Von Helden und Gurken.


»Warum hast du das Blatt mitgenommen?«

»Ich will es Kira zeigen. Damit sie weiß, was hier los ist!«

»Du willst WAS?« Odette reißt ungläubig die Augen auf und starrt mich an.

Als Emilias Eltern mit der Polizei in einen Nebenraum gegangen sind, um zu besprechen, wie man das Telefon abhören könnte, falls der Erpresser anruft, haben wir unsere Chance genutzt und uns aus dem Staub gemacht. Vorher habe ich allerdings den Erpresserbrief aus einem Wust anderer Zettel vom Couchtisch gefischt.

Und nun sitzen wir nach einem olympiareifen Spurt durch den Garten schwer atmend und mit klopfenden Herzen auf der anderen Seite der Mauer. Neben uns hockt Karamell, der von unserem plötzlichen Erscheinen aus seinem kleinen Nickerchen in der Sonne gerissen wurde. Tolle Rückendeckung! Aber wenigstens hat Spike sich von seiner missglückten Baumbesteigung wieder erholt und betrachtet jetzt das Blatt Papier mit den aufgeklebten Buchstaben, das ich vorsichtig vor mir im Gras ablege. Dafür, dass ich es im Maul über eine Mauer hinwegtragen musste, sieht es noch aus wie neu. Vielleicht ein bisschen angesabbert am Rand, aber ansonsten: tadellos!

»Lass mich raten: Emilia ist gar nicht krank, sondern sitzt zu Hause und bastelt«, meint Spike.

»Falsch«, erwidere ich.

»Aber warum hast du das Papier denn mitgeschleppt? Ist das keine Bastelarbeit? Es erinnert mich an die Sachen, die kleine Menschen immer im Kindergarten basteln.«

»Tja, in einem Punkt hast du recht: Das hat wirklich ein Mensch gebastelt«, erkläre ich. »Allerdings kein kleiner, sondern ein großer. Das Papier ist ein Erpresserbrief. Darin fordert der Verbrecher, der die arme Emilia entführt hat, zwei Millionen Euro von ihren Eltern. Sonst gibt er Emilia nicht zurück.«

»Hä?«, fragen Spike und Karamell wie im Chor.

»Also, für euch zum Mitschreiben: Odette und ich haben herausgefunden, dass Emilia entführt worden ist. Sie ist gar nicht krank, sondern befindet sich in den Fängen eines Verbrechers. Und dieser Zettel ist der Beweis. Der Erpresser schreibt, dass er Lösegeld will. Deswegen habe ich den Brief auch mitgenommen. Denn das hier ist eine Nummer zu groß für uns. Auch wenn wir Muskeltiere sind – wir müssen Kira und ihren Freunden Bescheid sagen!«

»Und du irrst dich auch nicht?« Odette ist skeptisch. »Ich meine, da lagen doch ganz viele Zettel auf dem Tisch. Bist du sicher, dass du den richtigen erwischt hast?«

»Ja. Todsicher.«

»Warum? Du kannst doch nicht lesen.«

Äh. Stimmt. Offiziell kann ich nicht lesen. Und ich glaube kaum, dass nun der richtige Zeitpunkt ist, Odette und den anderen zu erklären, dass ich es nämlich doch kann – und vor allem, warum. Die halten mich garantiert für komplett verrückt! Und dann bin ich sie bestimmt wieder los, meine neuen Freunde. Mist, was sage ich denn bloß?

»Ich, äh, ich, also …«

»Du was?«, bohrt Odette nach.

»Ich … habe es erschnuppert. Genau. Der Zettel riecht doch genauso wie der Mann, der ihn eben die ganze Zeit in den Händen hielt. Dieser Zettel muss es einfach sein!« Ob sie das als Erklärung schluckt?

»Wow – du scheinst ja eine Nase wie ein Hund zu haben. Also, so empfindlich, nicht so lang, meine ich. Respekt!« Puh! Gerade noch mal gut gegangen! Odette schnuppert nun selbst an dem Zettel.

»Hm, ich finde, der riecht irgendwie ein bisschen nach … Tannengrün.« Sie schnuppert noch einmal. »Genau. Der Zettel riecht wie ein Weihnachtsbaum.«

Wie ein Weihnachtsbaum. Für den Bruchteil einer Sekunde fühle ich mich an etwas erinnert, aber bevor mir einfällt, woran, ist der Moment auch schon vorbei.

»Aber was willst du denn mit Kira? Die brauchen wir doch gar nicht«, mischt sich jetzt Spike ein. »Das ist genau die Chance, auf die wir Muskeltiere gewartet haben – ein echtes Abenteuer! Wir fangen den Entführer, retten das Mädchen und sind Helden.«

»Ich glaube, du stellst dir das mit dem Heldentum ein bisschen einfach vor«, versuche ich, Spike von seinem Plan abzubringen. Immerhin weiß ich aus eigener Erfahrung, wie schwierig es in Wirklichkeit ist, einen Verbrecher zu fangen.

»Ach was!«, ruft Spike. »So schwer kann das nicht sein. Die Polizei macht das schließlich jeden Tag – und du willst doch wohl nicht behaupten, dass Menschen klüger seien als Katzen.« Er schnaubt prustend. »Als Nächstes sagst du noch, Hunde könnten logisch denken!«

Jetzt lacht auch Karamell, der sich bisher fein rausgehalten hat. Na großartig – sich erst nicht von der Mauer trauen und jetzt einen auf mutig machen!

»Also, Winston, wenn das nichts für vier gestandene Katzen ist, dann ist es erst recht nichts für kleine Mädchen. Wieso willst du es Kira dann zeigen?«

Eine berechtige Frage, die Karamell da stellt. Aber darauf habe ich natürlich eine gute Antwort. »Ganz einfach: Der Erpresser schreibt, dass Emilia nie wieder nach Hause kommt, wenn die Polizei sich einmischt. Also muss sich jemand anderes darum kümmern. Und Kira, Pauli und Tom haben schon mal einen Kriminellen überführt – den bösen Exfreund von Kiras Mutter Anna. Er war ein Zigarettenschmuggler und wollte Anna erpressen. Ich weiß, dass sie es können. Ich war nämlich selbst dabei und es war unglaublich aufregend.« Dass die Geschichte beinahe in die Hose gegangen wäre und uns am Ende Werner gerettet hat, verschweige ich mal lieber. Ich finde, es tut jetzt auch nichts zur Sache, denn am Ende haben wir dem Verbrecher ja das Handwerk gelegt.

»Du hast schon mal einen Verbrecher gejagt und gefangen?« Odette klingt beeindruckt und das gefällt mir gut.

»Ja, zusammen mit den Kindern«, erwidere ich knapp, um nicht die ganze Geschichte erzählen zu müssen.

»Hm, vielleicht hast du recht und wir sollten Kira tatsächlich einweihen.«

»Pffffrrrrr!«, macht Spike, dem dieser Plan überhaupt nicht gefällt. »Einen Menschen einweihen! Das ist doch lächerlich! Wir sprechen nicht dieselbe Sprache, wie soll das denn gehen?«

»Gegenfrage:«, erwidere ich spitz, »Ein übergewichtiger Kater, der nicht mal über eine stinknormale Mauer kommt, und einer, dem vor lauter Angst die Knie schlottern, wollen einen Erpresser aufstöbern? Wie soll das denn gehen?«

Odette schüttelt den Kopf. »Jungs, nicht streiten! Erinnert euch lieber an die drei Muskeltiere! Die haben ihr Ziel nicht nur mit Kraft, sondern vor allem mit Köpfchen erreicht. Vielleicht ist es am besten, wenn wir zusammenarbeiten: die Kinder und die Muskeltiere. Wichtig ist doch, dass Emilia gerettet wird, und nicht, dass irgendjemand als Held dasteht.«

Wahrscheinlich hat sie recht. Einen Versuch ist es wert. Obwohl ich uns nach meiner heutigen Erfahrung mit Spike und Karamell von »die Muskeltiere« eher in »die Gurkentruppe« umbenennen würde.

Spike seufzt, offenbar ist er zu demselben Ergebnis gekommen: »Na gut. Arbeiten wir mit den Kindern zusammen. Obwohl ich mir momentan nicht vorstellen kann, dass Katzen und Menschen wirklich etwas zusammen machen können. Aber ich lasse mich natürlich gern vom Gegenteil überzeugen.«

Pah – Kater und Kinder sind geradezu ein ideales Team! Ich werde es dem fetten Spike beweisen!

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