5
Marcus an Tullia.
Ich will von meiner Wanderung nach Bethanien erzählen und davon, was mir dort widerfahren ist.
Mein Bart war im Wachsen. Da ich überdies ein schlichtes Untergewand und einen verschmutzten Reisemantel trug, glich ich wohl eher einem Straßenräuber als einem gesitteten Römer. Meine syrischen Hausleute hatten mich für die Reise mit Brot, Salzfisch und Sauerwein versorgt, und ich verließ die Stadt durch das Quelltor. An dem Teiche im Kidrontal vorbei folgte ich der Straße längs des ausgetrockneten Bachbettes. Auf der Höhe zur Linken erhob sich die Stadtmauer, und in den Felsböschungen zur Rechten waren viele Gräber. Altersknorrige Ölbäume wuchsen auf den Hängen, und ich überschritt eine luftige Hügelkuppe, die einen schattigen dunkelgrünen Kräutergarten trug.
Die Luft war frisch und warm, und kein Wölkchen stand am Himmel. Auf der Straße begegneten mir mit Reisig und Holzkohle beladene Esel und körbetragende Landleute. Frohen Herzens schritt ich aus und kam mir noch jung und stark vor. Das Vergnügen körperlicher Anstrengung verscheuchte die düsteren Gedanken aus meinem zweifelsüchtigen Geist, und ich fühlte mich aufgeschlossen und empfänglich. Vielleicht, so sagte ich mir, lebe ich wirklich in einer Zeit, da die Welt ungeahnter Dinge harrt und niemand recht weiß, was geschehen mag. In solchen Zeiten kann ein Außenstehender wie ich der Lösung eines Rätsels ebenso nahe kommen wie jene, die von Anfang an die Dinge miterlebt haben. Die Erde schien mir nicht mehr die alte, und auch der Himmel dünkte mich anders als bisher. Alles trat klarer zutage denn je.
Schon von weitem erblickte ich Bethanien. Die Vorderseiten der niedrigen Häuser waren für das Fest frisch getüncht worden und leuchteten durch die Bäume. Als ich mich dem Dorf näherte, sah ich einen Mann im Schatten eines Feigenbaumes sitzen. Er kauerte so reglos in seinem erdfarbenen Mantel, daß ich bei seinem Anblick erschrocken innehielt.
»Friede sei mit dir!« rief ich. »Ist das hier Bethanien?«
Er schaute mich an und die Augen in seinem schmächtigen Gesicht waren so glasig, daß ich ihn zuerst für blind hielt. Er war barhäuptig und hatte, obwohl sein etwas fahles Gesicht noch jugendlich war, schon weiße Haare.
»Friede sei auch mit dir!« grüßte er zurück. »Hast du den Weg verloren, Fremdling?«
»Es gibt viele Wege und mancherlei falsche Wegweiser«, sagte ich rasch, während Hoffnung in meinem Herzen aufstieg. »Vielleicht kannst du mir den richtigen Weg zeigen.«
»Hat Nikodemus dich geschickt?« fragte er unwirsch. »Nun denn, ich bin Lazarus. Was willst du von mir?«
Er sprach mit ungelenker Zunge, als fiele ihm das Reden schwer. Ich verließ die Straße und setzte mich an seine Seite, allerdings nicht ganz neben ihn. Der Schatten des Feigenbaumes tat mir wohl, und ich bemühte mich nach Kräften, den Mann nicht allzu auffällig anzustarren. Unter den Juden ist es nämlich Sitte, bei der Begegnung mit einem Fremden den Blick zu senken; ihm ins Gesicht zu schauen, gilt ihnen als unhöflich.
Lazarus mochte sich gewundert haben, daß ich nicht gleich zu reden anfing. Denn nachdem wir eine Weile Seite an Seite gesessen hatten – ich fächelte mir mit dem Mantelsaum Luft zu, weil ich vom Gehen in Schweiß geraten war –, sagte er: »Du weißt ja sicherlich, daß die Hohenpriester auch mich umbringen wollen. Wie du siehst, habe ich mich nicht versteckt, sondern lebe in meinem Hause und in meinem Dorfe. Mögen sie nur kommen und diesen meinen Körper töten, wenn sie können! Ich fürchte sie nicht, und dich ebensowenig. Mich kann niemand ums Leben bringen, weil ich nie sterben werde.«
Seine unheimlichen Worte und sein glasiger Blick bestürzten mich derart, daß mir vorkam, als hauchte sein Atem mich eiskalt an. Darum rief ich: »Bist du von Sinnen? Wie kann ein Mensch von sich behaupten, daß er nicht sterben werde?«
Er entgegnete: »Vielleicht bin ich kein Mensch mehr. Ich habe diesen Körper, gewiß. Ich esse und trinke und rede. Aber die Welt um mich her ist für mich nicht mehr wirklich. Wenn der Körper mir abhanden kommt, verliere ich nichts.«
An diesem Manne war etwas so Ungewöhnliches, daß ich seinen Worten glaubte. »Man hat mir erzählt«, bemerkte ich, »der als Judenkönig Gekreuzigte hätte dich von den Toten auferweckt. Stimmt das?«
In spöttischem Töne erwiderte er: »Was soll diese Frage? Hier sitze ich, und du siehst mich. Ich bin den Tod der Menschen gestorben und habe vier Tage lang, mit Tüchern umwickelt, im Grab gelegen, bis er kam, den Stein vom Grufteingang wegheben ließ und mir zurief: ›Lazarus, komm heraus!‹ So einfach war das.«
Aber er sprach freudlos darüber. Ja, in seiner Stimme lag Hohn. Als ich nichts erwiderte, fuhr er fort: »Schuld an allem sind meine Schwestern, und ich kann es ihnen nicht verzeihen, daß sie ihm immer wieder Botschaften schickten und ihn veranlaßten, seine Schritte wieder nach Judäa zu lenken. Ohne meine Krankheit und meinen Tod wäre er vielleicht überhaupt nicht hierher zurückgekommen und nicht in die Hände seiner Feinde gefallen. Ehe er mich aus dem Grabe rief, hat er über mich geweint.«
»Ich verstehe dich nicht«, widersprach ich ihm. »Statt sich zu freuen, daß er dich von den Toten auferweckt und dem Leben wiedergegeben hat, machst du deinen Schwestern Vorwürfe. Warum denn?«
Lazarus entgegnete: »Ich glaube nicht, daß jemand, der einmal das Sterben erfahren hat, jemals wieder froh sein kann. Jesus hätte mich nicht zu beweinen brauchen.« Dann fügte er hinzu: »Er muß wohl der Sohn Gottes gewesen sein, und derjenige, von dem geschrieben steht, er würde auf Erden erscheinen – obwohl ich davon nicht so fest überzeugt bin wie meine Schwestern. Ich sehe auch nicht ein, weshalb er mich derart geliebt haben sollte; er hatte doch keinen Grund dazu.«
Schweigend saßen wir und starrten vor uns hin. Ich wußte nicht, wonach ich mich sonst noch erkundigen, sollte, so unheimlich schien dieser Mann mir mit seiner Schroffheit und seinem Mißmut. Schließlich fragte ich behutsam: »Aber daß er der Messias war, glaubst du doch wohl?«
»Er ist mehr als der Messias«, erklärte Lazarus sehr entschieden. »Eben dies erschreckt mich an ihm. Er ist mehr als alles, was die Propheten je voraussagen konnten. Du hast ja wohl gehört, daß er am dritten Tage aus dem Grabe auferstanden ist?«
»Ja«, antwortete ich. »Deshalb habe ich dich aufgesucht – um mehr über ihn zu erfahren.«
»Daß er auferstand ist nur natürlich, völlig klar und selbstverständlich«, meinte Lazarus. »Welche Macht hätte ihn im Grabe festzuhalten vermocht? Ich hatte es nicht nötig, mir, wie meine Schwestern es taten, die leere Gruft anzusehen. Ich glaube es auch so. Aber, Fremdling, von ganzem Herzen und sehnlicher als irgend etwas anderes hoffe ich, daß er sich mir in diesem Leben nicht mehr zeigen wird. Ich könnte seinen Anblick nicht ertragen. Nein, nein, in diesem Leben nicht mehr! Erst in seinem Reich!«
»Welche Bewandtnis hat es mit seinem Reich?« fragte ich wißbegierig.
Lazarus blickte mich unfreundlich an und sagte: »Warum stellst du mir nicht die ebenso naheliegende Frage, welche Bewandtnis es mit dem Reiche des Todes hat? Darüber kann ich dir Auskunft geben: der Tod ist hier und dort und überall. Daß weiß ich aus Erfahrung. Diese Welt ist das Reich des Todes; mein Körper gehört ihm an, ebenso wie deiner. Aber mit Jesus kam das Reich des Gottessohnes auf die Erde. So ist nun sein Reich hier und dort und überall.«
Dann jedoch senkte er den Kopf und fügte hinzu: »Aber glaube lieber nicht, was ich sage! Ich kann falsch verstanden haben. Alles ist so verwirrend.« Nach einer Weile meinte er: »Und laß dich durch meine Niedergeschlagenheit nicht entmutigen! Der Weg ist der richtige, dessen kann ich dich versichern. Wenn du ihn weiterverfolgst, gehst du nicht in die Irre.«
Er stand auf und schüttelte den Staub von seinem Mantel. »Wahrscheinlich wirst du gern meine beiden Schwestern kennenlernen wollen«, sagte er. »Ich bringe dich zu ihnen. Dann aber entferne ich mich, wenn du erlaubst. Mir fällt es schwer, mit Menschen beisammen zu sein.«
In Gesellschaft anderer mußte dieser Mann sich wohl tatsächlich eher tot als lebendig vorkommen. Dazu bewegte er sich nur mühsam, als hätte er seine Glieder nicht voll in seiner Gewalt. Ich glaube, er wäre mir auch gleich als seltsam aufgefallen, wenn ich ihn, ohne zu wissen, wer er ist, im Kreise anderer Menschen gesehen hätte.
Er führte mich zum Dorfe nicht auf dem kürzesten Wege, sondern ging vor mir her den Hang hinauf und ließ mich das Felsengrab sehen, aus dem Jesus von Nazareth ihn gerufen hatte. Seine und seiner Schwestern Heimstatt war ein stattlicher Bauernhof. Unterwegs zeigte Lazarus mir zwei Esel auf der Weide, einen Weinberg und Obstbäume und schließlich Geflügel, das in der Nähe des Hauses scharrte. Es war, als wollte er mir auf bäuerliche Art zu verstehen geben, daß er nicht ein hergelaufener Habenichts sei. Alles war so anheimelnd, friedlich und diesseitig, daß ich kaum den Gedanken festhalten konnte, neben jemandem zu gehen, der offenbar davon überzeugt war, von den Toten auferweckt worden zu sein.
Aber für mich ist dieser Punkt, das erkannte ich klar, nicht entscheidend. Worauf es mir ankommt, ist nur, ob Jesus von Nazareth wirklich Gottes Sohn und ob er auferstanden ist. Wenn das zutrifft, warum hätte er dann nicht vorher auch schon den Lazarus auferwecken können? So überlegte ich. Und mitten in diesen Gedankengängen fragte ich mich plötzlich verwundert, ob ich wirklich noch derselbe Marcus war, der in Rhodos studiert, in den heißen Straßen Roms das Nachtleben mitgemacht, dann in den Rosenhainen Baiaes die Gattin eines anderen unsinnig geliebt und schließlich in Alexandria die Zeit geteilt hatte zwischen der Erforschung von Prophezeiungen und nächtelangen Trinkgelagen in schlechter Gesellschaft.
Was war denn in mich gefahren? Welche jüdischen Hexerkünste hatten derart Macht über mich gewonnen, daß ich mit staubigem, schweißig riechendem Mantel in einem judäischen Dorf zwischen gackernden Hennen umherstolperte, auf der Suche nach Beweisen für eine Totenerweckung, nach Wundern und nach einem Gott, der als Mensch zur Welt kam, dann starb und wieder auferstand, auf daß die Welt gewandelt würde? Denn falls dies alles tatsächlich geschah, kann die Welt nicht bleiben, wie sie ist.
Von Lazarus begleitet, blickte ich in einen großen, halbdunklen, quergeteilten Raum, dessen untere Hälfte landwirtschaftliche Krüge und Säcke sowie eine Futterkrippe enthielt, während im oberen Teil einige Möbelstücke standen. Aber in dem Hause muß es noch sonstige Räume geben; denn Lazarus rief jetzt seine offenbar anderswo weilenden Schwestern herbei. Dann* führte er mich zu einer Steinbank vor dem Haus und lud mich ein, Platz zu nehmen. Er selbst blieb stehen.
Nun kamen die Schwestern heraus, bedeckten nach der Sitte ihre Gesichter und blickten zu Boden. Lazarus sagte: »Das ist meine Schwester Martha, und das ist Maria. Frage sie, was du willst!« Dann ging er und zeigte sich nicht mehr.
Nachdem ich die Frauen begrüßt hatte, sagte ich: »Ich möchte gern etwas über den Lehrer erfahren, der, soviel ich weiß, öfter hier gewohnt und sogar euren Bruder vom Tode erweckt hat.«
Die Frauen empfanden Scheu vor mir; sie hielten sich Zipfel ihrer Überwürfe vor den Mund und warfen einander verstohlene Blicke zu. Schließlich faßte die ältere, Martha, sich ein Herz und sprach: »Er war der Sohn Gottes. Wenn du willst, kann ich die Dorfleute zusammenrufen. Sie waren alle dabei, als er den Stein vom Grufteingang wegheben ließ und unseren Bruder mit lauter Stimme herausrief. Lazarus erschien, noch von Binden umwickelt und das Schweißtuch über dem Gesicht, so daß alle sprachlos dastanden und vor Schreck zitterten. Aber er war unser Bruder. So lösten wir die Grabtücher und sahen, daß er lebte. Später aß und trank er vor aller Augen, und die Leute starrten ihn mit offenen Mündern an.«
Maria sagte: »Im Dorfe wohnt auch ein Mann, der blind war und durch ihn das Augenlicht wiederbekam. Willst du mit ihm reden, damit du es glaubst?«
»Ich habe gehört, daß er Blinde sehen und Lahme gehen machte«, erwiderte ich. »Dafür gibt es so viele Zeugen, daß ich mit dem Mann im Dorfe nicht zu sprechen brauche. Lieber würde ich etwas über Jesu Reich erfahren. Was hat er darüber gelehrt?«
Maria erklärte mir: »Er hat im voraus gewußt, daß und wie er sterben mußte, obwohl wir seine Andeutungen damals nichtverstanden. Als er unseren Bruder auferweckt hatte, zog er sich in eine Gegend nahe der Wüste zurück, weil zu viele Menschen um ihn herumschwärmten. Aber sechs Tage vor Passah kam er wieder zu uns. Während er aß, habe ich ihm die Füße gesalbt und sie mit meinem eigenen Haar getrocknet, um ihm soviel Ehre zu erweisen, wie ich nur konnte. Da sagte er, ich hätte ihn für sein Begräbnis gesalbt; so sicher war er seines Todes. Aber warum alles gerade so geschah und weshalb er eines derart schrecklichen Todes sterben mußte, das können wir Schwestern beide nicht verstehen.«
Nun mischte Martha sich ein. »Wie sollten wir als Frauen das verstehen können? Manche meinen, alles sei geschehen, damit die Schriften erfüllt würden. Meinem Frauenverstand leuchtet nicht ein, wozu eine solche Erfüllung gut sein sollte. Jesus war doch der, der er war, durch die Art, wie er war, und hat das selber durch seine Taten genügend bewiesen. Aber vielleicht mußten die Schriften auf so grausame Weise erfüllt werden, damit auch die vernunftbegabten Männer bereitwilliger glauben. Die Vernunft ist ja den Männern gegeben worden; in dieser Beziehung wurden wir Frauen kärglich bedacht.«
»Aber was sagte er von sich selbst und seinem Reich?« drängte ich ungeduldig.
Martha meinte: »Erzähle du es ihm, Maria! Du hast ja den Reden Jesu zugehört. Ich kann eher Bescheid darüber geben, wie man den Brotteig säuert und Fleisch brät, Trauben liest und Feigenbäume pflegt. Etwas anderes habe ich nicht gelernt. Ich hatte auch keine Worte nötig, um überzeugt zu sein, daß er mehr war als ein Mensch.«
Maria wußte zuerst nicht recht, was sie berichten sollte. Dann begann sie: »So wie er hat nie jemand gesprochen. Er redete wie einer, dem Gewalt gegeben ist. Er hat gesagt, er sei als Licht in die Welt gekommen, auf daß niemand, der ihm folgt, in der Finsternis wandle.«
»Was bedeutet da Licht? Und was bedeutet Finsternis?« fragte ich.
Maria schüttelte den Kopf und erwiderte: »Ach ja, wie kannst du das verstehen, ohne jemals selbst Zeuge seiner Belehrungen gewesen zu sein? Er hat gesagt: ›Wer mich gesehen hat, hat den gesehen, der mich gesandt hat.‹ Und auch: ›Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.‹«
Endlich glaubte ich zu begreifen und rief: »Wenn ich also den Weg suche, so suche ich ihn.«
Maria nickte eifrig. Dann kauerte sie sich vor mich hin und wandte mir ohne weitere Scheu beflissen das Gesicht zu. Um mir die Dinge klarzumachen, fragte sie: »Was ist deiner Meinung nach schwieriger: jemandem zu sagen: ›Deine Sünden sind dir vergeben‹ oder jemanden, der vier Tage tot im Grabe gelegen hat, wiederzubeleben?«
Ich erwog diese Frage und erwiderte: »Beides ist gleich schwer und nach menschlichen Begriffen unmöglich. Wie kann ein Mensch einem anderen Menschen die Sünden vergeben? Und abgesehen davon, was ist denn Sünde? Im Grunde genommen will jede Philosophie den Menschen lehren, recht zu leben, sich jeder absichtlichen Schädigung anderer zu enthalten und zur Gelassenheit gegenüber dem Tode heranzureifen. Aber der Mensch kann Verfehlungen nicht ganz meiden. Er kann sie nur nachher als solche erkennen und sich vornehmen, das nächstemal weiser zu sein. Dabei vermag niemand ihm zu helfen. Jeder muß selbst verantworten, was er tut.«
Aber noch während ich so sprach, spürte ich schon, wie geringen Trost alle Philosophie zu geben vermag; war sie doch ebensowenig imstande, meinen Weltschmerz zu heilen wie die orphischen und ägyptischen Mysterien. Immer wieder hat dieser Weltschmerz, ohne erkennbaren Anlaß, mich von neuem gepackt, gleich einer Krankheit. Dann bot das Leben mir keine Freude mehr, und weder Wein noch irgendwelche körperlichen Genüsse brachten Linderung. Diese Qual hat mich ja dazu getrieben, in den alten Weissagungen nach irgendeinem Sinn für mein Dasein zu forschen. Diese Qual hat mich ja aus Alexandria verjagt und dahin gebracht, auf Judäas Straßen zu wandern.
Martha lächelte ungläubig und sagte: »Wenn du nicht weißt, was Sünde ist, brauchst du keinen Weg zu suchen, weil du in der Finsternis bleiben wirst. Niemand ist ohne Sünde; nicht einmal die Pharisäer sind es.«
Maria warf zornig ein: »Die sind am allerärgsten – gleich weiß übertünchten Grüften, außen hui, innen aber … allerhand anderes. Du bist ja ein merkwürdiger Mensch, Fremdling, daß du nicht einmal weißt, was Sünde ist.«
»Ihr Juden habt euer Gesetz«, rechtfertigte ich mich. »Von Kind auf müßt ihr eure Gebote lernen, und ihr merkt es, wenn ihr gegen sie verstoßen habt.«
»Jesus ist nicht gekommen, um uns Menschen zu richten«, erläuterte Maria in einem Töne, als hätte sie einen Schwachsinnigen vor sich. »Im Gegenteil, er ist gekommen, um uns von der Herrschaft des Gesetzes zu befreien, indem er zeigte, daß niemand ohne Sünde sein kann. Wenn bei uns jemand zu seinem Bruder auch nur ein übereiltes Wort spricht, so hat er sein Heil verwirkt. Jesus aber hat niemanden verurteilt. Sogar zu den größten Übeltätern konnte er sagen: ›Deine Sünden sind dir vergeben.‹ Mit einem hast du übrigens recht: Diese Worte sind etwas, was nie ein Mensch zu einem anderen Menschen sagen kann. Aber er sprach sie. Beweist nicht das schon, daß er mehr war als ein Mensch?«
Ich bemühte mich ehrlich zu verstehen; doch es gelang mir nicht. »Ich habe ihn selbst leiden und am Kreuze sterben sehen«, erklärte ich. »Er ist den Tod des Menschen gestorben. Schweiß und Schmutz rannen von ihm in seinem Todeskampf; Blut und Wasser flossen aus seiner Seite, als ein Legionär ihm mit der Lanze das Herz durchbohrte. Er ist nicht vom Kreuz gestiegen. Keine himmlischen Scharen kamen, um seine Peiniger zu bestrafen.«
Maria schlug die Hände vor das Gesicht und brach in Tränen aus. Martha blickte mich vorwurfsvoll an. Es war wirklich herzlos von mir, die beiden so lebhaft an das Leiden ihres Meisters zu erinnern. Doch ich wollte Klarheit.
Schließlich flüsterte Maria: »Er ist als Mensch zur Welt gekommen und hat als Mensch unter uns gewohnt. Aber er vollbrachte Taten, wie kein Irdischer sie bewirken kann. Er hat denen, die an ihn glaubten, die Sünden vergeben. Er ist sogar vom Tode auferstanden, so daß wir nicht mehr um ihn trauern müssen. Aber all das ist noch ein Rätsel, das wir nicht lösen können.«
»Du willst mich glauben machen, er sei Mensch und Gott zugleich gewesen«, rief ich. »Aber das ist unmöglich! Zur Not kann ich mir einen Gott vorstellen, der überall ist, in allem, was geschieht, und auch in jedem von uns. Aber Gott ist Gott, und Mensch ist Mensch.«
Maria erwiderte: »Vergebens bemühst du dich, mich in die Enge zu treiben. Ich weiß, was ich weiß, und ich fühle, was ich fühle. Auch du ahnst irgend etwas, ohne zu wissen, was es ist. Weshalb sonst wärest du zu uns gekommen und hättest nach dem Wege gefragt? Wie willst du begreifen, wenn selbst wir vor Rätseln stehen? Wir glauben nur, weil uns nichts anderes übrig bleibt.«
»Ihr glaubt, weil ihr ihn geliebt habt«, entgegnete ich unwirsch. »Sicherlich war er ein hervorragender Mensch und ein großer Lehrer. Für mich jedoch ist es schwer, ihn bloß nach dem zu lieben, was ich vom Hörensagen weiß.«
»Du bist guten Willens«, meinte Maria. »Sonst würde ich dich nicht anhören und dir nicht antworten. Darum will ich dir noch etwas zur Erklärung sagen. Wir sind unterwiesen worden, daß der Inhalt des ganzen Gesetzes in den folgenden beiden Geboten umschlossen liegt: ›Liebe Gott aus deinem ganzen Herzen‹, und ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!‹ In Jesus lieben wir Gott, der ihn uns als unseren Nächsten geschickt hat.«
Für mich war es eine ganz überraschende Vorstellung, daß man Gott lieben könnte oder sollte. Scheu, Angst und Furcht konnte ich verstehen, nicht aber Liebe. Ich schüttelte den Kopf. Das war eine Lehre, die über meine Begriffe ging. Außerdem schien es mir töricht, jeden Mitmenschen so zu lieben wie sich selbst, weil es doch gute und schlechte Menschen gibt. Darum bohrte ich weiter: »Wer ist denn mein Nächster?«
Maria erklärte: »Nach Jesu Lehre ist jedermann unser Nächster, sogar ein Samariter, den wir Kinder Israels als unrein betrachten. Die Sonne scheint über Böse und Gute. Böses darf nicht mit Bösem vergolten werden. Wenn einer dich auf die rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die linke hin!«
Ich hob abwehrend beide Hände und rief: »Jetzt ist es aber genug! Verrücktere Vorschriften habe ich nie gehört, und mir ist jetzt schon klar, daß kein menschliches Wesen sie befolgen kann. Auf die Kunst der Unterweisung allerdings verstehst du, schöne Frau, dich besser als Nikodemus, der Lehrer Israels!«
Maria schlug die Augen nieder und ließ die Hände in den Schoß sinken. Leise sagte sie: »Sogar am Kreuze noch hat er seinen Vater beschworen, seinen Peinigern zu verzeihen. So haben es Ohrenzeugen berichtet.« Nach einer Weile meinte sie demütig: »Und nenne mich nicht schön! Das kränkt mich nur.«
Martha widersprach. »Sicherlich ist meine Schwester schön. Sie hatte viele Verehrer. Aber seit dem Tode unserer Eltern haben wir drei Geschwister immer zusammengelebt, unter dem Schutz unseres Bruders. Deshalb war es ein so großes Werk der Barmherzigkeit, daß Jesus zu uns kam und Lazarus wieder zum Leben erweckte. Sonst hätten wir nicht aus noch ein gewußt. Anfangs hätten wir viel Angst, die Schriftgelehrten würden aus der Stadt hierherkommen und unseren Bruder steinigen. Angedroht haben sie es. Doch jetzt, da sie Jesus getötet haben, dürften sie kaum mehr hier erscheinen. Trotzdem bin ich, so sehr ich mich auch zusammennehme, noch immer ängstlich. Jesus hat das zwar verboten, aber ich kann mir einfach nicht helfen. Ich mag nicht einmal daran denken, wie bange mir war, als Jesus darauf bestand, nach Jerusalem zu gehen und sich selber dem Tode auszuliefern.«
Ich hörte ihr nicht sehr aufmerksam zu, weil mir die aller Vernunft widerstreitende neue Lehre, die Maria mir dargelegt hatte und die wahrhaftig nicht von dieser Welt war, im Kopf herumging. Ich hatte mehr davon abbekommen, als ich auf einmal verdauen konnte. Es wäre besser gewesen, solche Grundsätze zu verlachen und sich von einem derart unsinnigen Wege fernzuhalten. Mir wurde ganz übel bei der bloßen Vorstellung, ich sollte den erstbesten Schwachkopf oder Schurken, der mir begegnete, als meinen Nächsten betrachten oder mich, ohne einen Finger zu meiner Verteidigung zu rühren, verunglimpfen lassen.
Aber Maria sagte: »Wir Schwestern wollen versuchen, unseren Kummer abzuschütteln. Auch du, Fremdling, solltest dir nicht weiter den Kopf zerbrechen! Wir wollen einfach der Dinge harren, die da kommen werden. Unser Meister hat gesagt, die Haare auf unserem Haupte seien alle gezählt, und es falle kein Sperling zur Erde, ohne daß unser aller Vater es wüßte. Warum sollten wir uns also sorgen?«
Ihre überzeugungsstarken Worte machten tiefen Eindruck auf mich. Ebenso wie ich seinerzeit, hin und her gerissen zwischen Zweifel und Glaubenssehnsucht, mich schließlich von Zeichen und Vorbedeutungen hatte leiten lassen, so erfüllte mich jetzt plötzlich das bestimmte Empfinden, ich sollte nicht allzusehr darauf erpicht sein, die Wahrheit im Nu zu erhaschen. Vielleicht wird mir im Laufe der Zeit alles offenbar, wenn ich mich damit bescheide, den Weg, auf den ich gelenkt wurde, weiterzuschreiten.
Deshalb erhob ich mich und sagte: »Jetzt habe ich euch wirklich lange genug von eurer Arbeit abgehalten. Aber ich danke euch beiden dafür, daß ihr mich so geduldig angehört und mir auf meine Fragen Bescheid gegeben habt. Friede sei mit euch!«
Martha sprang auf, schlug die Hände zusammen und rief: »Du darfst noch nicht gehen. Wie kann ich dich hungrig und durstig ziehen lassen?«
Ohne meinen Widerspruch zu beachten, ging sie in das Haus, um einen Imbiß vorzubereiten. Unterdessen saß ich, in Gedanken versunken, auf der Steinbank, und Maria kauerte auf dem Boden neben mir. Wir sprachen beide kein Wort. Aber während ein solches Schweigen auf Menschen, die einander nichts zu sagen haben, bedrückend wirkt, war es bei uns nicht so. Maria hatte mir ja im Gegenteil derart vieles gesagt, daß ich mehr gar nicht hätte in mir aufnehmen können. Einen Teil hatte ich verstanden, und das übrige mochte mir eines Tages klarwerden. Jedenfalls wäre für mich nichts gewonnen gewesen, wenn wir jetzt weitergeredet hätten. So begnügte Maria sich damit, mir zur Seite zu sein; und durch ihre Gegenwart allein floß auf mich ein Strom heiterer Gelassenheit über, die mich ihrer Nähe froh werden ließ.
Martha kam zurück und brachte in Öl getränktes und mit herben Sämereien gewürztes Brot, mit kleingehackten harten Eiern vermischtes Gemüse, gesalzenes Schaffleisch und dicken Traubensirup. Nachdem sie alles neben mich auf die Steinbank gestellt hatte, goß sie mir Wasser über die Hände und segnete die Speisen. Aber weder sie noch ihre Schwester rührten das Mahl an; auch Lazarus kam nicht mit mir essen. Bei aller Freundlichkeit dieser Leute fühlte ich mich plötzlich wie ein Aussätziger.
Die Wanderung nach Bethanien war nicht lange gewesen. Doch als ich die guten Gerichte sah, spürte ich Hunger und aß mit Appetit, während Martha neben mir saß und mich aufforderte, von jeder Speise zu nehmen und alles aufzuessen. Ich vermutete, die Schwestern würden, wenn ich etwas übrigließe, es wegwerfen, weil es von einem Fremden berührt worden war, und aß aus Höflichkeit auch noch weiter, als ich genug hatte. Schließlich trank ich von dem Wasser, das Martha mit etwas Wein versetzt hatte, und plötzlich überkam mich starke Schläfrigkeit.
Es war Mittag. Als ich fertiggegessen hatte, meinte Martha fürsorglich: »Jetzt, in der größten Hitze, brauchst du nicht an den Rückweg zu denken. Bleibe hier und ruhe ein wenig, damit wir die Pflichten der Gastfreundschaft ganz erfüllen.«
Ich fühlte mich über die Maßen erschöpft, ohne sagen zu können, ob es mehr seelische oder körperliche Müdigkeit war. Als ich aufzustehen und zu gehen versuchte, waren meine Beine bleischwer. Außerdem tat mir die Warmherzigkeit der beiden Frauen so gut, daß ich nicht die geringste Lust hatte wegzugehen. Natürlich hätte ich mich, wenn ich ernstlich gewollt hätte, jetzt verabschieden und auf den Weg machen können; aber bei meiner Abgespanntheit fand ich den bloßen Gedanken an einen Aufbruch als qualvoll. Einen Moment lang argwöhnte ich, Martha hätte in den Wein irgendein Betäubungsmittel gegossen. Doch weshalb sollte sie das getan haben? Und beim Trinken hatte ich keinen bitteren Geschmack gespürt.
»Nach Jerusalem ist es nicht weit«, sagte ich. »Aber wenn ihr es wirklich gestatten wollt, bleibe ich gern über Mittag hier. Ich fühle mich sehr wohl bei euch.«
Die beiden Frauen lächelten geheimnisvoll, als wüßten sie, was ich ihnen sagte, besser als ich. Diese Möglichkeit geheimen Wissens gab ihnen für einen Augenblick ein ganz merkwürdiges Gepräge: sie schienen nicht mehr bloße Menschen, sondern etwas Höheres. Indes flößten sie mir keine Angst ein. Ich fühlte mich eher wie ein Kind, das sich verlaufen hat und wieder heimfindet.
Sie führten mich in den Innenhof, den ein Laubdach beschattete. Obwohl mich in meiner Schlaftrunkenheit ein Gefühl der Unwirklichkeit gefangenhielt, bemerkte ich, daß ihr Anwesen größer war, als ich gedacht hatte. Es gab da mindestens vier offenbar zu verschiedenen Zeiten aufgeführte Gebäude, die den Hof umschlossen. Die Schwestern wiesen auf eine Außentreppe an dem neuesten der Gebäude, folgten mir, als ich hinaufstieg, und zeigten mir ihr Gästezimmer auf dem Dache. Es war ein kleiner, kühler Raum mit einer niedrigen, nach Zimt riechenden Schlafbank und einer Matte auf dem Boden.
Martha sagte: »Strecke dich hier aus und halte ein Mittagsschläfchen. Unser Lehrer, von dem wir dir erzählten, hat oft in dieser Kammer geruht. Nachher aber stieg er allein auf den Berg, um zu beten. Er kam und ging nach belieben. Halte es ebenso!«
In dem Zimmer waren ein Wasserkrug und ein Linnen vorbereitet. Ohne auf meinen Widerspruch zu achten, kniete Martha vor mich hin, nahm mir die Sandalen ab, wusch mir die staubigen Füße und trocknete sie mit einem Tuche.
»Warum tust du das?« fragte ich. »Du bist doch nicht meine, Magd!«
Martha sah mich wieder mit rätselvollem Lächeln an und erwiderte: »Eines Tages wirst du vielleicht jemand anderem den gleichen Dienst erweisen, ohne sein Knecht zu sein. Weißt du, ich empfinde dich als einen verwandten Menschen voll Kummer und Bedrängnis, obwohl du nach außen hin heil und gesund bist und dein Kopf den mit verschiedensten Kenntnissen vollgepfropft ist.«
Diese Worte trafen mich tief. Denn all mein Wissen war mir immer nur ein bohrender Dolch im Herzen. In ewiger Zweifelsucht flatterte mein Fragen um die Wahrheit; und beim besten Willen konnte ich mich nie zum Glauben an Dinge zwingen, die ich nicht zu glauben wünschte.
Maria sagte: »Jesus hat den gleichen Liebesdienst seinen Jüngern erwiesen, an jenem letzten Abend, als sie sich darüber zankten, wer in seinem Reich der erste werden sollte.«
Dann gingen die beiden Schwestern still hinaus, und gleich darauf fiel ich in tiefen Schlaf; so lindernd und tröstlich wirkte es auf mich, in dieser guten Stube auf dem zimtduftenden Bett zu liegen.
Als ich erwachte, hatte ich das starke Gefühl, daß ich nicht allein war, daß jemand neben mir weilte, der auf mein Erwachen gewartet hatte. Diese Empfindung war so lebhaft, daß ich mit geschlossenen Augen dalag und mich bemühte, den Fremden atmen oder sich rühren zu hören. Als ich aber die Lider aufschlug, war das Zimmer leer, und ich lag allein darin. Die Enttäuschung darüber traf mich so heftig, daß vor meinen Augen Wände und Decke des Raumes zu schwanken begannen, als wollten sie jetzt und jetzt einstürzen. Ich schloß die Augen wieder, und gleich spürte ich von neuem die Gegenwart eines anderen Wesens neben mir. Mir kam vor, ich hätte etwas Ähnliches in Jesu Gruft empfunden. Tiefer Friede erfüllte mich.
Ich dachte: In ihm selbst lag sein Reich, das auf unsere Welt kam. Nun, da er das Grab verlassen hat, wird auch sein Reich auf Erden bleiben, solange er selbst hier weilt. Vielleicht ist es die Gegenwart dieses Reiches, die ich empfinde.
Wieder schlief ich ein. Als ich jedoch neuerlich aufwachte, spürte ich die volle Last meines Körpers auf dem Bett; ich roch die Schärfe meines eigenen Schweißes und empfand die beengende Undurchdringlichkeit der Lehmmauern um mich. Bleischwer fühlte ich mich und hatte keine Lust, die Augen zu öffnen; so betrüblich war es, wieder in der Körperwelt zu erwachen.
Als ich mich schließlich dazu aufraffte, um mich zu blicken und aus der Seligkeit des Träumens in die Wirklichkeit zurückzukehren, entdeckte ich, daß ich diesmal tatsächlich nicht allein war. Eine Frau kauerte reglos auf der Matte und wartete offenbar auf mein Erwachen. Sie trug einen schwarzen Überwurf, und ihr Kopf war mit einem Schleier bedeckt, so daß ich mich zuerst fragte, ob die Gestalt überhaupt ein lebender Mensch war. Beim Betreten des Zimmers hatte ich niemanden darin bemerkt und auch später niemanden eintreten hören. Ich setzte mich am Rande des Bettes auf und spürte in allen Gliedern das Bleigewicht der Erde.
Als die Frau meine Bewegungen gewahrte, streckte sie den Rücken und lüftete den Schleier. Sie war blaß und nicht mehr jung. Die Wechselfälle des Lebens hatten wohl ihre frühere Schönheit zerstört; noch immer brannte aber eine Flamme in ihrem Gesicht. Als sie merkte, daß ich hellwach war, bedeutete sie mir mit einer unter dem Mantel versteckten Hand, ruhig sitzen zu bleiben, und begann in der heiligen Sprache der Juden kehlig zu singen. Nachdem sie eine Zeitlang so psalmodiert hatte, übersetzte sie das Vorgetragene ins Griechische.
»›Alles Fleisch ist wie Gras‹«, begann sie. »›Und alle Herrlichkeit des Menschen ist wie des Grases Blumen. Das Gras verdorret, und die Blume welkt dahin, sobald des Herrn Odem sie anhaucht. Das Gras verdorret, und die Blume welkt dahin; doch des Herren Wort bleibet in Ewigkeit.‹«
Dann sagte sie: »Wahrlich, unser Gott ist ein verborgener Gott.«
Sie blickte mich an, und in der Tiefe ihrer schwarzen Augen glühte ein Funke. Ich nickte zum Zeichen, daß ich verstand. Aber noch bedeuteten ihre Worte nichts für mich. Sie fuhr fort: »›Und der Herr sprach zu mir: Zu wenig ist's, daß du mir Knecht seist, um aufzurichten Jakobs Stamm und Israels Versprengte heimzuholen. Ich mach' dich vielmehr zum Lichte der Heiden, daß da reiche mein Heil bis ans Ende der Erde!‹«
Wie zu Beginn hatte sie das Psalmodieren in der heiligen Sprache aufgenommen, diesmal allerdings dann und wann bei einem Worte stockend, als entsänne sie sich nicht ganz des genauen Wortlauts. Dann gab sie die Verse auf griechisch wieder und fügte hinzu: »So hat der Prophet Jesaja von ihm geweissagt. Und die Stillen im Lande haben in ihrem Gedächtnis auch die Worte bewahrt: ›Verachtet war er, von den Menschen gemieden, ein Mann der Schmerzen, mit Leiden vertraut; man verhüllte das Antlitz vor ihm, und wir verachteten ihn. Fürwahr, unsere Leiden trug er, unsere Schmerzen lud er sich auf. Verwundet ward er für unsere Frevel, gezüchtigt zu unserem Heil. Wie Schafe irrten wir alle umher, jeder wandte sich seines Weges. Aber auf ihn ließ der Herr fallen unser aller Verschuldung. Man mißhandelte ihn; er beugte sich willig und tat den Mund nicht auf.‹«
Sie schüttelte den Kopf; Tränen begannen ihr über die Wangen zu rollen. Doch mit gebrochener Stimme fuhr sie fort: »›Er verströmte seine Seele in den Tod und ließ sich unter die Frevler zählen. Er trug die Sünden der Vielen und trat für die Übeltäter als Mittler ein.‹«
Ich erinnerte mich dunkel, etwas dergleichen im vergangenen Winter in Alexandria gelesen zu haben, zusammen mit dem jüdischen Gelehrten; aber damals hatten die Worte mir nichts besagt. Die Frau kauerte sich weinend auf den Boden hin und barg ihr Gesicht in den schwarzen Überwurf, um mir ihren Kummer nicht preiszugeben.
Ich sagte: »Ja, ja. Ich verstehe, was du sagst. So wurde es prophezeit, und so traf es ein. Aber welcher Sinn liegt darin?«
Die Frau schüttelte wieder den Kopf und antwortete hinter dem Überwurf hervor: »Wir wissen es noch nicht. Wir verstehen es nicht. Aber nun gibt es nicht mehr verschiedene Wege, es braucht sich nicht jeder seines eigenen Weges zu wenden – es gibt nur einen einzigen Weg.«
Als sie den Kopf verhüllt hatte, sann ich über ihre Gesichtszüge nach und sagte schließlich: »Was gereicht dir zum Frieden, Frau? Ich glaube, ich kenne dich.«
Sie wischte sich die Tränen in den Mantel, hob wieder den Kopf, versuchte zu lächeln und erwiderte: »Auch ich habe dich erkannt. Deshalb kam ich her. Als er am Kreuz gemartert wurde, hast du einen Schriftgelehrten geschlagen und die höhnenden Gaffer beiseite gestoßen.«
Ich mußte lachen. »Nein, nein«, wehrte ich freundlich ab. »Geschlagen habe ich niemanden. Da irrst du dich sehr. Es verhielt sich so: Ich habe einen Schriftgelehrten etwas gefragt, und er ist anmaßend geworden; daraufhin habe ich mich an den Zenturio gewandt, und der hat die Spötter abgedrängt.«
Aber die Frau schüttelte heftig den Kopf und erklärte: »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie du den Lästerer schlugst, weil du dich über ihn geärgert hast, obwohl du als Fremder mit der ganzen Sache nichts zu tun hattest.«
Ich sah keine Veranlassung, mit ihr darüber zu streiten. Vor dem Tode des Judenkönigs war es ja so dunkel geworden, daß sie sich leicht getäuscht haben konnte. Nach einer kleinen Weile sagte ich: »Mir kommt vor, ich habe dich dort in der Nähe seiner Mutter gesehen.«
»Ja, gewiß«, erwiderte sie. »Ich bin Maria Magdalena. Du hast von mir schon gehört. Jesus hat die bösen Geister aus mir getrieben, und seither bin ich ihm gefolgt. Er hat mir das gestattet, obwohl man es ihm übelnahm.«
Plötzlich streckte sie mir erregt die Hände entgegen, als hätte sie sich die ganze Zeit über mit Gewalt bezähmt, und rief: »Sag doch! Ich habe gehört, du bist im Auftrag des Statthalters zum Grabe gegangen und hast als erster Römer festgestellt, daß Jesus auferstanden ist. Erzähle mir davon! Bezeuge, was du gesehen hast! Mir glaubt niemand, weil ich nur eine Frau bin.«
Ich erwog meine Worte sorgfältig, da ich Maria Magdalena weder belügen noch irreleiten wollte. »Den Stein hat das Erdbeben vom Grufteingang losgerüttelt, und die Wachen wären geflohen. Ich bin mit dem Hauptmann eingetreten. Wir sahen das Grablinnen dort liegen, so wie es um den Körper gewickelt worden war, und das Schweißtuch lag in einigem Abstand; aber in der Hülle stak kein Leichnam. Als ich das sah, glaubte ich. Dann jedoch kamen die Juden und rissen in ihrer Wut das Linnen auseinander. Trotzdem glaube ich weiterhin, daß er auferstanden ist. Wie das jedoch zuging, begreife ich nicht; bisher hat sich so etwas nie ereignet.«
Sie lauschte ehrerbietig meinen Worten. Ich wollte die Dinge unvoreingenommen darstellen und fügte hinzu: »Natürlich gab und gibt es in verschiedenen Ländern Mysterien, bei denen ein Gott begraben wird und dann wieder aufersteht. Aber das ist nicht Wirklichkeit – nur eine Art frommes Schauspiel. Übrigens warst du doch vor uns beim Grabe. Berichte du jetzt darüber! Hast du den Zustand der Grabtücher bemerkt?«
Maria Magdalena verneinte durch eine Geste und erklärte: »Als ich zur Gruft kam, war es noch dunkel. Ich sah, daß der Stein nicht mehr den Eingang verschloß und dachte, jemand hätte ihn fortgewälzt. Doch in die Grabkammer traute ich mich nicht. Übrigens hätte ich drinnen wegen der Dunkelheit ohnedies nichts gesehen. Deshalb rannte ich dorthin, wo seine vertrautesten Jünger sich versteckt hielten, und führte zwei von ihnen zum Grabe: Simon Petrus, einen großen starken Mann, und den jungen Johannes, dem Jesus seine Mutter anvertraut hatte. Die beiden liefen so eilig, als ginge es um ihr Leben, traten ein, fanden die Kammer leer und gingen rasch wieder davon, aus Angst vor den Juden. Ich blieb zurück und weinte vor dem Grabe. Und nach einer Weile schaute ich in die Gruft. Sie war taghell erleuchtet; ein Engel saß drinnen, wie in Licht gekleidet und mit feurigem Antlitz, so daß ich erschrak und am ganzen Leibe zu zittern begann und zurückwich, als er mich ansprach. Dann aber bemerkte ich plötzlich den Herrn selbst, ohne ihn allerdings gleich zu erkennen.«
Ihre Schilderung stand in Widerspruch zu dem Bericht der Wachsoldaten. Sie blickte mich verständnisheischend an, als spürte sie meine Zweifel, und erklärte: »Es ist doch begreiflich, daß ich ihn nicht gleich erkannt habe. Nie wäre mir ja in den Sinn gekommen, daß er es sein könnte. Nicht einmal seine Jünger haben ihn sofort erkannt, damals, als er, über den See Genezareth wandelnd, auf ihr Boot zuschritt. Ich hielt ihn für einen Fremden, der den Leichnam fortgetragen hatte. Ich machte ihm Vorwürfe darüber und forderte ihn nachdrücklich auf, mir zu sagen, wo er ihn hingelegt hätte, damit ich ihn holen könnte. Da rief er mich beim Namen, und ich wußte, wer er war. Er trug mir eine Botschaft für die Jünger auf, und ich war so überglücklich, daß ich den Boden unter den Füßen nicht spürte, als ich die Kunde zu überbringen eilte. Aber keiner der Jünger glaubte mir.«
Eigentlich glaubte auch ich ihr nicht. Ich hatte einfach den Eindruck, daß sie zu jenen Frauen gehörte, die sich leicht von Gefühlen fortreißen lassen, und daß sie beim Erzählen die Dinge durcheinanderbrachte. Doch ich kehrte zu dem Hauptpunkt zurück und fragte wieder: »Und hast du nun bemerkt, wie die Grabtücher dalagen?«
Sie sah mich erstaunt an. »Wie hätte ich so etwas bemerken sollen? Der Glanz des Engels blendete mich derart, daß ich den Blick abwenden mußte. Und ich war sehr erschrocken. Die Frauen haben mir geglaubt – nur die Jünger nicht; sie fürchten noch immer um ihr Leben und können keinen anderen Gedanken fassen.«
Nach Frauenart redete sie sich in Überschwang hinein und fuhr aufgeregt fort: »Es muß, wie du sagst, das Erdbeben gewesen sein, das den Stein vom Grabe schob. Andere Leute allerdings sind davon überzeugt, daß der Engel es tat, und haben auch erzählt, durch das gleiche Erdbeben seien im Tempel die Stufen zum Heiligtum geborsten. Zwei seiner Jünger haben Jesus auch nicht erkannt, als er sich ihnen am gleichen Tage auf dem Wege nach Emmaus anschloß. Sie erkannten ihn nicht, obwohl er ihnen die Schrift Stelle für Stelle auslegte und ihnen erläuterte, warum alles so hatte geschehen müssen. Erst als sie gegen Abend das Dorf erreichten und ihn zu sich einluden, als er das Brot nahm, es brach und ihnen reichte – erst da gingen ihnen die Augen auf. Dann aber entschwand er ihren Blicken.«
»Du meinst also«, sagte ich, und die Zunge wurde mir schwer, »daß er noch hier auf Erden ist, daß er nach Belieben kommt und geht und mit Leuten seiner Wahl spricht? Und daß manche ihn erkennen, andere aber nicht?«
»Ganz richtig«, erwiderte Maria Magdalena entschieden. »Davon bin ich überzeugt, und deshalb warte ich. Vielleicht brennen unsere Herzen noch nicht so, wie sie sollten; vielleicht ist unser Verstand zu träge. Darum gewährt der Herr uns Frist, bis wir reif dazu geworden sind, den Sinn all dieser Dinge zu begreifen.«
»Sagtest du wirklich, daß er auf dem Wasser wandelte?« fragte ich, um mir selbst sinnfällig zu machen, wie unmöglich und vernunftwidrig das alles klang.
Maria Magdalena blickte mich treuherzig an und erklärte: »Er hat so viele Wunder gewirkt, daß auch ein Herz von Stein hätte glauben müssen. Aber wir wissen noch immer nicht, was wir jetzt von ihm halten sollen. Allerdings steht geschrieben, daß der Gesandte des Herrn blind und sein Knecht taub ist. Vielleicht dienen wir unbewußt seinen Zwecken.«
»Aber warum vertraust du einem Fremdling wie mir?« fragte ich. »Du bist eine gebildete Frau, sprichst griechisch und kennst die Propheten auswendig, in der heiligen Sprache der Juden. Soweit ich gehört habe, bist du auch wohlhabend. Erzähle mir etwas von dir selbst, damit ich dich besser verstehe!«
Stolz entgegnete sie: »Ich habe keine Scheu vor Fremden. In meinem Haus haben Griechen und Syrer verkehrt, auch Römer – und sogar Hofleute. Wenn Jesus wirklich der ist, als den ich ihn ansehe und bezeuge, so richtet sich meine Botschaft nicht an Israel allein, sondern seine Lehre ist, wie geschrieben steht, ein Licht für die ganze Welt. Auch wegen dieser meiner Überzeugung verlacht man mich. Als die bösen Geister sich meiner bemächtigt hatten, erlitt ich manches, von dem gewöhnliche Menschen keine Ahnung haben. Ein Zauberer kann den Leib einer besessenen Person derart in ein Wasserbecken bannen, daß sie aufschreit, wenn er in einem anderen Räume eine Nadel in Wasser sticht. Jesus aber dachte nicht daran, sich meiner so wie anderer zu bedienen; ihm war nur daran gelegen, mich von den bösen Geistern zu befreien, sobald er sich vergewissert hatte, daß ich von ganzem Herzen ihrer ledig zu werden wünschte. Mein Gesicht trägt ebensowenig Spuren meines früheren Lebens wie ein Fels, von dem der Regen das Erdreich abgespült hat. Frage mich nicht nach meiner Vergangenheit; sprich bloß zu dem Menschen, der ich jetzt bin!«
»Ganz, wie du willst!« sagte ich. »Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Warum vertraust du gerade mir?«
Ihr Antlitz erglühte wieder, und sie rief: »Weil du bei der Kreuzigung für Jesus gegen die Spötter Partei ergriffen hast. Weil du, ohne mehr von ihm zu wissen, als was zum Hohne auf der Kreuzestafel stand, vor seinem Leiden Achtung empfandest. Du hast ihn verteidigt, während die Seinen eingeschüchtert entflohen. Niemand war bei ihm außer uns Frauen und dem jungen Johannes, der nichts zu befürchten hatte, weil seine Verwandten Freunde des Hohenpriesters sind. Sogar für die beiden mitgekreuzigten Schacher erkühnten sich deren Spießgesellen, Hetzrufe gegen die Römer auszustoßen. Für Jesus erhob sich keine einzige Stimme.«
Ich erkannte, daß sie ihren Groll gegen die Jünger in Freundschaftsgefühle zu mir verwandelte. Nach kurzer Überlegung antwortete ich behutsam: »Soweit ich dich verstehe, meinst du, als leidgeprüfte Frau mehr über ihn zu wissen, als seine Jünger je erfaßt haben. Sie aber mißtrauen dir, weil du ein Weib und leicht beeinflußbar bist, und sie glauben nicht an das, was du gesehen haben willst. Darum brauchst du mich als Zeugen.«
Maria Magdalene unterbrach mich und rief: »Verstehst du noch immer nicht? Bist du so schwer von Begriff? Unser Herr nahm auch Frauen als Gefolgsleute an. Er war gut zu Maria, der Schwester des Lazarus, und auch zu Martha. Als er bei einem Pharisäer zu Tisch geladen war, ließ er zu, daß eine Sünderin an sein Speiselager kniete, ihm mit ihren Tränen die Füße benetzte und sie mit ihrem Haar trocknete. Dadurch verlor Jesus in den Augen der Pharisäer den Ruf der Untadeligkeit. Seitdem waren sie geneigt, ihm alles Schlechte zuzutrauen. Aber höre weiter! Einmal erbarmte er sich sogar einer Samariterin, die er am Brunnen traf. Und eine andere Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war, rettete er aus den Händen der Schriftgelehrten, als man schon daran war, sie nach dem Gesetz zu steinigen. Glaube mir, Fremdling, er verstand die Frauen besser als jeder andere. Daran wird es auch liegen, daß wir Frauen ihn besser verstanden haben und verstehen als seine feigen Jünger.«
Die Stimme versagte ihr; sie keuchte vor Zorn. Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: »Oh, diese Jünger! Eine Zeitlang waren sie großmächtig und haben mit der Kraft ihres Meisters Kranke geheilt. Aber der Tag kam, da sie sich mit ihm nach Jerusalem aufmachen sollten, zu jener letzten Wanderung, da hatte jeder eine andere Ausrede bereit und versuchte, sich zu drücken. Dabei wären sie sich kurz vorher fast in die Haare geraten wegen der Thronsessel in seinem Reich. Zum Volke sprach Jesus in Gleichnissen; ihnen aber gab er für alles Auslegung. Doch auch so verstanden sie ihn nicht; immer wieder wurden sie widerspenstig. Nur Thomas, der hellste Kopf unter ihnen allen, war so vernünftig, seinen Mitjüngern zu sagen: ›Also wollen wir hingehen, mit ihm zu sterben.‹ Aber meinst du vielleicht, daß auch nur einer wirklich für ihn starb, obwohl sie sich zwei Schwerter verschafft hatten, zu seiner Verteidigung, in jener letzten Nacht, vor den Mauern der Stadt? Zwei Schwerter kamen ihnen in die Hände, wo doch in Jerusalem die heimliche Erwerbung von Waffen bei strenger Strafe verboten ist. Aber, so frage ich bloß, haben sie ihn verteidigt?«
Sie war ganz außer Atem gekommen. Dann beruhigte sie sich wieder, sann ein wenig nach und gab zu: »Nun ja, er selbst hat es ihnen verboten. Er hat gesagt: ›Alle, die zum Schwerte greifen, werden durch das Schwert umkommen.‹ Andererseits hat er ihnen auf dem Wege nach Jerusalem angeraten: ›Wer einen Mantel hat, verkaufe ihn, um sich dafür ein Schwert zu kaufen!‹ Ich verstehe das nicht. Wahrscheinlich wollte er sie auf die Probe stellen. Oder aber ihnen Selbstvertrauen einflößen. Ich weiß es nicht. Jedenfalls hat Simon Petrus, als die Häscher im Nachtdunkel zur Gefangennahme des Herrn gekommen waren, einem Knecht des Hohenpriesters ein Ohr abgehauen. Jesus aber hat dem Knecht das Ohr wieder angeheilt, so daß man jetzt nur eine schmale Narbe sieht. Diesem Malchus wurde streng verboten, etwas davon verlauten zu lassen; doch seine Verwandten haben die Geschichte herumerzählt.«
»Aber laß mich meinen ganzen Zorn austoben!« fuhr sie fort. »Laß mich diese Feiglinge ausschelten! Jesus hat allein gewacht, er kannte sein Los, er betete. Blut soll er in seiner furchtbaren Todesangst geschwitzt haben. Von seinen Jüngern verlangte er nichts, als daß sie mit ihm wachen sollten. Und was taten sie? Schwer und steif wie Klötze schliefen sie im Garten! Ich kann sie nicht begreifen – kann ihnen das nicht verzeihen! Solche Hasenfüße hätten mithelfen sollen, den Tempel niederzureißen? Ach, sie waren nicht einmal Manns genug, den Verräter umzubringen; er mußte sich selbst erhängen. Ich verstehe das alles nicht. Ich weiß nicht, was der Herr in ihnen sah, warum er ausgerechnet sie als Gefolgsleute berief.«
So durch und durch weiblich war sie in ihrem eigensinnigen Bezichtigungseifer, daß ich am liebsten gelacht und ihr die Wange gestreichelt hätte; vielleicht hätte sich dann ihre Verzweiflung in Tränen entladen. Aber ich wagte nicht zu lachen und durfte sie nicht berühren. Darum sagte ich bloß, in möglichst behutsamem Töne: »Wenn dem so ist – wenn seine Jünger wirklich derartige Angst haben und trotz seiner Unterweisungen nicht wissen, was sie von ihm halten sollen –, dann ist es wohl kein Wunder, daß ich, ein Fremdling, mich nicht zurechtfinde. Übrigens dürfte vorläufig keinem seiner Jünger der Tod bestimmt sein; wenigstens so lange werden sie voraussichtlich am Leben erhalten werden, daß ihnen Zeit bleibt, sich die Lehre ihres Meisters klarer zu machen. Selbst der schärfste menschliche Verstand könnte wohl derart seltsame Dinge, wie sie sich jetzt ereignet haben, nicht im Nu begreifen. Und diese Männer stehen noch dazu im Banne aller der jüdischen Vorurteile, in die sie von Kind auf hineingewachsen sind. Deshalb wird es, glaube ich, am besten sein, wenn du dich ihnen gegenüber nicht auf mein Zeugnis berufst, ja mich überhaupt nicht erwähnst. Sie würden mich, den Römer, nur verachten, ebenso wie du dir vermutlich ihre Achtung durch den Umgang mit Ausländern verscherzt hast.«
Sie warf den Kopf in heftiger Gebärde hoch. Aber ich hob begütigend die Hand und beeilte mich zu erklären: »Nein, zwischen uns ist es anders. Gerade als Römer verstehe ich dich, Maria, bestimmt so gut, wie kein Jude dich je verstehen könnte. In Rom sind die Frauen frei und den Männern gleichgestellt; sie lesen Bücher, hören Vorträge und musikalische Darbietungen und wählen sich ihren Liebespartner nach eigenem Geschmack. Ja, sie sind den Männern sogar über, weil die Frau seit jeher schlauer und in mancher Beziehung unerbittlicher ist als der Mann und in ihren Erwägungen nicht durch die Erfordernisse logischer Folgerichtigkeit gehemmt wird. Ich schlage also vor, daß wir Freunde werden – du, Maria aus Magdala, und ich, Marcus Manilianus aus Rom. Ich schätze dich als Frau und schätze dich noch viel höher deswegen, weil Jesus dich unter seine Gefolgsleute aufgenommen hat. Es, macht den Eindruck, daß du nicht das Herz auf der Zunge trägst. Darum kann ich dir eines versichern: daß ich nach dem, was ich durch eigenen Augenschein festgestellt habe, unbedingt an Jesu Auferstehung glauben muß. Mit deiner weiblichen Feinfühligkeit mußt du mehr von seinem Wesen begriffen haben als die Jünger. Trotzdem würde ich«, bemerkte ich schließlich sehr vorsichtig, »gern mit diesen Männern, oder wenigstens mit einigen von ihnen, zusammenkommen wollen, um mir eine Vorstellung davon zu machen, aus welchem Holz sie geschnitzt sind.«
Maria Magdalena zögerte, gab dann aber widerstrebend zu: »Ich stehe nicht auf schlechtem Fuß mit ihnen. Solange sie sich versteckt halten, muß ich mich ja doch darum kümmern, daß sie Speise und Trank bekommen. Die meisten sind einfache Fischer. In ihrer Angst wissen sie nicht aus noch ein, und dann streiten sie miteinander, so daß ich sie beschwichtigen muß. Allerdings wirst du vielleicht meine Fürsorge nicht begreifen, nachdem ich eben erst mit solcher Verbitterung von ihnen gesprochen habe. Aber sie haben natürlich auch ihre guten Seiten; das muß ich anerkennen. Am liebsten würden sie nach Galiläa zurückkehren; doch vorderhand können sie sich zu gar nichts entschließen. Man würde sie ja an den Stadttoren und in den Straßen sofort an ihrer Mundart erkennen. Übrigens auch an ihren Gesichtern; denn nachdem sie zwei oder drei Jahre in Jesus Nähe gelebt haben, sehen sie nicht mehr aus wie gewöhnliche Fischer. Vielleicht verstehst du das nicht. Aber wenn du gelegentlich einmal einen von ihnen kennenlernst, wird dir bestimmt klarwerden, was ich meine.«
Plötzlich erwärmte sie sich jetzt für diese Männer und versicherte mir: »Natürlich muß der Herr seine Gründe gehabt haben, warum er sich gerade diese einfachen Leute als Jünger erwählte. Einer der wenigen unter ihnen, die vielleicht eine Schule besucht haben, ist Levi; er war Zöllner. Aber wenn ich mir gebildete Männer vorstelle, etwa Schriftgelehrte oder Philosophen, kann ich mir erst recht kaum denken, daß sie etwas von seiner Lehre erfassen könnten. Glaube mir, ein Gebildeter könnte sein ganzes Leben der Ergründung eines einzigen seiner Aussprüche widmen, ebenso wie ein Schriftgelehrter jahrelang über einem Wort der heiligen Bücher zu brüten oder wie ein Grieche ein ganzes Buch über einen Ortsnamen in der Odyssee zu schreiben vermag. Tatsächlich entsinne ich mich deutlich an einen Ausspruch Jesu, wonach seine Wahrheiten den Weisen und Klugen verborgen sind, den Kindhaften und Unmündigen aber offenbar werden.«
Ich dachte über ihre Worte nach. Daran mochte etwas Wahres sein. Ein Geist, der von früher her mit einer bestimmten Bildung und Denkweise belastet ist, könnte sich einer so völlig neuen und unerhörten Lehre, wie Maria sie mir dargelegt hatte, schwerlich ohne Zögern öffnen. Ich selbst stolpere ja auch bei jedem Schritt über altgewohnte Ansichten, über Dinge, die mir eingelernt wurden und zu Denkgewohnheiten geworden sind.
»Hat er das gemeint, als er zu Nikodemus sagte, der Mensch müsse wiedergeboren werden?« fragte ich, fast im Selbstgespräch.
»Nikodemus gehört zu den Stillen«, erwiderte Maria Magdalena. »Er ist einer der Frommen, der Wartenden; er meint es gut. Aber da er die heiligen Bücher auswendig kann, muß er alles Neue, das ihm begegnet, sofort mit den Schriften vergleichen, um es zu verstehen. Er könnte noch so gründlich wiedergeboren werden, er wird immer ein Säugling in zu enggeschnürten Windeln bleiben!«
Bei dem Gedanken an das Wickelkind mußte Maria lächeln. Als ich ihr weißes, versteinertes Gesicht sich plötzlich durch dieses Lächeln erhellen und ihre Augen aufleuchten sah, erkannte ich, daß sie offenbar früher eine unvorstellbar schöne Frau gewesen war. Auch jetzt noch mußte ich ihr, schon dieses kleinen Lächelns wegen, hohe Schönheit zubilligen. Auf merkwürdige Art erinnerte sie mich an den milde leuchtenden Mond. Dann fiel mir ein, daß sie durch den sanften Beruf einer Taubenzüchterin wohlhabend geworden war.
»Du hast es nicht nötig, dich kohlschwarz zu kleiden«, sagte ich unwillkürlich. »Deine Farben sind silbergrau und grün, Maria Magdalena. Deine Blume ist das Veilchen, dein Stirnreif ein Myrtenkranz. Mich kannst du nicht täuschen.«
Sie erschrak und entgegnete spöttisch: »Spielst du den Wahrsager? Sprich mir nicht von irdischen Dingen! Auch wenn ich wieder Silbergrau und Grün trüge, hätten die Götzen dieser Erde keine Macht mehr über mich. Ich brauche nur seinen Namen auszusprechen – Jesus Christus, Sohn Gottes –, und schon flieht alles Üble von mir, und die irdischen Mächte verblassen zu Schatten, die mir nichts anhaben können.«
Ihren Worten entnahm ich, daß sie noch immer an ihre bösen Geister und Qualen während der Anfälle von Besessenheit dachte. Meine Neckerei tat mir sofort leid, als ich sah, wie das Lächeln um ihre Lippen erstarb und das Gesicht wieder starr wie Stein wurde. Nur in den Tiefen der Augen glühte noch ein unsteter Funke. Trotzdem konnte ich mich nicht enthalten zu sagen: »Bist du ganz überzeugt davon, Maria Magdalena, daß nicht auch du alles Neue, um es zu verstehen, mit deinen früheren Gedanken vergleichst? Bist du ganz überzeugt davon, daß du mehr getan hast, als deine einstigen bösen Geister durch einen neuen, noch mächtigeren Dämon zu ersetzen?«
Sie faltete krampfhaft die Hände und wiegte den Körper vor und zurück, als wollte sie irgendeinen Schmerz unterdrücken. Aber sie versuchte, mir gerade in die Augen zu sehen, und erklärte: »Von einem bin ich überzeugt, felsenfest überzeugt: Jesus war und ist das Licht, das volle und vollkommene Licht. Er, der Mensch – er, der Gott.« Doch unter dem Zwang, ein krankhaftes Mißtrauen, das sie verzehrt hatte, offenzulegen, beharrte sie auf ihrer Selbstrechtfertigung und betonte, mehr zu sich selber als zu mir: »Nein, er war weder ein Zauberer noch ein Dämon, obwohl er auf dem Wasser wandeln konnte. Wenn er nicht mehr gewesen wäre als der mächtigste aller Magier, hätte ich mich ihm bestimmt nicht angeschlossen; denn von Hexenmeistern hatte ich genug. Und er hat mir keineswegs befohlen, ihm zu folgen; er hat es mir bloß erlaubt. Das ist ein großer Unterschied, wie du einsehen wirst.«
Ich schämte mich meiner Verdächtigung; doch die Frage war meinem Empfinden nach nötig gewesen, weil ich Gewißheit wünschte, soweit man sie mit den Mitteln menschlicher Erforschung gewinnen kann. Ich merkte, daß ich Maria gekränkt hatte, und bat sie, so freundlich ich konnte, um Verzeihung. Dann rückte ich ohne Umschweife mit meinem Begehren heraus: »Maria Magdalena, führe mich zu einigen seiner Jünger, damit ich mir von ihnen ein klares Bild machen kann!«
Sie meinte ausweichend: »Dazu kannst du noch nicht reif sein. Und auch die Jünger sind es nicht. Wir alle können nichts tun als warten. Warte auch du geduldig!«
Als sie aber merkte, wie aufrichtig mein Streben war, wurde sie etwas weicher und sagte: »Ich halte dich nicht für einen römischen Spion. In deiner Seele wohnt kein Verrat; so viel Menschenkenntnis glaube ich zu haben. Solltest du aber doch doppelzüngig sein, so würde es dir sehr übel ergehen – nicht durch unser Zutun, sondern durch die Macht dessen, der seine Jünger auserwählte und sie noch am Leben zu erhalten wünscht, wie du selbst gemeint hast. Weißt du, wo das Quelltor ist?«
»Von dorther komme ich, obwohl es ein Umweg für mich war«, erwiderte ich lächelnd. »Ich wollte mir das Quelltor ansehen.«
»Dann weißt du auch von dem Mann, der Wasser trägt«, meinte sie. »Das ist gut so. Eines Tages, wenn du still und demütig im Herzen bist, wird er sich vielleicht am Quelltor zeigen. Aber bitte, überhaste nichts! Alles kommt zu seiner Zeit. Ohne diese Überzeugung könnte ich nicht weiterleben.«
Ich fragte sie, ob sie mit mir nach Jerusalem zurückkehren wolle; aber ihr war es lieber, noch eine Weile allein in dem Raum zu bleiben, wo Jesus von Nazareth oft geruht hatte. Sie sagte: »Geh, wenn du Lust hast. Und falls du unten niemanden siehst, so halte dich nicht damit auf, für die Gastfreundschaft danken zu wollen! Wir Frauen spüren Erkenntlichkeit auch ohne Worte. Du kannst hier kommen und gehen, wie es dir beliebt. Allerdings scheint mir, daß du noch nicht recht weißt, was du eigentlich willst. Aber ich denke, du wirst irgendwie dazu gezwungen werden, den einen, einzigen Weg einzuschlagen, auch wenn du es nicht magst. Friede sei mit dir!«
»Auch mit dir!« grüßte ich zurück. Und etwas trieb mich beizufügen: »Ja, Friede sei mit dir, Frau! Du bist mehr als eine Geliebte, eine Gattin, mehr als eine Tochter, weil Jesus dich ihm folgen ließ.«
Meine Worte freuten sie sichtlich. Denn als ich aufstand, streckte sie, weiter am Boden kauernd, die Hand aus und berührte, während ich mich nach meinen Sandalen bückte, meinen Fuß. Es war eine Geste, aus der so viel unsagbare Sehnsucht, so viel Begehren nach dem Unerreichbaren sprach, daß sie mich tiefer bewegte und erschütterte als je etwas in meinem Leben. Ich hätte die Gebärde kaum richtig verstanden, wäre mir nicht eben erst im Traum die Herabkunft des Reiches fühlbar geworden.
Als ich die Treppe zu dem von Blattwerk beschatteten Hof hinunterstieg, verspürte ich keinen Kummer mehr. Niemand war zu sehen, und auch die Gebäude ringsum lagen still. So ging ich, ohne mich zu verabschieden, meines Weges. Als ich zu der Steinbank hinauskam, merkte ich zu meinem Erstaunen am Sonnenstand, daß es schon die elfte Stunde war. Der Schatten des Hügels war länger geworden und streifte das Haus.
Rasch kehrte ich auf dem gleichen Wege, den ich gekommen war, in die Stadt zurück, derart in Gedanken vertieft, daß ich mich nur selten umblickte. Wieder kam ich an den uralten Ölbäumen am Hang vorbei, die jetzt Sonne hatten, während die Straße in kühlem Schatten lag. Auch an dem Kräutergarten ging ich wieder entlang, und jetzt, da es Abend wurde, strömten alle die Heilpflanzen starke Düfte aus.
Aus meinem Sinnen riß mich erst ein eintöniges Klopfen, nicht weit vor dem Stadttor. Ich sah einen Blinden, der am Straßenrand hockte und unaufhörlich mit seinem Stock gegen einen Stein schlug, um die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf sich zu lenken. An Stelle der Augen gähnten in seinem Gesicht leere Höhlen, und der abgemagerte Leib war in schmutzstarrende Lumpen gehüllt. Als er mich innehalten hörte, begann er mit dem durchdringenden Tonfall eines Berufsbettlers zu winseln: »Erbarme dich! Ich bin blind.«
Mir fiel der Proviantbeutel ein, den die Frau meines syrischen Quartiergebers mir auf den Weg mitgegeben und den ich nicht benötigt hatte. Ich legte das Päckchen dem Bettler in die Hände und sagte rasch: »Friede sei mit dir! Nimm das und iß! Und den Beutel kannst du behalten. Ich brauche ihn nicht mehr.« Als ich nämlich näher herangetreten war und den entsetzlichen Schmutzgestank des Mannes roch, wollte ich mich nicht damit aufhalten, ihm den Beutel in den Schoß zu leeren.
Der Bettler aber dankte mir nicht einmal. Statt dessen streckte er die Hände aus, tastete nach meinem Mantel und flehte ängstlich: »Es ist Abend, bald wird es Nacht, und niemand ist gekommen, mich von meinem Platz hier, wo ich den ganzen Tag gesessen habe, abzuholen. Erbarme dich meiner, du mitleidiger Mann, und führe mich in die Stadt! Dort finde ich schon meinen Weg. Aber hier außerhalb der Stadtmauer kann ich fehlgehen, über Steine stolpern und in die Schlucht fallen.«
Bei der bloßen Vorstellung, dieses greuliche Geschöpf – Mensch konnte man hier kaum mehr sagen – berühren zu sollen, wurde mir übel. Ich dankte deshalb dem Schicksal, daß es mir noch rechtzeitig gelungen war, mich seiner nach mir greifenden Hand zu entziehen. Eilends setzte ich meinen Weg fort und bemühte mich, nicht hinzuhören, als der Mann mit seiner schrill jammernden Berufsbettlerstimme hinter mir herrief und wieder mit seinem Stock auf einen Stein zu schlagen begann, als wollte er sich an ihm für seine Enttäuschung rächen. Im Geiste schalt ich ihn wegen seiner Undankbarkeit aus; auf jeden Fall hatte ich ihm ja gute Eßwaren geschenkt und dazu noch einen Beutel, den er zu Geld machen konnte.
Nachdem ich jedoch etwa zehn Schritte gegangen war, hatte ich die Empfindung, gegen eine Mauer zu stoßen. Wie unter Zwang blieb ich stehen, drehte mich um und blickte zurück. Die Hoffnung des Bettlers lebte wieder auf, und er quengelte: »Erbarme dich eines Blinden, du Sehender! Führe mich den Weg in die Stadt, und Segen wird auf dein Haupt fallen. Wenn es finster wird, friert mich hier. Und Hunde schleichen her und lecken meine Geschwüre.«
Ich fragte mich, wer eigentlich blind war, ich oder dieses stinkende Geschöpf. Daß ich meinen Proviant, den ich ja gar nicht brauchte, hergegeben hatte, war kein besonders verdienstliches Werk. Wenn ich mich aber dazu zwang, den Mann zu berühren, seine Nähe zu spüren und ihn zum Stadttor zu geleiten – das könnte ich mir wirklich als gute Tat zurechnen. Doch der bloße Gedanke daran bereitete mir solchen Ekel, daß mich ein Brechreiz anwandelte.
Widerwillig sagte ich: »Es gibt viele Wege und manche falsche Wegweiser. Woher weißt du, daß ich dich nicht irreführen und in die Schlucht stoßen werde, um mich deiner zu entledigen?«
Als der Blinde diese Worte hörte, erstarrte er zur Reglosigkeit, und der Stock entfiel seiner Hand. »Friede sei mit dir! Friede sei mit dir!« rief er dann, in Hoffnung und Schreck zugleich. »Ich vertraue dir. Was bleibt mir, einem Blinden, anderes übrig, als dem zu vertrauen, der mich führt, da ich ja selber meinen Weg nicht finden kann?«
Seine Frage traf mich mitten ins Herz. Auch ich war blind geworden, durch die eigene Zwiespältigkeit. Was konnte ich selber anderes tun als hoffen, daß jemand mich die rechte Straße führen würde? Mir fiel die geheimnisvolle Erscheinung in meinem Traume ein, die verschwunden war, als ich aufwachte und die Augen öffnete. Kurz entschlossen ging ich zu dem Blinden zurück, packte mit beiden Händen seine knochigen Arme und half ihm auf die Beine. Demütig hielt er mir seinen Stock entgegen und gab zu verstehen, ich sollte ein Ende fassen und ihn derart, ohne mich durch seine Berührung zu beschmutzen, führen. Aber mir war der Gedanke zuwider, den Blinden so zu schleppen, wie man ein Stück Vieh am Stricke hinter sich herzerrt; so schob ich die Hand unter seine Achsel und begann ihn stadtwärts zu geleiten. Trotzdem tastete er noch mit dem Stock ängstlich den Boden vor sich ab; der Kidronweg war ja keine glatte römische Heerstraße.
Wir kamen nur langsam vorwärts, weil mein Schützling so gebrechlich und ausgemergelt war, daß ihm die Knie schlotterten. Ich hatte die Empfindung, nicht einen menschlichen Arm zu umfassen, sondern einen abgenagten Knochen in der Hand zu halten. Ungeduldig fragte ich: »Warum hat man dich so weit weg vom Stadttor gebracht, wenn du derart hilflos bist?«
Er jammerte: »Ach, Fremdling, ich bin zu schwach, um mich auf einem Platz in der Nähe des Tores zu behaupten. Aber es hat Zeiten gegeben, da war ich so kräftig, daß ich in der Straße vor dem Tempel gebettelt habe.«
Darauf war er sichtlich stolz und wiederholte, er habe in nächster Nähe des Tempels gebettelt, als wäre das eine hohe Auszeichnung. Verwundert dachte ich mir: Wie zähe doch das Menschengeschlecht ist! Sogar das jämmerlichste Geschöpf findet etwas, worauf es stolz sein kann.
»Trotz meiner Blindheit habe ich meinen guten Platz verteidigt, indem ich mit dem Stock um mich geschlagen und gestoßen habe«, rühmte er sich. »Aber als ich von Kräften kam, mußte ich selber Püffe und Hiebe einstecken. Schließlich hat man mich zum Stadttor hinausgeprügelt, so daß mir nichts übrigblieb, als jedesmal einen barmherzigen Menschen zu bitten, mich für den Tag an einen Platz irgendwo draußen am Straßenrand zu führen. Es gibt viel zuviel Bettler in der heiligen Stadt, und manche sind sehr kräftige Burschen.«
Er betastete den Saum meines Überwurfs und sagte: »Aus feinem Stoff ist dein Mantel, Fremdling. Du riechst gut. Du mußt reich sein. Warum wanderst du am Abend ohne Begleitung außerhalb der Stadtmauern umher? Wieso hast du keinen Vorläufer, der dir den Weg bahnt?«
Ich war ihm keinerlei Aufklärung schuldig. Immerhin sagte ich: »Es hat sich so ergeben, daß ich mir meinen Weg selbst suchen mußte.« Dann konnte ich der Versuchung nicht wiederstehen, ihn zu fragen: »Sag einmal, hast du auch von dem Judenkönig gehört, von Jesus, dem Nazarener, den man gekreuzigt hat? Was hältst du von ihm?«
Der Bettler wurde so zornig, daß er zu zittern anfing. Er fuchtelte mit seinem Stock und schrie: »Ja, von dem habe ich gerade genug gehört. Recht hat man daran getan, ihn zu kreuzigen.«
Ich wunderte mich sehr. »Aber soviel ich gehört habe«, erklärte ich, »war er ein guter und liebreicher Mensch. Er hat Kranke geheilt und hat die Mühseligen und Beladenen aufgefordert, zu ihm zu kommen, weil er ihnen Frieden bringen würde.«
»Was? Frieden?« höhnte der Blinde. »Umstürzen und zerstören wollte er alles, sogar den Tempel. Ein arger Unruhestifter, das war er, und ein böswilliger Mensch. Hör nur zu! Beim Bethesda-Teich lag immer ein allgemein bekannter Lahmer auf seinem Bett, und ab und zu hatte er sich von jemandem ins Wasser bringen lassen, um das nötige Mitleid zu erregen. In dem Teich hat seit Menschengedenken niemand Heilung gefunden – da mochte das Wasser wallen, soviel es wollte, und der Betreffende mochte, wie es angeblich erforderlich ist, nach dem Aufwallen als erster eintauchen oder nicht. Aber die Örtlichkeit liegt vor dem Schaftor, und in den schattigen Säulenhallen bettelt es sich gut. Was hätte also dieser Jesus Ungeschickteres tun können, als den Lahmen anzusprechen und ihn zu fragen: ›Möchtest du gesund werden?‹ Der Mann hat eine ausweichende Antwort gegeben, nämlich, wenn das Wasser walle, steige immer jemand anderer vor ihm hinein. Und da hat dann der Nazarener ihm gesagt, er möge aufstehen, sein Bett nehmen und seines Weges gehen.«
»Und der Lahme war geheilt?« fragte ich ungläubig.
»Ja, ja, gewiß. Er hat sein Bett genommen und ist gegangen«, erwiderte der Blinde. »So furchtbare Kräfte standen dem Galiläer zu Gebote. Damit hat aber der Unglücksrabe von Bettler sein gutes Auskommen verloren, das er achtunddreißig Jahre lang gehabt hat. Und jetzt, auf seine alten Tage, muß er anfangen, sich sein Brot mit seiner Hände Arbeit zu verdienen, weil er keine Berechtigung mehr hat, zu betteln.«
Der Blinde wurde immer wütender. »Und obendrein war noch Sabbat. Der arme Kerl hat die größten Unannehmlichkeiten gehabt, weil er sein Bett trug, und hat sich mit Priestern herumstreiten müssen. Aber nicht genug damit! Schließlich hat Jesus ihn im Tempel wiedergetroffen und ihm eingeschärft, ja nicht mehr zu sündigen, sonst würde ihm etwas Ärgeres widerfahren. Da hat sich dann der Arme zu seinem Schutz den Priestern gegenüber auf den Wundertäter berufen und bezeugt, Jesus habe ihn geheilt und ihm, obwohl Sabbat war, ausdrücklich befohlen, sein Bett zu tragen. Aber was konnten die Priester tun? Dieser Nazarener hatte ja alle seine Anhänger um sich herum. Er hat gelästert und klipp und klar erklärt, er habe die Macht, den Sabbat zu brechen, weil er als Menschensohn auch Herr sei über den Sabbat. Ja, ja, mit Gott hat er sich auf eine Stufe gestellt! Selbstverständlich mußte er dafür ans Kreuz genagelt werden.«
Aus meinem Schweigen schloß der Blinde, daß ich nicht der gleichen Meinung war, und er fuhr deshalb fort: »Was sollte aus der Welt werden, wenn der Tempel zerstört würde? Wo bekämen die Krüppel ihre Almosen, wenn es keine reichen Sünder mehr gäbe, die ihre Verfehlungen wiedergutmachen, indem sie die Armen beschenken?«
Er stieß mit dem Stock heftig auf den Boden und brüstete sich hämisch: »Auch ich habe es mir nicht nehmen lassen, damals gleich am frühen Morgen mit der Menge zu ziehen und zu schreien: ›Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!‹ Der Römer wußte ja nicht recht, welches Urteil er fällen sollte. Er kennt unsere Gesetze nicht, oder vielleicht machte es ihm Spaß, wenn jemand unseren Tempel entweiht und unseren Gott lästert. Wer von uns Bettlern nur ein bißchen auf Standesehre hält, der fühlt sich dem Tempel und den Hütern der Ordnung verpflichtet. Deshalb hat man uns von unseren Plätzen beim Tempel und an den Stadttoren rasch zusammengetrommelt, damit wir mit aufmarschieren und in das allgemeine Geschrei einstimmen. Wahrhaftig, ich war bei allem dabei und habe auch die Freilassung des Barabbas verlangt. Im Vergleich zu Jesus war Barabbas ein Ehrenmann; er hat nichts Besonderes angestellt – nur einen Römer umgebracht.«
Voll Abscheu rief ich: »Da komme ich einfach nicht mit! Wie gründlich verroht mußt du sein, daß du mit dieser Kreuzigung noch großtust! Vielleicht hätte er auch dich heilen können, wenn du an ihn geglaubt hättest.«
Der Blinde wandte mir die leeren Augenhöhlen zu und grinste hinterhältig, so daß seine Zahnstummel sichtbar wurden. »Wofür hältst du dich? Was für Weisheiten gibst du da von dir? Du bist sicher unrein, Fremdling!« jammerte er. »Du tätest besser, mich nur am Stock zu führen, damit ich dich nicht berühren muß. Ich brauche dich nur zu verfluchen, und der Gott Israels zerbläst dich mit einem einzigen Hauch zu Asche. Wenn du aber gar ein Anhänger dieses Jesus bist, so sollen dich bei lebendigem Leib die Würmer auffressen!«
Er zischte mir seinen Haß entgegen, daß ich den Gestank seines Atems roch; ich konnte mich nicht losreißen, so fest klammerte er sich an meinen Mantel.
»Du bist ein rechter Einfaltspinsel!« höhnte er und zeigte auf seine Augenhöhlen. »Nicht einmal Gott selber könnte Augen, die einmal ausgeronnen sind, wieder nachwachsen lassen. Übrigens möchte ich gar nicht das Augenlicht zurückhaben. Was gibt's denn schon für unsereinen auf der Welt zu sehen?«
Ich hätte mich nur freimachen können, wenn ich dem Mann einen Stoß versetzt hätte, aber ich brachte es nicht über mich, die Hand gegen ihn zu erheben. Auch wenn ich gewollt hätte, wäre es mir, glaube ich, unmöglich gewesen, ihn zu schlagen. »Beruhige dich, du Mann ohne Sünde!« war alles, was ich bemerkte. »Wir sind nicht mehr weit vom Stadttor. Dort verlasse ich dich, damit deine Reinheit nicht länger gefährdet ist.«
»Wenn ich nur stärker wäre!« seufzte er. Dann starrte er mich mit den leeren Augenhöhlen an und rief: »Ich zeige dir was, Fremdling!« Und plötzlich schlang er mir mit unerwarteter Wucht seinen Arm von hinten um den Hals und stieß mir sein spitzes Knie in den Rücken. Ich spürte, wie seine freie Hand nach meinem Geldbeutel tastete. Hätte er mehr Kraft gehabt, so wäre ich wirklich in ernstliche Bedrängnis geraten, um so mehr, als ich nicht einmal um Hilfe schreien konnte. So aber fiel es mir nicht schwer, seinen widerlich riechenden Arm zur Seite zu drehen und mich aus seinem Räubergriff zu befreien.
Keuchend polterte er: »Einen guten Rat gebe ich dir, Fremdling: Laß dir das eine Lehre sein! Überleg dir's künftig, dem Wunsch eines Unbekannten nachzukommen und Bettler auf menschenleeren Straßen zu führen! Wäre ich nur ein bißchen stärker, so hätte ich dich untergekriegt und Kameraden zu Hilfe gepfiffen. Du wärest deinen feinen Mantel und deinen Geldbeutel losgeworden. Wenn ich ein schlechter Kerl wäre, hätte ich dir mit dem Daumen die Augen eingedrückt, so daß du nicht mehr imstande gewesen wärest, mich zu erkennen und gegen mich Zeugnis abzulegen. Und gar, falls du ein Römer wärest, ja, da hätte ich dich mit Wonne umgebracht.«
»Schönen Dank für die Belehrung!« sagte ich spöttisch. »Woher weißt du übrigens, daß ich kein Römer bin?«
Der Bettler erwiderte: »Ein Römer hätte sich nicht dazu herbeigelassen, mich so wie du zu führen, du vertrauensseliger, weltfremder Alberling! Von einem Römer hätte ich einen Fußtritt bekommen oder einen Peitschenhieb über die Schnauze. Von diesen Kerlen darf man sich keine Gutherzigkeit erwarten; sie haben nichts anderes im Kopf, als Straßen und Wasserleitungen zu bauen und dafür zu sorgen, daß Maß und Gewicht nicht verfälscht werden.«
Wir hatten die Zisternen nahe dem Stadttor erreicht. Ich fragte: »Hast du selbst mit dem Lahmen gesprochen, von dem du erzähltest? Zürnt er tatsächlich dem Manne, der ihn geheilt hat?«
»Gesprochen hab ich nicht mit ihm«, gestand der Blinde. »Ich wiederhole nur, was ich gehört habe. Aber warum hat der Wundertäter nur diesen einen und ein paar andere geheilt? Warum nicht uns alle? Warum soll dem einen die Sonne leuchten, während die anderen ewig im Dunkel bleiben? Du mußt zugeben, daß wir unsere Gründe haben, wenn wir auf diesen Krankenheiler schlecht zu sprechen sind.«
»Du wirst ja auch gehört haben«, bemerkte ich, »daß er, der König Jesus, am dritten Tage nach seiner Grablegung wieder auferstanden ist.«
Der Bettler bog sich vor Lachen. »Weiberklatsch!« fauchte er. »Und du, ein erwachsener Mann, glaubst so etwas!« Aber sein Lachen klang ebensosehr nach Schluchzen wie nach Höhnen. »Es ist doch klar, daß seine Jünger den Leichnam aus dem Grabe gestohlen haben«, stieß er hervor, »um den Volksbetrug vollzumachen. Es gibt einen Gott im Himmel, das weiß ich. Aber hier auf Erden regieren nur das Geld und die Faust.«
Wütend tastete er mit seinem Stock auf der Straße vor sich her, bis er auf einen Steinbrocken stieß. Er bückte sich und hob ihn auf. »Hier ist ein Stein«, schrie er und hielt ihn mir vor die Nase. »Glaubst du, daß er sich in Brot verwandeln kann? Ebensowenig kann die Welt im ganzen sich ändern, diese Welt voll Haß und Mord und Buhlerei, diese Welt voll Gier und Rachsucht! Der Gott Israels ist ein Gott der Vergeltung. Eines Tages werden auch die Römer den gebührenden Lohn erhalten; aber wenigstens ist das dann nicht diesem Galiläer zu verdanken.«
Eine seltsame Erregung überkam mich, und meine Glieder wurden kalt. »Jesus von Nazareth!« murmelte ich. »Wenn du mehr als der Judenkönig warst und bist, wenn du in deinem Reiche weilst und das Reich noch hienieden ist, so verwandle diesen Stein in Brot, auf daß ich an dich glaube!«
Als der Bettler meine Worte hörte, schob er seinen Stock unter die Achsel und fing an, den Brocken zwischen den Händen zu rollen, um ihn zu befühlen. Unter dem Druck seiner Finger begann der Stein nachzugeben. Mißtrauisch blies der Bettler Staub von dem Klumpen, hob ihn zur Nase und roch daran. Noch ungläubiger brach er ein Stück ab, schob es in den Mund, kostete, kaute und schluckte. »Das ist ja gar kein Stein, sondern Käse!« rief er, voll Spott über meine Albernheit.
Ich konnte nicht umhin, auch ein Stück von dem innen weißen Knollen abzubrechen und zu kosten. In der Tat, es war ein harter, kugelförmiger Landkäse! Er mußte unversehens von einem Bauernwagen oder aus einer Traglast gefallen und später so vom Straßenstaub überkrustet worden sein, daß er wie ein Stein aussah und sich auch so anfühlte.
Der Bettler mummelte an einem Bissen und fragte argwöhnisch: »Bist du ein Zauberer? Hast du durch Anrufung des Nazarenernamens den Stein in meinen Händen zu Käse gemacht?«
»Käse oder Brot, jedenfalls ist es menschliche Nahrung«, erklärte ich. »Wenn er imstande war, auf meine Bitte und Anrufung hin so etwas zu wirken, dann mußt du auch an seine Auferstehung glauben.«
Aber schon während meiner Worte stiegen mir Zweifel auf. Vielleicht hatte ich unbewußt an dem vermeintlichen Stein, den der Mann zufällig von der Straße auflas, etwas Ungewöhnliches bemerkt? Auch der Fund an sich wäre ja schon ein ganz erstaunlicher Zufall gewesen; aber es gibt noch merkwürdigere Fügungen.
Der Blinde dachte praktischer. Rasch, als fürchte er, ich könnte ihm den Käse entreißen, schob er ihn in den Proviantbeutel, den ich ihm gegeben hatte. Dann begann er mit dem Stock nach anderen Steinen am Straßenrand zu stochern, kniete hin und betastete sie. Aber die Steine waren Steine – zwar runde Knollen, genau so wie der Käse; doch sie blieben Steine. Nach einer Weile gab er seine Suche auf.
Nun stiegen wir aus dem Kidrontal zur Stadtmauer auf, und an ihr entlang führte die Straße in sanfter Neigung gegen das Stadttor hin. Dadurch befanden wir uns im tiefen Schatten der Stadt, während der einsame Hügelkamm jenseits von uns durch die untergehende Sonne in rotes Licht getaucht wurde. Von gespenstiger Angst erfüllt, blickte ich ringsumher und betete laut: »Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meines Unglaubens!«
Da fiel ein gewaltiger Lichtschein auf mich, und plötzlich wurde mir alles Körperhafte so wesenlos, daß die seelische Wirklichkeit in mir gegenständlicher war als die wuchtige Stadtmauer vor mir. Für einen ahnungsvollen Augenblick wurde, wie während meines Traumes im Hause des Lazarus, diese Wirklichkeit so sinnfällig wie sonst die Wirklichkeit des Bodens und der Steine, ja noch sinnfälliger als sie. Aber der Blinde merkte nichts; er beschwor mich nur in kläglichem Töne: »Wenn dieser Mann tatsächlich auferstanden ist, so rufe ihn nicht an und nenne nicht mit lauter Stimme seinen Namen! Sein Blut kommt sonst auch über mich!«
Der Glanz erlosch ebenso plötzlich, wie er aufgezuckt war. Meine Augen waren noch geblendet, und ich hob die Arme, als wollte ich die herrliche Unbeschwertheit, die ich empfunden hatte, festhalten. Wieder sank der Schatten der Stadtmauer auf mich, sogar noch dunkler als vorhin, und mit bleiernen Gliedern kehrte ich zur Erde zurück. Als ich über das Tal hinweg auf den steilen, sonnenbeschienenen Hügel blickte, sagte mir der Verstand, daß dort irgend etwas aufgeleuchtet und die Strahlen für einen Augenblick auf mich geworfen haben mußte, so wie man mit einem Spiegel zum Scherz mitten in eine Schattenfläche einen Lichtfleck zaubern kann.
Trotzdem blieb in mir die jubelnde Gewißheit, daß Jesus und sein Reich lebendige Wirklichkeit waren. Diese heimliche Gewißheit war stärker als meine Vernunft, und ich wünschte aufrichtig zu glauben. Ich dachte: Wozu diese zwecklose Eile? Warum möchte ich alles zugleich haben, und alles in vollem Ausmaße?
Wohlgemut faßte ich den Bettler am Arm und sagte aufmunternd: »Komm! Nur mehr ein paar Schritte, und wir sind am Tor.«
Aber der Mann sträubte sich, wollte von mir loskommen und jammerte: »Hier ist die Straße abschüssig. Wohin führst du mich? Doch nicht zum Abgrund, um mich in die Schlucht hinunterzustoßen, aus Rache, weil auch ich ›Kreuzige ihn!‹ gerufen habe?«
Ich antwortete: »Ich weiß wenig von Jesus. Aber ich glaube nicht, daß er auferstanden ist, um Rache zu nehmen. Nein, bestimmt nicht!«
Wir kamen zum Stadttor. Die Wächter kannten den Blinden und begrüßten ihn mit einigen Spottworten und mit der Frage, wieviel er tagsüber erbeutet habe. Wenn ich nicht dabeigewesen wäre, hätten sie ihn wahrscheinlich durchsucht und sich ihren Anteil genommen. An mich stellten sie keine Fragen, weil der Stoff meines quastenlosen Mantels und mein eingefettetes Haar mich hinreichend auswiesen.
Als der Bettler die vertrauten Stimmen der Wächter hörte, war er beruhigt. Im Nu machte er sich von mir los, tastete mit dem Stock an dem Torbogen hin und ging weiter, weil er hie* den Weg schon kannte. Bald nach dem Tor kam ein kleiner offener Platz, und hier hockten noch ein paar Lahme und Krüppel, streckten die Hände aus und sagten mit eintönigen Stimmen ihre Sprüchlein her. Sonst aber war der abendliche Straßenverkehr in der Stadt im großen und ganzen zu Ende; aus den Häusern drang der Geruch von Herdfeuer, frischgebackenem Brot, Knoblauch und heißem Speiseöl.
Als der Blinde mir ein paar Schritte voraus war, begann er seinen Stock zu schwingen und seine Bettlerkameraden zu rufen. »Israeliten!« schrie er. »Der Mann hinter mir hat mich hergeführt, und ich kann gegen ihn Zeugnis ablegen. Er ist besessen. Er hat den Namen des gekreuzigten Jesus angerufen und dadurch einen Stein unter meinen Händen in Käse verwandelt. Macht euch auf und steinigt ihn! Er ist bestimmt ein Jünger dieses verfluchten Mannes und bringt Unheil über uns.«
Er bückte sich, faßte einen Klumpen frischen Dung und warf ihn so zielsicher in die Richtung, aus der er meine Schritte hörte, daß sein Geschoß mich traf und mir den Mantel beschmutzte. Als die anderen Bettler das sahen, beeilten sie sich, den Blinden zu packen und festzuhalten. Mich baten sie seinetwegen um Entschuldigung und ihn warnten sie: »Bist du zu deiner Blindheit auch noch übergeschnappt? Das ist doch ein reicher Ausländer! Wie könnte der ein Jünger des Nazareners sein? Er ist kein Galiläer, das sehen wir an seinem Gesicht.«
Sie begannen im Chor zu jammern, streckten mir die Hände hin und zeigten ihre Gebrechen. Ich verteilte eine Handvoll Münzen unter sie, nahm meinen beschmutzten Mantel ab, legte ihn dem Blinden um die Schultern und sagte laut lachend: »Da hast du den Mantel, den du so habgierig befingert hast! Er wird dir zustatten kommen, wenn du einmal über Nacht am Straßenrand bleiben und frieren mußt, weil dich niemand in die Stadt führt.«
Der Blinde schüttelte die Fäuste gegen seine Kameraden und brüllte: »Glaubt ihr wenigstens jetzt, daß er besessen ist? Also, ich möchte schwören, wenn ich ihm eine Maulschelle gebe, der ist imstande, mir die andere Wange hinzuhalten. Der ist verrückt genug dazu!«
Über seine Worte mußte ich herzlich lachen. Vielleicht war die Befolgung von Jesu Lehre nicht ganz so unmöglich, wie ich gedacht hatte. Je mehr ich mich bemühte, diesem Kerl hier Böses mit Gutem zu vergelten, desto froher fühlte ich mich. Ich hatte die Empfindung, nur auf diese Weise seiner Tücke Herr werden zu können. Ihn zu schlagen oder den Wächtern zu überstellen, hätte bloß bedeutet, ein Übel mit einem anderen zu bekämpfen.
Die anderen Bettler stimmten beflissen in mein Gelächter ein und riefen ihrem Zunftgenossen zu: »Besessen ist der Mann nicht, sondern einfach betrunken. Merkst du das nicht? Da muß einer schon einen tüchtigen Rausch haben, wenn er dir den Führer macht und dann noch seinen Mantel abnimmt und dir schenkt. Und nur ein sinnlos Besoffener kann aus vollem Halse lachen, wenn man ihn anpöbelt!«
In gewisser Beziehung hatten die Leute recht. Eine Trunkenheit, die menschliche Begriffe überstieg, brauste in meinem Kopf, ließ mich laut lachen und trübte meine Sehkraft derart, daß mir die Blicke der Passanten nicht das mindeste ausmachten, als ich nun, nur mit einer Tunika bekleidet, durch die Stadt ging. Alles andere, dachte ich, konnte vielleicht im voraus zurechtgestellt worden sein – nur nicht jener harte Käse, auf den der Blinde mitten unter allen anderen ähnlich runden Steinen mit dem Stock gestoßen war!
Die Frau des syrischen Krämers schlug die Hände zusammen, als sie mich ohne Obergewand zurückkommen sah, und ihr Mann erschrak, in der Meinung, ich wäre von Räubern überfallen worden. Als ich aber nur lachte, aus meinem Zimmer Geld holte und ihn bat, mir einen neuen Mantel zu besorgen, beruhigte er sich. Auch er nahm an, ich hätte mich betrunken; meinen Überwurf mochte ich, so dachte er wohl, verspielt haben.
Nach einiger Zeit brachte er mir unter vielen Entschuldigungen einen hübschen Wollmantel mit kleinen Quasten an den Zipfeln. Das Stück sei aus feiner judäischer Wolle, erklärte er; er drückte und knitterte das Gewebe zwischen den Fingern, um zu zeigen, wie gediegen und wie untadelig gefärbt es war. Er versicherte auch, er habe für mich den Preis auf einen angemessenen Betrag heruntergefeilscht.
Schließlich sagte er: »Das ist ein jüdischer Mantel. Wegen eines fremdländischen Überwurfes hätte ich bis zum Forum gehen und das Vielfache des Preises bezahlen müssen. Die Quasten kannst du natürlich abschneiden; aber es wird niemand etwas daran finden, wenn du sie behältst, nachdem du dir jetzt einen Bart wachsen läßt. Auch ich fürchte und verehre den Gott Israels und werfe dann und wann im Vorhof der Heiden eine Münze in seinen Opferschrein, um mir einen guten Geschäftsgang zu sichern.«
Er blickte mich mit einem schlauen Lächeln in seinen schwarzen Augen an und gab mir, sorgfältig gezählt, das Restgeld zurück. Ich wollte ihn für seine Mühe entschädigen. Aber er hob abwehrend die Hände und erklärte: »Von dir brauche ich nichts. Der Kleiderhändler hat mir schon eine Vermittlungsgebühr bezahlt. Du bist jetzt viel zu gebefreudig aufgelegt; heute darfst du nicht mehr ausgehen. Zieh dich lieber auf dein Zimmer zurück, schlafe dich aus und laß deinen Kopf ausrauchen! Vorher aber iß von der guten Suppe, die meine Frau dir macht! Sie kocht reichlich Zwiebeln hinein und Kräuter, die dich davor bewahren werden, mit Kopfweh aufzuwachen.«
Als ich mich nicht gleich entschließen konnte, auf mein Zimmer zu gehen, schüttelte er besorgt den Kopf, breitete die Arme aus und rief: »Schön, schön, ich habe es nur gut mit dir gemeint. Wenn du durchaus willst, kann ich ja meinen Jungen noch um einen Krug süßen Wein schicken. Aber mehr darfst du keinesfalls trinken. Und versuche nicht, in der Nacht noch einmal die Treppe hinunterzustolpern, sonst kannst du dir den Hals brechen oder in schlechte Gesellschaft geraten.«
Ich versuchte mich zu verteidigen und mit ungelenker Zunge auseinanderzusetzen, daß ich stocknüchtern sei. Doch er hob sehr bekümmert die Hände und meinte: »Dein Gesicht ist rot, und deine Augen glänzen. Aber wie du willst! Da rufe ich dir lieber eine junge Frau her, die Ausländern Gesellschaft leistet. Nur kann sie erst erscheinen, wenn es ganz finster ist, weil sie sonst in unserem Stadtviertel in Verruf käme. Gedulde dich also ein bißchen! Sie wird das Bett mit dir teilen und dich so gründlich beruhigen, daß du nachher einfach schlafen und den Kopf klarkriegen mußt. Singen und ein Instrument spielen kann sie allerdings nicht; aber sie ist gesund und hübsch und wird bestimmt dafür sorgen, daß du ohne Wiegenlied einschlummerst.«
Er war von der Richtigkeit seines Befundes und Heilverfahrens so fest überzeugt, daß ich alle Mühe hatte, ihm seine Pläne auszureden. Ihm zuliebe ging ich schlafen, und er folgte mir fürsorglich in mein Zimmer, um mich mit meinem neuen Mantel zuzudecken. Nach einer Weile brachte seine Tochter mir eine dampfende Schüssel voll stark gewürzter Suppe und sah mir beim Essen zu, während sie hinter der vorgehaltenen Hand verschämt kicherte. Die Suppe war so scharf, daß sie mir im Munde brannte; aber die heiße Flüssigkeit schien meine taumelige Beschwingtheit nur noch zu steigern.
Das Mädchen füllte noch meinen Wasserkrug und ging dann. Aber mich hielt es nicht im Bett. Auf den Zehenspitzen schlich ich mich auf das Dach. Während die Sterne immer leuchtender hervortraten, saß ich, in meinen neuen Mantel gehüllt, und horchte den verklingenden Stimmen der Stadt und dem Atmen der kühler werdenden Luft. Dann und wann strich mir ein leichter Windhauch über das heiße Gesicht, und in meiner Glückseligkeit schien es mir, als streichelte eine unsichtbare Hand mir die Wangen. Die Vergänglichkeit zitterte in mir, der Erdenstaub zitterte in mir; aber irgend etwas anderes flößte mir zum erstenmal im Leben die Gewißheit ein, daß ich mehr war als nur Staub und Schemen. Dieses Wissen machte mich still.
»Du auferstandener Gottessohn«, betete ich in der nächtlichen Dunkelheit, »tilge alle eitle Bücherweisheit aus meinem Kopf! Nimm mich auf in dein Reich! Führe mich den einzigen Weg! Ich muß wohl von Sinnen sein, krank, durch dich verzaubert. Aber ich glaube, daß du mehr bist als alles, was jemals sonst in der Welt bestand.«
Frierend und steif erwachte ich durch das schrille Schmettern der Tempeltrompeten. Die Sonne beschien die Osthänge der Hügel; die Stadt aber lag noch in unbestimmtem Dämmerlicht, und der Morgenstern schwebte hell über dem Horizont. Mein Kopf war klar geworden. Mich fröstelte. Ich raffte den Wollmantel fester um mich und schlich in mein Zimmer und mein Bett zurück. Ich versuchte, mich meiner Nachtgedanken zu schämen; aber ich schämte mich nicht. Im Gegenteil, ich hatte die Empfindung, daß in mir, mochte auch die Fieberglut erloschen sein, immer noch ein kühles Licht schimmerte.
So ließ ich getrost meinen Bart unberührt und blieb in meinem Zimmer, um in aller Gelassenheit die Ereignisse des vergangenen Tages zu überdenken und niederzuschreiben. Sobald ich mit dem Schreiben fertig bin, will ich zum Quelltor gehen. Ich bin innerlich fest überzeugt davon, daß alles, was mir widerfuhr und noch widerfahren wird, einem bestimmten Zwecke dient. Diese Überzeugung gibt mir ein Gefühl der Sicherheit. Mag ich auch allerlei Ungereimtheiten niederschreiben, ich schäme mich keines einzigen meiner Worte.