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Marcus an Tullia.


Meine schlichte Freude hielt an. Sie entsprang wohl der Erleichterung darüber, daß ich nicht länger den Drang verspürte, mich mit unfruchtbaren Grübeleien abzuquälen oder in wißbegierigem Neid zu verzehren, weil andere Menschen vieles erlebt hatten, was mir versagt blieb.

Als alles Berichtenswerte niedergeschrieben war, ging ich aus und wanderte durch die Gassen Jerusalems, sah den Kupferschmieden bei der Arbeit zu, und auch den Webern und Töpfern. Ich nahm einen Fremdenführer, ließ mir den Hasmonäerpalast zeigen und stieg auf die Türme des von Herodes erbauten Palastes, ja sogar auf einen ganz alten, nur mehr von Fledermäusen bewohnten Turm. Ich besuchte den Tempelvorhof und verbrachte einige Zeit auf dem Forum; dann verließ ich die Stadt, um sie von den umliegenden Hügeln aus zu betrachten, und kehrte wieder zurück. Hier in Jerusalem geht alles seinen gewohnten Gang, als wäre nichts geschehen. Ich glaube, schon nach einer Woche hatten die meisten Bewohner Jesus von Nazareth und seinen schrecklichen Tod vergessen und wollten nichts mehr von ihm hören.

Ich wurde dieser Judenstadt müde, deren Bräuche mir fremd sind. Nicht einmal an dem so hochgepriesenen Tempel konnte ich noch etwas Bemerkenswertes entdecken. Eigentlich gleichen sich ja alle großen Städte; nur in den Lebensgewohnheiten der Einwohner gibt es Unterschiede. Ebenso ähneln die berühmten Tempel einander, mögen auch die Opfer und Kultformen jeweils verschieden sein. Eines der ihnen gemeinsamen Merkmale ist das Einsammeln von Geld in der einen oder anderen Art. Wenn die Juden im Tempelvorhof heilige Texte in kunstvoll ausgeführten Kästchen verkaufen, die man mit Riemen an Arm oder Stirn bindet, so erinnert mich das lebhaft an die Epheser, die den Pilgern und Touristen Amulette und kleine Artemisstatuen anbieten.

Als ich abends heimging, sah mein Hausherr Karanthes mich von weitem in der schon dämmerigen Gasse und kam mir, als hätte er auf mich gelauert, eilends entgegen. Pfiffig lächelnd und händereibend erzählte er mir: »Jemand hat nach dir gefragt und erwartet dich.«

Freudig überrascht erkundigte ich mich: »Wer kann das sein? Ich habe keine Freunde in der Stadt. Warum tust du so geheimnisvoll?«

Mein Syrer konnte sich nicht mehr zurückhalten; er brach in Lachen aus und rief: »Oh, wie froh bin ich, daß du jetzt wieder in jeder Beziehung wohlauf bist und dich wie ein Mann aufführst! Es liegt mir fern, auf dein Tun und Treiben neugierig zu sein; aber ich habe sie gebeten, in deinem Zimmer zu bleiben, damit nicht böse Zungen sich rühren. Sie sitzt bescheiden auf dem Fußboden, den Mantel um die Beine gehüllt. Natürlich hättest du dir etwas Schöneres finden können, aber die Geschmäcker sind verschieden. Zumindest ist sie gut gewachsen und hat jedenfalls schöne Augen.«

Ich konnte mir nicht vorstellen, welche Frau auf mich warten sollte. Ich lief in mein Zimmer, erkannte aber die Besucherin nicht, obwohl sie bei meinem Kommen demütig das Gesicht enthüllte und mich wie einen Bekannten ansah. Erst der Klang ihrer Stimme – ich hatte mit ihr seinerzeit nur im Dunkeln gesprochen – brachte mir Gewißheit, als sie sagte: »Es ist bestimmt nicht in Ordnung, daß ich mich dir so aufdränge; und ich möchte deinen Ruf, wenn du in dieser Beziehung empfindlich bist, nicht gefährden. Eine Frau wie ich darf ja einen Mann, mit dem sie in der Nacht gesprochen hat, bei Tage nicht kennen. Aber ich habe dir etwas zu erzählen, worüber du sicher staunen wirst.«

Ich sagte: »Maria von Beeroth, ich erkenne dich. Aber ich wußte nicht, daß dein Gesicht so schön ist und deine Augen so glänzen. Um meinen Ruf sorge dich nicht! Ich bin im Gegenteil froh, daß du gekommen bist. Allerdings begreife ich nicht, wie du mich ausfindig gemacht hast.«

»Sprich nicht von meinem Gesicht und meinen Augen!« bat sie. »Denn sie sind mein Fluch. Aber die Stadt ist kleiner, als du meinst. Viele Leute kennen dich schon und wissen von deiner hartnäckigen Neugier in Dingen, die nicht deine Sache sind. Du hast also den Mann mit dem Wasserkrug getroffen; nur hat die Begegnung deine Erwartungen enttäuscht.«

Ich nahm an, sie sei erschienen, um eine Belohnung für ihren Rat zu fordern, und beeilte mich zu erklären: »Ja, ja, gewiß. Und ich bin da in deiner Schuld.«

Sie schüttelte heftig den Kopf und erwiderte: »Nein, nein, du schuldest mir nichts. Umgekehrt bin ich dir verpflichtet, und deshalb kam ich uneingeladen her.«

Ich blickte sie an, ohne mir erklären zu können, was sie von mir wollte. Nach ihrem Gesicht schien sie jünger zu sein, als ich geglaubt hatte; es war ein rundes, hübsches Judengesicht, dem man ihren Beruf ganz und gar nicht anmerkte.

An der Tür räusperte Karanthes sich diskret hinter der vorgehaltenen Hand, um meine Aufmerksamkeit zu erregen; neugierig wie eine Elster, war er mir natürlich nachgegangen. »Das Abendessen ist fertig«, meldete er. »Aber selbstverständlich kann das Essen warten, wenn du lieber zuerst deiner Freundin Gesellschaft leisten willst. Sage es nur, und ich bringe Wasser und reine Handtücher. Sicherlich wirst du ja aufpassen, daß sie nicht deine Habseligkeiten durchstöbert und etwas in ihren Kleidern versteckt.«

Meine Besucherin wurde rot und blickte beschämt zu Boden. Rasch stellte ich richtig: »Du irrst sehr, mein lieber Hausherr. Wir haben keineswegs solche Absichten, wie du sie vermutest. Deine Frau oder deine Tochter können ruhig das Essen bringen – oder trage es selber auf, wenn du das lieber willst! Ich bin hungrig und werde zusammen mit meinem Gast essen.«

Maria von Beeroth hob entsetzt die Hände und rief: »Nein, nein! Es ziemt sich nicht, daß ein Mann mit einer Frau speist, zumindest nicht mit einer Frau wie ich. Aber gestatte, daß ich dich beim Mahl bediene! Nachher esse ich gern, was du übrigläßt.«

Karanthes blickte sie wohlwollend an und lobte: »Ich sehe, du bist ein verständiges, gut erzogenes Mädchen. Dieser Römer ist noch nicht ganz mit den Landessitten vertraut. Meine Frau würde eher sterben wollen, als dir Essen zu reichen; und meiner unschuldigen, unerfahrenen Tochter kann ich einen so unschicklichen Anblick nicht zumuten. Ganz eine andere Sache aber ist es, wenn du mit gesenkten Augen hinuntergehst, das Essen holst, es wie eine Magd aufträgst und die Reste verzehrst.«

Zu mir gewandt, erläuterte er: »Du weißt, ich bin ziemlich vorurteilsfrei; aber alles hat seine Grenzen. Wenn deine Freundin in einer Sänfte angekommen wäre, in feines Linnen oder goldbestickte Seide gekleidet, mit Juwelenschmuck um den Hals und den Duft wohlriechender Salben versprühend, dann hätte ich es mir zur Ehre angerechnet, ihr mit eigenen Händen das Essen zu reichen; allerdings hätte ich dabei vor Besorgnis um dich geseufzt. Diese vernünftige Kleine kennt ihre Stellung und wird dir nichts Übles antun.«

Er winkte ihr, ihm zu folgen, und bald kam sie mit meinem Essen wieder. Sie hatte nach Mägdeart ihr Oberkleid geschürzt, so daß die Beine bis zu den Knien entblößt waren. Voll Eifer führte sie mich auf das Dach, goß mir Wasser über die Hände und trocknete sie mit einem reinen Handtuch. Als ich mich gesetzt hatte, hob sie von einer irdenen Schüssel den Deckel, legte einen Brotlaib vor mich hin und sagte: »Iß, Römer! Die Augen deiner Dienerin werden sich an jedem Bissen, den du zum Munde führst, erfreuen. Ach, könnte ich wirklich deine Magd sein und dir immer dienen!«

Aber ihre Augen hefteten sich auf den Brotlaib, als ich ein Stück davon abbrach, und so zog ich sie an meine Seite, hieß sie Platz nehmen, tauchte das Brot in die gewürzte Tunke und schob es ihr in den Mund, so daß sie trotz ihres Sträubens essen mußte. Erst nach dreimaliger Weigerung tauchte sie selber ein Stück Brot in die Schüssel und aß.

Als wir fertig waren, schmiegte sie den Kopf an meinen Arm, küßte mir die Hand und sagte: »Du bist so, wie man dich mir beschrieben hat und wie ich mir dich nach der nächtlichen Begegnung am alten Tor vorstellte. Du behandelst eine Frau als gleichgestellt, während sie bei uns oft weniger gilt als ein Esel oder ein Zugtier. Wenn hier ein Mädchen geboren wird, zerreißt der Vater seine Kleider, würdigt das Kind keines Blickes und spricht nicht ein einziges freundliches Wort zu seiner Frau.«

Sie starrte vor sich hin und fuhr fort: »Besonders auf dem Lande führt die Frau ein jämmerliches Dasein. Ein hübsches Mädchen wird an irgendeinen alten Mann verheiratet, der mehr Felder und Weinberge hat als andere. Mich hat die eigene Eitelkeit ins Verderben geführt, als ich mein Spiegelbild im Wasserkrug sah; in meiner Dummheit bin ich dem ersten Fremden, der mir bunte Bänder und Perlen schenkte und falsche Schwüre ins Ohr flüsterte, hinaus auf die Felder gefolgt. Meine Geschichte ist so kurz und einfach, daß ich dir nichts weiter zu erzählen brauche, weil du das übrige wohl erraten kannst. In einem anderen Lande wäre es mir, solange ich noch jung war, nicht schlechter ergangen als sonst den Frauen im gleichen Falle. Hier bin ich ausgestoßen und verflucht, fühle mich aber weiterhin als Tochter Israels, und meine Sünde nagt derart an mir, daß ich alles dafür gäbe, um wieder geläutert zu werden. Doch der Gott Israels ist ein Gott der Vergeltung, und in seihen Augen ist eine unreine Frau gleich einem Hunde oder einem Leichnam.«

Ich tröstete sie: »Maria von Beeroth, du bist sicherlich nicht sündiger als viele andere Frauen, die gezwungen sind, auf deine Art in dieser Welt zu leben.«

Sie blickte mich aus ihren dunklen Augen an, schüttelte leicht den Kopf und entgegnete: »Du verstehst nicht, was ich meine. Was nützt mir der Gedanke, daß viele noch sündiger sind als ich, wenn ich mich selbst kenne und eine quälende Angst gleich Würmern an mir frißt? Es hat jemanden gegeben, der mir hätte helfen können. Er hat nicht einmal eine Ehebrecherin verdammt, sondern war barmherzig und hat sie vor der Steinigung gerettet. Er hat alle Kinder, auch die Mädchen, gesegnet, und an ihm war keine Sünde. Aber ich habe ihm nie zu nahen gewagt; ich sah ihn bloß von weitem. Übrigens hätten seine Gefolgsleute mich höchstwahrscheinlich von ihm ferngehalten. Durch seine Kraft hat er viele geheilt, deren Körper krank waren, und bestimmt hätte er auch mir sein Mitleid nicht versagt; denn meine Seele ist krank, und ich schäme mich meiner und meines Lebens.«

»Ich weiß, wen du meinst«, bemerkte ich.

Maria von Beeroth nickte. »Ja, ja. Aber die Frommen und Weisen und Sündlosen haben ihn gekreuzigt. Dann ist er von den Toten auferstanden und hat sich seinen Jüngern gezeigt. Das klingt zwar unglaublich, doch ich habe es aus verläßlicher Quelle gehört. Auch du, so sagte man mir, weißt davon, obwohl du hier nur ein gemiedener Fremdling bist. Deshalb bin ich zu dir gekommen.«

Plötzlich brach sie in Tränen aus, warf sich vor mir nieder, umschlang meine Knie und rief: »Ich flehe dich an, nimm mich mit dir; wir wollen nach Galiläa gehen und ihn suchen! Alle, die nur konnten, haben heute die Stadt verlassen und wandern nordwärts. Auch Frauen. Gestern nacht ist er seinen Jüngern wieder erschienen und hat ihnen verheißen, er gehe ihnen nach Galiläa voraus,' dort würden sie ihn sehen. Vielleicht kann auch ich ihn dort finden, wenn du mich mitnehmen willst.«

Ich rüttelte sie heftig an den Schultern, richtete sie auf, hieß sie wieder Platz nehmen und sagte eindringlich: »Laß das Weinen und das wirre Gerede! Erzähle mir deutlich, was du weißt, damit wir uns gemeinsam darüber schlüssig werden können, was wir tun sollen!«

Als Maria merkte, daß ich bereit war, sie anzuhören, wischte sie sich die Tränen aus den Augen und begann ihren Bericht:

»Du hast diese reiche Frau kennengelernt, die Taubenzüchterin, die ihm gefolgt ist. Sie versteht dich und weiß, daß du eifrig den neuen Weg suchst. Aber man hat ihr streng verboten, noch einmal mit dir zusammenzukommen, weil du kein Kind Israels bist. Sie hat mir geraten, dich aufzusuchen, weil sie mich nicht mit sich nehmen konnte, während du als Römer ebenso verachtet und daher in der gleichen Lage bist wie ich. Sie sagte, der Lehrer wisse selbst am besten, wer seiner Stimme lauschen dürfe. Am Abend waren die Elf im Obergemach versammelt, und Jesus kam, durch verschlossene Türen, zu ihnen und stand in ihrer Mitte – genau so wie am ersten Abend, nachdem er das Grab verlassen hatte; davon weißt du ja schon. Er versicherte ihnen, er sei Fleisch und Blut und ließ Thomas seine Wundmale berühren. Darum glauben sie jetzt alle an seine Auferstehung. Sie haben den Frauen nicht alles erzählt, was er gesprochen hatte, machten sich aber sofort reisefertig. Schon früher hatte er ihnen ja sagen lassen, er würde ihnen nach Galiläa vorausgehen. Zu zweien und dreien verließen sie die Stadt, ohne von den Wachen gehindert zu werden. Auch die Frauen sind gegangen und andere Leute, die er geheilt hat. Simon von Kyrene hat sich ebenfalls auf den Weg gemacht. Sie alle sind überzeugt, ihn in Galiläa wiedersehen zu können.«

Ich überdachte ihren Bericht und fand ihn glaubwürdig. Weshalb sollte denn Maria eine solche Geschichte erfinden? Es leuchtete mir auch ein, daß Maria Magdalena mir unverändert wohlgesinnt sein mochte, obzwar sie wegen der Jünger mich nicht zu treffen wagte.

»Aber warum gerade nach Galiläa?« fragte ich. »Und was soll sich dort ereignen?«

Maria von Beeroth schüttelte den Kopf und sagte: »Das weiß ich nicht. Wozu brauche ich es auch zu wissen? Genügt es nicht, daß er selbst seinen Sendboten aufgetragen hat hinzugehen? Sie hatten es so eilig, daß die ersten heute in aller Frühe aufbrachen, sobald nur die Stadttore geöffnet wurden.«

Mit scheuer Gebärde berührte sie mein Knie und bat: »Mache dich auch reisefertig und laß mich als deine Dienerin mitkommen! Sonst duldet niemand meine Gesellschaft, und allein kann ich die Wanderung nach Galiläa nicht unternehmen. Zur Bezahlung von Gesinde fehlt mir das Geld, und ohne Begleitung würde ich Legionären und Räubern in die Hände fallen.«

Ich war geneigt, ihren Mitteilungen zu vertrauen; bestimmt hatte sie nicht die Absicht, mich zu täuschen. Ihr eigener schwärmerischer Eifer war der beste Beweis dafür. Aber sie gab doch nur ein Hörensagen wieder, und in diesen wirren Tagen konnten von Mund zu Mund gehende Gerüchte entstellt werden und zu Mißverständnissen führen. Es schien mir deshalb geraten, mir die Kunde aus einer zweiten Quelle bestätigen zu lassen.

Ich legte Maria nahe, sich in Geduld zu fassen, und erklärte: »Wir können nicht jetzt am späten Abend einfach losziehen. Und vor allem gedenke ich nicht, mich kopfüber in ein solches Abenteuer zu stürzen. Wir wollen die Sache überschlafen. Wenn mir morgen dein Bericht von anderer Seite bestätigt wird, will ich die Reise entsprechend vorbereiten, den Weg und die Rastplätze bestimmen und uns derart ausrüsten, daß wir Galiläa so bequem und so rasch wie möglich erreichen. Dort können wir uns dann umsehen und überlegen, was wir weiter tun sollen.«

Aber Maria jammerte: »Ich habe ohnedies schon den ganzen Tag gewartet, und mein Herz ist so unruhig, daß ich in der Nacht kaum ein Auge schließen würde. Warum können wir nicht gleich, so wie wir sind, ohne Sack und Pack, aufbrechen und in den Behausungen der Stillen im Lande schlafen oder draußen im Freien, jetzt, wo die Nächte nicht mehr so kalt sind? Da käme die Reise auch viel billiger.«

Ich mußte über ihre Einfalt laut lachen und sagte: »Glaube mir, im Reisen habe ich mehr Erfahrung als du. Manchmal erweist sich dabei die billigste Art zum Schluß als die teuerste – zum Beispiel, wenn jemand krank wird oder wenn man von Landstreichern überfallen und verprügelt wird. Überlasse es mir, die Reise vorzubereiten! In Galiläa kannst dann umgekehrt du mir raten, wohin wir gehen sollen.«

Sie entgegnete: »Ich kenne nur Kapernaum am See Genezareth. Dort hat er gewohnt und gelehrt. Dorthin sollten wir uns wenden, wenn wir unterwegs nichts weiter von ihm hören.«

»Geh also in Frieden!« sagte ich. »Und komm morgen um die Mittagsstunde wieder!«

Aber Maria fürchtete anscheinend, ich würde sie im Stich lassen; denn sie erwiderte rasch, sie wüßte nicht, wohin sie gehen sollte, und bat mich, sie auf dem Dach vor meiner Tür oder in einer Ecke meines Zimmers schlafen zu lassen. Ich dachte, es könnte nicht schaden, mich gleich an ihre Gesellschaft zu gewöhnen, da ich ja mit ihr reisen und an den gleichen Orten nächtigen würde. Sie störte mich übrigens in keiner Weise, sondern lag die ganze Nacht über still in ihrer Ecke auf einer Matte, in ihren Mantel gehüllt.

In der Frühe, als die Hörner bliesen, sprach sie nach Judenart laut ihr Morgengebet. Sonst aber versuchte sie nach Kräften, sich ruhig zu verhalten und meine Morgenverrichtungen nicht zu behindern. Ich bat sie, im Zimmer zu bleiben, und ging zu meinem Hausherrn hinunter, der schon seinen Ladentisch vor der Eingangstür aufstellte.

»Karanthes«, sagte ich, »es ist Zeit geworden, daß ich Jerusalem verlasse und meine Reise fortsetze. Meine Bekannte ist noch oben im Zimmer, und ich nehme sie mit. Ich habe nicht vergessen, was du mir gestern sagtest. Kaufe ihr also neue Gewänder und kleide sie von Kopf bis Fuß ordentlich ein. Und beschaffe ihr auch entsprechenden Schmuck, damit niemand sie unterwegs verachtet oder als zu armselige Begleitung für mich ansieht! Aber vermeide übertriebenen Prunk! Ich möchte auch nicht, daß sie allzusehr auffällt.«

Mein Syrer schlug vor Staunen die Hände zusammen und rief: »Ich weiß nicht, ob du klug daran tust; das mußt du selbst am besten beurteilen können. Solche Mädchen gibt es in jeder Stadt, und du würdest dir die Reisekosten für eine Begleiterin ersparen. Abgesehen davon aber handelst du jetzt vernünftiger als mit deinen Einmischungen in die jüdische Politik, von der du nichts verstehst.« Er fragte mich gar nicht nach meinem Reiseziel, so beschäftigt war er damit nachzudenken, wie er meinen Auftrag auf eine für beide Seiten vorteilhafte Art ausführen könnte.

Ich aber ging geradewegs zu meinem Bankier Aristainos, den ich schon auf den Beinen und eifrig mit Rechenbrett und Kreditbriefen hantierend fand. Er begrüßte mich mit freudigen Ausrufen, musterte mich von oben bis unten und sagte: »Du scheinst meine Ratschläge gründlicher befolgt zu haben, als ich gedacht hätte. Dein Bart ist schon länger als der meine, und nach deinen Mantelquasten zu schließen, bist du zumindest ein Tor-Proselyt. Hast du herausbekommen, was dich interessiert hat, und bist du zufrieden?«

Ich gestand vorsichtig zu: »Ja, ich habe sogar mehr erfahren, als ich wissen wollte, und bin so befriedigt, daß ich meinen Aufenthalt in Jerusalem beenden kann. Man hat mir in den lebhaftesten Farben die Schönheiten Galiläas geschildert und viel von Herodes Antipas' neuer Stadt Tiberias am See Genezareth erzählt. Dort kann man, so heißt es, an den heißen Quellen seine Gesundheit wiederherstellen, man kann Theater und Zirkus besuchen und, ohne Anstoß zu erregen, ganz auf griechische Art leben.«

Aristainos setzte eine merkwürdige Miene auf und vermied es, mich anzusehen. Darum fügte ich rasch hinzu: »Im letzten Winter in Alexandria dürfte ich mir wohl Körper und Geist überanstrengt haben. Ich möchte gern Bäder und Massage gebrauchen und griechische Dramen hören, um nach alledem, was ich gelernt und gehört habe, wieder ins Gleichgewicht zu kommen.«

Aristainos bemerkte lächelnd: »Offenbar bist du einem von Herodes' zungenfertigen Schleppern auf den Leim gegangen. Der Fürst hat viel Geld in die Erbauung von Tiberias gesteckt, das er zu einer möglichst modernen und griechischen Stadt machen wollte; und jetzt hofft er, Reisende und Heilungsuchende würden sich verleiten lassen, in dieser Atmosphäre duldsamer Ungezwungenheit ihre Moneten mit vollen Händen auszugeben. Willst du über Samaria reisen oder auf der Pilgerstraße östlich des Jordan?«

»Das alles wollte ich mit dir beraten«, erwiderte ich. »Ich möchte etwas Geld mitnehmen und mir einen Kreditbrief auf einen deiner Geschäftsfreunde in Tiberias ausstellen lassen. Um dir die Wahrheit zu sagen – ich habe ein nettes Mädchen als Reisebegleiterin gefunden. In Baiae habe ich die Erfahrung gemacht, daß ein junger Mann gut daran tut, alles, was er braucht, in einen Badeort mitzunehmen.«

Das Lächeln des Juden wurde nun sarkastisch. »Als Bankier habe ich nur deine Aufträge auszuführen«, meinte er. »In deine Privatangelegenheiten darf und will ich mich nicht mischen. Aber täuscht mich mein Gedächtnis, oder hast du wirklich schon genug gehört von den Lehren des gekreuzigten Nazareners?«

Ich brachte es nicht über mich, ihn anzulügen. Als er fortfuhr, mich scharf zu mustern, erklärte ich, die Worte sorgfältig wählend: »Ich habe allerdings mancherlei und sehr merkwürdige Dinge über ihn erfahren. Wenn ich Zeit finde, werde ich auch in Galiläa einige Erkundigungen in dieser Sache einziehen. Ich muß sagen, daß durch seinen Tod in eure heilige Stadt eine gespenstige Stimmung eingezogen ist. Auch ich habe seit jenem Tage viel über den Mann nachgedacht.«

Aristainos überlegte eine Zeitlang; dann warf er mir einen Seitenblick zu und bemerkte: »Dein plötzlicher Entschluß, nach Galiläa zu reisen, überrascht mich. Angeblich haben sich gestern viele Leute aus der Stadt dorthin auf den Weg gemacht. Unter dem einfachen Volk geht das Gerücht um, es würden dort Wunder geschehen. Ich weiß, du bist zu aufgeklärt, um hinter Fischern und Zimmerleuten herzuziehen; immerhin finde ich diese Gleichzeitigkeit auffallend.«

»Wir wollen aufrichtig miteinander reden«, fügte er nach einer kleinen Weile hinzu. »Ich habe Grund zur Annahme, daß unser Hoher Rat diese Galiläer, die Gefolgsleute des Gekreuzigten, ebenso satt bekommen hat wie die von ihnen und den Frauen ihrer Umgebung ausgestreuten Gerüchte. Das niedere Volk glaubt jeden Unsinn. Gerüchte zu unterdrücken ist schwer; noch schwerer aber ist es, jemanden bloß auf Grund von Gerüchten anzuklagen, weil jeder sagen würde, ohne Feuer gebe es keinen Rauch. Eine Kreuzigung genügt als warnendes Beispiel; die Mitläufer zu verfolgen, hieße der ganzen Sache zu viel Gewicht beilegen. Es ist besser, wenn der Mann in Vergessenheit gerät. Deshalb haben unsere Oberen, glaube ich, den Galiläern auf Umwegen zu verstehen gegeben, sie würden nicht länger verfolgt werden, wenn sie den Staub dieser Stadt von den Füßen schütteln. Man ist froh, sie derart nach Galiläa, das dem Herodes Antipas untersteht, abzuschieben. Er kann mit ihnen verfahren, wie er es für gut befindet; aber ich denke, sie werden zu Hause, unter ihren Landsleuten, wo jeder sie kennt, keinen Schaden anrichten. In der eigenen Heimat gilt ja der Prophet nichts. Ich setze dir das alles auseinander, damit du nicht einen falschen Eindruck von der Sache gewinnst oder dir Vorstellungen machst, die kein vernünftiger Mensch auch nur in Worte zu kleiden wert fände.«

Während ich dort in seinem prächtig ausgestatteten Zimmer saß, von festen Wänden und verschlossenen Türen umgeben, wirkten seine nüchtern-sachlichen Worte auf mich so, als würde auf Kohlenglut Sand gestreut, um sie zu ersticken.

»Wenn diese Dinge derart belanglos sind, wie du sagst, so hast du dich bemerkenswert genau über sie unterrichtet«, machte ich meinem Unmut Luft. »Auch ich will offen reden. Ich habe gehört, daß Jesus von den Toten auferstanden und seinen Jüngern erschienen ist und daß er verheißen hat, ihnen nach Galiläa vorauszugehen.«

Aristainos zupfte an einer Naht seines Obergewands, als fühlte er sich versucht, seine Kleider zu zerreißen. Aber er gewann rasch seine Selbstbeherrschung wieder, schnitt eine Grimasse und sagte: »Es war eine bodenlose Leichtfertigkeit, diese durchtriebenen Jünger seinen Leichnam während des Erdbebens aus der Gruft stehlen zu lassen. Jetzt können sie den Leuten jedes Märchen auftischen. Natürlich fällt es ihnen nicht schwer, ihren heimlichen Anhängern eine solche Geschichte einzureden und damit ihre Flucht aus Jerusalem als frommes Beginnen hinzustellen. Ich könnte dich vielleicht begreifen, wenn du ein von den heiligen Schriften berückter und vor lauter Messiaserwartung versauerter Jude wärest. Aber du bist Römer und Philosoph. Ein Toter steigt nicht aus dem Grabe. So etwas ist nie geschehen und wird auch nie geschehen.«

»Warum bist du dann so aufgeregt und außer dir, du Meister der kühlen Überlegung?« fragte ich. »Ich finde es ja verständlich, daß du an deinem Haus, Geld und Geschäft hängst und dein Äußerstes zur Erhaltung des Bestehenden tun mußt. Ich dagegen kann frei kommen und gehen und sogar Dinge ins Auge fassen, an die du nicht zu denken wagst. Ich verlasse jetzt die Stadt zu einer Badekur in Tiberias, und es soll dich nicht bekümmern, ob ich vielleicht insgeheim hoffe, dabei etwas zu hören oder gar zu sehen, was bisher nie geschehen ist.«

Wenn ich seinen kurzen Bart, seine gepflegte Haut an Gesicht und Händen und seine griechische Lockenfrisur betrachtete, erfaßte mich Abscheu vor ihm und seiner Ein-Stellung zur Welt. Ich mußte an die Schwestern des Lazarus denken und an Maria Magdalena; selbst Maria von Beeroth schien durch ihre sehnsüchtigen Hoffnungen meinem Herzen näher zu stehen als dieser von Geld und Gut beherrschte Mann. Er hatte keine Hoffnung; darum redete er auch anderen so rücksichtslos jede Hoffnung aus.

Er mußte meine Gedanken erraten haben; denn plötzlich änderte er seine Haltung, hob die Hände und sagte: »Verzeih! Natürlich weißt du selbst am besten, was du tust. Ich sehe, daß du im Herzen ein Dichter bist und deshalb dazu neigst, über Dinge nachzugrübeln, die ein Geschäftsmann aus seinen Gedankengängen einfach verbannt. Und du wirst dich ja wohl nie von Schwindlern hereinlegen lassen oder an unhaltbare Märchen glauben … Wie willst du also reisen? Ich kann dir einen erfahrenen Karawanenführer anbieten, mit Kamelen oder Eseln; ferner ein ausgezeichnetes Zelt mit voller Einrichtung, so daß du von Herbergen unabhängig bist und dir ihren Schmutz, ihr Ungeziefer und ihre zweifelhafte Gesellschaft ersparen kannst. Am vernünftigsten wäre es, zwei syrische Legionäre zu deiner Bewachung anzustellen; dann brauchst du weder bei Tag noch bei Nacht etwas zu fürchten. Das alles kostet natürlich Geld; aber du kannst es dir ja leisten.«

Ich hatte selbst an eine solche Lösung gedacht und mich deshalb an Aristainos gewandt. Ich verstand auch seine Beflissenheit; denn die Ausrüstung einer solchen Expedition mußte ihm beträchtlichen Gewinn abwerfen. Aber dann würde einer seiner Vertrauensleute jeden meiner Schritte, jedes meiner Worte überwachen und ihm nachher alles berichten. Er wieder würde, zu seinem eigenen Vorteil, den Behörden jede von ihnen gewünschte Auskunft weitergeben. Deshalb zögerte ich unschlüssig. »Eigentlich möchte ich am liebsten auf eigene Faust reisen«, erklärte ich. »Ich bin kein einziges Mal dazugekommen, das hiesige Gymnasion zu besuchen, und hoffe, die Reisestrapazen werden die Schlaffheit aus meinen Gliedern vertreiben. Allerdings muß ich auch darauf Bedacht nehmen, daß meine Begleiterin die einer Frau unentbehrlichen Bequemlichkeiten genießt.«

»Ganz richtig!« stimmte er eifrig bei. »Schon kleine Unbilden können eine junge Frau reizbar und launisch machen. Auch würdest du bestimmt nicht gern ihre weiße Haut von roten Bissen bedeckt sehen. Gestatte, daß ich für sie, während du dir die Sache überlegst, ein kleines Geschenk hole.«

Er verließ das Zimmer und kam mit einem schönen griechischen Handspiegel zurück, dessen Rückseite mit einer kunstvoll eingeritzten Gruppe geschmückt war: ein Satyr, der eine sich sträubende Nymphe umarmt. Es war ein schön polierter, wertvoller Spiegel, und ich wollte dem Bankier nicht durch Annahme dieses Geschenkes verpflichtet sein. Aber er drückte es mir in die Hand und sagte: »Sei unbesorgt! Es ist kein Zauberspiegel. Er wird deiner Freundin nur dazu verhelfen, dir genehme Gedanken zu hegen, wenn sie zuerst auf ihr eigenes Abbild schaut und dann auf den brünstigen Satyr. Angeblich gibt es ja Spiegel, die dem Hineinschauenden den Tod bringen. Als vernünftiger Mensch kann ich das kaum glauben; doch Vorsicht erweist sich immer als klug. Deshalb hoffe ich vom Herzen, daß du auf deiner Reise nicht unglücklicherweise einen Blick in einen solchen Spiegel werfen wirst, in dem man Dinge sehen mag, die der Mensch nicht schauen sollte.«

Er gab mir keine Zeit, über den Sinn seiner Worte nachzudenken, sondern begann an seinen Fingern abzuzählen und mir auseinanderzusetzen, daß ich unter anderem eine Zofe für meine Begleiterin brauchen würde, und einen Koch, und einen Bedienten für mich, und einen Eseltreiber, und einen Zeltaufsteller. Schließlich sagte er: »Zwölf Personen dürften insgesamt genügen; und ein so bemessenes Gefolge wird kein Aufsehen erregen, weil es gerade zur Not deinem Rang entspricht.«

Ich sah vor meinem geistigen Auge einen Schwarm schwatzender, keifender, schreiender, singender Bedienter, den in Zucht zu halten mir ganz unmöglich sein würde. Der bloße Gedanke daran nahm mich gegen den Plan ein, und ich sagte: »Ausgaben schrecken mich nicht; aber mein größter Luxus ist die Einsamkeit. Mach einen besseren Vorschlag! Und deinen Spiegel nimm zurück! Die anstößige Zeichnung ist vergnüglich; doch ich glaube kaum, daß sie mein Ansehen bei den Juden heben würde.«

Er nahm den Spiegel ohne Widerrede und erklärte: »Jetzt weiß ich, was wir tun. Da ist ein gewisser Nathan, der von Zeit zu Zeit in meine Dienste tritt. Einen einzigen Fehler hat er: daß er nichts redet; aber er ist ein durch und durch verläßlicher Mann und kennt Judäa, die Dekapolis, Samaria und Galiläa gleich gut. Als ich den Spiegel holte, sah ich ihn im Hof sitzen. Das bedeutet, er sucht Arbeit. Augenblicklich habe ich nichts anderes für ihn, und ich möchte nicht, daß er hier tagelang herumlungert; durch seine Schweigsamkeit geht er meinen Leuten auf die Nerven. Ich weiß, daß er Karawanen sogar bis Damaskus geführt hat. Setze ihm auseinander, wohin und auf welchem Wege du reisen willst, und er wird alles bestens ordnen. Du kannst ihm ruhig deinen Geldbeutel anvertrauen, und er wird in den Herbergen deine Rechnungen begleichen. Er feilscht nicht stundenlang, zahlt aber auch nicht, was man verlangt, sondern einfach das, was er für angemessen hält. Natürlich bekommt er auf diese Art von den Wirten keine Provisionen; aber er begnügt sich mit seiner Entlohnung.«

»Diesen Musterknaben würde ich gern sehen«, meinte ich, unsicher, ob es sich nicht bloß um eine Finte des Bankiers handelte. Aber er lachte über meine Zweifel, führte mich in den Hof und zeigte mir Nathan. Es war ein sonngebräunter Mann, barfuß, mit kurzgeschorenem Haar, in einen schmutzigen weißen Mantel gehüllt. Als er mir ins Gesicht blickte, kam mir vor, ich hätte noch nie so schwermütige Augen gesehen; doch irgendwie faßte ich sofort Vertrauen zu ihm.

Ich bat Aristainos, mein Vorhaben Nathan auseinanderzusetzen; aber er hob lachend die Hände und ging in sein Zimmer zurück, wo er seinen Buchhalter beauftragte, mein Reisegeld in einen Beutel einzuzählen und mir einen auf seinen Geschäftsfreund in Tiberias lautenden Kreditbrief auszustellen. Es war, als wollte er mit der ganzen Sache persönlich nichts zu tun haben. Als ich jetzt Nathan nochmals anblickte, wurde mir klar, daß ich zumindest keinen Spion vor mir hatte.

Ich sagte: »Du bist Nathan, und ich bin Marcus, ein Römer. Ich verreise mit einer Frau nach Tiberias und möchte das in möglichst schlichter, unauffälliger Form tun. Ich zahle dir den Lohn, den du verlangst, und du wirst auf der Reise die Kasse führen.«

Er musterte mein Gesicht und dann meine Füße, als wollte er feststellen, ob ich für eine Wanderung tauge, erwiderte aber nur mit einem Kopfnicken. Ich glaubte jedoch in seiner Miene ein gewisses Erstaunen zu entdecken.

»Ich glaube, drei oder vier Esel werden uns genügen«, fuhr ich fort. »Meine Begleiterin und ich brauchen Schlafmatten und Kochtöpfe. Beschaffe also, was dir nötig erscheint, und komm gegen Mittag zum Hause Karanthes', des Krämers, beim Hasmonäerpalast.«

Er nickte nochmals und ließ einen Zweig, von dem er auf einer Seite die Rinde abgeschält hatte, zu Boden fallen. Als er sah, daß der noch berindete Teil nach oben zu liegen kam, nickte er ein drittes Mal. Redselig war er wirklich nicht. Nach dem Verhör bei Aristainos war ich froh darüber, daß dieser Mann mich nichts fragen würde. Ich ging in das Haus zurück, um mich von dem Bankier zu verabschieden, der mir eine Abrechnung über mein Guthaben einhändigte und mir durch den Buchhalter Geldbeutel und Kreditbrief übergeben ließ.

»Glückliche Reise!« wünschte er mir. »Und sobald du zurückkommst, sehen wir uns hier in Jerusalem wieder.«

Ich kehrte in den Hof zurück und reichte Nathan meinen Geldbeutel. Er wog ihn in der Hand und befestigte ihn am Gürtel, überlegte ein wenig, blickte nach der Sonne und ging dann einfach seines Weges. Die Art, wie wir handelseins geworden waren, widersprach ebenso wie Nathans sonstiges Verhalten so völlig allem orientalischen Hang zum Feilschen, daß ich dem Mann lange verwundert nachblickte. Indes hatte ich keineswegs das Gefühl, daß er mich hintergehen würde.

Nun machte ich mich innerhalb der Mauern nach der Oberstadt auf, in die Gegend, wohin ich in der Dunkelheit dem Mann mit dem Wasserkrug gefolgt war. In dem Gewirr von Gäßchen und Treppen stieg ich höher und fand nach einigem Suchen das Tor in der alten Stadtmauer, durch das wir gegangen waren. So fest ich auch beschlossen hatte, die mir gegenüber derart abweisenden Sendboten nie mehr zu behelligen, ich wollte mich doch nach Möglichkeit vergewissern, ob sie die Stadt verlassen hätten.

Ich glaubte, das große Haus, in dem ich gewesen war, zu erkennen. Das schwere Tor stand offen; aber im Hofe regte sich nichts. Plötzlich verspürte ich eine unerklärliche Angst und wagte nicht einzutreten. Zögernden Schrittes ging ich vorbei, kam zurück und ging wieder vorbei. Das Tor zu durchschreiten vermochte ich jedoch nicht; auch wenn ich es gewollt hätte, wäre ich dazu außerstande gewesen.

Nach langer Unschlüssigkeit entfernte ich mich, voll Ärger und Selbstvorwürfen über meine Feigheit. Erstaunt bemerkte ich, wie verlassen dieses Viertel war; ich hatte nur ganz wenige Menschen erblickt. In der Nähe der Stadtmauer vernahm ich eintöniges Klopfen. Ein Bettler saß dort und schlug mit seinem Stock gegen einen Stein, um meine Aufmerksamkeit zu erregen; aber er war zu stolz, etwas von mir zu erbitten.

Ich habe die Erfahrung gemacht, daß man am klügsten tut, Bettlern keine Almosen zu geben, weil sie sonst hinter einem herhinken und man sie nicht mehr loswird. Aber dieser Bettler, dem die Füße fehlten, blickte mich bloß wortlos an und hörte zu klopfen auf, als er sah, daß ich ihn bemerkt hatte. Ich fühlte mich gezwungen, stehenzubleiben und eine Münze vor ihm hinzuwerfen.

Er hob die Gabe ohne Dank auf und fragte: »Was suchst du, Fremder? Wenn ich, der Fußlose, hier auf der Erde sitze, sehe ich viel und manches, wobei gesehen zu werden nicht allen recht wäre.«

»Dann gib mir ein Zeichen, wenn du kannst!« bat ich ihn.

»Reisevorbereitungen und schneller Aufbruch sind die einzigen Zeichen, von denen ich weiß«, erwiderte der Bettler. »Sogar Leute, die sonst bei Tage nicht gern ihre Gesichter zeigen, haben sich in Bewegung gesetzt. Soweit mir bekannt ist, handelt es sich um Fischer, und sie scheinen es eilig gehabt zu haben, zu ihren Netzen zurückzukehren. Ist dir dieses Zeichen von Nutzen?«

»Gewiß, und zwar mehr, als du glaubst«, antwortete ich und warf ihm vor Freude noch eine Münze hin. Er las sie wie geistesabwesend auf und starrte mich an, als wollte er herausbekommen, wer ich sein mochte. Dann fragte er plötzlich: »Hast du nicht eines Abends einen Blinden geführt und ihm beim Quelltor deinen Mantel geschenkt? Wenn ja, würde ich dir raten, ein Netz zu kaufen und den anderen zu folgen. Es könnte sein, daß dir ein großer Fischzug gelingt.«

Etwas schnürte mir die Kehle zu, und mein Herz bebte. »Wer hat dich beauftragt, mir das zu bestellen?« brachte ich mühsam hervor.

Aber der fußlose Bettler schüttelte den Kopf und erklärte: »Niemand hat mich das geheißen. Ich habe es einfach aus Verbitterung gesagt. Wenn ich noch meine Füße hätte, wäre ich nämlich heute auch nach Galiläa gewandert. Durch die Straßen tönt es wie ein Lied und wie ein Jubelruf: Nach Galiläa, nach Galiläa! Aber ich kann nicht mit.«

»Du redest nicht wie ein Bettler«, bemerkte ich.

»Ich war nicht immer einer«, entgegnete er stolz. »Ich kenne die heiligen Schriften, und während ich fußlos im Straßenstaub sitze, fällt es mir leichter, Dinge aufzufassen und zu glauben, die ein gesunder, unverkrüppelter Mensch nicht begreifen kann. Wegen dieses Unfugs hat man mir schon öfter eins auf den Mund gegeben, und ich täte besser, die Zunge zu hüten. Aber als ich dich so schüchtern um das Haus, das auch ich von weitem beobachtet habe, streichen sah, da konnte ich nicht schweigen.«

»Also – auf nach Galiläa!« rief ich. »Du bestärkst meine Hoffnung.«

»Auf nach Galiläa!« wiederholte er eifrig. »Und wenn du ihn siehst, so bitte ihn, auch uns zu segnen, die Geringsten seiner Brüder, denen die Klüglinge ins Gesicht schlagen.«

In Gedanken vertieft, kehrte ich in die Unterstadt zurück. Aber als ich mich dem Hause meines Syrers näherte, wurden meine Füße ungeduldig. Ein wohliges, erwartungsvolles Fiebern wärmte mir die Seele, und in mir hob ein Tönen an, wie ein Lied und ein Jubelruf: Nach Galiläa, nach Galiläa! Ich konnte an nichts anderes mehr denken.

Dennoch durfte ich jetzt nicht geradewegs in mein Zimmer hinaufgehen; ich mußte mich vor dem Haus auf die Türschwelle setzen und warten. Frau und Tochter meines Hausherrn waren nämlich oben und halfen Maria beim Ankleiden. Karanthes erläuterte: »Die Frauen sind alle gleich; sie konnten einfach der Versuchung nicht widerstehen und mußten sich die schönen Kleider und den preiswerten Schmuck genauer anschauen. Bei dieser Gelegenheit hat übrigens meine Frau die Überzeugung gewonnen, daß Maria von Beeroth keine verstockte Sünderin ist, sondern eher ein harmloses Mädchen, das du retten und ehrbar machen willst.«

Ich fand keine Zeit zu einer Erwiderung; denn Frau und Tochter riefen mich jetzt von oben her und forderten mich mit fröhlichem Plappern auf, mir meine Braut zu besehen. Verwundert über ihre Sinnesänderung gehorchte ich, und mein Staunen wuchs, als ich Maria erblickte. In ihren neuen Kleidern sah sie noch jünger aus als gestern abend. Zur Zierde trug sie eine gestickte Binde um die Taille und ein Band um die Stirn, eine Halskette aus bunten Steinen, große Ringe in den Ohren und sogar Fußspangen. Mit vor Freude roten Wangen begrüßte sie mich laut und sagte: »Warum staffierst du mich aus wie die Tochter eines reichen Mannes zu einem Fest? Ich bin gewaschen und gekämmt und gesalbt und habe einen Gesichtsschleier für die Reise und einen Mantel zum Schutz meiner Kleider gegen den Staub.«

Sie probierte den Schleier, nahm den Mantel um und zeigte sich von allen Seiten, so daß ihr Schmuck klirrte. Ihr kindliches Entzücken rührte mich; es war, als hätte sie mit ihrem alten Gewände ihre üble Vergangenheit mit abgestreift. Auch Karanthes kam sie besichtigen, als wäre sie das Werk seiner Hände, und betastete jeden Stoff und jedes Schmuckstück. Er forderte mich auf, das gleiche zu tun, und nannte bei allem den Preis, als wollte er Maria durch die Höhe meiner Ausgaben für ein Mädchen ihrer Art beeindrucken. Als Maria seine Aufzählung hörte, verschattete sich ihre Miene, ihr Frohsinn schwand, und sie warf mir einen argwöhnischen Blick zu.

Ich dankte dem Syrer für seine Mühe und richtete auch an Frau und Tochter einige höfliche Worte, bis sie endlich alle drei begriffen, daß ihre Anwesenheit überflüssig war, und sich, hinter den vorgehaltenen Händen kichernd, zurückzogen. Als wir, Maria und ich, allein waren, starrte sie mich angstvoll an und wich wie schutzsuchend bis zur Wand zurück.

»Was für Absichten hast du mit mir?« fragte sie. »So etwas ist mir, seit ich aus meinem Heimatdorf in die Stadt durchgebrannt bin, nur ein einziges Mal passiert. Eine alte Frau hat mich von der Straße in ihr Haus mitgenommen und mir anstatt meines groben Linnens prächtige Gewänder angelegt. Ich dachte, sie meinte es gut mit mir, bis ich entdeckte, in welche Art von Haus ich geraten war. Sie schlug mich, wenn ich ihren Gästen nicht nach deren Wunsch zu Willen sein konnte, und es hat drei Tage gedauert, bis es mir gelang davonzulaufen. Mir kam vor, du bist anders, und ich habe für dich gebetet, weil du lieb zu mir warst und mich in der letzten Nacht nicht, wie ich fürchtete, belästigt hast. Aber jetzt traue ich dir nicht mehr. Wahrscheinlich war ich in meinem armseligen, ungepflegten Aufzug nicht schön genug für dich.«

Ich mußte lachen und tröstete sie: »Keine Angst! Mich verlangt es nach keinem irdischen Reiche; sonst könnte ich ebensogut mit dir hier in Jerusalem bleiben. Ich habe genug erlebt, um zu wissen, daß alle Lust dieser Erde nur eine glühend heiße Grube ist, in der es nirgends einen Hauch von Kühle gibt, sondern bloß, je tiefer man hinuntersteigt, desto ärgere Hitze. Deshalb begehre ich nur mehr nach jenem anderen Reiche, das jetzt noch bei uns hienieden weilt. Und dieses Reich will ich in Galiläa suchen, mit dir zusammen.«

Aber meine freundlichen Worte verfehlten ihre Wirkung auf sie. Tränen schossen ihr in die dunklen Augen, sie stampfte mit dem Fuße auf, packte Halskette und Stirnband, warf sie zu Boden und rief: »Jetzt verstehe ich, warum du dir nicht einmal die Mühe genommen hast, den Schmuck selber für mich zu besorgen, sondern es anderen überließest. Deine Gleichgültigkeit kränkt mich. Ich mag keinen Zierat tragen, den du nicht selbst für mich ausgesucht hast … Und dabei habe ich nie so schöne Sachen gehabt!«

Es fiel ihr derart schwer, auf ihren Putz zu verzichten, daß sie immer heftiger weinte, mit beiden Füßen aufstampfte und schluchzte: »Begreifst du denn nicht, daß die einfachste Halskette aus Obstkernen und Samenkörnern, hättest nur du sie mir beschafft, mir wertvoller gewesen wäre als diese teuren Metallsachen?«

Nun wurde auch ich zornig. Ich stampfte meinerseits auf und befahl: »Jetzt aber augenblicklich Schluß mit dieser Heulerei, Maria von Beeroth! Ich kann mir einfach nicht erklären, warum du dich so ungebührlich benimmst. Was werden die Leute unten von mir – und von uns beiden – denken, wenn sie dieses ganze Getrampel und Geheule hören? Eine flennende Frau ist häßlich wie die Nacht, und wenn du meine Gutherzigkeit auf so verletzende Art mißdeutest, so sehe ich keine Möglichkeit, dich nach Galiläa mitzunehmen.«

Über diese Drohung erschrak Maria. Sie hörte gleich zu weinen auf, trocknete sich die Augen, schlang mir die Arme um den Hals, küßte mich auf die Mundwinkel und bat sittsam: »Verzeih mir meine Einfältigkeit! Ich werde versuchen, mich zu bessern, wenn du mich nur mitnimmst.«

Ihre Liebkosung war die eines unfolgsamen, aber reuigen Kindes und besänftigte mich sofort. Ich streichelte ihr die Wange und sagte: »Dann nimm also deinen Putz, damit die Wachsoldaten unterwegs dich als meine Begleitdame achten! Später wird sich bestimmt eine Gelegenheit finden, dir getrocknete Beeren und Obstkerne zu einer Halskette aufzufädeln, wenn dir das lieber ist. Aber wir sind doch keine Kinder mehr.«

Kinder waren wir ja wirklich keine mehr. Doch in diesem Augenblick erfüllte mich die Sehnsucht, im Herzen wieder ein Kind zu werden, nichts von Sinnenlust oder Bosheit zu wissen und mich jeden Tages, so wie er kam, harmlos freuen zu können. Ich wußte nicht, was mich in Galiläa erwartete; vielleicht unternahm ich diese anstrengende Wanderung vergebens. Aber wenigstens die Reise selbst wollte ich genießen; und auch meine Hoffnung, die bloße Vorfreude, wollte ich voll auskosten.

Karanthes rief zu mir hinauf, die Esel stünden bereit. Ich erkannte am Sonnenstand, daß es genau Mittag war. Neugierig eilte ich hinunter, und Maria folgte mir. In dem Gäßchen vor dem Hause sah ich vier kräftige Esel, zwei davon mit Schlafmatten auf dem Rücken. Der dritte trug zwei Packkörbe, und auf dem vierten saß eine ärmlich gekleidete Frau, die nicht einmal den Blick vom Nacken ihres Reittiers zu heben wagte. Nathan grüßte mich achtungsvoll, aber schweigend und zeigte bloß auf die Sonne, um anzudeuten, daß er zu der von mir festgesetzten Stunde erschienen war.

»Wer ist diese Frau? Ich wünsche keine solche Person zur Begleitung«, erklärte ich aufgebracht. Aber Nathan erwiderte nichts und schaute weg, als ginge ihn die Sache nichts an. Karanthes trat herzu und sprach mit der Frau; dann wandte er sich, verlegen an seinem Barte zupfend, zu mir.

»Sie heißt Susanna«, berichtete er. »Sie sagt, Nathan habe ihr versprochen, sie als Magd mitzunehmen. Sie will nämlich nach Galiläa heimkehren, kann aber nicht so weit zu Fuß gehen. Deshalb sitzt sie schon auf ihrem Esel, und sie verlangt keinen Dienstlohn, wenn sie mitkommen darf. Soweit ich verstanden habe, ist sie zu Ostern hier krank geworden, und ihre Reisegesellschaft ist ohne sie heimgekehrt.«

Die Frau saß weiter wie festgewachsen auf ihrem Esel und wagte nicht, mich anzusehen. Begreiflicherweise wurde ich zornig und rief: »Wir brauchen keine Magd. Wir bedienen uns gegenseitig. Ich kann nicht alle Kranken aus Jerusalem nach Galiläa mitnehmen.«

Nathan blickte mich forschend an, und als er merkte, daß es mir damit ernst war, zuckte er die Achseln, hob die Hand, löste meinen Geldbeutel vom Gürtel, warf ihn mir vor die Füße und entfernte sich, ohne sich um die Esel zu kümmern, durch die Gasse. Die unbekannte Frau jammerte, blieb aber unentwegt sitzen.

Ich machte mir klar, daß meine Abreise, wenn ich jetzt einen anderen, vielleicht noch dazu unzuverlässigen, Führer aufnehmen müßte, weiter verzögert werden würde. Die Wut stieg in mir auf, aber ich schluckte sie hinunter, rief Nathan zurück, hieß ihn den Geldbeutel wieder nehmen und rief erbittert: »Ich schicke mich ins Unvermeidliche. Tu nach Belieben, aber schau, daß wir weiterkommen, bevor sich noch mehr Gaffer ansammeln!«

Ich eilte ins Haus, rechnete mit Karanthes ab, gab ihm mehr, als er verlangte, und sagte: »Nimm die Sachen, die ich zurückgelassen habe, in Verwahrung! Ich komme nach Jerusalem zurück.«

Karanthes dankte mir überschwenglich und bestätigte mit überzeugtem Kopfnicken: »Ganz recht! Ich zweifle nicht daran, daß du sehr bald zurück sein wirst.«

Neugierige scharten sich um die Esel, während Nathan geschickt alles, was ich mitzunehmen wünschte, in die Tragkörbe verstaute. Die Zuschauer betasteten die Beine der Tiere und nahmen ihre Zähne in Augenschein; und die Frauen bedauerten die kranke Susanna, die wie ein Häuflein Elend auf ihrer Reitdecke hockte und sich nicht traute, zu jemandem ein Wort zu reden. Auch Bettler kamen heran, streckten heischend die Hände aus und wünschten uns viel Glück für die Reise; Nathan gab ihnen aus meinem Geldbeutel Almosen in der ihm angemessen erscheinenden Höhe, damit sie uns nicht durch ihre Flüche Unheil brächten. So gab es in der Gasse des Krämers einen beträchtlichen Auflauf, ehe Maria und ich endlich unsere Esel besteigen konnten und Nathan sich an die Spitze der Karawane stellte. Soweit es mich betraf, hätte man mir ebensogut einen Sack über den Kopf stülpen können; denn Nathan sagte kein Wort darüber, auf welchem Wege er uns nach Galiläa bringen und in welchen Herbergen er einkehren wollte.

Zuerst indes führte er uns durch die Vorstadt zum Marktplatz, wo es nach Salzfisch stank, und dann durch das Fischtor aus der Stadt hinaus. Die Wächter kannten ihn, wollten jedoch die Körbe auf dem Packtier durchsuchen; als ich aber rief, ich sei Römer, ließen sie uns sofort durch und blickten uns lange nach. Zu meiner Überraschung folgte Nathan jetzt der Straße, die längs der Stadtmauer zur Antonia führte und hielt die Esel vor dem Festungseingang an. Als Susanna beim Tor die Legionäre gewahrte, fing sie wieder an zu jammern an und barg ihr Gesicht am Nacken des Esels. Vergebens forderte ich Nathan auf weiterzuziehen; er winkte mir bloß, ich möge in die Festung gehen. Mir stieg schon der Verdacht auf, er sei stumm, da ich ihn bisher überhaupt kein Wort hatte reden hören. Dann musterte ich sein kurzgeschnittenes Haar und fragte mich, ob er nicht vielleicht ein Schweigegelübde abgelegt habe.

Widerstrebend durchschritt ich den Torbogen, und die Wachen hielten mich nicht an, so merkwürdig ich auch mit meinem Bart und dem gestreiften Mantel aussehen mochte. Im gleichen Augenblick kam, wie gerufen, der Festungskommandant vom Turm herab.

Ich ging auf ihn zu, grüßte ihn mit erhobenem Arm und sagte: »Ich begebe mich nach Tiberias, zu einer Badekur. Mein Karawanenführer war der Meinung, ich sollte mich von dir verabschieden und Ratschläge für meine Wanderung einholen. Ich reise ganz einfach, mit keiner anderen Begleitung als zwei Frauen.«

Er fragte: »Willst du durch Samaria ziehen oder im Jordantal?«

Ich schämte mich einzugestehen, daß ich es nicht wußte, und erwiderte deshalb: »Ich möchte mich da an deinen Rat halten.«

Der schwermütige, rheumageplagte Mann zupfte sich an der Oberlippe und erklärte: »Die Samariter sind boshafte Leute und spielen einfachen Wanderern manchen Schabernack. Der Jordan wieder führt noch Hochwasser. Du könntest an den Furten Schwierigkeiten haben, und nachts hört man dort oft aus dem Dickicht die Löwen brüllen. Wenn du willst, gebe ich dir natürlich zwei Legionäre zur Bedeckung mit; du mußt sie nur bezahlen und gelegentlich dem Prokurator gegenüber meine Hilfsbereitschaft erwähnen.«

Offensichtlich war er jedoch nicht begeistert darüber, seine Garnison auch nur kurzfristig um ein paar Mann zu vermindern. Daher antwortete ich: »Nein, nein. Ich reise in einem Lande, wo Rom für Ordnung sorgt, und habe nichts zu befürchten.«

»Dann gebe ich dir wenigstens ein Schwert mit«, sagte er erleichtert. »Als römischer Bürger darfst du mit einem Schwert reisen. Aber vorsichtshalber bekommst du noch eine schriftliche Erlaubnis, nachdem du so wunderlich gekleidet gehst und deinem Bart kein Schermesser angedeihen läßt.«

Ich ging also hinein, übernahm vom Waffenmeister Schwert und Schultergehänge und gab dem Sekretär für den Erlaubnisschein einen Geldbetrag, damit auch der Kommandant aus meiner Abreise in geziemendem Umfange Vorteil ziehe. Er begleite mich dann freundschaftlich durch den Hof zum Tor, konnte aber beim besten Willen ein Lächeln nicht verbeißen, als ich das Schwert über meinen Judenmantel gürtete.

Nathan lächelte nicht, sondern nickte befriedigt, während er die Esel zum Weitermarsch antrieb. Wir umwanderten nun den Tempelbezirk, querten das Kidrontal und schlugen die Straße ein, die sich am Ölberg emporwindet und die ich bis Bethanien schon kannte. Als die Hauptstadt außer Sicht war, stieg ich ab und ging zu Fuß weiter. In Bethanien ließ ich Nathan anhalten und begab mich zum Hause des Lazarus.

Nachdem ich ihn eine Zeitlang laut gerufen hatte, kam er aus seinem Garten und erwiderte meinen Gruß. Ich erkundigte mich nach seinen Schwestern und erfuhr, daß sie nach Galiläa aufgebrochen waren.

Ich fragte: »Warum bist du nicht mit ihnen gegangen?«

Er schüttelte den Kopf und entgegnete: »Ich sah keinen Grund dazu.«

»Aber mir wurde gesagt, daß er, euer Herr, den anderen dorthin vorausgegangen ist und sie erwartet.«

Lazarus meinte abwehrend: »Was geht das mich an? Ich pflege meinen Garten und bleibe in der Nähe meines Grabes.«

Er sprach mit ungelenker Zunge, seine Augen waren verdüstert, und er schien über irgendein Rätsel nachzugrübeln, das er niemand anderem darlegen konnte. Mich überlief es eiskalt in seiner Gegenwart, und ich bedauerte, ihn aufgesucht zu haben.

»Friede sei mit dir!« verabschiedete ich mich.

»Friede!« äffte er spöttisch nach. »Wenn du wüßtest, was für mich Friede bedeutet, würdest du mir ihn kaum wünschen.«

Er fuhr sich mit seiner gelblichen Hand über die Stirn und fügte hinzu: »Ich habe Kopfweh, und meine Gedanken zerflattern mir. Als ich dich meinen Namen rufen hörte, bin ich erschrocken. Ich bekomme jetzt immer Angst, wenn jemand mich ruft. Ich möchte dir ein Gleichnis sagen. Wenn wir, du und ich, beide nur so groß wie Nadelspitzen wären und alles um uns herum wäre auch nadelspitzenklein oder noch kleiner, so würden wir uns gegenseitig dennoch weiter für ebenso groß halten wie bisher, weil wir nur einander zum Vergleich hätten. Für mich aber ist die Welt und alles um mich so klein geworden wie eine Nadelspitze. Warum hat er sich bereit gefunden, geboren zu werden, zu sterben und wieder in diese Nadelspitzenwelt aufzuerstehen? Das vermag ich einfach nicht zu fassen.«

Ich konnte nur annehmen, daß während der Tage, da er tot im Grab gewesen war, sein Hirn irgendwie Schaden genommen hatte und er nicht mehr so zu denken vermochte wie andere Menschen. Ich wandte mich schweigend ab und kehrte zur Straße zurück. Nathan blickte mich prüfend an, und in seiner Miene lag die gleiche Verwunderung, die ich schon einmal an ihm bemerkt hatte. Aber er sagte nichts. Wir setzten unseren Weg fort.

Die Straße führte in einen Talboden und querte einen Wasserlauf. Wir wanderten am Fuß der Berghänge und hielten nur einmal an, um an einem Brunnen die Esel zu tränken. Nathans Schweigsamkeit steckte auch Maria an, so daß wir wenig sprachen. Aber die Redescheu des Mannes hatte nichts von mürrischem Mißmut; ich hatte volles Vertrauen zu seiner Führung. Auch gegen die kranke Frau hegte ich keinen Groll mehr; sie ritt als letzte und bemühte sich, so wenig wie möglich aufzufallen. Als die Schatten länger wurden, begann ich mich sogar ihretwegen zu sorgen und fragte mich, wie weit ihre Kräfte reichen würden. Nathan trieb die Tiere ununterbrochen an; er ging mit langen, unermüdlichen Schritten einher, als hätte er es eiliger als wir selbst. Ich stellte fest, daß er Samaria meiden wollte und dem Weg der galiläischen Pilger folgte, die für ihre Tempelreisen zu den großen jüdischen Festen über Jericho wanderten.

Erst als einzelne Sterne auftauchten, machten wir in einem kleinen Dorfe halt, und Nathan führte die Esel in den umzäunten Hof einer bescheidenen Herberge. Hier mußten wir selbst für uns sorgen. Rasch und geschickt entlud Nathan die Tiere und trug unsere Schlafmatten in einen leeren, nach Dung riechenden, aber reinen Raum. Susanna beeilte sich, im Hof ein Feuer anzuzünden und klapperte sehr vernehmlich mit den Kochtöpfen, um zu zeigen, daß sie sich nützlich zu machen und uns ein Essen zu bereiten gedachte.

Sie mischte Hammelfleischstücke in die dicke Suppe, die sie an das Feuer gesetzt hatte, und ließ das Fleisch schmoren. Dann holte sie Wasser und bestand darauf, mir die Füße zu waschen. Sie wusch auch Marias Füße und behandelte die junge Frau in jeder Beziehung mit Ehrerbietung. Als das Essen fertig war, reichte sie zuerst mir und dann Maria davon. Ich fühlte mich sehr wohl.

In herzlichem Töne lud ich Nathan und Susanna ein: »Ich weiß nicht, ob ich gegen eure Gesetze verstoße; aber schließlich reisen wir miteinander und werden im selben Raum schlafen. Wenn ihr das gleiche essen wollt wie ich, so setzt euch und greift zu!«

Sie wuschen sich die Hände und kauerten sich zum Essen auf den Boden hin. Nathan brach das Brot, segnete es auf jüdische Art und reichte mir ein Stück; den Frauen schenkte er keine Beachtung. Er aß wenig, das Fleisch berührte er überhaupt nicht. Während des Mahles starrte er in Gedanken versunken vor sich hin, und ich versuchte nicht, ihn ins Gespräch zu ziehen. Nachher sah er nochmals nach den Tieren, hüllte sich in seinen Mantel, bedeckte den Kopf und legte sich an der Schwelle schlafen, als wollte er damit andeuten, wir täten gut, seinem Beispiel zu folgen. Als aber Susanna fertiggegessen hatte, warf sie sich vor mir nieder und wollte mir die Füße küssen, zum Dank dafür, daß ich sie unter meinen Schutz genommen hatte.

Ich sagte: »Danke nicht mir, sondern Nathan! Ich hoffe bloß, daß die Reise dich nicht zu sehr hernimmt; sonst wirst du gar von neuem krank.«

Sie widersprach: »Nein, nein! Wir galiläischen Frauen sind zähe wie Leder. Meine Krankheit ist hauptsächlich Kummer; aber wenn ich heimkomme, an das Ufer des Galiläischen Meeres, wird die Freude mich wieder ganz gesund machen.«

Am nächsten Morgen weckte Nathan uns vor Sonnenaufgang und setzte uns so rasch in Bewegung, daß ich, vor Schläfrigkeit und Kälte zitternd und einen Bissen Brot kauend, schon auf meinem Esel saß, als gerade die rote Sonne über den Hügeln aufstieg. Sobald aber allmählich das Sonnenlicht heller und wärmender wurde, erfüllte mich Freude. Die blauen Höhen, die Weinberge und die silbergrauen Ölbäume auf den Hängen waren schön anzusehen. Ich glaube, wir alle empfanden den gleichen Frohsinn; denn plötzlich stimmte Nathan zu meinem größten Erstaunen mit heiserer Stimme ein hebräisches Lied an.

Ich warf Maria einen fragenden Blick zu; doch sie schüttelte nur den Kopf, zum Zeichen, daß sie die Liedworte nicht verstand. In dem auf- und absteigenden Singsang Nathans war etwas zugleich Jubelndes und Feierliches. Als er verstummte, stieg ich von meinem Esel und wartete, bis Susanna herankam. Auf meine Frage blickte sie mich vertrauensvoll an und erläuterte: »Das ist ein Pilgerlied und besagt: ›Der Herr ist dein Hüter; zu deiner Rechten steht der Herr, dein Beschützer. Bei Tage wird dir die Sonne nicht schaden, der Mond nicht bei Nacht. Der Herr wird dich vor jedem Übel bewahren; er wird deine Seele behüten. Der Herr wird behüten dein Gehen und Kommen, von nun an bis in die Ewigkeit.‹«

Ich verstand Susannas Mundart nicht recht, und sie begann daher die gleichen Worte in der Umgangssprache zu summen, den Oberkörper hin und her wiegend. Und plötzlich brach sie zu meiner Überraschung in Tränen aus. Ich berührte ' tröstend ihre Schulter und sagte, etwas erschrocken: »Weine nicht, Susanna! Erzähle mir, was dich bedrückt! Vielleicht kann ich dir helfen.«

Sie erwiderte: »Nein, nein. Ich weine nur vor Freude, weil ich aus tiefstem Leid und eigentlich aus den Klauen des Todes wieder an das Licht des Tages gekommen bin.«

Mir wurde unwillkürlich etwas merkwürdig zumute, weil ich offenbar gleich zwei Menschen, die nicht ganz richtig im Kopfe waren, zu Reisegefährten hatte. Aber ich mußte lächeln: schließlich war ich nach allen vernünftigen Maßstäben selber ein verrückter Römer, der ohne Rast und Ruhe einem auferstandenen Judenkönig nachlief.

Gegen Mittag kamen wir ins Jordantal hinunter und erblickten vor uns weites, fruchtbares Ackerland und die grauen Mauern Jerichos. Die Luft wurde glühend heiß; doch immer wieder führte ein Windhauch uns den milden, aber durchdringenden Duft der Palmenhaine zu, die Jerichos Reichtum sind.

Hier war der Frühling weiter fortgeschritten als in Jerusalem, und wir sahen schon Landleute den Weizen mit Sicheln schneiden. Nathan führte uns nicht in die Stadt, sondern auf Viehsteigen längs der Umfassungsmauern, und zu Mittag rasteten wir im Schatten dieser Mauern neben einer Quelle und ließen die Esel grasen. Nathan entfernte sich ein Stückchen, um zu beten, und hielt, als er zurückkam, noch die Arme gegen Jerusalem hin erhoben. Dadurch erinnerte sich auch Maria an ihre Gebetspflicht, und Susanna murmelte ebenfalls fromme Worte. Das schied diese Menschen von mir. Ich pflege ja nur dann zu beten, wenn das Herkommen es fordert, bei Opfern und an den Götterfesten des Ortes, wo ich mich gerade aufhalte – eine Form des Betens, die meinem Empfinden nach nichts fruchten kann. Ich passe mich einfach den Sitten und Gebräuchen der verschiedenen Länder an, um nicht aufzufallen. Jetzt erfüllte mich eine Art Neid, und am liebsten hätte ich meine Gefährten ersucht, mich ihre Gebete zu lehren. Doch sie waren Juden und betrachteten ihr Volk als von Gott auserwählt; so befürchtete ich, Nathan und Susanna würden mir meine Bitte abschlagen. Marias Beten aber schien mir nicht viel mehr als kindliche Gewohnheit und konnte mir wohl keinen Nutzen bringen.

Während unserer Rast aßen wir Brot, Zwiebeln und Käse. Maria und ich tranken sauren Wein, Nathan und Susanna aber nur Wasser. Als ich Nathan Wein anbot, zeigte er wortlos auf sein kurzgeschnittenes Haar, und ich begriff, daß irgendein Gelübde ihn band. Doch er sah mich so treuherzig an, daß ich ihn fragte: »Hast du auch ein Schweigegelübde abgelegt?«

Er entgegnete: »Wo viele Worte sind, da geht's nicht ohne Sünde ab.« Aber er lächelte dabei gutmütig.

Nun jedoch hatte er keine Geduld mehr, länger zu rasten, sondern drängte zum Aufbruch. Wir kehrten zur Landstraße zurück und sahen, über die Ebene hinweg, in der Ferne den hochgehenden Jordan fließen. Unsere Wanderung in der Hitze trieb uns derart den Schweiß aus den Poren, daß jeder von uns an seiner eigenen Mühe genug hatte. Dazu wurden Mensch und Tier von stechenden Fliegen überfallen; diese Schwärme kamen meiner Meinung nach von den Ochsen, die aus den Feldern Weizengarben zu den Dreschtennen schleppten.

Als der Abend kam, hatten wir einen langen Tagesmarsch hinter uns und waren alle müde, durstig und steif. Wir nächtigten in einem Dorf, das einen quellgespeisten Brunnen hatte, so daß wir uns gründlich waschen konnten. Ich hatte schon festgestellt, daß Nathan die Herbergen der größeren Ortschaften, wo wir bequemer untergebracht gewesen wären und fertiggekochtes Essen bekommen hätten, zu meiden schien. Als er mich aber prüfend anblickte, zeigte ich keinerlei Unzufriedenheit. Nach den entnervenden Tagen in Jerusalem tat ja dieses einfache Leben meinem Körper nur wohl.

Maria war des Nichtstuens müde, schürzte ihren Mantel und half Susanna beim Feuermachen und Kochen. Ich hörte die beiden nach Frauenart eifrig miteinander schwatzen, während vor meinen Augen die Sterne allmählich aufleuchteten.

Als wir gegessen hatten, schob Maria ihre Schlafmatte ganz nahe an die meine heran und flüsterte mir ins Ohr: »Diese Susanna ist völlig ungebildet, und man könnte sie fast für schwachsinnig halten. Aber ich vermute, daß sie zu den Stillen im Lande gehört und auch etwas von dem gekreuzigten Jesus weiß. Allerdings hat sie Angst vor uns und wird kaum aus sich herausgehen.«

Rasch setzte ich mich auf. Nathan hatte schon seinen Kopf verhüllt und sich vor der Schwelle schlafen gelegt; Susanna aber kniete noch und murmelte ihr Gebet. Ich konnte mich nicht enthalten, sie mit leiser Stimme beim Namen zu rufen und zu bitten: »Sag mir, wie du betest, damit ich auch richtig zu beten lerne!«

Susanna hob abwehrend die Hände und beteuerte: »Ich bin eine unwissende Frau. Ich kenne das Gesetz nicht. Ich verstehe nicht so zu beten, wie es sich gehört. Du würdest mich nur auslachen, wenn ich es dich lehren wollte.«

Ich versicherte ihr: »Lachen werde ich bestimmt nicht. Ich möchte still und demütig im Herzen werden.«

Auch Maria meinte: »Dein Gebet ist neu. Ich habe noch nie jemanden so beten hören.«

Verschreckt, aber eingedenk ihrer Dankespflicht mir gegenüber lehrte Susanna uns das Gebet. Zuerst erklärte sie: »Ich habe es erlernt, weil es leicht zu merken ist und – so sagte man mir – alle anderen Gebete ersetzt, da diesen Worten nichts hinzuzufügen ist.« Dann fuhr sie fort: »Ich bete so: ›Vater unser, der du bist in dem Himmel, geheiligt werde dein Name. Es komme dein Reich. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben haben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.‹«

Ich bat sie, das Gebet zu wiederholen, und fand es wirklich einfach und leicht zu behalten. Ich sprach es laut nach, jeden Satz überlegend, und erkannte, daß diesem Gebet tatsächlich nichts beizufügen war, weil darin alles ausgedrückt ist, was einem schlichten Menschen vonnöten sein kann. Es war nicht das ausgeklügelte Gebet eines Gelehrten; aber es gab mir so viel zu denken, daß ich Susanna nicht mit weiteren Fragen plagte.

Die nächste Nacht mußten wir in der Nähe eines zum Teil überfluteten Dickichts verbringen. Irgendwo weit im Norden, in den Bergen, wo der Jordan entspringt, schmolz der Schnee. So war der Strom, obwohl seine Zuflüsse fast ausgetrocknet lagen, über die Ufer getreten, und die Überschwemmung hatte die wilden Tiere aus ihren Lagern vertrieben. Als die Sterne erschienen, hörte ich im Bergland die Schakale aufgeregt bellen, und etwas später ertönte der Widerhall eines Brüllens, wie ferner Donner. Diesen Klang kannte ich; allerdings hatte ich ihn nie in der freien Natur vernommen, sondern nur in Rom, nachts, im Rund eines Amphitheaters. Die Esel begannen zu zittern, und wir mußten sie in den gleichen Raum führen, wo wir auf einer Art Estrade schliefen. Maria hatte noch nie Löwengebrüll gehört, und sie schmiegte sich enger an mich und bat mich mit bebender Stimme, die Arme um sie zu schlingen, obwohl die Nacht ohnedies schon erstickend heiß war.

Nathan beruhigte die Esel, verrammelte die Tür und lehnte sich mit dem Rücken gegen sie, gespannt horchend. Auch Susanna konnte nicht schlafen; so benützte ich die Gelegenheit dazu, sie zu fragen: »Von wem hast du das Gebet gelernt, das du mir gestern vorgesprochen hast?«

In der Ferne brüllte der Löwe wieder, und die dünnen Lehmmauern unseres Raumes schienen zu wanken. Susanna legte entsetzt die Hand auf die Lippen und murmelte: »Solche Dinge darfst du mich nicht fragen.«

Aber jetzt tat Nathan den Mund auf und sagte zu meinem Erstaunen: »Sprich nur! Vor ihm brauchst du keine Angst zu haben.«

Susanna blickte in dem flackernden Licht der Tonlampe unstet um sich, als wollte sie Reißaus nehmen, begann jedoch dann:

»Jesus von Nazareth, jener Mann, der in Jerusalem gekreuzigt wurde, hat das Gebet seine Jünger gelehrt und auch uns Frauen, die wir mit ihm durch Galiläa zogen. Er versicherte, das genüge für uns, andere Gebete brauchten wir nicht.«

Ich rief überrascht: »Du wirst mich doch nicht anlügen wollen! Bist du wirklich mit ihm durch Galiläa gezogen?«

Susanna erwiderte: »Ich bin sehr wenig mit Klugheit gesegnet und könnte gar nicht lügen, auch wenn ich wollte. Aber fünf Sperlinge kauft man um zwei Groschen, und doch ist keiner von ihnen vor Gottes Augen vergessen. Mein ganzes Leben lang war ich gierig nach Geld und Gut und habe mir nicht einmal genügend Nahrung gegönnt. Als alle anderen den neuen Propheten aufsuchten, tat ich es auch, weil ich dachte, ich würde bei ihm vielleicht etwas umsonst bekommen. Im Tempel gibt es nichts ohne Bezahlung. Ich hörte mir seine Lehren an, verstand sie aber nicht. Dann jedoch sprach er einmal zum Volk und blickte mich fest an, während er sagte: ›Hütet euch vor Habsucht! Das Leben des Menschen ist durch seine Güter nicht gesichert.‹ Das war unten am Seeufer. Ich hatte die Empfindung, daß er wußte, wer ich war, und von meinem Geiz gehört hatte. Dann erzählte er von einem Reichen, der sehr ergiebige Felder besaß und seine Scheuern niederriß, um neue und größere zu bauen; denn jetzt, da er so viel erwirtschaftet hatte, gedachte er, sich für viele Jahre zur Ruhe zu setzen. Aber Gott sprach zu ihm: ›Du Tor, noch heute nacht wird dir deine Seele abgefordert werden. Wem wird dann gehören, was du aufgehäuft hast?‹ Und Jesus schloß seine Rede mit den Worten: ›So ergeht es dem Menschen, der Schätze für sich sammelt, nicht aber für das Reich.‹«

Sie holte tief Atem und fuhr fort: »Ich ärgerte mich über ihn und kehrte nach Hause zurück. Aber ich konnte seine Worte nicht vergessen, und schließlich begannen sie, in mir zu bohren wie der Schmerz in einem eitrigen Zahn. Ich ging wieder zu Jesus und hörte seine Lehre. Da sprach er über die Raben, die Gott ernährt, und von den Lilien des Feldes, die weder spinnen noch weben und doch prächtiger gekleidet sind als ein König. Er verbot seinen Jüngern, sich um Speise und Trank zu sorgen, und trug ihnen auf, nur das Reich zu suchen, weil ihnen dann alles andere dazugegeben würde. Und nun tat er mir leid. Zwar soll er einmal eine große Menge Volkes mit nur wenigen Brotlaiben und Fischen gesättigt haben; doch so etwas kann man nicht jeden Tag tun. Mein Vermögen an faule, nichtsnutzige Arme zu verteilen, hatte ich keine Lust gehabt; jetzt aber verkaufte ich die Stoffe, die ich gewoben hatte, überließ meine Felder der Obsorge eines Verwalters und wanderte mit Jesus umher, um ihn und seine Jünger so lange zu unterstützen, wie mein Geld reichte. Mir kam nämlich vor, der Wundertäter würde selber bald Hungers sterben, wenn man ihn nicht verpflegte. Ein paar andere Frauen taten das gleiche wie ich, aus Mitleid. Er war ja im täglichen Leben so unbeholfen.«

Bei der Erinnerung an ihre Wanderungen mit Jesu Gefolgsleuten seufzte Susanna auf. Dann setzte sie ihren Bericht fort: »Ich möchte gar nichts gegen ihn sagen. Ich habe das nur erzählt, um zu zeigen, daß er von den Dingen dieser Welt nicht viel verstand. Und darum mußten wir Frauen für ihn sorgen; übrigens fuhren auch seine Jünger, das gebe ich zu, dann und wann auf Fischfang aus, um etwas zum Unterhalt beizusteuern. In Nazareth hieß es, Jesus habe wohl sein Handwerk vom Vater erlernt, sei jedoch kein besonders guter Zimmermann gewesen; er konnte Joche und Pflüge machen, aber nicht ein gutes Rad. Außerdem war er viel zu vertrauensselig; dem Judas Ischariot hat er die Führung der gemeinsamen Kasse überlassen, und ich bin überzeugt davon, daß der Geldbeutel manchmal leichter war, als er hätte sein sollen – man konnte dem Mann das an den Augen ansehen. Ich will nicht behaupten, daß ich die Lehren des Nazareners verstand; nicht einmal seine Jünger begriffen sie immer. Doch es war irgendwie wohltuend, ihm nahe zu sein. Deshalb blieb ich bei ihm und kehrte nicht nach Hause zurück, obwohl ich es manchmal gern getan hätte. Ohne es zu wollen, hat er sich nämlich auch fromme Menschen zu Feinden gemacht; sogar ich fand es unleidlich, daß er eine Frau wie diese Taubenhändlerin aus Magdala bei sich duldete.«

Maria unterbrach sie mit den Worten: »Maria Magdalena ist eine gutherzige Frau und klüger als du, du häßliche Dorfvettel in deinem groben Sackzeug!«

Susanna keifte wütend los: »Wenn du ihre Partei ergreifst, weiß ich schon, was für eine Sorte Frau du bist und warum du es jeden Abend so eilig hast, zu diesem Römer zu schlüpfen. Daß ich nur eine häßliche Dorfvettel in Sackzeug bin, stimmt ja. Aber ich kann spinnen und weben und backen und kochen und aufräumen; und seinerzeit bin ich auch hinter dem Pflug hergegangen, wenn ich mir teures Geld für einen Ackerknecht ersparen wollte. Jesus von Nazareth war überhaupt viel zu gut für diese Welt, zu unbekümmert und leichtgläubig. Er hat Wunder gewirkt und Kranke geheilt, ohne sich auch nur zu vergewissern, ob sie eine solche Gnade verdienten. Man brauchte nur seinen Mantel zu berühren, und schon wurde man alle Beschwerden los. Er ist mir vorgekommen wie ein argloses Kind, das in einer sündhaften Welt sich selbst überlassen wird. Wenn er nur auf vernünftige Ratschläge gehört hätte, wäre er nie zu Ostern nach Jerusalem gegangen. Aber er war halsstarrig und hat gemeint, er verstehe auch die Dinge dieser Welt besser als andere Leute. Deshalb ist alles so gekommen, wie es kam.«

Susanna ereiferte sich derart, daß sie noch nachträglich Jesus von Nazareth wie einen unfolgsamen Jungen auszankte. Dann aber fiel ihr plötzlich alles, was sich zugetragen hatte, wieder ein; sie brach in Tränen aus und sagte: »Mir ist nichts von ihm geblieben als dieses Sackzeug und das Gebet, das er uns lehrte. Sobald er tot war, sind wir entsetzt auseinandergestoben, wie eine Schar Sperlinge. Mir war übel vor Grauen, als ich von der Kreuzigung davonlief. Tagelang konnte ich keinen Bissen hinunterbringen. Ich verkroch mich einfach in eine Höhle unter dem Tempel und hoffte, es würde mich niemand aufspüren. Schließlich entdeckte mich dieser Nathan in seinem weißen Gewand und mit dem, Jesu wegen, kurzgeschnittenen Haar. Er vertraute mir an, daß der Gekreuzigte von den Toten auferstanden und vor uns her nach Galiläa gegangen war.«

Susanna schlug sich mit der Hand auf den Mund und starrte Nathan an, voll Angst, sie könnte in ihrer Geschwätzigkeit zu viel ausgeplaudert haben. Aber Nathan sagte: »Die Rede der Weiber ist wie das Knacken dürrer Zweige unter dem Kochtopf. Ich wußte, daß das Reich nahe ist; Jesus selbst aber habe ich nie kennengelernt. Ich schnitt mir die Haare ab, als ich hörte, er sei aus dem Grab gestiegen. Denn falls das zutrifft, so ist er der Sohn Gottes, ist der, auf den wir gewartet haben.«

Susanna betonte: »Ich habe ihn gekannt und sogar gut gekannt; ich habe ihm nämlich die Kleider gewaschen. Er war ein Menschenwesen, hat Hunger und Durst verspürt und ist manchmal seiner Jünger überdrüssig geworden und auch der menschlichen Hartherzigkeit überhaupt. Doch zweifellos ist er, wenn man das so berichtet, wirklich von den Toten auferstanden, und ich wundere mich gar nicht darüber. Im Gegenteil, ich weine vor Freude seinetwegen und hoffe, daß auch alles übrige sich zum Guten wendet. Vielleicht wird er wirklich in Galiläa ein Reich aufrichten, falls wir nur geduldig ausharren und die Engel für ihn kämpfen. Anders kann es nicht gelingen. Jedenfalls spreche ich täglich morgens, mittags und abends das Gebet, das er uns gelehrt hat. Für mich genügt es, wie er ja selbst versicherte.«

Ihre Worte machten auf Maria tiefen Eindruck; halb ungläubig fragte sie: »Hast du ihm wirklich die Kleider gewaschen?«

Susanna prahlte: »Wer denn sonst hätte sie so weiß gekriegt? Deine Maria Magdalena hat bestimmt in ihrem Leben noch nie an einem Waschzuber gestanden. Salome hatte genug an der Wäsche ihrer eigenen Jungen. Und Johanna war gewohnt, selbst Mägde zu haben; am liebsten hätte sie sich, wenn sie es gewagt hätte, in einer Sänfte hinter Jesus hertragen lassen. Aber dann lernte sie schon, auf eigenen Füßen zu gehen.«

Ich konnte meine Verwunderung nicht mehr bezwingen und fragte: »Warum bist du ihm eigentlich gefolgt und hast dein Vermögen geopfert, wenn dir weder Jesu Verhalten gepaßt hat noch das seiner Jünger und der sonstigen Gefolgsleute?«

Susanna sah mich ebenso erstaunt an und erklärte: »Er war doch wie ein Lamm unter Wölfen. Sogar seine eigene Mutter hat ihn für einen Sonderling gehalten. Und die Nazarener haben ihn einmal an den Rand eines Abgrunds geführt und wollten ihn hinunterstürzen, schraken aber schließlich davor zurück.«

»Dann hast du ihn also geliebt?« fragte ich.

Susanna wand sich verlegen hin und her und brummte mißmutig: »Was weiß so ein vertrocknetes altes Weib wie ich schon von Liebe? Aber die Welt ist voll fauler Taugenichtse, habsüchtiger Priester, herzloser Steuereinnehmer und sonstiger Wegelagerer. Eine Bäuerin braucht sich nur in der Stadt zu zeigen, und man schert ihr die Haare vom Kopf. Er hat mir einfach leid getan, weil er so harmlos war und nichts von der Tücke dieser Welt wußte.«

Sie preßte die Handflächen aneinander und fügte leise, als schämte sie sich ihrer Äußerung, hinzu: »Außerdem hatte er die Worte des ewigen Lebens.«

»Was meinst du damit?« erkundigte ich mich.

Aber Susanna wurde ärgerlich und machte eine ungeduldige Geste der Abwehr. »Ich weiß nicht. Er hatte sie einfach. Ich verstand seine Rede nicht; ich glaubte einfach.«

»Und du glaubst noch?« bedrängte ich sie.

»Ich weiß nicht«, erwiderte sie mit der gleichen Ungeduld. »Als am Kreuze Blut und Todesschweiß von ihm rannen, glaubte ich nicht mehr und floh, weil ich sein Leiden nicht länger mit ansehen konnte. Vielleicht bin ich dann aus Enttäuschung krank geworden, weil ich mir einbildete, zwecklos mein Vermögen vertan zu haben. Aber nein, das war es eigentlich nicht. Krank geworden bin ich vor allem wegen seiner Qualen; einen solchen Tod hat er nicht verdient, mochte er auch harte Worte gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer gesprochen haben. Aber er hat nicht Ärgeres gesagt als irgendein einfacher Landmann, der es mit diesen Leuten zu tun bekommt und vielleicht wegen eines unwissentlichen Verstoßes gegen das Gesetz seine Obsternte vernichten oder sein Gemüse wegwerfen muß. Doch jetzt wird bestimmt alles wieder gut, und ich glaube an ihn. Nur möchte ich ihn noch ein einziges Mal wiedersehen und seine Stimme hören.«

Die Vernunft zwang mich, den Worten dieser Frau zu mißtrauen – in dieser erstickend heißen Nacht in der Lehmhütte, während die Esel sich ruhelos an ihrer Krippe hin und her schoben und draußen der Löwe brüllte. Ich hatte den Eindruck, Susanna wolle einfältiger erscheinen, als sie war, und mir den wichtigsten Teil ihres Wissens vorenthalten. Wenn sie viele Stunden in Jesu Gesellschaft verbracht, seine Wunder gesehen, ihn zum Volk sprechen gehört und gelegentlich das eine oder andere von dem aufgeschnappt hatte, was er seine erwählten Jünger lehrte, mußte sie doch auch Dinge erfahren haben, die nicht für aller Ohren bestimmt waren.

»Und wie ist es mit seinen weisen Aussprüchen?« forschte ich. »Ist dir wirklich nichts von seiner Geheimlehre im Gedächtnis geblieben?«

Susanna blickte mich immer unfreundlicher an und erklärte: »Weisheit läßt sich Frauen und Kindern nicht beibringen. Gerade deswegen konnte ich Maria Magdalena nicht leiden; ständig hockte sie, während wir anderen nützliche Arbeit taten, zu Jesu Füßen und hat sich eingebildet, alles zu verstehen. Von dieser Sorte gab es bei uns genug und übergenug; wir hatten nicht nur ihn und die Zwölf zu verpflegen und zu betreuen, sondern manchmal bis zu siebzig Personen. Für mich war seine Weisheit er selber. Für mich war er das Brot des Lebens, wie er selbst es ausdrückte. Was er damit gemeint hat, weiß ich nicht; aber ich glaubte seinen Worten.«

Ich konnte nur verzweifelt den Kopf schütteln über ihre Einfältigkeit und gab es auf, sie weiter zu befragen. Aber während das Tonlämpchen immer schwächer flackerte, fühlte Susanna sich gedrängt, mich rasch noch zu überzeugen; sie dachte so angestrengt nach, daß sie eine ganze Weile an ihren Fingern zerrte und sich vor und zurück wiegte, ehe sie endlich erklärte: »Sein Vater im Himmel ist auch mein Vater. Jesus ließ auch die Kinder zu sich kommen und erklärte, denen, die wie Kinder sind, stehe sein Reich offen. Diesen Ausspruch verstand ich. Mir wurde klar, daß ich als Kind mir nicht über die Absichten meines Vaters den Kopf zu zerbrechen, sondern mir zu sagen habe, er wisse selbst alles am besten. Diese Erkenntnis ist das einzige Geheimnis, das mir offenbar wurde.«

Während dieser unruhigen Nacht fand ich keinen tiefen Schlaf, und das gedämpfte Löwengebrüll erinnerte mich so lebhaft an Rom, daß ich mich manchmal zwischen Wachen und Schlummer dorthin zurückversetzt fühlte und erwartete, auf einem Purpurkissen, in eine Rosenduftwolke gehüllt, von Leidenschaften erschöpft, die Augen zu öffnen. Dieser Traum war wie ein Alpdruck; sobald ich jedoch plötzlich aus dem Schlafe fuhr, überwältigte mich ein ebenso beklemmendes Gefühl der völligen Sinnlosigkeit meines jetzigen Tuns. Hier lag ich, bärtig, unfrisiert, nach Schweiß riechend, in einer schmutzigen Lehmhütte zwischen Eseln und Juden, und gaukelte mir vor, etwas jeder Vernunft Hohnsprechendes erreichen zu können. In Rom hätte ich mir das Haar gekräuselt und den Überwurf genau nach Vorschrift in Falten gelegt; ich hätte meine Zeit lesend oder einer interessanten Gerichtsverhandlung zuhörend oder sonstwie verbracht, nur auf die Stunde des Wiedersehens mit Dir, Tullia, wartend.

Gedanken, wie ich sie heute wälzte, wären dem Spott anheimgefallen, im albernen Gepränge reicher Freigelassener ebenso wie in der verfeinerten Gesellschaft der Gebildeten, wo es zum guten Töne gehört, an nichts zu glauben. Und ich wäre einer der lautesten Lacher gewesen.

Und doch ist es so, daß jene gleichen leichtfertigen Frauen und vernünftelnden jungen Männer darin wetteifern, an der Türe des gerade von der Mode hochgetragenen Sterndeuters, Zauberers oder Wahrsagers Schlange zu stehen und erkleckliche Beträge für glückbringende Amulette hinzulegen. Diese Frauen und Männer lachen über sich selber, mißtrauen dem eigenen Aberglauben, hoffen aber zugleich, es könnte doch etwas daran sein. Alles ist dort ein Glücksspiel. Fortuna ist launisch, die Gewinnaussichten sind fraglich; aber man zieht es doch vor, im Spiel zu bleiben, statt beiseite zu stehen und sich mit dem Nichts abzufinden.

Trieb auch ich noch dieses gleiche vermessene Spiel, hier im Jordantal? Zweifelte ich im tiefsten Inneren, fand es jedoch geratener, weiterzuwürfeln und mir eine Chance zu wahren, als das Spiel aufzugeben? Welchen Gewinn erhoffte ich mir, alles in allem? Vielleicht war es nur Traum und Blendwerk, jenes Reich, das ich noch immer auf Erden wähnte und zu dem ich den Weg zu finden hoffte. Im Banne dieser qualvollen Gedanken verspürte ich plötzlich Widerwillen gegen die an meiner Seite atmende Maria, und auch gegen die eigensinnige Susanna und den redescheuen Nathan. Was hatte ich, ein Römer, mit ihnen zu schaffen?

Ich wiederholte im Geiste das Gebet, das Susanna mich gelehrt hatte. Es war das erste von Jesu Geheimnissen, in das ich eingeweiht worden war. Die Zauberkraft einer verborgenen Weisheit konnte darin umschlossen sein. Aber wie sehr ich auch die Sätze drehte und deutelte, das Gebet blieb, was es war: eine den Bedürfnissen einfacher Menschen angepaßte Formel zur Schicksalsunterwerfung, ein Merkspruch, durch dessen demütige Wiederholung sie ihre Sorgen abschütteln und den Seelenfrieden gewinnen mochten. Ich war nicht so kindlichen Gemütes, daß mir solche Worte spürbare Hilfe geboten hätten.

Diese Nacht schliefen wir alle schlecht und waren am Morgen übernächtig und streitsüchtig. Maria von Beeroth setzte es sich in den Kopf, wir sollten uns ins Bergland wenden und die Straße nach Samaria einschlagen. Sie habe, so meinte sie grillenhaft, keine Lust, einem Löwen zu begegnen, den die Überschwemmung aus dem Buschwerk getrieben hätte. Susanna zählte immer wieder ihre Kochtöpfe und Proviantbeutel und behauptete unentwegt, etwas verloren zu haben, so daß sich unser Aufbruch verzögerte. Sogar Nathan schien etwas zappelig und blickte unwirsch herum. Die von Hornissen geplagten Esel aber waren so störrisch, daß wir sie die ganze Zeit festhalten mußten.

Über Marias Geplapper aufgebracht, nahm Nathan schließlich zu den Schriften Zuflucht und zitierte: »Gar mancher Weg dünkt einen eben; doch schließlich sind es Wege, die zum Tode führen.« Er wies auf das Schwert an meiner Seite und setzte sich entschlossen in Bewegung, als wollte er sagen, wir könnten hin, wie wir wollten, er gedenke jedenfalls den ursprünglich geplanten Weg weiterzuverfolgen.

Maria jammerte: »Ihr Männer werdet leicht durchkommen; aber ich bin jung. Der Löwe ist ein kluges Tier und sucht sich immer das zarteste Fleisch aus. So habe ich es gehört.«

Susanna fuhr sie an: »Nachdem Jesus von Nazareth diesen Weg vor uns hergegangen ist, können wir es ihm wohl nachtun. Wenn du Angst hast, reite ich voraus und verscheuche den Löwen. Mich wird er nicht anrühren, das ist einmal sicher.«

Ich bemerkte gereizt, niemand von uns wisse, welchen Weg Jesus nach Galiläa eingeschlagen hatte, wenn überhaupt an dieser Geschichte etwas Wahres sei. Es könne sich sehr wohl um ein geschickt erdachtes Märchen handeln, von der Obrigkeit in Jerusalem nur in Umlauf gesetzt, um die Galiläer aus der Hauptstadt wegzubekommen. Auch ich legte keinen besonderen Wert darauf, einem Löwen, bloß mit dem Schwert bewaffnet, entgegenzutreten, obwohl ich einmal einen sehr geübten Kämpfer in der Arena ein solches Wagnis habe lebend überstehen sehen. Aber Nathan kenne, erklärte ich, die Straßen und ihre Gefahren, und meiner Ansicht nach sei es das beste, sich seiner Entscheidung zu fügen.

So nahmen wir in zankmütiger Stimmung unsere Wanderung wieder auf. An der überfluteten Furt mußten wir die Gewänder schürzen und die widerspenstigen Esel hinter uns herziehen. Kaum waren wir am anderen Ufer angelangt, so fielen wir geradewegs einigen Legionären in die Hände, die unser Erscheinen, als sie Maria erblickten, mit Freudengeschrei begrüßten. Wegen meines Schwertes stürzten sie sich zuerst auf mich, rissen mich vom Esel, warfen mich zu Boden und hätten mich höchstwahrscheinlich erschlagen, wenn ich ihnen nicht auf griechisch und lateinisch zugebrüllt hätte, daß ich römischer Bürger bin. Trotz meiner schriftlichen Genehmigung zum Waffentragen durchsuchten sie unser ganzes Gepäck und auch – als vergnügliche Draufgabe – Marias Kleidung; wenn ich nicht Römer gewesen wäre, hätten sie die junge Frau bestimmt ins Buschwerk geschleppt.

Ihre Zuchtlosigkeit wurde mir verständlicher, als ich herausbekam, daß sie keine regelrechte Straßenpatrouille waren und auch nicht an irgendwelchen Geländeübungen teilnahmen; vielmehr hatte ihr Offizier beschlossen, einen Löwen zu erlegen, und lag mit einigen Bogenschützen im Hinterhalt auf einer Kuppe, während unsere Legionäre ihnen den Löwen mit Geschrei und Schildegerassel zutreiben sollten. Das war, obwohl sich der Löwe allem Anschein nach gar nicht mehr in der Nähe aufhielt, keine angenehme Aufgabe; deshalb hatten sie sich mit Wein Mut angetrunken.

Dieser rohe Übergriff war so unleidlich und entwürdigend, daß ich mich leicht in die Lage der Juden versetzen und begreifen konnte, warum sie die Römer so erbittert haßten. Meine Mißstimmung steigerte sich zur Wut, und als ich schließlich oben auf der Kuppe den löwenfellgelüstigen Zenturio traf, sagte ich ihm gehörig meine Meinung und drohte, den Vorfall dem Prokurator zu melden.

Das war nicht klug von mir gewesen. Der narbengesichtige Offizier musterte mich feindselig und fragte, welche Bewandtnis es denn mit mir habe, daß ich da mit einem Judenmantel angetan in jüdischer Gesellschaft daherkomme. Spöttisch sagte er: »Du wirst doch wohl nicht zu dem Gesindel gehören, das hier dutzendweise auf dem Weg zum See Genezareth vorbeizog. Jetzt ist nicht die Zeit für Wallfahrten, sondern für die Getreideernte. Diese Wanderer haben irgendwelche üblen Absichten.«

Ich mußte ihn besänftigen und mich wegen meines Ungestüms entschuldigen. Dann erkundigte ich mich, was für Leute er da beobachtet habe. Aber er selbst hatte niemanden gesehen, weil die Juden bei Nacht unterwegs waren und den gewöhnlichen Kontrollpunkten ebenso wie den Zollhäusern möglichst auswichen; er gebe, so sagte er, nur wieder, was er gehört habe. Dann warnte er mich in herablassendem Töne: »Paß nur auf, daß du diesen Kerlen nicht in die Hände fällst! Alle Galiläer sind Fanatiker. Das Land ist dicht bevölkert und immerfort sickern aus der Wüste Unruhestifter ein. Erst vor ein paar Jahren war gerade in dieser Gegend ein solcher Aufwiegler am Werk, der ein jüdisches Reich predigte und die Männer unter Zauberriten mit Jordanwasser begoß, um sie für den Kampf unverwundbar zu machen. Schließlich mußte der jüdische Tetrarch von Galiläa ihn enthaupten lassen, um zu zeigen, daß nicht einmal er selber gegen die Schwertschneide gefeit war. Aber vielleicht treiben sich noch einige seiner Gefolgsleute hier in der Gegend herum.«

Vermutlich betrachtete er mich, da ich mich dazu herbeiließ, so zu reisen, wie ich es tat, als Mann ohne Rang und Namen; denn er brach das Gespräch unvermittelt ab und verabschiedete mich in schroffer Weise, als hätte er mir eine große Gnade erwiesen.

Als wir unsere anstrengende Wanderung wieder aufnahmen, sah Maria von Beeroth mich gönnerhaft an und bemerkte: »In hohem Ansehen scheinst du bei deinen eigenen Landsleuten nicht zu stehen, nachdem ein schweißduftender, narbiger Zenturio dich so anmaßend zu behandeln wagt.«

»Wäre ich in deinen Augen achtbarer, wenn ich einen Helm auf dem Kopf und Nagelschuhe an den Füßen trüge?« fragte ich spöttisch.

Maria warf den Kopf zurück und erwiderte: »Diese Legionäre wissen wenigstens, was sie wollen. Da du schon einmal Römer bist, solltest du wie ein Römer reisen und von deinen Vorrechten Gebrauch machen. Dann müßte ich mich, wenn du mit einem deiner Landsleute redest, nicht wegen deiner haarigen Beine und bärtigen Wangen schämen.«

Ich starrte sie an und traute meinen Ohren nicht, ich hatte gute Lust, von einem Strauch einen Zweig abzubrechen und ihr das Fell zu gerben. Mit zornbebender Stimme fragte ich sie: »Wer mag wohl jene junge Frau gewesen sein, die mich ihr ganzes Leben lang segnen wollte, wenn ich sie nur mitnähme, und die nötigenfalls auch im Freien zu nächtigen bereit war? Wofür hältst du dich eigentlich?«

Aber Maria warf wieder den Kopf zurück und schalt: »Von dir hätte ich am allerwenigsten gedacht, daß du mir ins Gesicht schleudern würdest, was ich dir im Vertrauen aus meinem Leben erzählte. Ich habe Unglück gehabt; aber wenn ich den auferstandenen Nazarener treffe und er mir die Sünden vergibt und mich reinigt, so wirst du mir nicht mehr meine Vergangenheit vorwerfen können. Gestehe nur selber, welche abscheulichen Verfehlungen du zu büßen hoffst, indem du dich auf deiner Suche nach einem neuen Weg so erniedrigst!«

Ich glaube nicht, daß sie ihre Worte wirklich ernst meinte; wahrscheinlich ließ sie nur ihrem Ärger über die Unbilden dieses Tages freien Lauf. Ich erwiderte nichts. Sie blieb zurück und gesellte sich zu Susanna. Ich hörte, wie die beiden, nebeneinander reitend, mit schrillen Stimmen zankten und dann ihre Wut vereint gegen Nathan und mich kehrten.

An diesem Abend ging die Sonne erschreckend rot hinter den Bergen Samarias unter. Für kurze Zeit bekam die Luft im Tal einen gespenstigen Schimmer, und der in seinem tief eingeschnittenen Bett vorbeibrausende Jordan wurde vor unseren Augen plötzlich schwarz. Dieser seltsame Anblick machte alles unwesenhaft und verscheuchte meine bösen Gedanken. Mir fiel ein, wie der Himmel sich verfinstert hatte, als der Judenkönig sich in seiner Todesqual auf dem Kreuze wand, und wie im Augenblick seines Todes die Erde bebte. Durch seine Auferstehung hatte er bewiesen, daß sein Reich Wirklichkeit war. Wenn ich meine Reisegefährten im Herzen verachtete, mich besser dünkte als sie und gegen eine Törin Groll hegte, verrammelte ich mir nur selber den Zugang in jenes Reich.

Als wir uns daher in unserem Nachtquartier gewaschen hatten, trat ich auf Maria zu und sagte: »Ich verzeihe dir deine bösen, unbedachten Worte und will sie vergessen.«

Doch damit schürte ich nur Marias Unmut; ihre Augen verfinsterten sich, und sie fauchte mich an: »Was, du verzeihst mir, du mir, nachdem du mich so tief gekränkt und mir dann den ganzen Tag lang den Rücken gekehrt hast? Offen gestanden, ich wollte dir jetzt verzeihen und ein paar freundliche Worte sagen, weil du ja ein Mann bist und von dir eben, wie auch Susanna sagt, nichts Besseres zu erwarten ist. Aber daß du, noch bevor ich dir verzeihe, so tust, als müßtest du mir vergeben – das kann ich mir denn doch nicht bieten lassen!«

Nathan, der das alles mit anhören mußte, hob die Augen zum Himmel und breitete in einer Gebärde der Ergebung die Arme aus. Seine Langmut besänftigte auch mich, so daß mein Zorn verrauchte. »Dein Wille geschehe, Maria von Beeroth!« sagte ich. »Verzeih mir, und wenn wir nur wieder gut Freund werden, will ich gerne zugeben, daß ich dir nichts zu verzeihen habe.«

Aber Maria stemmte die Fäuste in ihre runden Hüften und rief Susanna stichelnd zu: »Komm einmal her und schau; ob das wirklich ein Mann ist oder nur einer von den römischen Eunuchen, über die man erzählt!«

Susanna kicherte verstohlen, während sie Binsen und Dung für das Feuer zusammentat, und ich konnte mich nicht länger beherrschen. Das Blut schoß mir zu Kopf, und ich gab Maria einen weithin hörbaren Klaps auf die Wange. Im nächsten Augenblick tat es mir leid, und ich hätte alles dafür gegeben, wenn ich es hätte ungeschehen machen können. Maria fing zu schluchzen an, schnüffelte immer wieder durch die Nase und rieb sich die schmerzende Backe. Ich wollte schon um Entschuldigung bitten; aber Nathan hob warnend die Hand. Plötzlich ging Maria mit niedergeschlagenen Augen auf mich zu und bekannte: »Mir geschieht ganz recht. Ich habe dich den ganzen Tag absichtlich gehänselt. Die Ohrfeige zeigt mir, daß du mich jedenfalls lieber hast als den Esel, dem du immer den Nacken kraulst. Und jetzt gib mir einen Kuß zum Zeichen dafür, daß du wirklich mein schandbares Benehmen verzeihst!«

Schüchtern schlang sie die Arme um meinen Hals, und ich küßte sie einmal und noch einmal, um zu bekunden, daß zwischen uns alles wieder in bester Ordnung war. Dann fand ich es eigentlich recht nett, sie nach meinem Wutanfall in den Armen zu halten, und so küßte ich sie ein drittes Mal. Schließlich schob Maria mich weg, hielt aber die Hände weiter auf meinen Schultern, schaute mich fest an und fragte: »Würdest du auch Susanna so küssen, wenn sie dich gekränkt hätte und dann um Verzeihung bäte?«

Ich blickte in Susannas ledriges Greisengesicht, verglich ihren verschrumpelten Mund mit Marias schwellenden Lippen und kam darauf, daß Maria mich schlau in eine Falle gelockt hatte. Ich lief zu Susanna, faßte sie am Ellbogen, zog sie hoch und sagte: »Falls ich dich irgendwie gekränkt habe, so küsse mich zum Zeichen der Vergebung!«

Mitleidig meinte Susanna: »Ach, du armer Mann! So läßt du diese Schelmin mit dir ihr Spiel treiben! Aber Maria ist im Herzen kein schlechter Kerl.«

Sie wischte sich verlegen mit dem Handrücken den Mund und küßte mich mit einem belustigten Blick auf die junge Reisegefährtin. Maria sah erst verblüfft zu; dann stieß sie Susanna weg und rief: »Wie kannst du, ein Kind Israels, einen unbeschnittenen Römer küssen? Ich darf das, weil ich ohnedies schon eine Sünderin bin; aber du hast dich verunreinigt.«

Susanna verteidigte sich: »Mit meiner Kenntnis des Gesetzes ist es nicht sehr weit her, aber ich habe doch schon mit dem Manne aus der gleichen Schüssel gegessen. Ich weiß, daß er, trotz seiner römischen Abstammung, im Gemüt ein Kind des gleichen Vaters ist wie ich.«

Ihre Worte rührten mich, und ich fand Susanna nicht mehr so abstoßend wie bisher, obwohl sie mächtig nach Knoblauch roch, den sie während des Reitens ständig zur Erfrischung zu kauen pflegte. Ich sagte: »Susanna, nachdem Jesus dich seine Kleider waschen ließ, ist mir durch deinen Kuß große Gnade widerfahren.«

Als wir aber gegessen hatten, zog ich Maria in einen dunklen Winkel und fragte sie geradeheraus: »Mir scheint, du willst mich zur Sünde mit dir verleiten, wie? Anders kann ich mir dein Gehabe nicht erklären. Dabei habe ich dich doch mitgenommen, um dich aus der Sünde zu retten.«

Maria flüsterte mir ins Ohr: »Du warst freundlicher zu mir als andere Männer. Ich verstehe mich selber nicht; aber deine Gleichgültigkeit tut mir weh. Dann wüßte ich wenigstens, daß ich dir etwas bedeute.«

»Körper ist Körper«, erwiderte ich barsch. »Du würdest mich nicht lange locken müssen, um mich herumzukriegen. Ich bin durch kein Gelübde gebunden und durch keinen Treueschwur. Aber in diesem Falle könnten wir ebensogut gleich nach Jerusalem zurückkehren.«

Maria seufzte. »Das Leben ist merkwürdig, und ich habe große Angst vor Jesus von Nazareth. Doch ich bin überzeugt, daß er allein mich wieder rein und schuldlos machen kann; und man hat mir versichert, er gehe auch mit den ärgsten Sündern nicht strenge ins Gericht, sobald sie nur ihre Verfehlungen bereuen und an ihn glauben. Aber wenn ich mit dir sündigen sollte, würde ich mir daraus kaum ein Gewissen machen. Im Gegenteil, ich habe die Empfindung, daß es mir nur gut täte, wenn du deine Arme schützend um mich breiten würdest. Da zeigt sich, welch eine verstockte Sünderin ich schon bin. Ein unschuldiges Mädchen würde bestimmt nicht so denken. Aber kein Mensch kann Fehltritte ganz vermeiden. Als Maria Magdalena mich über meine Sünden hinwegtrösten wollte, erzählte sie mir von einem Ausspruch Jesu, wonach jeder Mann, der eine Frau auch nur begehrlich anblickt, in seinem Herzen schon Buhlerei mit ihr begangen hat. In dieser Hinsicht stellte der Nazarener ganz unmögliche Forderungen, die niemand erfüllen kann.«

»Maria von Beeroth«, beschwor ich sie, »muten wir auf dieser anstrengenden Reise unseren Körpern nicht schon genug zu? Müssen wir uns noch mit sündigen Gedanken plagen? Heute nacht darfst du keinen Löwen zum Vorwand nehmen, um dich enge an mich zu schmiegen. Das würde uns nur beide entflammen.«

Maria seufzte noch tiefer auf. Dann sagte sie: »Ich werde dich nicht mehr behelligen oder in Versuchung bringen, wenn du mir bloß zugestehst, daß du gerne mit mir sündigen würdest, wenn du nur den Mut dazu hättest.«

Ich erwiderte in rauhem Ton: »Meinetwegen! Im Geiste habe ich ohnedies schon gesündigt. Laß es dir daran genügen!«

Sie preßte meine Hände an ihre heißen Wangen und flüsterte: »Wie würde ich wünschen, unberührt und schuldlos zu sein!« Aber sie versuchte nicht länger, mir den Kopf zu verdrehen und schmiegte sich beim Schlafen nicht mehr an meine Seite.

Ich dachte bei mir selber, sie habe offenbar keine rechte Vorstellung von dem Reich, zu dem sie den Weg suchte; aber man könne schließlich von ihr keine besonderen Einsichten verlangen. Dann fragte ich mich, was wohl Nathan von Jesus wünsche, da er sich ihm zuliebe den Kopf geschoren hatte. Richtete sich vielleicht auch sein Verlangen auf Dinge, die, mit den Maßen des Reiches gemessen, ebenso kindisch waren wie dasjenige, was Maria sich erhoffte?

Am nächsten Tag verließen wir die gewundene Furche des Jordantales. Sobald wir von der Karawanenstraße weg auf die Berghänge gelangt waren, sahen wir vor uns den See Genezareth hingebreitet. Ein frischer Wind blies uns ins Gesicht, die Wellen hatten weiße Schaumkronen, und jenseits des Sees konnten wir in der Ferne eben noch eine Kette verschneiter Gipfel sich gegen den Himmel abheben sehen. Wir folgten dem Westufer des Sees und erreichten gegen Abend die heißen Quellen von Tiberias. Etwas weiter erblickten wir die Säulenhallen der Residenzstadt des Herodes Antipas. Heilsamer Schwefelgeruch schlug uns entgegen, da die Quellwasser in viele Becken und Teiche geleitet waren, um die herum der Tetrarch eine Badeanstalt hatte erbauen lassen. Am Seeufer lagen Villen in griechischem Stil und einige Fischerhütten. In die Badebauten einbezogen waren Gasthöfe, teils für Griechen, teils für Juden.

Ich hatte die Reisestrapazen satt und mietete mich deshalb mit Maria in einem bequemen griechischen Gasthof ein. Nathan und Susanna aber begaben sich mit den Eseln zu einer jüdischen Herberge. Ich hielt es für klüger, mich hier in Galiläa, da Jesu Jünger mir mißtrauten, nicht in Gesellschaft Nathans und Susannas zu zeigen; es erschien mir auch am günstigsten, wenn Susanna unabhängig von mir den Stand der Dinge erkundete. Ich baute darauf, daß sie mir alle ihre Beobachtungen weitergeben würde, nachdem ich ihr den großen Gefallen erwiesen hatte, sie nach Galiläa mitzunehmen. Nathan kannte ich jetzt so gut, daß ich ihm beruhigt meine Reisekasse und die Betreuung der Esel überlassen konnte; das erschien mir gleichzeitig als die beste Art, ihn an mich zu binden. Die beiden gedachten, bei Tagesanbruch nach Kapernaum am Nordufer des Sees weiterzuwandern, wo Jesus von Nazareth gewirkt hatte – keine ganze Tagesreise mehr von Tiberias, der Griechenstadt, die Jesus, soweit Susanna wußte, nie betrat.

Tags darauf erwachte ich beim Morgengrauen und stieg, ein wenig hinkend, auf das Dach. Nach dem glühend heißen Jordantal war es erquickend, die Luft Galiläas zu atmen. Der See lag wie ein Spiegel da, vom Feuerschein des Sonnenaufgangs gestreift, und ich roch den starken Duft der Myrtensträucher. Ich meinte, alles um mich her klarer und schärfer zu sehen als je und alle Wohlgerüche der Erde zu verspüren. Es war mir, als schwebte ich körperlos. Mich überkam es wie ein Rausch, und ich schwelgte in dieser Entrückung, bis mich ein fiebriger Schauer überlief und ich bemerkte, daß einer meiner Füße angeschwollen war.

Am Nachmittag bekam ich starken Schüttelfrost, der Unterschenkel schwoll bis zum Knie an, und von einer wundgescheuerten, vereiterten Stelle an der Ferse lief ein roter Streifen über das Bein. Der griechische Badearzt schnitt die Beule auf und gab mir blutkühlende Arzneien. Vierzehn Tage lang lag ich krank in dem griechischen Gasthof und glaubte mein letztes Stündchen gekommen. Aber Maria von Beeroth pflegte mich, und wahrscheinlich trug auch das heiße, schwefelhaltige Wasser der Quellen zu meiner Heilung bei. Tagelang behielt ich keine Nahrung bei mir, und als ich mich zu erholen begann, fühlte ich mich sehr schwach. Der Arzt warnte mich davor, den Fuß zu überanstrengen, und so verbrachte ich die Zeit damit, meine Abreise aus Jerusalem und die ganze Wanderung hierher aufzuzeichnen. Von Nathan und Susanna kam keine Nachricht.

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