Musik liegt in der Luft.


Und Männer sind auch Menschen.


»Danke, Herr Professor! Wirklich vielen Dank!«

Nanu, was ist denn hier los? Kira, Pauli und ich kommen gerade in dem Moment in die Wohnung, in dem Anna Werner mit Schwung um den Hals fällt. Das ist sonst eigentlich nicht ihre Art. Also, ich meine, normalerweise halten Werner und Anna immer ein bisschen Abstand. Nicht so, dass man denken könnte, dass sie sich nicht mögen. Im Gegenteil – ich glaube, die beiden verstehen sich sogar richtig gut. Aber so wie ich meinen alten Werner kenne, wird der schüchtern, wenn er jemanden sehr mag. Und ich glaube, er mag Anna sehr. Seitdem Anna und Kira bei uns wohnen, benimmt er sich jedenfalls anders als all die Jahre davor. Zum Beispiel achtet er mehr auf sein Äußeres. Gepflegt war Werner natürlich immer, aber neuerdings verbringt er verdächtig mehr Zeit vor dem Spiegel. Dann wuschelt er sich seine braunen Locken mit den grauen Strähnen mal in die eine, mal in die andere Richtung. Das ist allerdings völlig sinnlos, denn bei Werners Frisur macht es gar keinen Unterschied, ob die Locken nach links oder rechts springen: Sie sieht immer ziemlich verwegen aus. Seit Kurzem scheint sich Werner überdies auch genau zu überlegen, was er anzieht. Und wenn ihm dann nicht gefällt, was er im Spiegel sieht, zieht er sich sogar noch mal um. Das ist völlig neu! Als Olga, Annas Schwester, noch unsere Haushälterin war, hat er das jedenfalls nie gemacht. Ich werde das genauer beobachten!

Jetzt will ich allerdings erst einmal wissen, warum Anna mein Herrchen denn nun so begeistert umarmt hat. Anna strahlt immer noch über das ganze Gesicht und Werner steht ein bisschen verlegen da. Ich trabe näher an die beiden heran und spitze die Öhrchen.

»Gern geschehen, Anna. Es wäre doch viel zu schade, wenn dieser schöne Flügel zu einem reinen Möbelstück verkäme. Also, wenn Sie ab und zu darauf spielen würden, würde ich mich sehr darüber freuen.«

Ach so. Es geht um dieses komische Klavierdings, das neuerdings unser Wohnzimmer blockiert. Der Flügel. Komischer Name für ein Klavier, oder? Wenn ich es richtig verstanden habe, ist Werners Mutter Erika von einem großen Haus in eine kleine Wohnung gezogen und konnte das Ungetüm nicht mitnehmen. Da Werner von seinen Geschwistern mit Abstand die größte Wohnung hat, haben wir das Riesenteil geerbt. Offenbar ist es wertvoll und sollte daher nicht, wie die anderen Möbel, auf den Sperrmüll. Tja. Und so verstellt es jetzt unser schönes Wohnzimmer. Und das, obwohl es ganz offenbar ein Instrument ist und Werner völlig unmusikalisch.

Kira räuspert sich. »Hallo, Mama, hallo, Herr Hagedorn! Ich habe Pauli mitgebracht – ich hoffe, das ist in Ordnung! Die letzte Stunde ist ausgefallen, Pauli hat ihren Schlüssel vergessen und ihre Mutter ist noch nicht zu Hause.«

»Kein Problem«, brummt Werner und Anna nickt zustimmend.

»Ich habe sowieso mal wieder zu viel gekocht«, sagt sie und lacht. »Da können wir jede Unterstützung beim Essen gebrauchen.«

»Super, danke!«

Wir pilgern weiter in Richtung Kiras Zimmer. Als Kira und Anna bei uns eingezogen sind, haben sie sich zunächst das Gästezimmer geteilt. Aber als dann klar wurde, dass die beiden bleiben würden, hat Werner sein großes Arbeitszimmer geräumt und seinen Schreibtisch in das kleine Zimmer neben der Küche gestellt. Das war bis dahin eine Rumpelkammer mit Fenster, aber nun, aufgeräumt und frisch gestrichen, sieht es gar nicht mal so schlecht aus. Kira wohnt im alten Gästezimmer und Anna im ehemaligen Arbeitszimmer und Werner hat es jetzt deutlich kürzer zum Kühlschrank, wenn er für das Nachdenken über irgendein wahnsinnig kompliziertes physikalisches Problem dringend einen Joghurt oder ein Wurstbrötchen braucht. Nur für mich hat sich nichts geändert: Mein Körbchen steht immer noch in dem langen Flur, schräg gegenüber der Wohnungstür.

Erstaunlicherweise hat Werner sein Zimmer nicht einmal schweren Herzens aufgegeben. Im Gegenteil: »Die Bude hier war für einen sowieso viel zu groß. Jetzt passt es!«, stellte er zufrieden fest, nachdem alle Möbel umgeräumt waren. Wer hätte gedacht, dass Werner auf seine alten Tage noch mal eine Familie bekommen würde!

In Kiras Zimmer angekommen, lassen sich die Mädchen auf das Bett fallen. Ich warte einen kurzen Augenblick, dann hüpfe ich hinterher und lege mich daneben.

»Sag mal, sind deine Mutter und Professor Hagedorn jetzt irgendwie zusammen?«, erkundigt sich Pauli bei Kira.

»Nee! Wie kommst du denn auf die Idee?«, wundert die sich.

»Na ja, das sah ja eben sehr kuschelig aus. Eben nach zwei Leuten, die sich echt mögen.«

»Klar mögen die sich. Aber zusammen sind sie deswegen nicht. Mama mag den Professor als Mensch. Nicht als Mann.«

Heilige Ölsardine! Das ist wieder so ein typischer Menschensprech! Mann oder Mensch – wo ist denn da der Unterschied? Männer sind doch auch Menschen, oder etwa nicht? Auch Pauli scheint diese Unterscheidung seltsam zu finden. Jedenfalls legt sie die Stirn in Falten und sagt »Aha«.

Kira seufzt. »Also, Pauli, es ist so: Nach der Pleite mit ihrem Exfreund Vadim hat meine Mutter von Männern die Nase voll. Ich glaube, sie ist echt froh, wieder Single zu sein.«

Man kann Werner und Vadim zwar überhaupt nicht miteinander vergleichen, weil Ersterer ein sehr netter, fürsorglicher Professor und Letzterer ein unsympathischer, gefährlicher Verbrecher ist – aber mal abgesehen davon finde ich diese Nachricht gar nicht schlecht. Schließlich ist uns Annas Schwester Olga abhandengekommen, weil sie sich in einen gewissen Dieter verliebt hat und mit ihm an einen fernen Ort namens Köln gezogen ist. Nur deswegen hat Werner Anna als Haushälterin eingestellt. Wenn sich nun aber auch Anna wieder in einen Mann verlieben würde und wir deswegen auf einmal ohne sie dastünden, wäre das schlecht. Zum einen, weil es keine weiteren Schwestern von Anna und Olga gibt. Zum anderen, weil dann auch Kira wegziehen würde, und das wäre wirklich schlimm. Schließlich sind wir mittlerweile beste Freunde. Also ist es gut, dass Anna von Männern nichts mehr wissen will. Etwas anderes wäre es nur, wenn sie sich in Werner verlieben würde. Dann müsste sie nicht wegziehen. Aber wenn Kira mit ihrer Männerthese recht hat, dann bleibt hier auch so alles beim Alten. Sehr schön. Ich für meinen Teil bin nämlich kein Freund von großen Veränderungen.

Pauli kichert. »Also alle Männer sind Schweine?«

Hä? Schweine? Mit vier Beinen und einem Rüssel? Wie kommt sie denn darauf? Dass Menschen Ziegen sein können, weiß ich ja mittlerweile, aber Männer Schweine? Das ist doch bestimmt nicht nett gemeint! Wieso müssen eigentlich immer wir Tiere dafür herhalten, wenn es um die unangenehmen Eigenschaften von Menschen geht? Das ist wirklich eine Frechheit!

Kira schüttelt den Kopf. »Nee, so auch wieder nicht. Wie gesagt, Werner als Mensch mag sie ja gern. Gegen Männer generell hat meine Mutter nichts. Nur gegen Männer als Männer.«

Ach, was ist das wieder für eine komplizierte Menschenlogik. So ein Unsinn! Männer sind auch Menschen, miau!

»Also meine Mutter wäre liebend gern nicht mehr Single«, erzählt Pauli. »Das sagt sie zwar nicht so offen, aber ich weiß, dass es so ist. Jedes Mal wenn ein halbwegs gut aussehender Typ auftaucht, gibt sie sich mit ihren Klamotten richtig Mühe und schminkt sich auch und so. Außerdem hat sie sich bei so einer Kontaktbörse im Internet angemeldet, wo man andere Singles kennenlernen kann.« Pauli kichert. »Das ist aber streng geheim. Sie hat es nicht mal mir erzählt, aber ich habe es gesehen, weil sie ihren Rechner neulich angelassen hat.«

Kontaktbörse im Internet? Was das wohl ist? Ich dachte bisher immer, das Internet sei ein Ort in dem kleinen Fernseher, der sich Computer nennt. Kira hat es mir mal gezeigt, als sie an Annas Schreibtisch ihre Hausaufgaben gemacht hat. Da hat sie im Internet nach irgendwelchen Lösungen für Mathe gesucht. Das Internet schien mir eine Art Lexikon zu sein. Also kein Ort, an den man wirklich gehen kann. Wie soll man da jemanden kennenlernen?

»Echt?« Jetzt kichert auch Kira. »Deine Mutter ist auf der Suche nach einem Typen?«

Pauli nickt. »Ja, ich glaube, sie will sich endlich mal wieder richtig verlieben.«

Interessant! Das menschliche Konzept von Liebe ist mir nach wie vor schleierhaft. Wenn man mit jemandem zusammen sein will, ist es offenbar wichtig, verliebt zu sein. Sonst könnten ja auch Werner und Anna einfach zusammen sein. Wir wohnen alle in einer Wohnung, verstehen tun wir uns auch – wieso reicht das nicht? Und wieso kann man im Computer jemanden kennenlernen, in den man sich verliebt? Ohne dass man ihn überhaupt schon mal gesehen hat? Verstehe ich nicht. Ehrlich: Ich bin sehr froh, dass mein Werner mit diesem ganzen Liebeszeugs nichts am Hut hat. Liebe scheint etwas sehr Kompliziertes zu sein, das wir hier absolut nicht brauchen. Wir leben einfach weiter friedlich zusammen in der Hochallee – miau!

»Vor allem, seit mein Vater wieder geheiratet hat, ist das Thema für meine Mutter wichtig«, erzählt Pauli weiter. »Das hat sie richtig geärgert und wahrscheinlich beneidet sie ihn deswegen.«

»Hm.« Mehr sagt Kira dazu nicht.

Pauli betrachtet sie nachdenklich. »Was ist eigentlich mit deinem Vater? Lebt der auch in Hamburg?«

Kira richtet sich vom Bett auf und zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich glaube aber nicht. Mama spricht nie über ihn. Er hat uns verlassen, als ich noch ganz klein war. Ich kann mich kaum an ihn erinnern.«

»Vermisst du ihn?«, fragt Pauli neugierig nach.

Kira schüttelt den Kopf. »Nee. Ich sag ja: Ich weiß kaum noch etwas von ihm. Ein bisschen so, wie wenn man morgens versucht, sich an einen Traum zu erinnern. Man weiß, dass da etwas war, aber man weiß nicht mehr genau, was.«

»Na ja, ist ja auch nicht so wichtig. Manchmal denke ich, es wäre sowieso einfacher, wenn man von vornherein nur ein Elternteil hätte. Einer allein kann sich schließlich nicht mit sich streiten. Es wäre also immer friedlich. Ein echter Vorteil!«

»Ja.« Mehr sagt Kira dazu nicht und ich habe das Gefühl, dass sie einfach nicht mehr über das Thema reden will. Woran das wohl liegt? Sonst ist sie doch nicht so schweigsam. Ich bin nun richtig neugierig geworden und versuche mir vorzustellen, wie Kiras Vater wohl aussehen könnte. Kira sieht eigentlich ihrer Mutter ziemlich ähnlich: Sie ist schmal und blond, mit blauen Augen. Die hatte sie lustigerweise auch behalten, als sie in meinem Körper steckte, ich wiederum hatte als Mädchen immer noch meine grünen Winston-Augen. Wir mussten höllisch aufpassen, damit Anna das nicht merkte. Sie hätte sonst gleich gewusst, dass etwas mit uns nicht stimmt. Ich bin deshalb häufiger mit einer Sonnenbrille am Frühstückstisch aufgekreuzt. Aber das nur am Rande … also, was könnte Kira von ihrem Vater haben? Vielleicht die Art, wie sie manchmal den Kopf schief legt? Das macht Anna nie. Oder die leichten Wellen in Kiras langen Haaren? Schließlich sind die von Anna ganz glatt.

»Nun lass uns mal mit den Hausaufgaben anfangen«, wechselt Kira schließlich das Thema. »In Englisch müssen wir uns richtig reinhängen, da schreiben wir nächste Woche eine Arbeit.«

Pauli nickt. »Ja, du hast recht. Meine letzte Arbeit war nicht so glanzvoll. Fast so schlecht wie die von Emilia und die hat nun wirklich überhaupt keinen Plan.« Sie kichert. »Das wird noch lustig für Tom, wenn er jetzt für ihre Hausaufgaben zuständig ist.«

»Na ja, ich hab schon irgendwie ein schlechtes Gewissen«, räumt Kira ein. »So richtig korrekt ist die Verlosung ja nicht abgelaufen. Ich hoffe, Tom ist nicht allzu sauer auf uns.«

Pauli zuckt mit den Schultern. »Er wird’s überleben.«

»Trotzdem – ich habe mich heute schon ein bisschen schlecht gefühlt, als wir es ihm gebeichtet haben.«

»Na gut, als Buße können wir ihn begleiten, wenn er seinen ersten Einsatz hat. Ich hoffe, es wird nicht so bald sein.«

Kira lacht. »Nee, bestimmt nicht. Emilia ist doch eigentlich nie krank – du weißt schon: Unkraut vergeht nicht.«

Die nächste Stunde verbringen die Mädchen damit, sich gegenseitig Englischvokabeln abzufragen. Laaaangweilig! Das einzig Spannende daran ist, dass ich einen Teil der Vokabeln kenne, weil ich seit meiner Zeit in Kiras Körper auch ein bisschen Englisch kann. Als Mensch konnte ich nämlich auf einmal solchen Schulkram wie Lesen, Schreiben und Rechnen und – jetzt kommt’s: Diese Fähigkeiten habe ich auch nach dem Rücktausch nicht verloren. Somit dürfte ich die einzige Katze auf der Welt sein, die lesen kann. Leider weiß keiner diese Sensation zu würdigen, denn meine Mitkatzen interessieren sich nicht dafür und den Menschen kann ich es schließlich nicht erzählen. Nicht einmal Kira, denn mit dem Gedankenlesen ist es ja vorbei. Maunz! Es ist grausam, ein verkanntes Genie zu sein!

Ich schleiche mich davon und lege mich auf die Fensterbank. Hier kann ich die letzten Sonnenstrahlen des warmen Sommernachmittags genießen. Das Fenster ist gekippt, von draußen strömt warme Luft herein. Herrlich! Wer will schon ein Mensch sein, wenn er ein Kater sein kann?

Kurz bevor mir endgültig die Augen zufallen, holt mich ein lautes Scheppern wieder in die raue Wirklichkeit zurück. Nanu? Was ist denn da los? Kaum hat das Scheppern aufgehört, beginnt ein unglaublich wehleidiges Maunzen und Fauchen. Das klingt ja grauenhaft! Ängstlich werfe ich einen Blick durch das Fenster in den Hof. Ich kann nichts erkennen, aber das jämmerliche Fauchen und Miauen wird immer lauter. Grundgütiges Katzenklo! Da muss etwas Furchtbares passiert sein! Hoffentlich ist Odette nicht in Schwierigkeiten!

Ich presse mein Ohr an den unteren Fensterspalt, um noch besser hören zu können, und tatsächlich: Das ist Odettes Stimme. Sofort stehen meine Nackenhaare senkrecht und mir läuft ein kalter Schauer den Rücken bis zur Schwanzspitze hinunter. Zwar kann ich nicht verstehen, was sie sagt, aber der Klang ihrer Stimme verrät, dass sie große Angst hat. Der Fall ist klar: Ich muss ihr helfen! Und dafür muss ich runter in den Hof – und zwar SOFORT!

Загрузка...