4

Marcus an Tullia.


Ich setze meinen Bericht fort und will alle Begebenheiten in ihrer zeitlichen Abfolge schildern.

Antonia ist eine düstere, enge Festung, und ich hatte keine Lust, dort weiterhin unter ständiger Beobachtung zu bleiben. Überdies bereitete der Prokurator die Rückkehr nach Cäsarea, seinem Amtssitz vor. Ich schenkte ihm einen glückbringenden ägyptischen Skarabäus und seiner Frau einen alexandrinischen Spiegel und versprach, über Cäsarea heimzureisen. Dazu hatte Pontius Pilatus mich aufgefordert, weil er mich, bevor ich Judäa verließ, unbedingt ausfragen wollte. Auch Claudia Procula beschwor mich, ihr bei dieser Gelegenheit alles zu erzählen, was ich über den Auferstandenen erfahren sollte.

Dem Festungskommandanten gab ich einen ziemlich ansehnlichen Geldbetrag, um mich mit ihm gut zu stellen und mir für den Notfall eine Zuflucht in der Burg zu sichern. Aber so viel habe ich schon bemerkt, daß mir in Jerusalem, wenn ich das Brauchtum der Juden achte und sie nicht durch meine eigenen Gepflogenheiten herausfordere, keine Gefahr droht.

Für den Zenturio Adenabar hege ich wirklich freundschaftliche Gefühle. Auf seinen Rat mietete ich mich nicht in einem großen Gasthof ein, sondern bei einem Bekannten von ihm, einem hierher ausgewanderten syrischen Krämer, in der Nähe des Hasmonäerpalastes. Mit den Sitten der Syrer und ihren Göttervorstellungen bin ich seit meiner Jugend vertraut und weiß, daß dieser Menschenschlag schmackhaftes Essen schätzt, die Wohnungen rein hält und in jeder Hinsicht, vom Geldwesen abgesehen, ehrenhaft ist.

Der Krämer wohnt mit seiner Familie im Erdgeschoß und trägt täglich seinen Verkaufstisch auf die Straße vor das Haus. Eine Außentreppe führt unmittelbar zum Dach, so daß ich nach Belieben kommen und gehen und unbeobachtet Besuche empfangen kann. Diesen Vorteil für einen Mieter haben Adenabar und mein Hausherr um die Wette betont. Die Frau und die Tochter des Syrers bringen mir das Essen ins Zimmer und sehen darauf, daß stets ein Krug frisches Wasser in dem Raum hängt. Die Söhne aber wetteifern darin, Besorgungen für mich zu machen, mir Wein und Obst und was ich sonst brauche, einzukaufen. Diese Leute, denen es nicht besonders gut geht, sind froh, mich jetzt, da das Fest vorüber ist und die meisten Besucher die Stadt verlassen haben, als zahlenden Gast bei sich zu sehen.

Nachdem ich mich in meiner neuen Wohnung eingerichtet hatte, wartete ich, bis die Sterne herauskamen, und machte mich dann über die Außentreppe auf den Weg zu Nikodemus. Die Töpferei des Ratsherrn ist so bekannt, daß ich sie leicht fand. Das Tor war nur angelehnt, und als ich den Hof betrat, kam in der Dunkelheit ein Diener auf mich zu und fragte leise: »Bist du der, den mein Herr erwartet?«

Er führte mich über eine Treppe auf das Dach; zu leuchten brauchte er mir nicht, so strahlend wölbte sich der Sternenhimmel über Judäa. Als ich das Dach betrat, sah ich dort einen älteren Mann auf Kissen sitzen. Er begrüßte mich freundlich und fragte: »Bist du der Gottsucher, den der Bankier Alistarnos mir angekündigt hat?«

Er lud mich ein, neben ihm Platz zu nehmen, und begann gleich, mir mit eintöniger Stimme vom Gotte Israels zu erzählen. Er fing mit der Erschaffung von Himmel und Erde an und kam bis zu der Sage, Gott habe den Menschen nach seinem Ebenbilde aus dem Staub der Erde geformt. Dann aber unterbrach ich ihn ungeduldig mit den Worten:

»Lehrer Israels, das alles habe ich schon gehört und darüber selbst in griechischen Übersetzungen eurer heiligen Schriften gelesen. Ich wollte von dir etwas über Jesus von Nazareth, den König der Juden, erfahren. Das weißt du doch; sonst hättest du mich nicht in der Dunkelheit auf dem Dache empfangen.«

Mit unsicherer Stimme sagte Nikodemus: »Sein Blut wird über mich und mein Volk kommen. Ich bin seinetwegen voll Kummer und tödlicher Angst. Daß er zum Glaubenskünder wurde, ist Gottes Werk; nur ein von Gott Gesandter konnte die Zeichen tun, die er tat.«

Ich entgegnete: »Er war mehr als ein Glaubenskünder. Sogar mich, den Fremdling, haben die letzten Ereignisse aufs tiefste erschüttert. Du mußt ja erfahren haben, daß er von den Toten auferstanden ist, obwohl du selbst mitgeholfen hast, ihn noch vor Beginn des Sabbats in Grabtücher zu hüllen und seine Gruft zu verschließen.«

Nikodemus hob das Gesicht dem Sternenhimmel entgegen und rief in klagendem Töne: »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«

Ich wies zum Himmel und fragte: »War er der aus Jakob aufgehende Stern, von dem eure Schriften künden?«

Der Ratsherr erwiderte: »Ich weiß nicht. Ich verstehe nichts und tauge nicht länger zum Lehrer Israels. Im Rat wurde ich irregeführt, indem man mir versicherte, aus Galiläa erstünde kein Prophet. Das ist insofern richtig, als darüber in den heiligen Schriften nichts ausdrücklich erwähnt ist. Aber von Jesu Mutter, die ich erst vor kurzem kennengelernt habe, erfuhr ich, daß ihr Sohn in Bethlehem in Judäa geboren wurde, zur Zeit des grausamen Herodes. Und die Schriften bezeugen, daß aus Bethlehem Ephratha der eine hervorgeht, der über Israel Herrscher sein soll. Ich habe die Texte gründlich durchforscht. Alle Weissagungen haben sich an Jesu erfüllt, sogar die, daß keines seiner Gebeine zerbrochen werden sollte.«

Er begann die Bibelstellen im Singsang zu rezitieren und übersetzte sie mir. Als das eine Zeitlang so weitergegangen war, wurde ich wieder ungeduldig und rief: »Ob die Vorhersagen eurer Schriften in Erfüllung gegangen sind, ist für mich ohne Belang. Mir kommt es nur auf eines an: Ist er auferstanden oder nicht? Wenn ja, dann ist er mehr als ein König, und seinesgleichen hat noch nie auf Erden geweilt. Diese Frage stelle ich dir ohne jeden unlauteren Hintergedanken; denn jetzt kann ihm niemand mehr etwas zuleide tun. Antworte mir! Mein Herz bebt vor Sehnsucht nach der Wahrheit.«

Zögernd bekannte Nikodemus: »Ich habe von dieser Auferstehung gehört, weiß aber nicht, was ich davon halten soll. Gestern nacht haben sich die Jünger Jesu versammelt, hinter verschlossenen Türen, aus Furcht vor Verfolgung. Vielleicht kamen nicht alle, aber doch die meisten. Und sie hatten große Angst. Da soll der Gekreuzigte in ihrer Mitte erschienen sein und ihnen die Wunden an seinen Händen und Füßen und an seiner Seite gezeigt haben. Er hauchte auch jeden der Versammelten an. Dann verschwand er, wie er gekommen war. So wurde mir erzählt; aber ich kann es kaum glauben.«

Mich überlief in der Dunkelheit ein Schauder. »Sprich mir von seinem Reich!« bat ich. »Was lehrte er über sein Reich?«

Nikodemus berichtete mir: »Als er das erstemal zürn Passahfest nach Jerusalem kam und den Tempel reinigte, ging ich heimlich zu ihm. Ich werde nie vergessen, was er zu mir sagte, obwohl ich es damals nicht verstand und auch heute noch nicht verstehe. Er sagte, wenn jemand nicht von obenher wiedergeboren werde, könne er sein Reich nicht schauen.«

Sofort fielen mir die Lehren der Orphiker und der Pythagoräer und anderer Philosophen ein, wonach die Menschen innerhalb des irdischen Daseins seelisch wiedergeboren zu werden vermögen oder aber eine Kette immer neuer Existenzen durchlaufen und dabei, je nach ihrem Verhalten, sogar zu Tieren oder Pflanzen werden können. Enttäuschung übermannte mich; das war keine neue Lehre!

Aber Nikodemus fuhr unbeirrt for: »Ich widersprach ihm und fragte: ›Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er schon alt ist? Kann er denn zum zweitenmal in den Schoß seiner Mutter eingehen und neu zur Welt kommen?‹ Da erklärte Jesus, um mir einen Schlüssel zum Verständnis seiner Worte zu geben: ›Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in mein Reich eingehen.‹ Das mit dem Wasser verstand ich. Viele Menschen gehen ja zu der Bruderschaft in der Wüste, verharren dort im Gebet und werden nach einer Prüfungszeit in einem Wasserbecken untergetaucht. Auch Johannes ist aus der Wüste gekommen und hat die Leute mit Wasser getauft, bis Herodes Antipas ihn töten ließ.«

Ich unterbrach den Ratsherrn mit der Bemerkung: »In Ägypten wird man auf die gleiche Art in die Isis-Mysterien eingeweiht. Die Täuflinge schreiten furchtlos in einer finsteren Höhle in tiefes Wasser; aber starke Arme halten sie fest, so daß sie nicht ertrinken. Das ist ein sinnbildlicher Einweihungsritus und in keiner Weise neu.«

Nikodemus gab das zu. »Gewiß, gewiß. Die Wassertaufe ist nichts Neues. Aber ich fragte Jesus, was er mit dem ›aus Geist geboren werden‹ meinte. Und der Nazarener erwiderte – es sind genau seine Worte; ich habe sie mir eingeprägt: ›Was aus Fleisch geboren ist, ist Fleisch; was aus dem Geiste geboren ist, ist Geist. Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es mit jedem, der aus dem Geiste geboren ist!‹«

Lange schwieg er und ich erwog seine Worte. Die Sterne Judäas funkelten am Himmel, und durch das Dunkel drang ein starker Geruch nach feuchtem Töpferton und nach Brennöfen. Auf geheimnisvolle Art ging mir diese Unterweisung zu Herzen, obwohl ich zum Verzweifeln genau wußte, daß mein Verstand sie nicht fassen konnte. Schließlich fragte ich leise: »Ist das alles, was du über sein Reich weißt?«

Nikodemus dachte nach und sagte dann: »Von seinen Jüngern habe ich gehört, daß er vor Beginn seiner Lehrtätigkeit in die Wüste hinausging. Dort wachte und betete er vierzig Tage und war allen Trugbildern und Erscheinungen preisgegeben, mit denen erdgebundene Mächte einen fastenden Menschen in die Irre locken. Der Versucher nahm ihn auf einen hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Erde und ihre Herrlichkeit und versprach, er sollte über sie herrschen, wenn er vor ihm huldigend niederfalle und so der Aufgabe, die zu erfüllen er in die Welt gekommen war, untreu werde. Dieser Versuchung hielt Jesus stand. Dann kamen Engel und dienten ihm in der Wildnis. Er kehrte in die Menschenwelt zurück, begann zu lehren und Wunder zu wirken und scharte Jünger um sich. Das ist alles, was ich von seinem Reiche weiß. Es ist kein irdisches Reich. Darum war es unrecht, ja verbrecherisch, ihn zu verurteilen.«

Es ärgerte mich, daß er nun von Erscheinungen und Engeln sprach. Jeder irgendwie empfindsame Mensch, der lange genug gewacht und gefastet hat, kann Sinnestäuschungen haben; aber sie verschwinden, sobald er wieder ißt und trinkt und unter Leute kommt. Ich drang in Nikodemus: »Ja, welcher Art ist denn dieses Reich?«

Der Ratsherr stöhnte laut auf, hob die Hände und rief: »Woher soll ich das wissen? Ich habe nur das Brausen des Windes gehört. Als ich mit Jesus zusammentraf, glaubte ich, mit ihm sei das Reich auf die Erde herabgekommen. Er hat mir vielerlei gesagt, unter anderem auch, Gott habe den Sohn nicht in die Welt gesandt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn gerettet werde. Aber nichts dergleichen geschah. Der Mann wurde kurzerhand ans Kreuz geschlagen und starb eines schmachvollen Todes. Ich kann es einfach nicht fassen. Nachdem er nun dahin ist, wird auch aus seinem Reiche nichts.«

Mein Herz sagte es anders; doch mein Verstand zwang mich, spöttisch zu bemerken: »Viel hast du mir da nicht zu bieten, Lehrer Israels! Nur ein Windesbrausen. Und du selber glaubst nicht bedingungslos daran, daß er auferstanden ist.«

»Ich bin kein Lehrer Israels mehr«, bekannte Nikodemus demütig. »Ich bin das geringste der Kinder Israels, innerlich niedergeschmettert und zutiefst verwundet. Aber etwas habe ich dir doch zu bieten. Wenn der Sämann die Saat gestreut hat, sorgt er sich nicht weiter um sie. Dennoch geht sie auf; Wind und Regen treiben sie, und während der Sämann schläft, sprießt das Getreide, bis es zum Schnitte reif ist. So ergeht es mir; so mag es auch mit dir werden, wenn du reinen Herzens bist. Ein Saatkorn wurde in mich gelegt, und es keimt auf. Auch in dich mag ein Saatkorn gelegt worden sein, um eines Tages der Frucht entgegenzureifen. Ich kann nichts tun als in Demut warten und eingestehen, wie wenig ich begreife und wie schwach mein Glaube ist.«

»Einfach zu warten, damit kann ich mich keinesfalls zufriedengeben«, widersprach ich ungeduldig. »Siehst du das nicht ein? Jetzt ist mir noch alles frisch im Gedächtnis; jeder Tag aber nimmt etwas davon mit sich in die Vergessenheit. Führe mich zu Jesu Jüngern! Ihnen muß er ja das Geheimnis seines Reiches auf verständliche Art enthüllt haben. In meinem Herzen lodert ein Feuer. Ich brenne darauf, zum Glauben zu finden, solange mir noch alles durch Zeugen verbürgt werden kann.«

Nikodemus seufzte tief und warnte: »Seine Jünger – die elf übriggebliebenen – sind verschreckt und bestürzt, und tiefe Enttäuschung hat sich ihrer bemächtigt. Es sind einfache Männer, noch jung und unverständig. Schon zu seinen Lebzeiten haben sie miteinander über seine Lehre gestritten; sie haben die hohen Posten in seinem Reich unter sich aufgeteilt und sind auch darüber in Zank geraten. Er konnte ihnen sagen, was er wollte, zum Schluß glaubten sie immer wieder an ein irdisches Reich.

Noch am letzten Abend vor seiner Gefangennahme hat er mit ihnen nach Art der Wüstenbruderschaft das Osterlamm gegessen und ihnen erklärt, er werde von der Frucht des Weinstocks nicht mehr trinken, bis zu dem Tage, da er mit ihnen neu davon trinken werde in seinem Reich. Ich glaube, dieses Gelübde war auch der Grund, warum er den Wein, den die Frauen ihm vor der Kreuzigung als Betäubungstrank anboten, nach dem ersten Schluck zurückwies. Aber gerade seine Verheißung ermutigte die kindischeren unter den Jüngern zu der Hoffnung, er werde eine Legion Engel vom Himmel zu Hilfe rufen und ein Reich gründen, worin jeder Jünger über einen der Stämme Israels herrschen sollte. Daraus kannst du entnehmen, daß seine Lehren in ihnen noch nicht gereift waren. Es sind ungebildete Leute, die jetzt nicht wissen, was sie denken sollen, obwohl sie zu Augenzeugen aller seiner Beglaubigungszeichen geworden sind. Sie bangen um ihr Leben und halten sich versteckt. Wenn du jetzt mit ihnen zusammenkämest, würde ihr Reden dich sicherlich noch wirrer machen, als sie selbst es sind.«

Das war mir unverständlich. »Warum hat er sich denn so einfältige Menschen als Jünger ausgesucht?« fragte ich ärgerlich. »Wenn er ein derart großer Wundertäter war, wie es heißt, hätte er sich seine Gefolgsleute wohl ebensogut aus den Kreisen der Gebildeten erwählen können.«

»Da rührst du an eine Wunde in mir«, gestand Nikodemus. »Du hast den Kernpunkt meiner enttäuschten Hoffnungen getroffen. Nicht die Weisen und Gelehrten hat er berufen, sondern die Armen, die Schlichten, die Beladenen. Einmal soll er zu einer großen Volksmenge geredet und ausdrücklich gesagt haben, gerade die im Geiste schlichten und armen Menschen seien selig, denn ihrer sei sein Reich. Den Gebildeten und Reichen erschwerte er alles zu sehr. Auch ich hätte einer seiner Jünger werden können, aber nur unter Verzicht auf meine Ratswürde – ja, und auch auf meine Familie! Meine Töpfereien hätte ich verkaufen und den Erlös unter die Armen verteilen müssen. So harte Bedingungen legte er auf und machte es dadurch Menschen wie uns unmöglich, ihm zu folgen. Indes waren ihm auch viele wohlhabende und einflußreiche Leute gut gesinnt und halfen ihm insgeheim. Er hatte Verbindungen und Nachrichtenquellen, von denen auch seine Jünger nichts wußten, weil er es nicht für nötig hielt, sie einzuweihen.«

»Ich würde aber doch gern mit einigen seiner vertrautesten Jünger zusammenkommen«, erklärte ich hartnäckig.

Nikodemus riet mir jedoch eindringlich davon ab. »Du bist«, meinte er, »kein römischer Spion, das sagt mir mein Gefühl. Aber die Jünger würden, verschreckt, wie sie sind, dir niemals trauen. Umgekehrt würdest du ihnen nicht glauben, sobald du siehst, was für einfache Leute sie sind. Im Gegenteil, wenn sie dir erzählen sollten, daß sie in einem verschlossenen Raum den auferstandenen Sohn Gottes sahen, würdest du an ihnen mehr denn je irre werden und dir denken, sie hätten diese ganze Geschichte erklügelt, in ihrer Enttäuschung, und um die letzten Trümmer ihrer zerbrochenen Selbstachtung zu verbergen.«

Der Ratsherr lachte freudlos und fuhr fort: »Zuerst wollten sie nicht einmal den Frauen glauben, die vom Grabe mit der Nachricht kamen, es sei leer. Einer von ihnen, der zufällig gestern abend nicht in ihrem Versteck weilte, hat sogar angezweifelt, was seine Gefährten ihm dann berichteten. Wie sollten sie da dir Vertrauen schenken?«

Ich tat mein Bestes, um ihn zu überreden, mir den Verbleib der Jünger zu verraten oder mich irgendwie anders mit ihnen in Verbindung zu bringen. Aber offenbar traute auch er mir nicht ganz; denn er weigerte sich rundweg. Wie ich merkte, begann es ihm leid zu tun, daß er mich empfangen hatte, und ich beeilte mich, ihn zu bitten: »Rate mir wenigstens, was ich tun soll! Ich kann es einfach nicht ertragen, die Hände in den Schoß zu legen und zu warten, bis sich zufällig etwas ergibt.«

Nochmals warnte er mich: »Der Sämann hat seine Saat ausgestreut. Sollte ein Samenkorn in dein Herz gefallen sein, so tätest du am klügsten, in Demut zu warten. Aber wenn du unbedingt willst, so reise nach Galiläa, wo Jesus selbst so oft umhergewandert ist, suche die Stillen im Lande auf und frage sie, was sie sich von seinen Lehren gemerkt haben. Oder sprich mit denen, die krank waren und durch ihn geheilt worden sind und überzeuge dich so selbst, daß niemand außer dem Sohne Gottes solche Wunder wirken könnte, wie er sie während seines Lebens vollbracht hat.«

Über diese Vorschläge war ich nicht gerade begeistert. »Wie soll ich die Stillen finden?« fragte ich. »Galiläa ist weit von hier, und ich bin Ausländer.«

Nikodemus zögerte; dann teilte er mir das Losungswort mit. »Frage auf deinen Wanderungen nach dem Weg!« sagte er. »Wenn aber jemand den Kopf schüttelt und antwortet: ›Es gibt viele Wege und mancherlei falsche Wegweiser, und ich will dich nicht in die Irre führen‹, so entgegne deinerseits: ›Es gibt nur einen einzigen Weg. Weise ihn mir, denn ich bin still und demütig im Herzen.‹ Daran wird man dich erkennen und wird dir vertrauen. Auch wenn du übrigens einen dieser Leute anzeigen solltest, würde ihm kaum etwas geschehen; denn sie halten die Gebote, entrichten ihre Abgaben und tun niemandem etwas zuleide.«

Ich sagte: »Für diesen Rat danke ich dir und will ihn mir einprägen. Aber auch in Jerusalem hat ja Jesus Wunder gewirkt. Ich möchte jetzt die Stadt noch nicht verlassen, da sich hier noch etwas ereignen könnte.«

Nikodemus wurde meiner allmählich überdrüssig. »Hier kannst du«, teilte er mir mit, »die einst übel beleumundete Frau finden, aus der er die bösen Geister vertrieben hat. Dann gibt es nicht weit von der Stadt ein Dorf namens Bethanien. Dort wohnen zwei Schwestern und ein Bruder, bei denen er sich wiederholt aufhielt. Einer der Schwestern erlaubte er, obwohl sie nur eine Frau ist, zu seinen Füßen zu sitzen und seinen Lehren zu lauschen. Den Bruder, der schon vier Tage tot im Grabe gelegen und dessen Leiche angeblich schon gerochen hat, hat er wieder zum Leben erweckt. Gehe hin und sprich mit ihm! Er heißt Lazarus. Das wird dir wohl an Wundertaten genügen. Man wird dich aufnehmen, wenn du ihnen einen Gruß von mir bestellst.«

»War dieser Lazarus wirklich schon tot?« fragte ich ungläubig.

»Gewiß, gewiß«, rief der Ratsherr aufgebracht. »Ich weiß ebensogut wie du, daß es Scheintote gibt. Es kommt vor, daß ein Totgeglaubter mitten während der Klagelieder und des Flötenspiels sich zum Entsetzen der Verwandten von der Bahre aufrichtet und blinzelnd umherschaut. Auch erst im Grabe sollen Menschen zu Bewußtsein gekommen, sich mit verzweifeltem Kratzen die Nägel von den Fingern gerissen und so lange geschrien haben, bis sie erstickten, weil sie den Stein nicht von der Öffnung wälzen konnten. Unser Gesetz ordnet die Bestattung am Todestage selbst an, und darum sind Irrtümer möglich. Ich bin mit allem irdischen Wissen hinreichend versehen und kann auf deine Erklärungsversuche verzichten.«

Er zeterte: »Welchen Sinn hat es denn, an die Dinge mit Vorurteilen und Zweifeln heranzutreten? Was erwartest du dir davon? Ich kann deine Gedanken lesen. Du hältst dir vor Augen, daß die Familie mit Jesus befreundet war. Wie leicht konnten diese Leute, um die Schwankenden zu überzeugen, eine List ersinnen und den ohnmächtigen Lazarus ins Grab legen, wo sie doch wußten, daß Jesus unterwegs zu ihnen war! Aber was hätten sie damit für sich gewonnen? Sieh dir doch am besten mit eigenen Augen diese drei Leute an, Lazarus und seine beiden Schwestern! Rede mit ihnen und entscheide dann selbst, ob sie die Wahrheit sprechen oder nur Lügen ausspinnen!«

Sicherlich hatte Nikodemus recht. Da ich nichts weiter aus ihm herausbekam, dankte ich ihm und fragte, was ich ihm für seine Auskünfte und Unterweisungen schulde. Er lehnte eine Bezahlung glattweg ab und sagte verächtlich: »Ich bin kein von der Truppe entlaufener Schauspieler, der sich seinen Unterhalt damit verdient, daß er Kindern das Lesen beibringt, wie es in Rom üblich sein soll. Die Lehrer Israels verkaufen ihr Wissen nicht für Geld. Jeder, der ein solcher Lehrer werden will, muß auch ein Handwerk erlernen, um von seiner Arbeit leben zu können. Deshalb bin ich Töpfer, wie mein Vater es vor mir war. Aber wenn du willst, gib das Geld den Armen! Das wird dir vielleicht Segen bringen.«

Er ging mit mir die Treppe hinunter und führte mich vom Hofe aus in seinen Empfangsraum, damit ich im Lichte der dort stehenden Lampe sehen könnte, daß er trotz seines Töpferberufes kein Niemand war. Wenigstens so viel menschliche Eitelkeit hatte er doch! Tatsächlich stand ich in einem Zimmer voll Kostbarkeiten, wie sie nur einem reichen Manne gehören konnten. Auch sein Mantel war aus bestem Tuche. Vor allem aber konnte ich jetzt im hellen Licht sein Gesicht sehen und betrachtete es genau. Seine Augen waren vom vielen Lesen kurzsichtig; im übrigen aber hatte der Kopf, mit seinen runden Formen, trotz des grauen Bartes etwas Kindliches. Die Hände verrieten allerdings, daß er schon viele Jahre selbst keinen Töpferton berührt hatte, obwohl er sich auf sein Handwerk noch immer gut verstehen mochte.

Auch er blickte mich forschend an, als wollte er sich meine Züge einprägen, und sagte: »In deinem Antlitz entdecke ich nichts Böses. Du hast unstete Augen; aber es sind nicht die Augen eines Zweiflers oder Übeltäters. Nur solltest du dir einen Bart wachsen lassen, damit man dich eher für einen Bekenner des einzigen Gottes hält.«

Zu dem gleichen Schluß war ich schon selbst gekommen und hatte kürzlich aufgehört, mich zu rasieren; doch in den wenigen Tagen fand mein Kinn noch nicht die Zeit, mehr hervorzubringen als schwarze Stoppeln.

Nikodemus begleitete mich selbst bis zum Tor und verriegelte es hinter mir. Offenbar wünschte er nicht, daß seine Bedienten mich nochmals sehen sollten.

Ich stolperte über die ausgetretenen Pflastersteine, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Zu so später Stunde brannte nur noch an den Ecken der großen Straßen eine Beleuchtung. Aber ich hatte mir den Weg sorgfältig gemerkt und meinte, es würde leicht sein, zu meiner neuen Wohnung zurückzufinden, obwohl sie von der Unterstadt ein beträchtliches Stück entfernt lag. Ich kam zu der Mauer zwischen Vorstadt und Oberstadt, ohne außer zwei jüdischen Polizisten irgendwen zu treffen. Im Torbogen jedoch grüßte mich eine scheue Frauenstimme: »Was gereicht dir zum Frieden, Fremdling?«

Ich schrak bei den unerwarteten Lauten auf, erwiderte aber höflich: »Und was gereicht dir zum Frieden, Frau?«

Die Unbekannte fiel vor mir auf die Knie und sagte demütig: »Ich bin deine Dienerin. Befiehl nur, und ich tue, was du begehrst.«

Ich erriet ihr Gewerbe und wehrte ab: »Geh in Frieden! Ich brauche nichts von dir.«

Aber sie war hartnäckig; sie faßte den Saum meines Mantels und flehte: »Ich bin arm und habe keine Wohnstätte, wohin ich dich führen könnte. Aber hier ist eine Mauernische, wo uns niemand sieht.«

Nach jüdischer Frauensitte war sie so verschleiert und in ihr Gewand gehüllt, daß ich weder Gestalt und Gesichtszüge erkennen noch selbst ihr Alter abschätzen konnte. Doch ihre Armut ging mir zu Herzen. Mir fiel die Anregung ein, die Nikodemus mir zuletzt gegeben hatte, und ich schenkte ihr so viele Silbermünzen, wie ich ihm für seine Unterweisung und Beratung zu schulden glaubte.

Als ich dann nochmals betonte, ich wünschte nichts von ihr, konnte sie es zuerst nicht glauben. Sobald es ihr aber zur Gewißheit wurde, wollte sie mir mit Gewalt die Füße küssen und rief: »Noch nie hat jemand mir Geld gegeben, ohne etwas dafür zu verlangen. Möge der Gott Israels dich segnen! Allerdings tauge ich nicht dazu, auf jemanden Segen herabzurufen, und sogar mein Geld lehnt der Tempelschatz ab. Aber sage mir deinen Namen, damit ich für dich beten kann!«

Es widerstrebte mir, einer Dirne meinen Namen zu nennen; andererseits wollte ich die Frau nicht kränken. So sagte ich: »Bei den Römern heiße ich Marcus. Ich bin in Jerusalem fremd.«

Sie erwiderte: »Deine Dienerin heißt Maria. Aber Marien gibt es hier mehr als Kerne in einem Granatapfel; damit du mich also von den anderen Marien unterscheiden kannst, die einem so freigebigen Mann wie dir sicher über den Weg laufen werden, füge ich hinzu, daß ich Maria von Beeroth, dem Brunnendorf, bin.«

»Freigebig bin ich keineswegs«, sagte ich, um sie loszuwerden. »Ich habe nur eine Schuld beglichen, und du bist mir in keiner Weise zu Dank verpflichtet. Geh in Frieden; dann kann auch ich in Frieden gehen, und wir brauchen nicht mehr aneinander zu denken.«

Sie versuchte, in der Dunkelheit meine Züge zu erkennen, und rief eindringlich: »Du solltest die Gebete der Armen nicht mißachten. Vielleicht kann ich dir eines Tages, wenn du am wenigsten damit rechnest, einen Dienst erweisen.«

»Du bist mir nichts schuldig«, wiederholte ich. »Und Dienst verlange ich keinen von dir. Ich suche bloß einen Weg, und den kannst du mir wohl kaum zeigen.«

Rasch erwiderte sie: »Einen Weg suchst du, Fremdling? Aber es gibt viele Wege, und sie fuhren oft in die Irre. Ich würde dich sicher nur mißleiten, wenn ich dir einen Weg weisen wollte.«

Ihre Antwort konnte kein bloßer Zufall sein. Doch der Gedanke, daß offenbar die Stillen im Lande Menschen waren, die man am tiefsten verachtete und überall beiseite stieß, enttäuschte mich bitter. Immerhin versuchte ich an die Maus zu denken, die dem gefesselten Löwen den Strick durchgenagt hatte, und entgegnete: »Man hat mir gesagt, es gebe nur einen einzigen Weg. Und auch ich würde gern, wenn es geht, still und demütig im Herzen werden.«

Sie streckte die Hand aus, befühlte mein Gesicht und fuhr über die steifen Bartstoppeln an meinem Kinn. So demütig ich auch zu werden wünschte, ihre Berührung war mir zuwider. Ich mußte unwillkürlich gezuckt haben; denn sie ließ augenblicklich von mir ab und sagte niedergeschlagen: »Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Nicht meinetwegen hast du an mir ein gutes Werk getan, sondern nur, um eine drückende Schuld zu begleichen. Du kannst kaum so krank sein, daß du freimütigen Herzens den Weg gewählt hättest. Aber ich war wohl dazu ausersehen, deinen Sinn auf die Probe zu stellen. Wärest du mir in die Mauernische gefolgt, so hätten wir beide mit üblen Gedanken voneinander Abschied genommen. Ich kann dir Hoffnung geben, falls du mich ohne Hintergedanken nach dem Wege fragst.«

»Ich bin aufrichtig und will niemandem übel«, versicherte ich ihr. »Ich wünsche nur eines: Wahrheit über eine Anzahl von Dingen, in denen du aber kaum Bescheid weißt.«

»Denke nicht geringschätzig über das Wissen der Frauen!« warnte sie. »Im Reiche kann das Ahnungsvermögen einer Frau schwerer wiegen als die Vernunft eines Mannes, auch wenn es sich um das mißachtetste unter den Weibern Israels handeln sollte. Und mein frauliches Gefühl sagt mir, daß unsere Zeit eine Zeit des Wartens ist. In diesen Tagen begegnet die Schwester der Schwester, ohne sie zu verachten; der Bruder begegnet dem Bruder, ohne ihn zurückzustoßen. Darum ist mein Herz, mag ich auch eine Gefallene sein, leichter als früher.«

In ihrer Stimme lag so viel Zuversicht, daß ich glauben mußte, sie besitze tatsächlich irgendein bestimmtes Wissen. »Heute abend habe ich einem Lehrer Israels zugehört«, sagte ich. »Aber er war ein unsicherer, kleingläubiger Mann, und seine Unterweisung ließ mich kalt. Solltest du, Maria von Beeroth, mir bessere Kunde geben können?«

Während ich noch sprach, tauchte in mir die Vermutung auf, diese Maria sei vielleicht nicht ganz das, schlechte Wesen, für das sie sich ausgab. Möglicherweise war sie wirklich aus irgendeinem Grunde auf diesen Platz gestellt worden, um mich zu prüfen; denn auf dem Weg zu meiner neuen Wohnung mußte ich dieses Tor durchschreiten. »Welche Hoffnung hast du mir zu bieten?« fragte ich.

Sie stellte eine Gegenfrage: »Weißt du, wo das Quelltor ist?«

»Nein«, erwiderte ich. »Aber nötigenfalls kann ich es sicherlich leicht finden.«

»Durch dieses Tor geht man zum Kidrontal und zur Straße nach Jericho«, erläuterte sie. »Vielleicht ist das der Weg, den du suchst. Sonst aber geh eines Tages, wenn dir der Bart gewachsen ist, zum Quelltor und sieh dich dort um! Es könnte sein, daß du dann einen Mann bemerkst, der einen Wasserkrug von der Quelle fortträgt. Folge ihm! Wenn du ihn ansprichst, wird er vielleicht antworten. Sollte er aber stumm bleiben, so kann ich nichts weiter für dich tun.«

»Wassertragen ist keine Männerarbeit«, erklärte ich ungläubig. »Auch in Jerusalem, so wie überall auf der Welt, holen die Frauen das Wasser.«

»Gerade deshalb wirst du ihn leicht erkennen«, versicherte Maria von Beeroth. »Läßt er dich aber unbeachtet, so behellige ihn nicht, sondern komm an einem der nächsten Tage wieder und versuche es nochmals! Einen anderen Rat kann ich dir nicht geben.«

»Wenn dein Rat gut ist und mir zu dem verhilft, was ich wünsche«, sagte ich, »dann bin ich wieder in deiner Schuld, Maria.«

»Im Gegenteil«, erwiderte sie eifrig. »Ich statte eine Schuld ab, wenn ich jemandem den Weg weisen kann. Sollte aber das Gefühl einer Schuld dich bedrücken, so gib dein Geld den Armen und vergiß mich! Keinesfalls brauchst du mich hier bei der Mauernische zu suchen, denn hierher komme ich niemals mehr zurück.«

Wir schieden voneinander, ohne daß ich eine Ahnung hatte, wie die Frau aussah; nie hätte ich sie im Licht des Tages erkannt. Doch ihre frohe Stimme würde mir, denke ich, wenn ich sie wieder hörte, altvertraut klingen.

Ich ging zu meinem Wohnhaus, stieg über die Außentreppe auf das Dach und betrat mein Zimmer. Als ich die Erlebnisse dieses Abends bedachte, ärgerte ich mich über die Geheimniskrämerei der Juden. Dieser Nikodemus wußte bestimmt mehr, als er mir mitgeteilt hatte. Immer stärker bemächtigte sich meiner die Empfindung, daß man mich beobachtet und etwas von mir will.

Vielleicht, vermuten die Jünger des auferstandenen Königs oder aber Claudia Proculas jüdische Freunde, daß ich Dinge weiß, die ihnen unbekannt sind, wagen es aber nicht, mit mir, dem Fremdling, in Verbindung zu treten. Sie haben allen Grund, vorsichtig zu sein, da ihr Meister zum Tode verurteilt, mit dem Fluche belegt und gekreuzigt wurde.

Auch der Gärtner, den ich beim Grabe traf, verfolgt mich im Geiste. Er behauptete, mich zu kennen, und auch ich hätte ihn erkennen sollen. Aber ich gedenke nicht nochmals in den Garten zu gehen und den Mann zu suchen; denn ich bin völlig überzeugt davon, daß ich ihn dort nicht mehr fände.

Загрузка...