Eis. Und Mettbrötchen.


Und eine alte Geschichte mit vier starken Typen.


»So eine Schweinerei! So eine Frechheit!« Pauli kann sich überhaupt nicht mehr beruhigen. Das Theatertreffen ist vorbei, wir sitzen wieder in unserem Lieblingseiscafé und Pauli schimpft wie ein Rohrspatz. Ich kann sie verstehen. Auch die weitere Rollenverteilung war eine Katastrophe. Kira hatte sich noch um die Rolle der Königstochter beworben, war aber an Leonies Freundin Ruth gescheitert. Danach hatte sie keine Lust mehr, noch mal die Hand zu heben. Also gingen auch fast alle anderen größere Rollen an Leonies Clique und für Kira blieb nur der Chor übrig. Der einzige Lichtblick: Ich darf an der ganzen Geschichte teilnehmen, weil Herrn Fernandez meine elegante Art, im Bühnenhintergrund von links nach rechts zu schleichen, enorm beeindruckt hat. Zudem kümmert sich Tom um das Bühnenbild und die Technik und Pauli wird die Kostümbildnerin, aber so richtig freuen können sie sich darüber nicht. Kira sagt schon seit einer halben Stunde nichts mehr – sie ist bitter enttäuscht.

»Und am meisten regt mich auf, dass Frau Heinson gar nichts weiter dazu gesagt hat. Obwohl das sooo ungerecht war! Dabei ist die sonst so nett!« Paulis Gesicht sieht mittlerweile richtig finster aus. Es fasziniert mich immer wieder, wie viele Gefühle man am Gesicht eines Menschen ablesen kann. Freude, Wut, Trauer – wenn man weiß, worauf man achten muss, ist das Gesicht wie ein offenes Buch. Die zusammengezogenen Augenbrauen und der verkniffene Mund von Pauli sagen eindeutig, dass hier jemand richtig sauer ist!

Tom zuckt mit den Schultern. »Tja, aber bei diesem Theaterprojekt ist Fernandez der Chef. Und du hast ja gehört, was er gesagt hat: Er will es machen wie im wirklichen Leben – da hat eben der Regisseur das letzte Wort.«

Pauli schüttelt den Kopf. »Wie im wirklichen Leben – nee! Da glaube ich schon eher, dass Leonies Vater ordentlich für den Schulverein gespendet hat. Oder es liegt daran, dass Emilias Klavierlehrer auch die Orchester-AG leitet und Frau Heinson ihn noch dringend für unser Musical braucht. Klar, dass da vor allem die Schüler bevorzugt werden, die er auch privat unterrichtet. UNGERECHT!« Sie schnaubt und sieht dabei sehr wütend aus.

»Aber andererseits hat sich Kira auch nur zweimal gemeldet. Das war vielleicht ein Fehler. Der Müllersohn wäre ja auch noch was gewesen – ich glaube, wenn du gewollt hättest, hätte Benni sich nicht beworben. Der hat das nur gemacht, weil niemand etwas gesagt hat.«

»Hey!« Pauli schnappt nach Luft. »Willst du jetzt etwa sagen, Kira sei selbst schuld?«

»Nein, ich meine nur …«

»Du bist ihr Freund, du musst zu ihr halten!«

»Das mache ich doch auch. Aber auch als Freund darf man mal eine Frage stellen. Oder sagen, wenn was falsch läuft. Das heißt überhaupt nicht, dass man gegen den anderen ist.«

So etwas Ähnliches habe ich auch schon mal von Werner gehört, der sich mit seinem Bruder über die Frage gestritten hat, ob man Menschen, die man mag, sagen kann, wenn sie einen Fehler machen. Und ob die dann darüber sauer sein dürfen oder sich eher freuen sollten, dass ihnen ein Freund das ehrlich sagt. Ich habe bisher noch nicht weiter darüber nachgedacht, ob da was dran ist. So viele Freunde hatte ich als Kater bisher nicht. Bevor ich Kira kennenlernte, war ich sogar ein richtiger Einzelgänger. Das hat sich nun ja ziemlich geändert – mit Odette und seit Neuestem Karamell habe ich immerhin schon zwei vierbeinige und mit Kira, Pauli und Tom sogar drei zweibeinige Freunde. Wird also Zeit, dass ich mehr darüber lerne, worauf es bei einer Freundschaft ankommt.

»Warum sagst du eigentlich nichts?«, will Tom von Kira wissen.

Die legt nur den Kopf schief und schleckt an ihrem Schokoeis. Dann holt sie tief Luft. »Ach, ich weiß nicht. Vielleicht findet mich Frau Heinson auch einfach schlecht und ist ganz froh, dass ich keine der Hauptrollen abgekriegt habe.«

»Quatsch!«, rufen Tom und Pauli wie aus einem Mund. »Sie weiß doch, wie toll du singen kannst«, beruhigt Pauli sie. »Und wahrscheinlich hat Tom recht – das mit dem Kater und der Königstocher war einfach Pech. Wenn du dich gemeldet hättest, hättest du noch eine andere Hauptrolle bekommen. Dafür hätte Frau Heinson bestimmt gesorgt. Der Fernandez kennt dich eben nicht, der weiß doch gar nicht, wie toll du bist.«

Kira seufzt. »Ihr habt recht. Ich sollte das nicht persönlich nehmen. Vorhin war ich aber viel zu sauer, um mich noch mal zu bewerben. Ich hatte mich so auf das Projekt gefreut – da war ich eben enttäuscht, dass meine beiden Lieblingsrollen gleich weg waren.«

Tom klopft ihr auf die Schulter. »Wer weiß – mit den Proben werden wir in der Projektwoche sowieso nicht komplett fertig. Wenn wir erst mal neben dem Unterricht proben müssen, wird es der doofen Emilia vielleicht zu anstrengend und sie gibt auf. Du solltest mal vorsichtshalber ihren Text mitlernen.« Er grinst Kira schräg an, sie lächelt zurück.

»Ja, das ist bestimmt eine gute Idee. So mache ich’s.« Jetzt lachen beide.

»Ha, ich hab’s!« Pauli springt mitsamt Eis von ihrem Stuhl auf. »Wenn Emilia nicht freiwillig aufgibt, entführen wir sie einfach und sperren sie so lange im Schulkeller ein, bis die Aufführung um ist.«

Im Ernst? Ich traue meinen Katerohren nicht! Das ist doch bestimmt total verboten und führt unweigerlich zu ziemlich viel Ärger mit der Polizei.

Die drei Freunde lachen wieder. Kira kichert so, dass sie mit dem Eis ihre Hose bekleckert.

»Wow, eine Spitzenidee! Wäre doch toll, wir könnten das wirklich machen. Verdient hätte es die doofe Kuh!«

Ach so, das war bloß ein Witz! Dann bin ich beruhigt.

»Als ich das Mettbrötchen so knapp verfehlt hatte und dann kopfüber in dem Container hing, dachte ich, mein letztes Stündlein hätte geschlagen.« Karamell sieht noch immer ganz mitgenommen aus. Dabei ist das ganze Drama nun schon eine Weile her. Ich habe den Rückweg von der Theaterprobe, an der ich jetzt jeden Tag teilnehme, genutzt, um mal im Hof vorbeizuschauen. Dazu bin ich seit meiner unfreiwilligen Begegnung mit Gerd und Murat nicht mehr gekommen – was schade ist, denn natürlich war ich schon sehr neugierig, ob ich durch meine Heldentat ein paar Sympathiepunkte bei den Hofkatzen gesammelt habe.

Habe ich. Eindeutig. Ich war noch nicht ganz beim Unterstand angelangt, da kamen mir Odette und Karamell schon entgegen und sogar der alte Miesepeter Spike erhob sich zur Begrüßung von seinem Stammplatz. Und nun sitzen wir alle auf einem sonnigen Fleckchen vor dem Container und Karamell lobt und preist noch einmal meine Fähigkeiten als Super-Winston. Was für ein großartiger Tag! Karamell erzählt und erzählt und Odette und Spike reißen abwechselnd die Augen und die Schnauzen auf und staunen um die Wette. Gut, mir ist ein bisschen schleierhaft, wie Karamell die dramatischen Ereignisse überhaupt mitbekommen hat – immerhin war er ohnmächtig –, und so ganz stimmen seine Schilderungen auch nicht mit der Wirklichkeit überein. Schließlich wollten Gerd und Murat uns ja helfen und an den Teil der Geschichte, in dem ich zwei fiese Müllmänner attackiere und sie in die Flucht schlage und danach Karamell mit meinen eigenen Pfoten aus dem Müll ausgrabe, kann ich mich persönlich überhaupt nicht erinnern – aber egal. Es ist einfach schön, ein Held zu sein! Deshalb korrigiere ich Karamell auch nicht, sondern nicke nur huldvoll und murmle zum Schluss bescheiden: »Ach, das hättest du doch umgekehrt für mich auch getan.«

»Äh, hoffentlich. Ich meine, wir haben uns ja früher nicht so gut verstanden … äh …«

»Ach, Karamell«, sage ich betont gelassen und gebe ihm einen kleinen Stups in die Flanke, »das sind doch alte Geschichten. Die sollen nicht mehr zwischen uns stehen.« Dass ich genau das Gleiche dachte, als mich Odette gebeten hat, Karamell zu helfen, lasse ich mal lieber weg. »Ab jetzt gilt: Einer für alle, alle für einen!«

Die drei schauen andächtig.

»Ein toller Spruch«, meint Spike anerkennend. »Stammt der von dir?« Ich nicke. Odette schlägt ihren Schwanz hin und her, offenbar denkt sie nach.

»Irgendwo habe ich den schon mal gehört. Bist du sicher, dass der von dir ist?«

Mist. Ertappt. Natürlich könnte er von mir stammen. Genau genommen habe ich ihn aber aus einer Geschichte aufgeschnappt, die Werner mal den ungezogenen Kindern seines Bruders vorgelesen hat. Die Geschichte von den drei … äh … Moment, wie hießen die doch gleich? Mist, ich komme einfach nicht drauf.

»Also, der Spruch ist fast von mir. Es gibt da noch so eine Geschichte von drei Typen, die sind total schlau und stark und die treffen eines Tages auf einen andern Kerl, der ist auch schlau und stark. Erst zoffen sie sich, aber dann werden sie Freunde. Und dann gilt eben der Spruch Einer für alle, alle für einen.«

Spike reißt die Augen noch weiter auf als vorhin. »Donnerknispel! Das ist ja GENAU wie bei uns! Genau so! Wie heißt denn die Geschichte?«

Pling! In diesem Moment fällt es mir endlich ein.

»Die drei Muskeltiere. Es ist die Geschichte von den drei Muskeltieren. Klar, weil die Typen so stark sind. Sie ist schon sehr alt, aber immer noch sehr spannend.«

Karamell und Spike maunzen anerkennend über so viel Literaturverständnis meinerseits. Nur Odette guckt komischerweise leicht zweifelnd.

Dann holt Spike tief Luft und verkündet feierlich: »Gut. Dann sind wir ab heute die vier Muskeltiere. Einer für alle, alle für einen!«

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