Doch nun wandte sich die bleiche Frau zu mir, betrachtete mich mit ihren furchtgebietenden schwarzen Augen, lächelte und sagte: »Erröte nicht wegen deiner Gedanken, schöner Jüngling. Die Mondgöttin ist mächtiger, als du glaubst. Wenn du ihre Gunst erwirbst, erhältst du eine Macht, die dir unvergleichlich mehr nützt als des Mars rohe Kraft und der Minerva unfruchtbare Weisheit.«

Ihr Latein hatte einen fremden Klang, und daher war mir, als hätte sie in irgendeiner uralten, vergessenen Sprache zu mir gesprochen. Ihr Antlitz wurde immer größer vor meinen Augen, so als ginge ein verborgenes Mondlicht von ihm aus, und als sie lächelte, sah ich, daß sie trotz ihrer Blässe schön war. Tante Laelia sprach zu ihr und winselte und miaute so, daß ich plötzlich fand, sie gleiche einer mageren Katze, die schmeichelnd um das steinere Ei strich.

»Nein, nein, nicht einer Katze«, sagte die Priesterin noch immer lächelnd. »Einer Löwin. Siehst du es nicht? Was hast du mit Löwen zu schaffen, Knabe?«

Ihre Worte erschreckten mich sehr, denn für einen ganz kurzen Augenblick glaubte ich wirklich, dort, wo Tante Laelia stand, eine magere, traurige Löwin zu erblicken, die mich geradeso vorwurfsvoll ansah wie der alte Löwe vor Antiochia, als ich ihn mit meiner Lanze in die Hinterpranke stach. Das Gesicht verschwand jedoch sofort, als ich mir mit der Hand über die Stirn fuhr.

»Ist dein Vater zu Hause, und glaubst du, daß er uns empfangen wird?« fragte Tante Laelia.

»Mein Vater Simon hat gefastet und ist in mancherlei Länder entschwunden, um sich denen zu offenbaren, die seine göttliche Kraft ehren«, antwortete die Priesterin Helena. »Aber ich weiß, daß er in diesem Augenblick gerade wach ist und euch beide erwartet.«

Sie führte uns durch eine Hintertür aus dem Tempel und zu einem wenige Schritte entfernten hohen Mietshaus, in dessen Erdgeschoß ein Laden für heilige Reiseandenken ausgerichtet war. Es gab da sowohl billige als auch teure Monde und Sterne aus Kupfer und ganz kleine glattpolierte Eier aus Stein. Die Priesterin Helena sah auf einmal ganz alltäglich aus. Ihr schmales Gesicht färbte sich gelblich, und ihr weißer Mantel war schmutzig und roch widerlich nach altem Weihrauch. Ich sah nun auch, daß sie nicht mehr jung war.

Sie führte uns durch den Laden in ein unaufgeräumtes Hinterzimmer, in dem ein schwarzbärtiger Mann mit einer kräftigen Nase auf einer Matte auf dem Boden saß. Er blickte uns aus trüben Augen entgegen, so als weilte er noch in anderen Welten, stand dann aber mit ungeschickten Bewegungen auf, um Tante Laelia zu begrüßen.

»Ich unterhielt mich gerade mit einem äthiopischen Zauberer«, sagte er mit überraschend dumpfer Stimme. »Aber ich fühlte, daß du auf dem Wege zu mir warst. Warum störst du mich, Laelia Manilia? An deinem Seidentuch und deiner Halskette erkenne ich, daß du all das Gute, das ich dir geweissagt habe, schon bekommen hast. Was willst du noch?«

Tante Laelia antwortete schüchtern, daß ich in dem Zimmer schliefe, in dem er, Simon, solang gewohnt hatte, und daß ich nachts böse Träume hatte, mit den Zähnen knirschte und im Schlaf aufschrie. Sie wollte die Ursache dafür und womöglich auch ein Heilmittel wissen.

»Ich schuldete dir außerdem noch Geld, liebster Simon, als du voll Bitterkeit mein Haus verließest«, sagte sie und bat mich, dem Zauberer drei Goldstücke zu geben.

Simon der Zauberer nahm das Geld jedoch nicht selbst entgegen, sondern deutete nur mit dem Kopf auf seine Tochter, sofern die Mondpriesterin Helena seine Tochter war, und die steckte die Münzen gleichgültig zu sich. Drei römische Aurei sind immerhin dreihundert Sesterze oder fünfundsiebzig Silberstücke, und deshalb ärgerte ich mich über ihren Hochmut.

Der Zauberer setzte sich wieder auf seine Matte und bat mich, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Die Priesterin Helena warf einige Körnchen Weihrauch in das Glutbecken. »Ich hörte, du brachst dir ein Bein, als du flogst«, sagte ich höflich, da der Zauberer mich nur schweigend anstarrte.

»Ich hatte einen Turm jenseits des Meeres in Samaria«, begann er mit eintöniger Stimme, aber Tante Laelia wurde ungeduldig, wandte sich hin und her und sagte flehend: »Ach Simon, willst du nicht über mich gebieten wie früher!«

Der Zauberer hielt den Zeigefinger in die Luft. Tante Laelia starrte darauf und rührte sich nicht mehr. Ohne sie anzusehen, sagte Simon: »Du kannst den Kopf nicht mehr drehen, Laelia Manilia. Stör uns nicht, sondern geh und bade in der Quelle, die du kennst. Wenn du ins Wasser tauchst, wirst du große Wonne empfinden und dich verjüngen.«

Tante Laelia blieb jedoch, wo sie war. Sie stand und starrte nur dumm vor sich hin und machte einige Bewegungen, als zöge sie sich aus. Simon der Zauberer blickte mich wieder an und fuhr fort: »Ich hatte einen Turm aus Stein. Der Mond und alle fünf Planeten dienten mir, und meine Kraft war göttlich. Die Mondgöttin nahm Menschengestalt an und wurde meine Tochter. Mit ihrer Hilfe konnte ich in die Vergangenheit und in die Zukunft schauen. Dann aber kamen Zauberer aus Galiläa, deren Macht größer war als meine. Sie brauchten einem nur die Hände aufs Haupt zu legen, und schon begann er mit Zungen zu reden und der Geist kam über ihn. Ich war noch jung und wollte alle Künste erlernen. Daher bat ich sie, ihre Hände auch auf mein Haupt zu legen, und versprach ihnen eine große Summe Geldes, wenn sie ihre Kraft auf mich übertrügen, so daß ich ebenso tun könnte wie sie. Sie aber geizten mit ihrer Macht, verfluchten mich und verboten mir, den Namen ihres Gottes bei meinen Werken zu gebrauchen. Sieh mir in die Augen, Knabe. Wie heißt du?«

»Minutus«, sagte ich widerstrebend, denn von seiner Erzählung und mehr noch von seiner eintönigen Stimme begann sich mir der Kopf zu drehen. »Müßtest du nicht, ohne mich zu fragen, wissen, wie ich heiße, da du doch einmal so ein großer Magier warst?« fragte ich spöttisch.

»Minutus, Minutus«, wiederholte er. »Die Macht, die mich bewohnt, sagt mir, daß du einen anderen Namen bekommen wirst, ehe der Mond sich zum drittenmal rundet. Doch laß mich weiterberichten: Ich glaubte den galiläischen Zauberern nicht, sondern heilte im Namen ihres Gottes, bis sie mich zu verfolgen begannen und in Jerusalem wegen einer kleinen goldenen Erosfigur vor Gericht schleppten. Eine reiche Frau hatte sie mir aus eigenem freien Willen geschenkt. Sieh mir in die Augen, Minutus. Sie behexten sie jedoch mit all ihren Künsten, bis die Frau zuletzt vergaß, daß sie selbst mir die Figur gegeben hatte, und behauptete, ich hätte mich unsichtbar gemacht und sie ihr gestohlen. Du wirst mir hoffentlich glauben, daß ich mich unsichtbar machen kann. wann immer ich will! Ich zähle bis drei, Minutus: eins, zwei, drei. Nun siehst du mich nicht mehr.«

Er verflüchtigte sich tatsächlich für einen Augenblick, so daß ich den Eindruck hatte, auf eine schimmernde Kugel zu starren, die ein Mond sein mochte. Dann schüttelte ich jedoch kräftig den Kopf, schloß die Augen und öffnete sie wieder, und da saß er wieder vor mir.

»Ich sehe dich wie zuvor, Zauberer Simon«, sagte ich mißtrauisch. »Aber ich mag dir nun nicht mehr in die Augen blicken.«

Er lachte freundlich, machte eine wegwerfende Geste mit beiden Händen und sagte: »Du bist ein widerspenstiger Bursche, und ich will dich zu nichts zwingen, denn das würde zu nichts führen. Aber sieh dir Laelia Manilia an.«

Ich wandte mich nach Tante Laelia um. Sie hatte die Hände erhoben und beugte sich mit entrücktem Gesicht zurück. Die Falten um ihren Mund und um ihre Augen glätteten sich, und ihre ganze Gestalt war straff und jugendlich geworden.

»Wo bist du gerade, Laelia Manilia?« fragte Simon der Zauberer gebieterisch.

Mit zarter Jungmädchenstimme antwortete Tante Laelia augenblicklich: »Ich bade in deiner Quelle. Das Wasser umspült mich so wonniglich, daß ich an allen Gliedern zittere.«

»Dann setze dein göttliches Bad nur fort, Laelia«, ermahnte der Zauberer sie, und zu mir gewandt sagte er: »Das ist ein sehr einfaches kleines Kunststückchen, das niemandem schadet. Dich könnte ich so verhexen, daß du unaufhörlich stolperst und dir die Füße und die Hände aufschlägst, weil du so widerspenstig bist. Doch warum sollte ich meine Kraft an dich verschwenden? Wir wollen dir lieber weissagen, da du nun einmal da bist. Helena, du schläfst.«

»Ich schlafe, Simon«, antwortete die Priesterin Helena unterwürfig, obwohl ihre Augen weit geöffnet waren.

»Was siehst du über diesen Jüngling, der Minutus heißt?« fragte der Zauberer.

»Sein Tier ist der Löwe«, sagte die Priesterin. »Aber der Löwe kommt wild auf mich zugerannt, und ich kann ihm nicht ausweichen. Hinter dem Löwen sehe ich einen Mann, der mit todbringenden Pfeilen droht. Sein Gesicht erkenne ich nicht, er ist noch zu weit in der Zukunft. Deutlich sehe ich aber einen großen Raum mit Fächern an den Wänden, in denen Buchrollen liegen.

Eine Frau reicht ihm eine offene Rolle. Die Frau ist jung, sie hat geschwärzte Hände, und ihr Vater ist nicht ihr Vater. Nimm dich vor ihr in acht, Minutus. Nun sehe ich Minutus auf einem schwarzen Hengst reiten. Er trägt einen blinkenden Brustharnisch. Ich höre das Lärmen eines Volkshaufens. Der Löwe, er ist gleich bei mir, ich muß fliehen. Simon, Simon, rette mich!«

Sie stieß einen Schrei aus und schlug die Hände vors Gesicht. Simon befahl ihr rasch, aufzuwachen, dann blickte er mich forschend an und fragte: »Du bist doch nicht etwa selbst ein Zauberer, da ein Löwe dich so eifersüchtig bewacht? Sei getrost, du brauchst keine bösen Träume mehr zu haben, wenn du nur im Traum daran denkst, deinen Löwen zu Hilfe zu rufen. Hast du gehört, was du hören wolltest?«

»Das Wichtigste habe ich gehört«, gab ich zu. »Es war mir angenehm, mag es nun die Wahrheit gewesen sein oder nicht, und ich werde bestimmt an dich und deine Tochter denken, wenn ich eines Tages auf einem schwarzen Hengst durch einen lärmenden Volkshaufen reite.«

Darauf wandte sich Simon der Zauberer an Tante Laelia, rief sie beim Namen und sagte: »Es wird Zeit für dich, aus der Quelle zu steigen. Möge dein göttlicher Freund dich zum Zeichen dessen in den Arm kneifen. Du weißt, es tut nicht weh, es brennt nur angenehm.«

Tante Laelia erwachte langsam aus ihrer Verzauberung und tastete mit der gleichen entrückten Miene wie zuvor nach ihrem linken Arm. Ich betrachtete ihn neugierig und sah, daß sich darauf wirklich ein großer blauer Fleck bildete. Tante Laelia rieb ihn und zitterte vor Wonne am ganzen Körper, so daß ich den Blick abwenden mußte. Die Priesterin Helena lächelte mich an. Ihre Lippen waren flehend halb geöffnet. Ich mochte aber auch sie nicht ansehen. Ich war verwirrt und fühlte ein Prickeln am ganzen Körper. Daher verabschiedete ich mich. Tante Laelia mußte ich am Arm nehmen und aus dem Zimmer des Zauberers führen, so benommen war sie noch immer.

Im Laden draußen nahm die Priesterin ein kleines schwarzes Ei aus Stein reichte es mir und sagte: »Das schenke ich dir. Möge es deine Träume beschützen, wenn der Vollmond scheint.«

Ein starker Widerwille, irgend etwas von ihr anzunehmen, ergriff mich, und ich sagte: »Ich kaufe es. Wieviel willst du dafür haben?«

»Nur eines deiner hellen Haare«, sagte die Priesterin Helena und streckte schon die Hand aus, um mir ein Haar auszureißen. Aber Tante Laelia wehrte sie erschrocken ab und flüsterte mir zu, ich solle der Frau lieber Geld geben.

Ich hatte keine kleineren Münzen bei mir und gab ihr ein ganzes Goldstück. Vielleicht hatte sie es sich durch ihre Weissagung verdient. Sie nahm es gleichgültig entgegen und sagte höhnisch: »Du schätzt ein Haar von dir sehr hoch ein, aber vielleicht hast du recht. Die Göttin weiß es.«

Vor dem Tempel fand ich Barbus wieder, der, so gut es ging, vor uns zu verbergen trachtete, daß er die Gelegenheit genützt und Wein getrunken hatte. Er ging auf unsicheren Beinen hinter uns her. Tante Laelia war froh gestimmt, streichelte den blauen Fleck auf ihrem Arm und sagte: »So gut war Simon der Zauberer schon lange nicht mehr zu mir. Ich fühle mich erfrischt und verjüngt und spüre keine Schmerzen mehr. Aber ich bin froh, daß du seiner schamlosen Tochter keins von deinen Haaren gegeben hast. Mit Hilfe eines solchen Haares hätte sie im Traum dein Bett heimsuchen können.«

Sie schlug sich erschrocken mit der Hand auf den Mund, sah mich zweifelnd an und sagte: »Du bist ja nun kein Kind mehr. Gewiß hat dir dein Vater diese Dinge schon erklärt. Ich weiß jedenfalls ganz bestimmt, daß Simon der Zauberer manchmal einen Mann behext, damit er sich zu seiner Tochter legt. Der Mann gerät ganz und gar in ihre Gewalt, aber dafür hat er dann auf andere Weise Glück und Erfolg. Ich hätte dich vorher warnen müssen, dachte aber nicht an dergleichen, weil du ja noch minderjährig bist. Was Helena wollte, erkannte ich erst, als sie dich um ein Haar bat.«

Nach dem Besuch bei Simon dem Zauberer hatte ich wirklich keine Alpträume mehr. Wenn der Mahr erschien und von mir Besitz ergreifen wollte, dachte ich im Traum an Simons Rat und rief meinen Löwen. Er kam sofort, legte sich neben mich, um mich zu beschützen, und war in allem so wirklich und lebendig, daß ich mit der Hand sein Fell streicheln konnte. Wenn ich dann aus meinem leichten Schlaf erwachte, bemerkte ich freilich, daß ich eine Falte in der Decke gestreichelt hatte.

Ich hatte so große Freude an meinem Löwen, daß ich ihn hin und wieder auch ohne Grund rief, wenn ich gerade einschlief, und sogar auf den Straßen der Stadt konnte ich mir einbilden, der Löwe gehe hinter mir her und bewache meine Schritte.

Ein paar Tage nach dem Gespräch mit Simon dem Zauberer fiel mir die Ermahnung meines Vaters wieder ein, und ich ging in die Bibliothek am Fuß des Palatins, wo ich den mürrischen Bibliothekar um Kaiser Claudius’ Geschichte der Etrusker bat. Zuerst behandelte er mich wegen meiner Knabenkleidung von oben herab, aber ich kannte nun die Überheblichkeit der Römer schon und wußte, wie ich ihr zu begegnen hatte. Daher sagte ich zornig, ich wolle dem Kaiser selbst schreiben und mich darüber beschweren, daß man seine Werke in den Bibliotheken nicht zu lesen bekomme. Da rief er rasch einen blaubekleideten Sklaven. Der führte mich in einen Saal, in dem eine große Statue des Kaisers Claudius stand, und zeigte mir die richtigen Fächer.

Ich blieb verblüfft stehen und starrte die Statue des Kaisers an, denn Claudius hatte sich als Apoll darstellen lassen, aber der Bildhauer hatte seine mageren Glieder und sein pfiffiges Säufergesicht ohne jede Beschönigung wahrheitsgetreu wiedergegeben, so daß die Statue eher lächerlich denn ehrfurchtgebietend wirkte. Ich dachte, der Kaiser könne zumindest nicht eitel sein, sonst hätte er niemals zugelassen, daß ein solches Spottbild seiner selbst in einer öffentlichen Bibliothek aufgestellt wurde.

Zuerst glaubte ich, allein in dem Saal zu sein, und nahm an, daß die Römer Claudius als Schriftsteller nicht allzu hoch einschätzten, sondern seine Werke unbenutzt in ihren Fächern liegen und Staub sammeln ließen. Dann bemerkte ich aber, daß weiter drüben bei einem schmalen Fenster eine junge Frau saß, die mir den Rücken zuwandte und in einer Buchrolle las. Ich suchte eine Weile nach der Geschichte der Etrusker, fand aber nur die Geschichte Karthagos, die ebenfalls von Claudius stammte, und stellte zuletzt fest, daß das Fach, in dem das gesuchte Werk offenbar aufbewahrt wurde, leer war. Ich sah wieder nach der lesenden Frau und entdeckte neben ihr auf dem Boden einen ganzen Stoß Buchrollen.

Ich hatte für meine langweilige Arbeit den ganzen Tag vorgesehen, denn bei Lampenlicht durfte man in der Bibliothek wegen der Feuersgefahr nicht lesen, und ich wollte nicht wieder fortgehen, ohne die Sache endlich hinter mich gebracht zu haben. Zwar scheute ich mich, eine fremde Frau anzusprechen, aber ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, trat zu ihr und fragte sie, ob sie die Geschichte der Etrusker lese und ob sie für ihre Forschungen unbedingt alle Buchrollen zugleich benötige. Ich sagte es so spöttisch wie möglich, obgleich ich sehr gut wußte, daß viele gebildete Frauen richtiggehende Bücherwürmer sind. Allerdings lesen sie keine Geschichtswerke, sondern lieber Ovids einfallsreiche und unterhaltsame Liebesgeschichten und Reiseabenteuer.

Die Frau schrak auf, ganz so, als hätte sie meine Anwesenheit jetzt erst bemerkt, und sah mich mit blitzenden Augen an. Sie war jung, und, der Haartracht nach zu urteilen, unvermählt. Ihr Gesicht war nicht schön, sondern eher unregelmäßig geformt und ein wenig grob. Ihre glatte Haut war von der Sonne gebräunt wie die einer Sklavin, und sie hatte einen großen Mund und volle Lippen.

»Ich lerne die Worte aus den heiligen Ritualen und vergleiche sie miteinander in den verschiedenen Büchern«, sagte sie böse. »Was gibt es da zu lachen?«

Ich fühlte, daß sie sich trotz ihrer Schroffheit ebenso vor mir schämte wie ich mich vor ihr, und bemerkte, daß ihre Hände schwarz von Tinte waren und daß sie sich auf einem Papyrusbogen mit einer klecksenden Rohrfeder einige Aufzeichnungen gemacht hatte. An den Schriftzügen erkannte ich, daß sie zu schreiben gewohnt war. Die Buchstaben waren nur durch das schlechte Schreibwerkzeug verschmiert.

»Ich lache nicht«, versicherte ich rasch und lächelte sie an. »Im Gegenteil, ich achte deine gelehrte Beschäftigung, und ich würde es nicht gewagt haben, dich zu stören, wenn ich meinem Vater nicht versprochen hätte, gerade dieses Buch zu lesen. Gewiß verstehe ich davon nicht soviel wie du, aber was ich versprochen habe, muß ich auch halten.«

Ich hatte gehofft, sie werde mich fragen, wer mein Vater sei, so daß ich selbst sie nach ihrem Namen hätte fragen können, aber so neugierig war sie nicht. Sie sah mich nur an, wie man eine lästige Fliege ansieht, suchte eine Weile unter den Buchrollen, die zu ihren Füßen lagen, und reichte mir den ersten Teil des Buches. »Nimm das und verschone mich mit deinen Zudringlichkeiten.«

Ich errötete so heftig, daß mein Gesicht ganz heiß wurde. Sie irrte sich, wenn sie glaubte, ich hätte nur einen Vorwand gesucht, mit ihr bekannt zu werden. Ich nahm die Rolle, ging zu dem Lesefenster auf der anderen Seite des Saales, setzte mich mit dem Rücken zu ihr und begann zu lesen. Ich las so schnell wie möglich, ohne mir die langen Namensverzeichnisse einzuprägen. Claudius hielt es offenbar für nötig, aufzuzählen, von wem und auf welche Weise er die einzelnen Angaben erhalten hatte, was andere geschrieben hatten und wie sie sich dagegen seiner Meinung nach dies und jenes in Wirklichkeit verhielt. Ein pedantischeres und langweiligeres Buch glaubte ich noch nie gelesen zu haben. Ich hatte aber schon damals, als Timaios mir immer die Bücher zu lesen befahl, die ihm selbst gefielen, gelernt, so schnell wie möglich zu lesen und mir nur das eine oder andere, das mich wirklich fesselte, zu merken. An diese Einzelheiten hatte ich mich dann geklammert, wenn Timaios mich nach dem Inhalt fragte. Auf dieselbe Art gedachte ich nun auch mit diesem Werk fertig zu werden.

Doch das Mädchen ließ mich nicht in Ruhe lesen. Sie schnaubte vor sich hin, raschelte mit den Buchrollen und fluchte ab und zu laut. Zuletzt wurde sie es müde, ihre untaugliche Rohrfeder immer wieder nachzuschneiden. Sie brach sie entzwei, stampfte auf den Boden und rief wütend: »Bist du taub oder blind, du ekelhafter Kerl? Geh sofort und hole mir eine ordentliche Feder. Du scheinst überhaupt keine Erziehung zu haben, da du nicht einmal siehst, daß ich eine Feder brauche.«

Ich bekam wieder eine heiße Stirn und ärgerte mich, denn das Benehmen dieses Mädchens ließ darauf schließen, daß sie selbst keine gute Erziehung genossen hatte. Ich wollte aber nicht mit ihr um weitere Buchrollen streiten müssen, sobald ich die erste zu Ende gelesen hatte. Daher beherrschte ich mich, ging zum Bibliothekar und bat um eine neue Rohrfeder. Er murmelte, nach den Stiftungssatzungen der Bibliothek würden Rohrfedern und Papier zwar umsonst abgegeben, es sei aber noch kein Bürger so arm gewesen, daß er die Stirn gehabt hätte, eine Feder ohne Bezahlung zu nehmen. Ich gab ihm zornig eine Silbermünze, und er reichte mir erfreut ein Bündel Federn und eine Rolle vom schlechtesten Papier. Ich kehrte in den Claudius-Saal zurück, und das Mädchen riß mir Federn und Papier aus der Hand, ohne sich zu bedanken.

Als ich den ersten Teil gelesen hatte, ging ich wieder zu ihr und bat um die nächste Rolle. »Kannst du wirklich so schnell lesen?« fragte sie verwundert. »Und weißt du nachher überhaupt noch, was du gelesen hast?«

»Ich weiß immerhin noch, daß die etruskischen Priester die üble Gewohnheit hatten, Giftschlangen als Wurfgeschosse zu verwenden«, antwortete ich. »Es wundert mich daher gar nicht, daß du ihre Sitten und Bräuche studierst.«

Ich glaubte zu bemerken, daß sie ihr Benehmen schon bereute, denn sie ging auf meine Stichelei nicht ein, sondern reichte mir bescheiden eine Feder und bat wie ein kleines Mädchen: »Möchtest du sie mir nicht zuschneiden? Ich mache es wohl nicht richtig, denn meine Federn fangen immer gleich zu klecksen an.«

»Das kommt von dem schlechten Papier«, sagte ich. Ich nahm die Feder, schnitt sie zu und spaltete vorsichtig ihre Spitze. Als ich sie ihr zurückgab, sagte ich: »Du darfst sie nicht so fest aufdrücken, denn dann gibt es natürlich sofort einen Klecks. Wenn man seinen Jähzorn bemeistert, läßt sich’s auch auf dem schlechten Papier ganz gut schreiben.«

Auf ihr Gesicht trat plötzlich ein Lächeln wie ein Blitz in dunklem Sturmgewölk, und die groben Züge, der große Mund und die schräggestellten Augen sahen auf einmal ganz bezaubernd aus. Als sie bemerkte, daß ich sie verwundert anstarrte, schnitt sie eine häßliche Grimasse, streckte mir die Zunge heraus und fauchte: »Nimm dein Buch und geh und lies, wenn du es wirklich so unterhaltsam findest.«

Sie störte mich jedoch immer wieder, denn immer wieder kam sie zu mir und bat mich, ihre Feder nachzuschneiden, so daß meine Finger bald ebenso schwarz waren wie die ihren. Ihre Tinte war so klumpig, daß sie ihr Tintenhorn ein paarmal verfluchte.

Zur Mittagszeit öffnete sie ein Bündel und begann gierig zu essen, indem sie große Stücke von einem Brot abriß und herzhaft in einen Landkäse biß.

Als sie meine mißbilligenden Blicke bemerkte, verteidigte sie sich: »Ich weiß sehr wohl, daß man in der Bibliothek nicht essen darf, aber was soll ich tun? Wenn ich auf die Straße hinausgehe, werde ich nur angerempelt, und fremde Männer gehen neben mir her und flüstern mir schamlose Dinge zu, weil ich allein bin.« Nach einer kleinen Weile fügte sie mit zu Boden gesenktem Blick hinzu: »Mein Sklave holt mich erst am Abend ab, wenn die Bibliothek geschlossen wird.«

Ich dachte mir jedoch gleich, daß sie gar keinen Sklaven hatte. Ihr Mundvorrat war einfach, und sie besaß offenbar nicht genug Geld, um sich Federn und Papier zu kaufen. Deshalb hatte sie mir so hochmütig befohlen, ihr eine Feder zu holen. Ich wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte, denn kränken wollte ich sie auf keinen Fall. Im übrigen bekam ich selbst Hunger, als ich sie essen sah.

Ich muß wohl schwer geschluckt haben, denn plötzlich sagte sie freundlich: »Armer Junge, du bist bestimmt hungrig.« Sie brach freigebig ein Brot auseinander und reichte mir auch ihren runden Käse, von dem wir nun abwechselnd abbissen, so daß die Mahlzeit beendet war, noch ehe sie recht begonnen hatte. Wenn man jung ist, schmeckt einem alles. Ich lobte daher ihr Brot und sagte: »Das ist ja ein richtiges Landbrot, und dein Käse ist frischer Landkäse. So etwas bekommt man in Rom nicht alle Tage.«

Sie freute sich über mein Lob und sagte: »Ich wohne außerhalb der Mauern. Du weißt, wo der Zirkus des Gajus ist und die Begräbnisstätte und das Orakel. Dort draußen hinter dem Vatikanischen Hügel ist es.«

Ihren Namen wollte sie mir aber noch immer nicht sagen. Wir nahmen unsere Lektüre wieder auf. Sie schrieb ein paar alte Texte heraus, die Claudius aus den heiligen Büchern der Etrusker übernommen hatte, und lernte sie murmelnd auswendig. Ich las eine Rolle nach der andern und prägte mir alles gut ein, was ich über die Kriege und die Flotte der Stadt Caere fand. Gegen Abend wurde es dunkel im Saal, denn der Schatten des Palatins fiel auf die Lesefenster, und der Himmel überzog sich mit Wolken.

»Wir wollen uns nicht die Augen verderben«, sagte ich zuletzt. »Morgen ist auch ein Tag, aber mir steht diese langweilige alte Geschichte schon bis zum Hals. Eigentlich solltest du als gelehrte Frau mir helfen können. Möchtest du mir nicht kurz berichten, was in den Büchern steht, die ich noch nicht gelesen habe, oder mir zumindest das Wichtigste daraus mitteilen? Mein Vater hat Güter in der Nähe von Caere. Deshalb wird er mich vermutlich ausfragen, was Kaiser Claudius über Caere schreibt.«

Als sie schwieg, fuhr ich schüchtern fort: »Nimm mir meinen Vorschlag nicht übel, aber ich habe große Lust auf heiße Würste und weiß, wo man welche bekommt. Ich möchte dich gern einladen, wenn du mir hilfst.«

Sie runzelte die Stirn, stand auf, trat so nah an mich heran, daß ich ihren warmen Atem im Gesicht spürte, und sah mir in die Augen. »Weißt du wirklich nicht, wer ich bin?« fragte sie argwöhnisch und fügte rasch hinzu: »Nein, du kennst mich nicht und hast nichts Böses im Sinne. Du bist ja noch ein Knabe.«

»Ich kann jeden Tag die Männertoga bekommen«, sagte ich beleidigt. »Ich habe sie nur noch nicht, weil zunächst einige familiäre Angelegenheiten zu ordnen waren. Du bist nicht viel älter als ich, und größer als du bin ich auch.«

»Mein liebes Kind«, sagte sie neckend. »Ich bin ganze zwanzig Jahre alt und im Vergleich zu dir eine alte Frau. Und ich bin bestimmt stärker als du. Hast du keine Angst, mit einer fremden Frau zu gehen?«

Sie warf jedoch die Buchrollen drunter und drüber in ihr Fach, ordnete ihr Gewand und machte sich eifrig zum Gehen fertig, so, als fürchtete sie, ich könnte mich anders besinnen. Als wir hinausgingen, blieb sie zu meiner Verwunderung vor der Statue des Kaisers Claudius stehen und spuckte sie an, bevor ich sie daran hindern konnte. Als sie mein Entsetzen bemerkte, lachte sie laut auf und spuckte noch einmal auf die Statue. Sie war wahrhaftig sehr schlecht erzogen.

Dann schob sie ohne Zögern ihren Arm unter den meinen und zog mich so rasch mit sich fort, daß ich fühlte, daß sie nicht nur geprahlt hatte, sondern wirklich sehr kräftig war. Sie verabschiedete sich hochmütig von dem Bibliothekar, der sich davon überzeugte, daß wir keine Buchrollen unter den Kleidern versteckt hatten. Er tastete uns jedoch nicht ab, wie es mißtrauische Bibliothekare bisweilen tun.

Den Sklaven erwähnte das Mädchen nicht mehr. Das Forum war jetzt am Abend voller Menschen, und sie verlangte, daß auch wir ein Weilchen zwischen den Tempeln und der Kurie auf und ab spazierten, und ließ währenddessen meinen Arm nicht los, so, als wollte sie den Leuten eine Beute, ein Besitzstück vorführen. Der eine oder andere rief ihr etwas zu, als wäre er mit ihr bekannt, und sie lachte und antwortete, ohne zu erröten. Ein Senator und einige Ritter kamen uns mit ihrem Gefolge entgegen. Sie wandten hastig den Blick ab, als sie das Mädchen sahen, aber sie machte sich nichts daraus.

»Wie du den Zurufen entnehmen kannst, werde ich nicht eben als ein tugendsames Mädchen angesehen«, sagte sie lachend. »Aber ganz und gar verdorben bin ich doch nicht. Du brauchst also keine Angst zu haben.«

Endlich ging sie mit mir in eine Schenke am Viehmarkt. Ich bestellte kühn heiße Würste, Schweinefleisch in irdenen Töpfen und Wein. Das Mädchen aß gierig wie ein Wolf und wischte sich die fettigen Finger an einem Mantelzipfel ab. Sie mischte kein Wasser in ihren Wein, weshalb auch ich es nicht tat, doch ich war es nicht gewohnt, unvermischten Wein zu trinken und bekam einen schweren Kopf. Sie summte vor sich hin, während sie aß, tätschelte mir die Wangen, schimpfte mit dem Wirt in der einfachen Sprache des Marktes und schlug mir plötzlich völlig gefühllos mit der Faust auf die Hand, als diese zufällig ihr Knie streifte. Ich begann allmählich zu glauben, daß sie nicht ganz richtig im Kopfe sei.

Die Schenke füllte sich plötzlich mit Menschen. Auch Spielleute, Sänger und Gaukler drängten sich herein, unterhielten die Gäste und sammelten mit einem Krug Kupfermünzen ein. Einer der zerlumpten Sänger blieb vor uns stehen, klimperte ein wenig auf seiner Zither und begann zu singen:


»Kam die Wolfstochter mit den Hängebacken,

die auf dem Treppenstein geborene.

Der Vater soff, die Mutter hurte,

die Jungfernschaft nahm ihr ein Vetter.«


Weiter kam er nicht. Das Mädchen sprang auf, schlug ihn ins Gesicht und schrie: »Lieber Wolfsblut in den Adern als Pisse so wie du!«

Der Wirt stürzte herbei und führte den Sänger hinaus. Dann schenkte er uns mit eigener Hand noch einmal Wein ein und sagte: »Clarissima, dein Besuch ehrt mich, aber der Knabe ist minderjährig. Ich bitte euch herzlich, trinkt eure Becher aus und geht, sonst bekomme ich es mit den Ädilen zu tun.«

Es war schon spät, und ich wußte nicht, was ich von dem zügellosen Benehmen des Mädchens halten sollte. Vielleicht war sie wirklich eine lasterhafte kleine Wölfin, die der Wirt nur im Scherz »wohlgeboren« nannte. Zu meiner Erleichterung war sie ohne weiteres bereit, zu gehen. Als wir aber auf die Straße traten, packte sie mich am Arm und bat: »Begleite mich noch bis zur Tiberbrücke.«

Wir kamen ans Ufer und sahen unruhige, tiefhängende Wolken über uns hinziehen, die im Schein der Fackeln rötlich leuchteten. Das nun im Herbst rasch strömende Wasser gluckste zu unseren Füßen, und es roch nach Schlamm und faulendem Schilf. Das Mädchen führte mich an die Brücke zur Tiberinsel. In den Äskulaptempel auf der Insel pflegten unbarmherzige Hausväter ihre todkranken Sklaven schaffen zu lassen, die zu nichts mehr nütze waren, und von der anderen Seite der Insel führte eine zweite Brücke in den vierzehnten Stadtteil, das Transtiberina der Juden. Im Abenddunkel war die Brücke kein angenehmer Aufenthaltsort. Wo das Gewölk den Himmel freigab, funkelten die Sterne des Herbstes, der Fluß blinkte schwarz herauf, und der Wind trug das Stöhnen der Sterbenden und Kranken zu uns herüber wie Klagen aus der Unterwelt.

Meine Begleiterin beugte sich über das Brückengeländer und spuckte zum Zeichen ihrer Verachtung in den Tiber. »Spuck du auch«, forderte sie mich auf. »Oder fürchtest du dich vor dem Flußgott?« Ich mochte den Tiber nicht kränken, aber als sie mich eine Weile geneckt hatte, spuckte ich doch, kindisch, wie ich noch war. Im gleichen Augenblick flog ein Stern in gleißendem Bogen über den Tiber. Ich glaube, ich werde das in der Stunde meines Todes noch nicht vergessen haben: das Murmeln des Flusses, die rasch treibenden, rötlich schimmernden Wolken, der Weinrausch in meinem Kopf und die helle Sternschnuppe über dem schwarzblinkenden Tiber.

Das Mädchen drückte sich so fest an mich, daß ich ihren straffen, festen Körper spürte. »Deine Sternschnuppe flog von Osten nach Westen«, flüsterte sie. »Ich bin abergläubisch. Du hast auch Glückslinien in den Handflächen, das habe ich heimlich beobachtet. Vielleicht kannst du auch mir Glück bringen.«

»Sag du mir nun endlich, wie du heißt«, bat ich ungeduldig. »Ich habe dir meinen Namen genannt und dir von meinem Vater erzählt. Man wird mich bestimmt schelten, wenn ich so spät nach Hause komme.«

»Ja, ja, du bist ja noch ein Kind«› seufzte sie und zog sich die Schuhe aus. »Ich gehe jetzt, und zwar barfuß. Die Schuhe haben mich schon genug gedrückt, so daß ich mich auf dich stützen mußte, als ich neben dir dahinstolperte. Nun brauche ich dich aber nicht mehr. Lauf nur rasch nach Hause, damit du nicht meinetwegen ausgeschimpft wirst.«

Ich bestand jedoch darauf, daß sie mir ihren Namen sagte. Endlich seufzte sie tief auf und fragte: »Versprichst du mir, daß du mich mit deinem unschuldigen Knabenmund auf den Mund küssen und keine Angst haben wirst, wenn ich dir meinen Namen sage?«

Ich antwortete, daß ich kein Mädchen anrühren dürfe und könne, solange ich nicht mein Gelübde an das Orakel in Daphne erfüllt hätte. Das machte sie neugierig, und sie schlug vor: »Wir könnten es doch zumindest versuchen. Ich heiße Claudia Plautia Urgulanilla.«

»Claudia!« wiederholte ich. »Du stammst also aus dem Geschlecht der Claudier!«

Sie wunderte sich darüber, daß mir ihr Name nichts sagte: »Willst du allen Ernstes behaupten, daß du nichts über mich weißt?« fragte sie auffahrend, doch dann beruhigte sie sich wieder und fuhr fort: »Du bist wohl wirklich gerade erst aus Syrien gekommen. Mein Vater ließ sich von meiner Mutter scheiden, und fünf Monate nach der Scheidung wurde ich geboren. Mein Vater nahm mich nicht auf seine Arme, sondern Ließ mich nackt auf die Türschwelle meiner Mutter legen. Er hätte besser daran getan, mich in die Kloake zu werfen. ich habe zwar nach dem Gesetz das Recht, mich Claudia zu nennen, aber kein ehrlicher Mann kann oder will mich zur Frau nehmen, da mein Vater durch sein Verhalten zu verstehen gegeben hat, daß er mich als außerhalb der Ehe geboren betrachtet. Verstehst du jetzt, warum ich seine Bücher lese – um nämlich zu sehen, wie verrückt er wirklich ist – und warum ich seine Statue anspucke!«

»Bei allen bekannten und unbekannten Göttern!« rief ich verblüfft. »Du Wahnsinnige willst mir doch nicht weismachen wollen, du seist eine Tochter des Kaisers Claudius!«

»Das weiß in Rom jedes Kind«, fauchte sie zornig. »Deshalb wagen Senatoren und Ritter nicht, mich zu grüßen. Deshalb hält man mich auf dem Lande, hinter dem Vatikanischen Hügel, versteckt. Aber nun, da ich dir meinen Namen gesagt habe, was ich lieber nicht hätte tun sollen, mußt du auch dein Versprechen halten.«

Sie ließ ihre Schuhe fallen und umarmte mich. Zuerst wehrte ich mich, aber dann begann sie und ihre Geschichte mich zu reizen. Ich drückte sie fest an mich und küßte im Dunkeln ihren warmen Mund. Und es geschah nichts, obwohl ich mein Gelübde brach. Oder vielleicht fühlte sich die Göttin nicht beleidigt, weil ich nicht zu zittern begann, als ich Claudia küßte. Vielleicht auch konnte ich wegen ebendieses Gelübdes nicht zittern, wenn ich ein Mädchen küßte. Ich weiß es nicht.

Claudia ließ ihre Hände auf meinen Schultern liegen, hauchte mir ihren warmen Atem ins Gesicht und fragte: »Versprichst du mir, Minutus, daß du zu mir kommst, sobald du die Männertoga angelegt hast?«

Ich murmelte, daß ich auch dann noch meinem Vater gehorchen müsse, aber Claudia sagte entschieden: »Nachdem du mich geküßt hast, bist du an mich gebunden.«

Sie bückte sich, suchte in der Dunkelheit nach ihren Schuhen, richtete sich wieder auf, strich mir mit der einen Hand über meine kalte Wange und eilte davon. Ich rief ihr nach, daß ich mich keineswegs an sie gebunden fühlte, da sie mich mit Gewalt geküßt hätte, aber Claudia war schon in der Nacht verschwunden. Der Wind trug nur noch das Jammern der Kranken von der Insel herüber, das Wasser gurgelte unheilverkündend, und ich lief nach Hause, so schnell ich konnte. Barbus hatte mich vergeblich in der Bibliothek und auf dem Forum gesucht und war zornig auf mich. Zum Glück hatte er jedoch Tante Laelia noch nicht von meinem Verschwinden zu benachrichtigen gewagt, und mein Vater war wie üblich noch spät unterwegs.

Tags darauf fragte ich Tante Laelia beiläufig nach Claudia. Ich erzählte ihr, daß ich sie in der Bibliothek getroffen und ihr eine Rohrfeder geschenkt hatte. Tante Laelia erschrak und beschwor mich: »Laß dich nie in deinem Leben mit diesem schamlosen Mädchen ein, und lauf lieber davon, wenn du ihr noch einmal begegnen solltest. Kaiser Claudius hat schon oft bereut, daß er sie damals nicht ertränken ließ, aber zu der Zeit wagte er so etwas noch nicht. Ihre Mutter war außerdem eine große, wilde Frau, und Claudius hätte für seine eigene Haut fürchten müssen, wenn er das Mädchen ausgesetzt hätte. Kaiser Gajus nannte Claudia gern seine Base, um Claudius zu reizen, und ich glaube, daß sie auch irgendwie an seinem sittenlosen Treiben teilhatte. Der arme Gajus schlief ja sogar bei seinen eigenen Schwestern, weil er sich für einen Gott hielt. Claudia wird in keinem anständigen Haus empfangen. Ihre Mutter wurde übrigens von einem berühmten Gladiator aus Versehen erschlagen, und der Mann wurde nicht einmal verurteilt, weil er beweisen konnte, daß er nur seine Tugend verteidigt hatte. Die Urgulanilla wurde nämlich mit den Jahren immer gewalttätiger bei ihren Liebesabenteuern.« Ich vergaß Claudia bald, denn mein Vater nahm mich nach Caere mit, und wir blieben dort einen ganzen Wintermonat, um die Güter zu besichtigen. Die unzähligen mächtigen Grabhügel der Könige und Edlen der Etrusker, die sich zu beiden Seiten der heiligen Straße erhoben, erschütterten mich. Als die Römer vor Hunderten von Jahren Caere eroberten, plünderten sie die alten Gräber und nahmen alles mit, was von Wert war, aber es gab noch jüngere, unberührte Gräber an der Straße. Ich begann Achtung vor meiner Herkunft zu empfinden, denn bisher hatte ich trotz den Erzählungen meines Vaters nicht geahnt, daß die Etrusker einst ein so mächtiges Volk gewesen waren. Wer nur Kaiser Claudius’ Geschichte gelesen hat, macht sich keinen Begriff von der düsteren Erhabenheit dieser königlichen Grabhügel. Man muß sie mit eigenen Augen gesehen haben.

Die Bewohner des längst verarmten Caere hüteten sich, zur Nachtzeit in die Nähe der Totenstadt zu gehen, und versicherten, daß dort Geister umgingen. Bei Tag aber wanderten viele Reisende hinaus, um die alten Hügel und die Wandskulpturen und Reliefs in den ausgeraubten Grabkammern zu besichtigen. Mein Vater nützte die Gelegenheit und legte sich eine Sammlung alter Bronzeminiaturen und heiliger, schwarzer Tonkrüge an, die die Bauern der Gegend beim Pflügen oder Kellerausschachten gefunden hatten. Die besten Bronzen hatten die Sammler freilich schon zu Augustus’ Zeiten mitgehen lassen, als es Mode wurde, etruskische Gegenstände zu sammeln, und die meisten der mit Grünspan bedeckten Statuetten waren von den Deckeln von Bestattungsurnen losgebrochen worden.

Für die Landwirtschaft vermochte ich mich nicht zu erwärmen. Ich begleitete meinen Vater gelangweilt auf seinen Gängen durch die Felder, Olivenhaine und Weinberge. Die Dichter preisen zwar das einfache Landleben, aber ich selbst verspürte ebensowenig Verlangen danach, mich auf dem Lande anzusiedeln, wie jene Dichter. In der Gegend von Caere konnte man außerdem nur Füchse, Hasen und Vögel jagen, und mich stieß diese Jagd ab, bei der man nur Fallen, Schlingen und Leimruten, aber keinen Mut braucht.

Wenn ich mir ansah, wie mein Vater mit den Sklaven und Freigelassenen umging, die seine Güter bewirtschafteten, kam ich zu dem Schluß, daß die Landwirtschaft für einen Stadtbewohner ein teures Vergnügen ist, das mehr verschlingt, als es einbringt. Nur sehr große Güter, die mit billiger Sklavenarbeit betrieben werden, werfen noch nennenswerte Gewinne ab, aber von dieser Art von Landwirtschaft wollte mein Vater nichts wissen.

»Lieber habe ich Untergebene, die als glückliche Menschen leben und gesunde Kinder haben«, sagte er. »Ich lasse sie gern auf meine Kosten reich werden, denn es ist gut, zu wissen, daß man ein Fleckchen Erde hat, auf das man sich zurückziehen kann, wenn einen das Glück einmal im Stich läßt.«

Ich bemerkte aber, daß die Bauern nie zufrieden waren, sondern ununterbrochen jammerten. Bald regnete es zuviel, bald zuwenig, bald fraßen Schädlinge die Weinreben auf, bald fiel die Olivenernte zu reichlich aus, und die Ölpreise sanken. Und die Untergebenen schienen meinen Vater nicht einmal zu achten. Sie benahmen sich frech und unverschämt, sobald sie merkten, wie gutmütig er war. Ohne Unterlaß klagten sie über ihre elenden Behausungen, ihr schlechtes Werkzeug und die Leiden ihrer Zugochsen.

Manchmal wurde mein Vater gegen seine Natur böse und gab ihnen harte Worte. Dann duckten sie sich, tischten hastig eine gute Mahlzeit auf und kredenzten ihm gekühlten Weißwein. Die Kinder wanden Kränze für seine Stirn und tanzten um ihn herum, bis er wieder besänftigt war und seinen Pächtern und Freigelassenen neue Zugeständnisse machte. Mein Vater trank in Caere so viel Wein, daß er kaum einen Tag nüchtern war.

In der Stadt trafen wir mit einigen dickbäuchigen Opferpriestern und Handelsleuten zusammen, die alle die bewußte Hautfalte in den Augenwinkeln hatten und ihr Geschlecht an die tausend Jahre zurückverfolgen konnten. Sie halfen meinem Vater, seine Ahnen bis zurück in die Zeit, da Lykurg den Hafen und die Kriegsflotte Caeres zerstört hatte, ausfindig zu machen, und mein Vater kaufte sogar eine Grabstätte an der heiligen Straße.

Eines Tages brachte ein Eilbote aus Rom die Nachricht, daß alles nach Wunsch gegangen war. Der Zensor hatte das Ansuchen meines Vaters um Wiederverleihung des Ritterranges genehmigt, und es konnte nun täglich Kaiser Claudius vorgetragen werden, weshalb wir nach Rom zurückkehren mußten. Dort hielten wir uns einige Tage in unserem Haus in Bereitschaft, da wir jeden Augenblick auf den Palatin gerufen werden konnten. Der Sekretär des Kaisers, Narcissus, hatte versprochen, einen günstigen Augenblick zu wählen, um das Gesuch vorzulegen. Es war ein strenger Winter. Die römischen Steinböden waren eisig, und in den Mietshäusern erstickten täglich Menschen an dem Rauch aus schlecht gewarteten Glutbecken. Tagsüber schien zwar die Sonne und kündete den Frühling voraus, aber sogar die Senatoren ließen sich zu den Versammlungen in der Kurie Glutbecken bringen und unter die Elfenbeinschemel stellen. Tante Laelia klagte, daß von den alten römischen Tugenden nicht mehr viel übriggeblieben sei. Noch zu Augustus’ Zeiten hätte sich so mancher alte Senator lieber eine Lungenentzündung oder einen Rheumatismus fürs Leben geholt, ehe er seinen Körper auf so unmännliche Weise verzärtelte.

Tante Laelia wollte unbedingt das Luperkalienfest und den Umgang der Faunuspriester sehen. Sie erklärte uns, daß der Kaiser selbst bei diesem Fest der oberste Priester sei und man uns daher am Luperkalientag kaum auf den Palatin rufen werde. Zeitig am Morgen der Iden des Februar ging ich mit ihr so nahe wie möglich zu dem uralten Feigenbaum. Drinnen in der Grotte schlachteten die Priester die Ziege zu Ehren des Faunus Lupercus. Mit dem blutigen Messer zeichnete der Opferpriester jedem Faunuspriester ein Mal auf die Stirn, das sich alle zugleich mit einem Stück heiligen Linnens, das in Milch getaucht worden war, wieder abwischten, wobei sie gemeinsam in das heilige Gelächter ausbrachen. Und dieses Gelächter klang so laut und entsetzlich aus der Grotte, daß der Volkshaufe fromm erstarrt und einige in Verzückung geratene Frauen auf dem Weg voraussprangen, den die Wächter mit ihren heiligen Ruten für den Festzug bahnten. In der Grotte schnitten die Priester die Ziegenhaut mit dem Opfermesser in Streifen und tanzten dann auf den Weg hinaus. Sie waren alle nackt, lachten ihr heiliges Gelächter und peitschten mit den Riemen aus der Ziegenhaut die Frauen, die sich an den Weg herandrängten, daß deren Kleider mit Blut befleckt wurden. So umtanzten sie den ganzen Palatin.

Tante Laelia war zufrieden und versicherte, das heilige Lachen habe schon seit vielen Jahren nicht mehr so festlich geklungen. Eine Frau, die von dem blutigen Riemen eines Faunuspriesters getroffen wurde, durfte hoffen, binnen Jahresfrist schwanger zu werden, erklärte sie. Es war dies ein unfehlbares Mittel gegen Unfruchtbarkeit, und Tante Laelia beklagte nur, daß so viele vornehme Frauen keine Kinder haben wollten, so daß sich meist nur die Frauen gewöhnlicher Bürger von den Faunuspriestern geißeln ließen. Sie hatte nicht eine einzige Senatorenfrau am heiligen Weg entdeckt. Einige unter den dichtgedrängten Zuschauern behaupteten, sie hätten auch Kaiser Claudius in eigener Person gesehen, wie er am Eingang der Grotte nackt hin und her gesprungen sei und die Faunuspriester vor der Geißelung laut schreiend angefeuert habe. Wir selbst sahen ihn nicht. Als der Zug den Hügel umschritten hatte und die Priester in die Grotte zurückgekehrt waren, um eine trächtige Hündin zu opfern, gingen wir nach Hause und nahmen das vorgeschriebene Festmahl aus gekochtem Ziegenfleisch und Weizengebäck in Form von menschlichen Geschlechtsteilen ein. Tante Laelia trank Wein und freute sich, daß nach dem dunklen Winter endlich der herrliche römische Frühling nahte.

Gerade als mein Vater sie ermahnte, sich zur Mittagsruhe zurückzuziehen, ehe sie anfing Dinge zu reden, die nicht für meine Knabenohren taugten, kam ein Botensklave des Sekretärs Narcissus atemlos angerannt und sagte, wir sollten uns, ohne einen Augenblick zu verlieren, auf den Palatin begeben. Wir machten uns zu Fuß und nur von Barbus begleitet auf den Weg, worüber sich der Sklave sehr verwunderte. Zum Glück waren wir wegen des Festes beide schon so gekleidet, wie es der Anlaß erforderte.

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