Wie ich sibirische Teigtäschchen probiere. Und schon wieder im Müll lande.
Ein himmlischer Duft weht mir entgegen, kaum dass Kira die Tür aufschließt und mich in die Wohnung trägt. Hm, lecker! Was mag das bloß sein? So etwas habe ich noch nie gerochen! Aber was auch immer es ist – ich muss es auf alle Fälle probieren!
Eigentlich wollte ich Kira als Erstes den Erpresserbrief zeigen, den ich in meinem Maul zusammengeknüllt mit mir herumschleppe. Nicht dass ich von dem Teil noch eine Kiefersperre bekomme! Jetzt aber meldet mir mein Bauch, dass ich RIESENHUNGER habe. Also erst mal das Wichtigste erledigen: fressen!
Ich strample mich von Kiras Arm, spucke den Zettel auf den Boden und will gerade Richtung Küche laufen, da greift Kira blitzschnell unter meinen Bauch und meine Vorderläufe und hebt mich wieder hoch.
»Stopp, stopp, stopp! Hiergeblieben, mein Freund! Du hast mir heute schon genug Ärger gemacht! Du solltest mit zum Bäcker kommen, nicht stundenlang auf Wanderschaft gehen! Mama ist hier am Rotieren wegen Babuschka und ich konnte ihr nicht richtig helfen, weil ich mich auf die Suche nach dir machen musste.«
Wieso? Mich muss man doch nicht suchen! Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen. Ich höre auf zu zappeln und maunze erstaunt.
Kira weiß gleich, was ich meine. »Keine Ausrede, Winston! Mama hatte Angst, dass du wieder in die erstbeste Mülltonne fällst und dann die ganze Wohnung einsaust. Das hat mich jetzt echt ’ne geschlagene Stunde gekostet, dann habe ich aufgegeben. Purer Zufall, dass ich dich gerade durchs Fenster gesehen habe. Du kommst jetzt erst mal in mein Zimmer und da bleibst du, bis wir mit dem Mittagessen fertig sind.«
Hey, was soll das denn? Straflager, oder was? Ich gehe von Maunzen zu Fauchen über.
»Winston, jetzt stell dich nicht so an! Gleich kommen Mama und Werner mit Babuschka vom Bahnhof und ich habe versprochen, mich um die Pelmeni zu kümmern. Ich habe keine Zeit, mich mit dir zu streiten!«
Ich fauche und strample noch mehr, bis mich Kira endlich wieder auf den Boden lässt. Schnell schnappe ich mir den Erpresserbrief und wedele damit hin und her. Wenn ich schon nichts zu fressen bekomme, kann ich Kira wenigstens endlich von der Entführung berichten.
»Igitt! Was ist das denn? Warst du tatsächlich schon wieder in einer Mülltonne?« Sie zieht mir den Brief aus dem Maul. »Bäh, das ist ja schon ganz durchgeweicht. Voll eklig! Wenn Mama hier als Erstes wiedergekäute Papierschnipsel im Flur findet, kriege ich richtig Ärger. Das schmeiße ich jetzt weg.«
HALT! Nein!!! Nicht wegschmeißen! Das ist doch WICHTIG!!! Ich springe an Kira hoch und versuche, nach dem Brief zu schnappen, aber keine Chance – sie hält ihn absichtlich so, dass ich nicht rankomme.
»Winston, warum bist du ausgerechnet heute so frech und ungezogen? Heute ist ein wichtiger Tag – wenn Babuschka nach so langer Zeit mal wieder kommt, wollen wir doch alle einen guten Eindruck machen. Und mit alle meine ich auch dich!«
Pah, das überzeugt mich gar nicht! Ich kenne diese Babuschka überhaupt nicht und noch wichtiger: Ich bin ein Kater mit einer Mission! Warum merkt Kira das denn nicht? Noch einmal springe ich an ihr hoch und fauche, so laut ich kann.
Kira seufzt. »Na, du bist ja schräg drauf heute. Also gut, komm mit mir in die Küche. Nicht dass du noch mein Zimmer verwüstest, wenn ich dich da einsperre.«
Sie geht zur Küche rüber, den Zettel immer noch fest in der Hand. Mist! Wie komme ich da bloß wieder ran? Wenn wir noch Gedanken lesen könnten, wäre ja alles viel einfacher! So muss ich mir eben etwas anderes überlegen.
Missmutig trabe ich hinter Kira her. Meine Laune wird allerdings mit jedem Schritt, den wir der Küche näher kommen, besser: Es riecht einfach köstlich! Was das wohl ist? Und viel wichtiger: Ob ich auch etwas davon abbekomme?
»So, Winston«, sagt Kira, als wir in der Küche angekommen sind, »du gehst jetzt brav in dein Körbchen und lässt mich hier meine Arbeit machen. Die Pelmeni sind schnell fertig, ich muss noch Zwiebeln hacken und Butter zerlassen. Damit schmecken sie nämlich am besten! Und jetzt erst mal weg mit dem Müll!«
Sie öffnet den Schrank unter der Spüle, zieht den Mülleimer heraus und stopft den Erpresserbrief hinein. Hoffentlich bekomme ich den da noch raus – sonst war die ganze Mühe umsonst und es wird mir ziemlich schwerfallen, Kira klarzumachen, was mit Emilia passiert ist. Aber solange Kira noch in der Küche ist, halte ich mich lieber von dem Mülleimer fern – auf noch mehr Gemecker habe ich gar keine Lust! Stattdessen versuche ich, einen Blick auf diese ominösen Pelmeni zu erhaschen, und hüpfe mit einem Satz auf die Arbeitsplatte neben dem Herd. Interessiert recke ich den Hals.
»Riecht lecker, nicht?« Kira deutet meinen Blick ganz richtig. Sie hat einen Topf mit Wasser aufgesetzt und hebt mit einer Kelle ganz vorsichtig etwas in den Topf, was entfernt an Ravioli oder Tortellini erinnert, aber deutlich würziger riecht. »Pelmeni sind Teigtaschen mit Hackfleisch«, erklärt sie dann. »Ein russisches Nationalgericht, wir essen es immer an Festtagen oder wenn Besuch kommt. Ich kenne niemanden, der so leckere Pelmeni macht wie meine Mutter. Wobei – die von Babuschka schmecken wohl auch ziemlich gut, ich kann mich nur kaum noch daran erinnern. Das letzte Mal hat sie uns vor drei Jahren besucht, ich weiß gar nicht, ob sie damals Pelmeni für uns gekocht hat. Kannst gleich mal einen probieren. Wenn sie oben schwimmen, sind sie fertig.«
Neugierig komme ich näher und werfe einen Blick in den Topf. Tatsächlich: In dem sprudelnden Wasser schwimmen die runden Täschchen herum, ein paar von ihnen auch schon ganz oben. Kira rührt derweil in einem kleineren Topf, das muss die zerlassene Butter sein. Hhhmmm! Ich spüre, wie mir das Wasser im Maul zusammenläuft. Kira nimmt eine Schüssel aus dem Regal und schöpft die oberen Pelmeni hinein. Ob ich die fressen darf? Ich strecke den Kopf vor.
»Vorsicht, heiß!«, warnt Kira. »Du kannst gern einen haben, mehr aber auch nicht. Sonst gibt’s richtig Ärger mit Mama. Und mit mir. Also – Rüssel weg von der Schüssel!« Mit einer Gabel fischt sie eine Teigtasche heraus, pustet ein bisschen und legt sie dann in meinen Napf. Flugs springe ich auf den Boden und schlinge sie hinunter. Was soll ich sagen: KÖSTLICH! Genau das Richtige für einen Samstagmittag – mehr davon! Ich maunze laut und vernehmlich.
»Winston, nicht betteln! Wenn etwas übrig bleibt, bekommst du natürlich noch ein paar.« Sie fischt die restlichen Pelmeni aus dem kochenden Wasser und legt sie ebenfalls in die Schüssel, dann deckt sie das Ganze mit einem Stück Alufolie ab.
»So, noch die Butter umfüllen …«
»Huhu! Wir sind wieder da!«, ruft in diesem Moment Annas Stimme durch den Flur. »Kira? Wo bist du?«
Kira nimmt den kleinen Topf mit der Butter vom Herd und wischt sich kurz die Hände an der Hose ab.
»So! Babuschka ist da! Also benimm dich, Winston.« Dann saust sie aus der Küche und lässt mich dort allein. Maunz! Die kommt bestimmt so schnell nicht wieder – das ist meine Chance, den Brief aus dem Mülleimer zu holen und in Sicherheit zu bringen. Ich trabe zur Spüle und drücke mit der Schnauze fest gegen die Schranktür. Wenn ich es nämlich richtig beobachtet habe, lassen sich die Küchenschränke durch Druck öffnen. Tatsächlich! Die Tür schwingt auf und gibt den Blick auf den Mülleimer frei. Ich stecke meinen Kopf in den Schrank und hebe mit dem Kopf den Mülleimerdeckel hoch. Hm. Auf den ersten Blick kann ich den Brief nicht sehen. Leider scheint Kira ihn ziemlich tief hineingesteckt zu haben.
Vorsichtig schiebe ich mit dem Maul ein Salatblatt zur Seite. Immer noch nichts. Okay, dann muss auch die leere Milchtüte weichen. Ich ziehe sie aus dem Eimer, leider fällt mit ihr auch eine Bananenschale zu Boden, dann ein Eierkarton. Sehe ich da einen Zipfel des Briefes? Ich stecke meinen Kopf tiefer in den Eimer, mit einer Pfote fasse ich nach und hole dabei noch zwei alte Joghurtbecher und drei Eierschalen heraus. Da – ich kann den Zettel sehen! Noch schnell ein paar Kartoffelschalen und eine zerknüllte Plastiktüte aus dem Mülleimer herausgepflückt, dann einen Kaffeefilter, leider mit Inhalt, und endlich habe ich das Blatt Papier im Maul.
Vorsichtig lege ich den Zettel vor mir auf den Boden und betrachte ihn – er ist zwar mittlerweile ziemlich aufgeweicht, zum Glück kann man die aufgeklebten Buchstaben aber noch gut lesen. Hipp, hipp, hurra! Jetzt muss ich nur noch ein sicheres Versteck für das Blatt finden, habe da aber schon eine Weltklasseidee. Ich nehme den Zettel ins Maul, springe auf die Arbeitsplatte und laufe Richtung Herd. Dort steht der Kasten, in dem Anna ihr Haushaltsbuch und alte Bons und Rechnungen aufbewahrt. Ein ideales Versteck, Anna rechnet nämlich nur einmal pro Woche ab und hat das gestern erst gemacht. Vorsichtig schiebe ich den Zettel zwischen die anderen Papiere im Kasten. Perfekt! Fällt überhaupt nicht auf, und wenn Kira später mehr Zeit hat, zeige ich ihr, wie wichtig der angebliche Müll ist.
Apropos Müll: Um das Chaos auf dem Küchenfußboden muss ich mich ja auch noch kümmern! Nicht dass Babuschka gleich den schlechtesten Eindruck von mir bekommt. Auf dem Weg vom Zettelkasten zum Ende der Arbeitsplatte komme ich an der Schüssel mit den warmen Pelmeni vorbei. Sie duften einfach verführerisch! Und eigentlich habe ich immer noch wahnsinnigen Hunger. Ob ich nicht einfach …? Nein, Winston, ermahne ich mich selbst. Räum lieber schnell auf und dann husch ins Körbchen. Bestimmt kommt Anna mit Babuschka irgendwann in die Küche!
Gut, das stimmt natürlich. Allerdings knurrt mein Magen gerade ganz schlimm und allein der Gedanke an das leckere Pelmeni, das ich eben schon fressen durfte, macht mich ganz mürbe. Ich meine – wenn ich eins fressen durfte, kann doch eigentlich niemand etwas gegen ein zweites haben, oder? Und wenn ich gaaanz vorsichtig die Alufolie zur Seite ziehe und nur ein winzig kleines herausnehme? Das merkt doch niemand!
Gedacht, getan: Ich mache mich an der Folie zu schaffen und angle mit meiner Pfote sehr geschickt ein Teigtäschchen aus der Schüssel. Schnapp! Schon habe ich es verspeist. Einfach HIMMLISCH! Und es sind ja immer noch genug Pelmeni in der Schüssel. Ich könnte doch glatt noch eines …
Als die Tür zur Küche aufgerissen wird, habe ich schon fast die ganze Schüssel leer gefressen. Mit einem spitzen Schrei stürzt Anna auf mich zu. »WINSTON!!! Du böser, böser Kater!«
Erschrocken will ich zur Seite springen, aber mein Bauch ist so vollgestopft mit Teig und Hackfleisch, dass ich kaum vom Fleck komme. Anna packt mich am Nacken und zerrt mich von der Platte. Aua! Das mag ich gar nicht! So trägt man keinen ausgewachsenen Kater!
Aber das scheint Anna gerade völlig egal zu sein. Während sie mich immer noch am Nacken festhält, setzt sie mich unsanft auf den Boden vor dem Mülleimer. »Und was ist das? Hm!? WAS IST DAS???« Ihre Stimme bebt vor Zorn. Nicht gut. Gar nicht gut! Jetzt schüttelt mich Anna auch noch, maunz!
Okay, ich muss zugeben: Auf den ersten Blick sieht es aus, als hätte eine Katze auf der Suche nach Fressen im Mülleimer gewühlt. Aber das täuscht natürlich. Denn in Wirklichkeit hat hier eine Katze äußerst heldenhaft die Vernichtung wichtigen Beweismaterials verhindert! Nur: Wie mache ich das Anna klar? Im Moment ist sie nämlich so wütend, dass ich fürchte, gleich durch den Fleischwolf gedreht zu werden. Ich kann zwar verstehen, dass sie nicht besonders erfreut über das Gesamtbild, also plus Müll und minus Pelmeni, ist. Aber – bei meinem Kratzbaum – ist das ein Grund, gleich so auszurasten? Immerhin gehöre ich doch zur Familie und für mich hat Anna noch nie so etwas Leckeres gekocht. Ist also nur gerecht, wenn ich jetzt mal ein bisschen mehr bekommen habe als die anderen. Ich jaule beleidigt auf und versuche, mich aus Annas Klammergriff zu befreien.
Die »anderen«, sprich Werner, Kira und eine ältere Dame, also vermutlich Babuschka, stehen übrigens hinter Anna im Türrahmen. Als Kater bin ich zwar kein Meister im Beurteilen von Farben, aber ich würde sagen, Babuschka hat ein ziemlich buntes Kleid an, das an einigen Stellen glitzert. Ihre Haare hat sie zu einer Art Turm aufgehäuft – eine sehr interessante Frisur! Dabei ist Babuschka dunkelhaarig, nicht blond wie Anna und Kira. Ihre Augen sind schwarz umrandet, fast genau wie die von Pauli, was ihrem Blick etwas sehr Dramatisches gibt. Alles in allem ist sie rein äußerlich das komplette Gegenteil von Werners Mutter, Frau Hagedorn. Bemerkenswert, wie unterschiedlich ältere Damen aussehen können!
Keiner von den dreien sagt übrigens ein Wort, alle starren auf das Naturschauspiel, das sich ihnen hier gerade bietet: Frau gegen Kater. Leider gerade mit leichten Vorteilen für die Frau.
Schließlich räuspert sich Werner. »Winston – was in aller Welt hast du hier angestellt? Du bist doch sonst nicht so ein ungezogener Kater!« Er wendet sich an die ältere Dame: »Also, ich bin wirklich erstaunt: So etwas hat er noch nie gemacht.«
Die Angesprochene holt nur tief Luft. Dann schweigt sie. Vielsagend, wie ich glaube.
Jetzt drängelt sich Kira an Werner und Babuschka vorbei und kniet sich neben mich auf den Boden, genau zwischen die leeren Joghurtbecher und Kartoffelschalen.
»Lass ihn los, Mama! Du tust ihm weh!« Oha! Kira kann ja genauso gut fauchen wie ich – das gefällt mir! Sofort zur Stelle, wenn ein Freund in Not ist. Anna guckt ihre Tochter streng an.
»Kira, du siehst doch, was für eine Schweinerei das Viech hier angerichtet hat! Strafe muss sein!« Sie packt noch ein bisschen fester zu und schüttelt mich wieder, ich maunze laut.
Kira springt auf und schnappt empört nach Luft. Dann schreit sie ihre Mutter an: »Das ist kein Viech, das ist Winston! Und du bist eine Tierquälerin! LASS WINSTON SOFORT LOS!«
Verdutzt lockert Anna jetzt tatsächlich ihren Griff, ich nutze die Chance, winde mich heraus und springe sofort in die rettenden Arme von Kira.
Einen Moment lang sagt keiner ein Wort. Dann höre ich zum ersten Mal Babuschkas Stimme. Ganz tief und ruhig. Und mit rollendem R, genau wie Anna.
»Eins sehe ich gleich: Hier wird dringend Erziehung gebraucht. Für beide. Für Kind. Und für Kater.«
Bitte? Was meint sie denn damit? Läuft doch alles bestens hier!