwohl es mir ganz gegen den Strich geht. Soll ich etwa auch dem Herodes Antipas nachsehen, was er mir schuldet? Jedesmal, wenn der Tetrarch Jerusalem besucht, kommt sein Kämmerer Chusa zu mir um Geld gelaufen. Ich rechne zwar ohnedies kaum damit, diese Beträge je zurückzubekommen; es handelt sich auch nicht um große Darlehnssummen, sondern eher um höflich verschleierte Bestechungsgelder, damit er mir bei gewissen Geschäften in Peräa und Galiläa keine Schwierigkeiten macht. Aber es wurmt mich, daß ich zum Fürsten gehen und, nicht nur mit den Lippen, sondern aus ganzem Herzen, seine Schulden für nichtig erklären soll. Dabei weiß ich, daß er Jesus vor der Kreuzigung verspottet hat.

Einigen armen Galiläern habe ich die Schulden gestrichen, statt, wie ich ursprünglich wollte, ihren Grundbesitz zu einem großen Landgut für meinen Sohn Rufus zu verschmelzen. Aber das sind Familienväter, die ohne eigenes Verschulden, durch die dreifachen Abgaben und die Heuschreckenplage, mit ihrer Darlehenstilgung in Rückstand gerieten. Ich erzähle dir das nicht, um damit zu prahlen; angeblich hat ja Jesus gesagt, bei einer Guttat dürfe die linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, geschweige denn, daß jemand anderer es erfährt. Aber rate mir! Wäre es nicht in jeder Beziehung vernünftiger, beim Tetrarchen so viel wie möglich an Außenständen einzutreiben und den Betrag unter die Armen zu verteilen, als ihm seine Schulden zu erlassen?«

Er stellte mir die Frage ernstlich, und ich dachte darüber nach. »Ich glaube, du zerbrichst dir zu sehr den Kopf über dein Vermögen und deine Außenstände«, erklärte ich behutsam. »Ich bin auch wohlhabend, mache mir aber keine übertriebenen Sorgen mehr um meinen Besitz. Vielleicht kommt das daher, daß mir mein Reichtum ohne eigenes Zutun und auf eine vielfach als unrühmlich betrachtete Art in den Schoß gefallen ist. Jedenfalls aber würde ich dir empfehlen, zu warten und nichts zu übereilen. Ich habe gehört, daß sogar die Sendboten sich darauf gefaßt machen, nötigenfalls zwölf Jahre in Jerusalem darauf zu harren, daß eine bestimmte Verheißung sich erfüllt und ihnen ein klareres Verständnis aller Dinge zuteil wird. Warum solltest du ihnen mit deinen Entschlüssen vorgreifen?«

»Warum? Weil ich ein harter, schlechter Mensch bin«, erwiderte Simon ohne Zögern, als hätte er diese Frage schon lange erwogen. »Ich habe es eilig, damit mir meine eigene Schuld, die Herzlosigkeit, verziehen wird.«

»Jetzt denkst du auf deine altgewohnte Art, als Kaufmann«, hielt ich ihm vor. »Du willst für das, was du bietest, einen Gegenwert empfangen. Ich bezweifle, daß Jesus von Nazareth jemandem etwas bloß deshalb gibt, weil es ihm gebührt. Er wurde, glaube ich, als Mensch in diese Welt geboren, um, da niemand sich selbst entsühnen kann, für die Sünden aller Menschen zu büßen. Das ist eine widersinnige Vorstellung. Aber, wie du selbst sagst, es gibt in seiner Lehre noch viele andere Dinge, die in den Augen der Weisen Torheit sind.«

Simon griff sich an die Stirn und seufzte tief auf. »Ich verstehe nicht, was du sagst. Ich bekomme nur immer stärkeres Kopfweh davon. Glaubst du wirklich, daß es sich um eine Art von Sklaven- und Kaufmannsüberheblichkeit handelt, wenn ich mir auf dem einzigen mir offenstehenden Wege die Vergebung meiner Sünden zu erkaufen trachte? Wer bist du, daß du mich belehren willst? Sagtest du nicht, man hätte dir verboten, von Jesus zu reden?«

Ich bereute bitter meine Unbedachtheit und bat: »Verzeih mir, Simon von Kyrene! Wer bin ich wirklich, daß ich dich belehren dürfte? Du hast mich zwar um Rat gefragt, aber ich hätte schweigen sollen. Von diesen Dingen verstehe ich ja bestimmt nicht mehr als du, wahrscheinlich sogar weniger, nachdem du älter und erfahrener bist. Suche also sein Reich auf deinem Wege, und ich will es auf meinem Wege tun.«

Wie geistesabwesend streckte Simon seine schwielige Hand aus und streichelte der noch immer auf dem Stein sitzenden Myrina die Wange. »Hätte ich doch eine Tochter!« klagte er. »Immer habe ich mir eine Tochter gewünscht. Vielleicht wäre ich verträglicher geworden, wenn ich außer meinen Buben noch ein Mädel hätte.«

Inzwischen war die Dunkelheit hereingebrochen, und vor den Häusern wurden Lampen angezündet. »Wieder haben wir viel miteinander gesprochen«, sagte Simon, »und je länger wir sprachen, desto unbehaglicher wurde mir zumute.« Dann starrte er verwundert auf seine Hand und fügte hinzu: »Kaum aber habe ich die Wange deiner Tochter berührt, so hat mein Kopfweh aufgehört, und ich fühle mich zufrieden und wohl!«

»Sie ist nicht meine Tochter. So alt bin ich noch nicht«, erklärte ich. »Es ist meine Schwester Myrina. Sie versteht deine Sprache nicht.«

»Sie muß mit dir auf dem Berge gewesen sein«, meinte Simon und starrte noch immer wie im Halbschlaf auf seine Hand. »Ich habe das gespürt, sobald ich sie berührte. Als du mit mir zusammenstießest und meinen Arm packtest, habe ich nichts dergleichen empfunden. Von ihr ist Friede auf mich herübergeströmt, und jetzt werde ich mich nicht länger um unnötige Dinge sorgen. Unsere Begegnung hat sich gefügt, nicht, damit ich mir deine Spitzfindigkeiten anhöre, sondern, damit ich die Wangen deiner Schwester berühre.«

Das war unbillig gesprochen, dachte ich mir. Aber ich wollte seinen Seelenfrieden, wenn er ihn tatsächlich durch die Berührung gefunden hatte, nicht mit Einwendungen stören. Indes fühlte ich mich plötzlich sehr müde; das Gespräch schien mich mehr erschöpft zu haben als die lange Tagereise. Ich setzte deshalb meinen Weg zu den Thermen fort. Simon begleitete uns, Myrina an der Hand haltend. So schritten wir alle drei, Hand in Hand, Myrina in der Mitte. Als wir zu einem beleuchteten Gasthof kamen, bestand Simon darauf, uns ein Mahl zu geben; es war nämlich eines jener Speisehäuser, wo freisinnige Juden und Heiden gemeinsam aus der gleichen Schüssel essen konnten.

So brachen wir miteinander das Brot, aßen Fisch und Salat, und niemand nahm Anstoß daran, daß Myrina mit uns teilte. Simon ließ sogar Wein für uns mischen, während er selbst Wasser trank. Myrinas Augen begannen zu glänzen, ihre schmalen Wangen röteten sich, und auch ich spürte, wie die guten Speisen und der Wein mich wohlig wärmten. Während des Mahles sprach Simon mit ganz anderer Stimme als bisher, viel umgänglicher. Um uns zu unterhalten, erzählte er uns in seinem kyrenäischen Griechisch eine Geschichte.

»Am anderen Ende der Welt liegt ein großes Reich, aus dem die Seide nach Rom kommt. So weit ist es dorthin, daß die Seidenstraße durch viele Länder verläuft, und es dauert zwei Jahre, bis die Ware Tyros erreicht. Im römischen Reich ist die Erde rot; aber im Seidenreich ist sie gelb, und auch die Einwohner haben gelbe Haut. Das ist kein Märchen. Ich selbst habe in Tyros einen gelbhäutigen Mann gesehen, und seine Hautfarbe war nicht Folge einer Krankheit. Der Mann hat mir beteuert, in seiner Heimat seien alle Leute am ganzen Körper gelb; sein Land sei mächtiger als Rom und habe eine so hohe Gesittung, daß die Griechen dagegen Barbaren seien. Ohne Zweifel übertrieb er die Vorzüge seines Vaterlandes, aus dem er hatte fliehen müssen. Er erzählte mir – und das gleiche habe ich auch von anderen weitgereisten Männern gehört –, daß dort vor einiger Zeit ein neuer König zur Macht gekommen sei, der den früheren Herrscher abgesetzt und sich Sohn des Himmels genannt habe. Er soll die bestehende Ordnung umgestürzt und den Boden zum gemeinsamen Eigentum aller erklärt haben. Seither durfte niemand mehr Land besitzen. Vielmehr mußten alle den Boden gemeinschaftlich bebauen, und der König sorgte angeblich dafür, daß jeder einzelne seinen Lebensunterhalt fand. Und das alles ist noch nicht sehr lange her. Der König hat nämlich zwanzig Jahre lang geherrscht, und erst vor wenigen Jahren drangen nach Tyros Nachrichten, wonach die Bauern sich erhoben und den König durch einen Aufruhr absetzten. Der neue Herrscher soll die ursprüngliche Ordnung wiederhergestellt haben. Der Flüchtling in Tyros rüstete sich gerade für die Rückkehr in seine Heimat, wo er vor der Zeit des verrückten Königs eine hohe Stellung eingenommen hatte.«

Nach einer kleinen Pause fuhr Simon fort: »Natürlich ist vieles nur Fabelei. Zum Beispiel hat der gelbe Mann erzählt, in seinem Lande werde die Seide von Würmern gesponnen und die Menschen hätten nichts zu tun, als die Fäden einzusammeln und zu Stoffen zu verweben. Aber über diesen Sohn des Himmels und seine tollen Neuerungen habe ich viel nachgedacht. So etwas könnte sich ja auch im römischen Reich zutragen, wo mehr und mehr Land in den Händen einzelner vereinigt wird, so daß schließlich alle anderen zu Taglöhnern oder zu Sklaven werden müssen. Für die große Mehrheit der Bevölkerung wäre es dann ganz gleichgültig, ob das Land im gemeinsamen Besitz aller stünde und von Staats wegen bewirtschaftet würde oder aber in den Händen einiger weniger bliebe. Und wenn ich an Jesus von Nazareth denke, fürchte ich manchmal, er könnte, falls er auf Erden König würde, eine ähnliche Ordnung einführen, bei der niemand etwas für sich besitzt, sondern alles gemeinsames Eigentum ist. Nur jemand, der wie ich Sklave war, kann ganz ermessen, wie gefährlich, ja wie unmöglich etwas Derartiges ist. Selbst ein Sklave muß, um leben zu können, etwas haben, was er sein eigen nennen kann, und sei es auch nur eine Kleinigkeit. In Kyrene war oft ein Sklave sogar auf seine Fußeisen stolz, weil sie größer und schwerer waren als die anderer. Jedenfalls ist es eine Beruhigung für mich, daß Jesu Reich nicht von dieser Welt ist. Wenn er solche Neuerungen vorgehabt hätte, wäre er als Kaiser von Rom und nicht als König der Juden zur Welt gekommen.«

Ich warnte: »Ist es klug, in einem öffentlichen Speisehaus zu politisieren? Im übrigen kam nach meiner Auffassung schon mit Jesu Geburt sein Reich auf die Erde und weilt noch bei uns, allerdings unsichtbar. Deshalb vermag kein Herrscher sich von außenher dieses Reiches zu bemächtigen. Man kann Jesu Anhänger verfolgen, nicht aber sein Reich stürzen, da es in uns ist – falls du verstehst, was ich meine; ich begreife es nämlich selber nicht recht.«

Traurig schüttelte Simon den Kopf und sagte: »Bist du aber unerfahren! Und Menschenkenntnis hast du auch wenig! Das Reich jenes Himmelssohnes ging nach zwanzig Jahren unter, obwohl es faßbare Wirklichkeit war. Wie soll dann ein unsichtbares Reich sich halten, wenn der Herrscher nicht mehr da ist? Glaube mir, sobald wir Augenzeugen seines Auftretens tot sind, wird sein Andenken auf Erden uns nicht um viele Jahre überleben. Wie sollte jemals ein Mensch, der sich nicht mit eigenen Augen von Jesu Gotteskindschaft überzeugt hat, zum Glauben an ein unsichtbares Reich bekehrt werden? Ein Jahrhundert lang hätte sich etwas von ihm erhalten können, wenn seine Lehre vernünftig und der menschlichen Natur gemäß wäre. Aber sie schlägt doch allem ins Gesicht, was je bestanden hat!«

Seine einleuchtenden Darlegungen betrübten mich. »Also glaubst du nicht, daß die Welt sich durch ihn und kraft seines Namens ändern wird?« fragte ich.

»Nein, wirklich nicht«, entgegnete Simon rundheraus. »Nein. Diese Welt und die menschliche Natur kann jetzt nicht einmal Gott mehr ändern.«

Er hielt inne und fuhr dann fort: »Nach der Speisung der Fünftausend haben doch sogar diese Galiläer vorgehabt, Jesus zu entführen und zum König zu krönen. Wenn selbst sie ihn so völlig mißverstanden, wie sollen jene ihn begreifen, die ihn überhaupt nie gesehen haben? Denke nur daran, wie anfechtbar, wie gefährlich seine Lehre ist! Er hat Sünder um sich versammelt. Noch am Kreuze hat er, wie man mir erzählte, einem der Schacher neben ihm verheißen, er werde in sein Reich eingehen. Mit einem Worte, seiner Lehre kann nur der Pöbel, der nichts anderes zu erhoffen hat, Gehör schenken. Die Machthaber werden bestimmt alles tun, damit eine solche Lehre sich nicht zu sehr ausbreitet.«

Myrina hob lächelnd die Hand und streichelte Simons bärtige Wange. »Weshalb machst du dir so viele Sorge um die Verbreitung seiner Lehre?« fragte sie. »Diese Dinge brauchen dich nicht zu bekümmern, ebensowenig wie meinen Bruder Marcus oder mich. Freuen wir uns doch lieber über ihn und darüber, daß wir ihn auf dem Berge sahen! Er ist ein tröstliches Licht, und jetzt, nachdem ich ihn erblickt habe, werde ich mich nie mehr ganz schutzlos fühlen. Du aber redest immer nur von der bösen Finsternis.«

Die Griechin hatte bisher derart bescheiden und schweigsam dagesessen, daß wir beide über ihre Worte so erstaunten, als hätte ein lebloser Tisch plötzlich zu sprechen begonnen. Frohsinn kehrte von neuem in uns ein, und als wir in ihr strahlendes Gesicht blickten, schämten wir uns unserer törichten Reden. Wieder wohnte das Reich in uns, und mein Herz strömte über vor Liebe zu Myrina, und auch zu Simon von Kyrene. Lange saßen wir schweigend und blickten uns bloß gegenseitig an, ohne uns von dem Lärm der anderen Gäste stören zu lassen. Simon bezahlte freigebig die Zeche und begleitete uns noch bis zu dem griechischen Gasthof. Dort verabschiedeten wir uns von ihm.

Fast bis Mittag schliefen Myrina und ich in unserem Zimmer hinter zugezogenen Vorhängen, so erschöpft waren wir von der Wanderung und allen unseren Erlebnissen. Auch während des Schlafes schwand unser Glücksgefühl nicht; es war noch da, als wir die Augen wieder aufschlugen, und jeder von uns beiden freute sich, den anderen erwachen zu sehen.

Mein Frohsinn hielt an, bis mir Claudia Frocula einfiel und meine Zusage, ihr zu berichten, was sich auf dem Berge ereignet hatte. Myrina fragte, was mich bedrückte. Als ich ihr von der Gattin des Statthalters und ihrer Krankheit erzählte, schlug sie treuherzig vor, wir sollten sie gemeinsam aufsuchen, um ihr die frohe Botschaft zu überbringen und zu bezeugen.

Aber vorerst hatte ich das Bedürfnis, die Spuren der Strapazen einer Wanderfahrt zu tilgen, die schon mit meiner Ankunft in Jerusalem begonnen zu haben schien. Mein jüdischer Mantel roch nach Schweiß, und mein Untergewand war schmutzig. Ich wollte frische Kleider anlegen und mir den Bart abnehmen lassen, da ich jetzt keine Ursache mehr sah, die Tatsache, daß ich Römer bin, zu verbergen. So ging ich in die Thermen und ließ mich rasieren und frisieren und mir die Körperhaare auszupfen. Nachdem man mir die Reisemüdigkeit aus den Gliedern massiert und meinen Leib mit Salben eingerieben hatte, zog ich neue Kleider an und schenkte die alten dem Badewärter. Jetzt, da ich wieder so aussah wie früher, schämte ich mich innerlich meines Bemühens, mich bei den Juden durch Bart und Mantelquasten in Gunst zu setzen. Als ich in mein Zimmer zurückkam, nahm ich sogar meinen Goldring aus der Börse und streifte ihn mir über den Daumen.

Auch Myrina kam aus dem Bade zurück; sie hatte sich, wie ich feststellte, ebenfalls das Haar behandeln und das Gesicht verschönern lassen. Nun trug sie ein weißes, mit Goldfäden durchwirktes Kleid. Wir blickten einander lange an, als kennten wir uns gegenseitig nicht. Ich hätte mich darüber freuen müssen, daß ich mich nun ihrer vor den reichen Kurgästen und vor Claudia Procula nicht zu schämen brauchte. Aber ich wurde ihrer Schönheit nicht froh. Ihr Gewand und ihr bemaltes Gesicht machten sie mir fremd. Mir wurde bewußt, daß ich lieber in ihr das Mädchen mit dem mageren Gesicht und den schlanken Gliedern sah, das, mit einem schmutzigen Mantel zugedeckt, auf einem Berg in Galiläa in meinen Armen geschlafen hatte.

Doch Myrina hatte sich bestimmt mir zuliebe besonders schön gemacht; darum durfte ich sie nicht bekritteln und ihr auch nicht gestehen, daß mir ihre Schauspielertunika und die abgetragenen Bühnensandalen lieber waren als feine Schuhe und Goldstickereien. Aber Myrina sah mich befremdet an und sagte: »So habe ich dich auf dem Schiff nach Joppe kennengelernt. So hast du ausgesehen, als du mir die schwere Silbermünze aus deiner Börse gabst. Natürlich tust du recht daran, mir ins Gedächtnis zu rufen, wer du bist und wer ich bin. Es war gedankenlos von mir, dir vorzuschlagen, du solltest mich zur Gattin des Prokurators mitnehmen.«

Ich erinnerte sie an die Freude, mit der wir beide unser Erwachen gesehen hatten, und fügte' hinzu: »Du mußt begreifen, daß ich des schweißigen Wollmantels und meines Bartes überdrüssig war. Ich wollte mich wieder sauber fühlen. Wenn die rechtgläubigen Juden jetzt sogar meinem Schatten ausweichen, kann umgekehrt eines Tages ihren Nachkommen das gleiche widerfahren, und vielleicht werden dann die Völker der Erde ausspucken, sobald sie nur einen Juden erblicken. Ich dachte, du würdest froh sein, mich so zu sehen.«

Aber zwischen uns war eine Abkühlung eingetreten, und plötzlich überkam mich der Gedanke, es könnte wirklich unpassend sein, Myrina zu Claudia Procula mitzunehmen. Doch im Herzen wußte ich, daß ein solcher Gedanke Verrat an ihr war, ein Verrat, den ich ihr unter keinen Umständen antun wollte. Sie ließ sich lange zureden, ehe sie sich einverstanden erklärte mitzukommen, und im gleichen Augenblick erschien schon ein Bedienter mit der Nachricht, die Gattin des Statthalters sei bereit, mich zu empfangen.

Als wir uns dem Sommerpalast näherten, bemerkte ich, daß die Kurgäste nicht mehr neugierig das Gebäude umschwärmten und in den Garten zu spähen versuchten; auch von der rotmanteligen Ehrengarde des Herodes Antipas war nichts zu sehen. Ein syrischer Legionär aus Claudias eigenem Gefolge winkte lässig, zum Zeichen, daß ich eintreten könne. Alles zeigte, daß der Aufenthalt der Prokuratorsgattin in Tiberias schon zum Alltag gehörte; sie war nur mehr ein vornehmer Kurgast in der Menge der anderen Badegäste.

Claudia Procula ruhte in einem kühlen Zimmer hinter einem flatternden Vorhang. Sie hatte keine Mühe darauf verschwendet, sich für mich schön zu machen. Die Krähenfüße an ihren Augenwinkeln und die Unmutsfalten um ihren Mund verrieten mir, wie sehr sie gealtert war. Aber sie gab sich ruhig und aufgeschlossen. Sie zuckte nicht mehr bei jeder Kleinigkeit zusammen, und ihre Hände hatten aufgehört zu zittern. Aufmerksam musterte sie meine Begleiterin vom Kopf bis zum Fuße und hob die Augen mit einem fragenden Blick zu mir.

»Das ist meine Schwester Myrina«, stellte ich vor. »Sie war mit mir auf dem Berge. Deshalb habe ich sie mitgebracht, Claudia. So können wir drei allein, ohne Zuhörer, miteinander reden.«

Nach kurzem Zögern entließ Claudia Procula ihre Gesellschafterin, lud uns aber nicht zum Sitzen ein. Während sie immer wieder Myrina musterte, begann sie sehr lebhaft auf mich einzureden:

»Du weißt nicht, was du versäumt hast. Wenn du nach dem Rennen mit mir zum Bankett des Tetrarchen gekommen wärest, hättest du eine ganze Menge über die Lebensart dieses Landes erfahren. Ich muß zugeben, daß Herodias beträchtlich besser ist als ihr Ruf und selber an der Peinlichkeit ihrer Stellung leidet. Sie hat mir ein dreireihiges persisches Halsband geschenkt, und wir sprachen ganz offen miteinander über alles. Ihre Tochter Salome ist freilich ein schamloses Weibsstück und wickelt den Herodes um den kleinen Finger; aber das kommt nur ihrer Mutter zugute. Herodias ist nicht mehr die Jüngste. Und offenbar schrecken die Nachkommen Herodes' des Großen vor keiner Form von Blutschande zurück. Das scheint so eine Art Überlieferung bei ihnen zu sein, und wir Römer dürfen uns nicht zu Sittenrichtern über die Bräuche der Orientalen aufwerfen. Diese Leute können immerhin, wenn sie wollen, ganz bezaubernd sein.

Jedenfalls ist Herodias eine Persönlichkeit, und ihr Endziel scheint es zu sein, dem Gatten die Königswürde zu verschaffen. Auch darüber haben wir gesprochen. Für Pontius Pilatus ist es ja lebenswichtig, daß Herodes nicht, aus purem Mißmut, Brandbriefe an den Kaiser Tiberius richtet. Und Herodias ihrerseits versteht vollkommen, daß der Kaiser jetzt nur mehr ein kranker alter Mann ist. Sejanus stützt meinen Gatten, und ihm haben wir die Prokuratorstelle zu verdanken. Bei der gegenwärtigen Sachlage liegt es ebensosehr im Interesse des Herodes wie des Pilatus, gute gegenseitige Beziehungen zu pflegen. Eine Hand wäscht die andere. Das wurde zwischen Herodias und mir klargestellt. So war mein hiesiger Kuraufenthalt auch in dieser Beziehung von Nutzen, und ich gedenke, bald nach Cäsarea zurückzukehren.«

Eigentlich verriet ich damit keine Geheimnisse; all das war für jeden denkenden Menschen offenkundig. Der Kaiser ist ein gebrechlicher Greis, und der bloße Name Sejanus weckt solche Furcht, daß alle vernünftigen Leute im römischen Reich sich darauf beschränken, schweigend abzuwarten, wann er sich das Volkstribunat und damit die entscheidende Machtposition sichert.

Ich war der Meinung gewesen, daß Claudia mit ihren ständigen Seitenblicken auf Myrina nur herausbekommen wollte, ob meine Begleiterin die lateinische Sprache verstand; aber plötzlich zeigte Claudia erregt mit dem Finger auf sie und rief: »Bei der Hekate und ihren schwarzen Hunden – dieses Mädchen ist doch eine Doppelgängerin Tullias!«

Verdutzt starrte ich Myrina an, und einen Moment lang schien sie mich tatsächlich an Dich, Tullia, zu erinnern. Im gleichen Augenblick wußte ich, daß ich Dir nie einen meiner Briefe schicken würde, und mir ist nun auch klar, daß ich Dich nie mehr zu treffen wünsche. Denn solange ich Dich in Myrinas Gestalt vor mir stehen sah, fühlte ich nur Abneigung und Bangigkeit. Aber der Zauber löste sich, und als ich jeden Zug in Myrinas Gesicht prüfte, stellte ich fest, daß sie Dir in keiner Weise gleicht.

Trotzdem fuhr Claudia Procula boshaft fort: »In der Tat! Wären ihre Augen dunkel und leuchtend, wäre ihre Nase feiner geschnitten, ihr Haar schwarz und ihr Mund voll, so hätte sie wirklich einige Anklänge an Tullia.«

Ich wußte nicht recht, ob sie vielleicht nur Myrina necken wollte. Aber anscheinend meinte sie es im Ernst, und ich wunderte mich darüber, was sie an Dich, Tullia, erinnern konnte, da Du nicht die geringste Ähnlichkeit mit Myrina hast. Ärgerlich rief ich: »Laß Myrina in Frieden! Sie weiß schon selbst, daß sie nicht schön ist. Und an Tullia mag ich nicht denken. Sprechen wir griechisch! Willst du also erfahren, was auf dem Berg geschehen ist, oder nicht?«

»Natürlich will ich es erfahren«, entsann sich Claudia. »Nun, was gab es dort? Hast du Jesus gesehen?«

»Wir sahen ihn beide«, erklärte ich. »Er ist von den Toten auferstanden und lebt.«

Auch Myrina bestätigte stockend: »Ja, ja, er lebt.«

Nun stellte Claudia Procula eine merkwürdige Frage: »Woher weißt du, daß es wirklich Jesus von Nazareth war?«

Daran hatte ich nicht gedacht. Für einen Augenblick verlor ich die Fassung. Dann erwiderte ich: »Natürlich war er es. Wer hätte es sonst sein sollen? Mehr als fünfhundert Menschen haben ihn erkannt.« Ich mußte lachen. »Ich sah ihn selbst; und sein Blick hat mich getroffen. Das genügt mir. Er ist kein gewöhnlicher Mensch.«

Und Myrina ergänzte: »Kein Mensch kann einen so anblicken.«

Claudia musterte uns scharf und verhörte uns wie ein Untersuchungsrichter: »Ihr saht ihn bei Nacht. War es nicht mondlos und sehr dunkel?«

»Dunkel war es«, gab ich zu. »Aber ich sah ihn deutlich genug. Ein Irrtum ist ausgeschlossen.«

Claudia Procula hob die Hände und sagte: »Nein, ich zweifle natürlich nicht daran, daß er es war. Aber der Leibarzt des Herodes, der mich weiter behandelt und von Zeit zu Zeit aufsucht, hat mir, ebenso wie auch Herodias selbst, im Vertrauen mitgeteilt, in Galiläa sei ein merkwürdiger Mann umhergewandert, den viele für Jesus hielten. Doch die Berichte darüber widersprächen einander, und niemand könne sein Aussehen genau beschreiben. Nach der Ansicht verschiedener Höflinge soll es sich um einen Verrückten oder Besessenen handeln, der sich absichtlich Hände und Füße verwundet hat. Andere wieder behaupten, seine Jünger hätten, nachdem sie den Leichnam aus dem Grabe stahlen, ihre Machenschaften fortgeführt, indem sie jemanden dazu verleiteten, Jesu Rolle zu spielen.«

Als Claudia meinen Blick sah, fügte sie entschuldigend hinzu: »Ich wiederhole nur, was ich gehört habe. Ich sage nicht, daß es meine Meinung ist. Aber es bestehen sehr viele Möglichkeiten. Der Arzt hat die Angelegenheit vollkommen sachlich mit anderen Gelehrten erörtert. Da gibt es zum Beispiel in der Wüste beim Salzmeer eine jüdische Sekte, deren Mitglieder in einem abgeschiedenen Hause leben und durch Beten, Fasten, Kasteiungen, gemeinsame Mähler und die Taufe so heilig wurden, daß sie nicht mehr gewöhnliche Menschen sind. Ihre weißen Kleider sollen im Finstern leuchten. Sie haben geheime Anhänger in Jerusalem und anderswo. Herodes der Große hat sie für so gefährlich erachtet, daß er sie verfolgte. Sie mußten nach Damaskus fliehen und kehrten erst nach seinem Tode in die Wüste zurück. Man weiß nicht viel von ihnen, weil sie keine Fremden zulassen; aber es mag sein, daß sie – oder zumindest die heiligsten unter ihnen – mehr wissen als andere Menschen. Bei ihnen werden verschiedene Grade der Heiligkeit unterschieden.

Gestern nun hat der Leibarzt, nachdem er mit anderen Gelehrten gesprochen hatte, auf die Möglichkeit hingewiesen, diese Wüstensekte könnte aus irgendwelchen Gründen Jesu Tätigkeit genau beobachtet und ihn, vielleicht sogar ohne sein Wissen, beschützt haben. Besonders auffällig ist ja, daß es zwei Mitglieder des Hohen Rates waren, die Jesus nach der Kreuzigung ins Grab legten. Maria Magdalena hat in der Gruft im Dämmerlicht eine leuchtend weiße Gestalt gesehen und sie für einen Engel gehalten. Jesu Jünger sind schlichte Leute und mögen zu verschreckt gewesen sein, um seinen Leichnam zu stehlen; aber für die Wüstenheiligen war das nicht schwierig. Vielleicht haben sie durch Magie den Körper wiederbelebt. Oder aber es spielt einer von ihnen unter dem einfachen Volk von Galiläa Jesu Rolle. Was sie dazu veranlassen mag, das Volk an die Auferstehung des Gekreuzigten glauben zu machen, ist schwer zu sagen. Unter Umständen könnten sie ein bestimmtes Interesse daran haben, das Ansehen des Tempels zu untergraben. Aber, wie der Arzt sagte, wer politisch zu denken gewohnt ist, wird alles politisch erklären wollen. Sie mögen ebensogut geheime religiöse Beweggründe haben. Jedenfalls sind sie zu klug, um die Täuschung endlos fortzusetzen. Mit dieser Erscheinung – oder was immer es gewesen sein mag – vor den zuverlässigsten Anhängern des Nazareners im Nachtdunkel auf dem Berge soll, soviel ich erfahren habe, die ganze Sache ein Ende finden.«

Da Claudia merkte, mit welcher Bestürzung ich diesen Deutungsversuchen folgte, hob sie nochmals die Hände und sagte: »Ich glaube das alles nicht. Ich gebe nur wieder, was andere mir hinterbracht haben. Seine eigenen vertrautesten Jünger können ihn bestimmt nicht verkannt haben, auch im Dunkel nicht – außer, sie hatten selbst bei der Täuschung die Hand im Spiele. Sag mir übrigens eines: Hast du zu ihm von mir gesprochen?«

Verlegen erwiderte ich: »Ich kann es dir nicht auf verständliche Art erklären; doch ich glaube, ich hätte auch, wenn ich dazu willens gewesen wäre, ihm gegenüber nichts von dir erwähnen können. Aber es kam mir nicht einmal in den Sinn; denn als ich Jesus sah, schwanden alle Gedanken aus meinem Kopf.«

Zu meiner Überraschung machte Claudia mir keine Vorwürfe. Im Gegenteil, sie sagte mit einer gewissen Genugtuung: »Johanna hat mir genau das gleiche erzählt. Und sie hat am Morgen von einer Stelle, auf der ihrer Erinnerung nach Jesus gestanden hatte, ein wenig Erde genommen, in ein Tuch gewickelt und mir gebracht. Diese Erde sollte ich in die Hand nehmen oder nachts auf die Stirn legen, um vielleicht Heilung zu finden. Aber derlei Dinge brauche ich nicht mehr.«

Sie warf mir einen rätselhaften Blick zu und erklärte zu meiner maßlosen Verblüffung: »Du mußt nämlich wissen, ich war selbst auf dem Berg, und Jesu hat mich geheilt.«

Als sie meine Verdutztheit sah, brach sie in fröhliches Lachen aus, klatschte in die Hände und rief: »Da staunst du, was? Setz dich neben mich, Marcus! Und du Mädchen, nimm auch Platz, wo du magst! Nein, ich will damit nicht sagen, daß ich körperlich dort war. Aber ich hatte in dieser Nacht einen wunderbarerf Traum, den ersten guten seit langer Zeit. Du weißt, ich bin eine empfindsame, leicht beeinflußbare Frau. Ich träume oft, daß man mir ins Gesicht schlägt, mich kneift oder an den Haaren zieht. Das alles spüre ich leibhaft, als Wirklichkeit, und kann trotz aller Anstrengungen keinen Finger rühren, bis es mir schließlich gelingt, einen Schrei auszustoßen. Dann erwache ich von dem eigenen Kreischen, in Schweiß gebadet und so verängstigt, daß ich nicht mehr einzuschlafen wage.«

Nach einer kleinen Pause fuhr sie in ernstem Töne fort: »Ja, also, wir sprachen vom Berge. An ihn habe ich in den letzten Tagen sehr viel gedacht, und so ist es nicht verwunderlich, daß mich – empfindsam wie ich bin – in dieser Nacht der Traum dorthin versetzt hat. Es war so finster, daß ich die vielen reglosen Gestalten, die wartend um mich her auf dem Boden knieten, mehr spürte als sah. Und im Traum hatte ich nicht die geringste Furcht. Dann stand plötzlich eine leuchtende Erscheinung vor mir, und ich wagte nicht, den Blick zu heben – keineswegs aus Angst, sondern aus dem starken Gefühl, es sei besser, der Lichtgestalt nicht ins Antlitz zu schauen. Die Erscheinung sprach zu mir in gütigem Töne und fragte: ›Claudia Procula, hörst du meine Stimme?‹ Ich antwortete: ›Ich höre deine Stimme.‹ Die Gestalt sprach: ›Ich bin Jesus von Nazareth, der Judenkönig, den dein Gatte Pontius Pilatus in Jerusalem kreuzigen ließ.‹ Ich erwiderte: ›Ja, der bist du.‹ Dann sagte Jesus etwas von Lämmern, was ich, in der Schafzucht unbewandert, nicht verstand und vergessen habe. Aber es klang wie Tadel, als er schließlich erklärte: ›Ich bin die Tür für die Schafe. Ich lasse meine Lämmer nicht von Dieben und Räubern töten.‹ Ich wußte sofort, daß er mit den Dieben und Räubern auf Pontius Pilatus anspielte und erklärte rasch: ›Er wird bestimmt deine Lämmer nicht mehr verfolgen. Und auch dir hätte er nichts zuleide getan, wäre er nicht durch politische Erwägungen dazu gezwungen worden.‹

Aber er achtete nicht auf meine Erklärungen; und so nahm ich an, die ganze Sache sei für ihn völlig belanglos geworden und er hegte keinen Groll gegen Pilatus. Er sprach weiter über Schafe und sagte: ›Ich habe auch noch andere Lämmer.‹ Da ich nicht wußte, was ich antworten sollte, bemerkte ich, um freundlich zu sein: ›Ich bin überzeugt, daß du ein guter Hirte bist.‹ Diese Worte schienen ihn zu freuen; denn er entgegnete gleich: ›Du sagst es. Ich bin der gute Hirte. Ein guter Hirte gibt das Leben hin für seine Schafe.‹ Im Traum kamen mir fast die Tränen, und es drängte mich, ihn zu fragen, ob auch ich in seine Herde aufgenommen werden könnte. Doch ich wagte die Frage nicht. Ich fühlte nur, wie er mir die Hand auf den Kopf legte. Und davon erwachte ich, spürte aber auch nach dem Erwachen noch die Hand auf dem Kopfe. Es war ein schöner Traum – der schönste, den ich je gehabt habe. Als ich ihn mir so eingeprägt hatte, daß ich nichts davon vergessen konnte, schlummerte ich wieder ein und schlief lange. Seitdem habe ich keine Schreckträume mehr. Ich verstehe es so: Jesus hat mich geheilt, unter der Bedingung, daß seine Anhänger nicht verfolgt werden.«

Claudia Procula kicherte wie ein Backfisch und hielt sich dann beschämt die Hand an den Mund. »Diese Bedingung ist leicht zu erfüllen«, meinte sie. »Pontius hat keine Veranlassung, die Jünger des Nazareners zu verfolgen. Im Gegenteil. Wenn aus ihnen eine Partei wird, so führt das zu einer weiteren Zersplitterung unter den Juden, und das ist Wasser auf die Mühlen der Römer. Träume sind Schäume, sagt man; und wenn Jesus zu mir von Lämmern geredet hat, so wohl deshalb, weil ich gehört habe, daß er bei seinen Unterweisungen oft dieses Gleichnis verwendete. Immerhin war es ein besonders lebhafter Traum, und ich hatte ihn zur gleichen Zeit, als du und dieses Mädchen Jesus auf dem Berge sahen. Und vor allem bin ich dadurch von meinen nächtlichen Angstzuständen geheilt worden.«

»Natürlich«, fuhr sie nach einer Weile fort, »behauptet der Leibarzt des Herodes, die Genesung sei auf die Schwefelbäder und auf seine Behandlung zurückzuführen. Ich mag ihn selbstverständlich nicht kränken, und er bekommt die üblichen Geschenke. Dennoch glaube ich – du kannst mich auslachen, wenn du willst –, daß Jesus von Nazareth sich meiner erbarmt und mich durch das Traumbild geheilt hat, weil ich so oft an ihn gedacht und so viele böse Träume seinetwegen hatte.«

Dann fügte sie triumphierend hinzu: »Es mag also fraglich bleiben, wen ihr auf dem Berge gesehen habt; ich habe jedenfalls in meinem Traum Jesus von Nazareth erblickt. Allerdings ist Johanna davon überzeugt, daß sie auf dem Berge wirklich Jesus sah, und ich bezweifle es nicht.«

Ich überdachte Claudia Proculas Bericht. Plötzlich begann ich vor Freude zu zittern und fragte ungestüm: »Sagte er wirklich, er habe auch andere Lämmer? Dann hat er ja auch für sie sein Leben hingegeben! Hast du gehört, Myrina? Dann sind wir nicht aus seiner Gemeinschaft ausgeschlossen!«

Claudia Procula brach in Lachen aus und rief: »Nein, nein, diese Lämmerfabelei geht entschieden zu weit! Ich kenne Jesus und glaube ziemlich fest daran, daß er von den Toten auferstanden und der Sohn Gottes ist. Johanna hat mich unterwiesen, so daß ich im Notfall beten kann. Und einige seiner Gebote gedenke ich zu befolgen, soweit ich es insgeheim und ohne mir in meiner Stellung etwas zu vergeben, tun kann. Dem Genius Cäsars muß ich auf jeden Fall opfern, auch wenn ich mich um die anderen Götter Roms nicht mehr schere. Aber das heikelste Problem bei dem allen ist die Frage, wieviel ich meinem Gatten sagen soll. Er ist ein Tatsachenmensch, hat Rechtswissenschaften studiert und hält nicht viel von Wundern.«

»Ich meine«, sagte ich zögernd, »du tätest gut, ihm so wenig wie möglich über Jesus zu erzählen. Diese ganze Angelegenheit ist ein rotes Tuch für ihn, weil sein Gerechtigkeitssinn verletzt wurde. Er wird sich ärgern, wenn du ihn daran erinnerst.«

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