Ob man Träume teilen kann?


Und wieso kann man sich seine Mitschüler nicht aussuchen?


Eine Stunde später ist Kira mit ihren Hausaufgaben fertig und wir machen uns auf den Weg zur Eisdiele. Natürlich nicht ohne den versprochenen Schlenker über den Hinterhof. Kira hat als Gastgeschenk einen Napf mit Geflügelleber dabei – das ist nicht nur eine meiner Lieblingsspeisen, sondern auch Odette frisst es gern. Vor allem, wenn Anna sie so wie heute ganz frisch gekocht hat.

»Miez, miez, miez!«, ruft Kira meine Hofkollegen und steuert den Unterstand für die Mülltonnen an. Hier ist gewissermaßen der Katzentreffpunkt. Das flache Dach des Unterstands ist nämlich so ziemlich der einzige Ort im gesamten Hinterhof, auf den fast den ganzen Tag die Sonne scheint. Schön warm ist es da und meist ganz windstill. Der perfekte Platz also, um ein bisschen abzuhängen.

Heute allerdings ist der Platz verlassen. Weder Odette liegt dort noch ihre Freunde Karamell und Spike. Ersteres ist natürlich schade, Letzteres bedaure ich hingegen überhaupt nicht. Zwar streite ich mich nicht mehr mit ihnen, wie noch vor ein paar Wochen, als ich das erste Mal mit Kira den Hof besucht habe. Beste Kumpels sind wir aber immer noch nicht. Werden wir bestimmt auch nie werden, denn dafür sind wir einfach zu unterschiedlich: Während ich, Winston Churchill, ein wahnsinnig edler Rassekater bin und aus einer berühmten Britsch-Kurzhaar-Zucht stamme, ein sehr gepflegtes tiefschwarzes Fell und beste Manieren habe, sind Spike und Karamell genau genommen zwei gewöhnliche Stromer. Spike ist ziemlich fett und getigert, Karamell hat braunes, völlig struppiges und ungepflegtes Fell. Und beide sind ungehobelte Gesellen. Es ist ein wahres Wunder, dass eine Dame wie Odette sich in ihrer Gesellschaft so wohlzufühlen scheint. Natürlich spricht es enorm für ihren Charakter, dass sie sich trotz ihrer zweifellos noblen Herkunft nicht zu fein für die beiden ist. Odette ist also nicht nur nobel, sondern auch großherzig. Mit anderen Worten: Sie ist einfach toll. Nur eben leider gerade nicht da.

»Miez, miez, miez!«, ruft Kira noch einmal, dann stellt sie den vollen Fressnapf auf den Unterstand und schaut sich suchend im Hof um. »Na, wo sind denn deine Freunde?«

Ich springe vom Boden auf den Unterstand und recke den Hals. Dann schaue ich Kira an. Die deutet meinen Blick sofort richtig.

»Enttäuscht, oder? Du hättest Odette gern mal wieder gesehen, nicht wahr?« Ich maunze laut, Kira lächelt. »Komm, wir warten noch einen Moment. Wenn sie erst mal das leckere Fressen riecht, kommt sie bestimmt. Wir haben noch ein bisschen Zeit, bis wir in der Eisdiele sein müssen.« Sie schwingt sich neben mich auf den Unterstand und krault mich hinter den Ohren. Miau, herrlich! Ich strecke mich ganz lang und lege den Kopf in den Nacken.

Nach einer Weile scheppert etwas im hinteren Teil des Hofs. Odette! Ich rieche sie sofort! Schnell springe ich auf und versuche, mich möglichst vorteilhaft zu präsentieren. Also mache ich mich ganz groß und strecke meine Brust vor. Jetzt müsste ich ziemlich elegant aussehen. Hoffe ich jedenfalls!

»Hallo, Winston«, begrüßt mich Odette freundlich. »Fühlst du dich nicht wohl?«

»Äh, hallo, Odette! Doch, wieso?«

»Dann ist ja gut. Du hockst da so verkrampft, ich dachte, du hättest vielleicht Schmerzen.«

Grmpf. Ich sehe verkrampft aus? Dabei habe ich mir doch solche Mühe gegeben! Enttäuscht lockere ich meine Haltung und schüttle mich kurz.

»Im Gegenteil. Mir geht’s blendend. Ich freue mich, dich zu sehen.«

»Ja, ich finde es auch schön, dass wir uns treffen. Und so ein Zufall! Stell dir vor: Ich habe letzte Nacht von dir geträumt.«

Echt? Gibt’s ja gar nicht! Sie hat auch von mir geträumt?

»Äh, wirklich? Was denn?«, will ich von Odette wissen.

»Hm, ich erinnere mich nicht mehr so genau – aber ich glaube, du hast mich gerettet. Vor einem Ungeheuer. Oder einem bösen Menschen. Ich war jedenfalls irgendwie in Gefahr und du hast mir geholfen. Lustig, nicht?«

Lustig ist nicht das richtige Wort. Ich finde es tatsächlich unglaublich!

»Stell dir vor, Odette, das habe ich auch …« Aber noch bevor ich ihr genauer erklären kann, dass ich denselben Traum hatte, schiebt mich Kira zur Seite und nimmt Odette auf den Arm.

»Guck mal, Odette. Wir haben dir ein bisschen Futter mitgebracht. Meine Mutter hat heute frisch gekocht. Und natürlich wieder viel zu viel!« Menno, Kira – wir haben hier gerade Wichtigeres zu besprechen als die Verpflegung. Aber schon ist der Moment vorbei und Odette bedankt sich artig bei Kira, indem sie sanft schnurrt. Dann wendet sie sich wieder mir zu.

»Wo waren wir?«

»Bei deinem Traum!«

»Ach ja – aber ich habe ihn eigentlich schon wieder vergessen. War auch nicht so wichtig.« Mist! »Dass ihr mir etwas zu fressen mitgebracht habt, ist allerdings sehr nett! Leider habe ich gar nicht so viel Appetit. Ich habe vorhin eine ziemlich fette Maus gefangen.«

Was? Igitt! Mäusejagd. Die kenne ich als Wohnungskater natürlich nur vom Hörensagen und ich kann nicht glauben, dass das wirklich Spaß macht. Außerdem: Wie kommt auf eine selbst gefangene Maus eigentlich die Petersilie, die eine Mahlzeit erst perfekt macht? Eben! Da lasse ich mich lieber weiter von Anna bekochen. Aber natürlich will ich Odette ihr Essen nicht schlechtmachen, deshalb bin ich lieber still.

»Ich sage mal Spike und Karamell Bescheid, die haben bestimmt noch Hunger.«

Och nö! Nicht die beiden! Bevor ich etwas erwidern kann, ist Odette schon von dem Unterstand gesprungen und im hinteren Teil des Hofes verschwunden. Maunz! Heute klappt auch nichts! Und ich habe wirklich keine Lust, jetzt auf Karamell und Spike zu warten. Ich hüpfe also ebenfalls auf den Boden und mache mich auf den Weg zum Hofausgang. Kira läuft mir hinterher.

»Hey, Winston! Wo willst du so schnell hin? Odette hat doch noch gar nichts gefressen. Die kommt bestimmt bald wieder. Nun warte doch mal einen Moment!«

Kira klingt enttäuscht. Verständlich, schließlich wollte sie mir mit der Fressnapfaktion einen Gefallen tun. Ich wünschte, ich könnte ihr erklären, warum ich jetzt wegwill. Als wir noch vertauschte Körper hatten, war das auch kein Problem, wir konnten uns ja in Gedanken unterhalten. Nun geht das nicht mehr. Schade, aber nicht zu ändern. Ein Mädchen will ich trotzdem nicht mehr sein, denn das war mir echt zu anstrengend. Zu viel Zickenalarm für einen Kater wie mich!

»Na endlich, da seid ihr ja!« Tom und Pauli haben offenbar schon auf uns gewartet. Sie sitzen auf den Korbstühlen der Terrasse von Eismarie. Das ist die erklärte Lieblingseisdiele aller Wilhelminen – so nennen sich die Schülerinnen und Schüler des Wilhelminen-Gymnasiums. Pauli steht auf, kommt uns entgegen und bückt sich dann, um mich auf den Arm zu nehmen.

»Mensch, Winston, alter Kater! Dich habe ich aber lange nicht mehr geknuddelt. Ich habe dich schon richtig vermisst.«

Schnurr, schnurr, SCHNURR! Das geht mir umgekehrt genauso. Was allerdings erstaunlich ist. Hätte man mir vor ein paar Monaten erklärt, dass ich mich mal freiwillig von einem Kind auf den Arm nehmen lassen würde – ja, dass ich mich sogar darauf freuen würde –, ich hätte mich schlappgelacht. Bevor ich Kira und ihre Freunde kennenlernte, mochte ich Kinder nämlich überhaupt nicht. Sie waren mir meistens zu laut und zu wild. Mittlerweile muss ich aber zugeben, dass mein Leben ohne Kinder ganz schön langweilig war. So … RUHIG!

»So, ihr beiden Schmusekatzen«, mischt sich Tom ein, guckt dabei vorwurfsvoll über den Rand seiner großen braunen Hornbrille und kräuselt seine Nase mit den vielen Sommersprossen, »genug gekuschelt! Ich brauche jetzt ganz dringend ein Spaghettieis mit extra viel Raspelschokolade. Lasst uns endlich bestellen. Der heutige Schultag hat mich echt völlig geschrottet!«

»Wieso? Was war denn so schlimm bei dir?«, erkundigt sich Kira mitfühlend. »Ich fand’s eigentlich ganz in Ordnung.«

»Tja, wenn ich ’ne Zwei statt ’ner Vier in Mathe zurückbekommen hätte, würde ich mich auch nicht beschweren. Aber vor allem«, Tom seufzt schwer, »killt mich die neue Klassen-Buddy-Idee von Herrn Prätorius. Aber so was von!«

Herr Prätorius ist der Biologielehrer der 7c und gleichzeitig ihr Klassenlehrer. Ein sehr netter Mensch – und ein großer Katzenliebhaber, natürlich! Insofern wundert es mich, dass er eine Idee gehabt haben soll, die Tom so schrecklich findet. Auch wenn ich mir unter einem Klassen-Buddy rein gar nichts vorstellen kann, bin ich mir sicher, dass es eine gute Sache ist. Mit dieser Meinung stehe ich offensichtlich nicht allein da.

»Was hast du denn gegen die Idee? Ich fand sie ganz gut«, wundert sich Pauli und fährt sich mit den Händen durch ihre Haare, die ziemlich wild in alle Richtungen abstehen und pechschwarz sind. Pauli sagt von sich selbst immer, sie sei ein Punker, was offenbar bedeutet, dass sie die Haare so tragen muss. Und zerrissene Jeans und T-Shirts noch dazu, gekrönt von dick schwarz umrandeten Augen. »Wenn klar ist, wer sich um deine Arbeitsblätter und Hausaufgaben kümmern soll, falls du mal krank bist, kannst du wenigstens sicher sein, dass es auch wirklich einer macht. Das war doch sonst eher Glückssache und hat auch öfter mal überhaupt nicht geklappt.«

»Stimmt«, gibt ihr Tom recht. »Dagegen habe ich auch nichts. Aber dass die Buddys ausgelost worden sind, das finde ich einfach doof. Ich meine, wir hätten uns doch selbst um die Verteilung der Partner kümmern können. Dann hätte jeder einen Buddy bekommen, der halbwegs nett ist.«

Kira und Pauli zucken fast gleichzeitig mit den Schultern.

»Ist doch nicht so schlimm«, sagt Kira dann. »So oft kommt das schließlich auch nicht vor. Man kann ruhig mal Arbeitsblätter für jemanden mitnehmen, den man nicht so toll findet.«

»Ach ja?« Tom schaut sehr skeptisch. »Wen hast du denn zugelost bekommen?«

Kira zögert einen Moment, dann rückt sie mit der Sprache raus. »Äh, ich habe Pauli gezogen.«

Tom reißt die Augen auf. »Ernsthaft?«

»Ja, echt ein Riesenzufall.«

»Wie bitte? Wir haben achtundzwanzig Schüler in der Klasse, es waren also vierzehn Namen in der Lostrommel, die die übrigen vierzehn ziehen mussten – und du erwischst ausgerechnet Paulis Zettel? Das glaube ich nicht! Du hast bestimmt geschummelt.«

Kira sagt nichts, Pauli fängt an zu kichern.

»Na ja, ein bisschen nachgeholfen haben wir schon. Kira hatte erst Emilia, aber den Zettel hat sie schnell wieder in die Schachtel geworfen.«

Verstehe ich vollkommen. Emilia ist zusammen mit ihrer Freundin, der fiesen Leonie, das mit Abstand schrecklichste Mädchen in der 7c. Unfreundlich, arrogant – und auch nicht gerade die hellste Kerze auf der Torte. Alles in allem also eine sehr unerfreuliche Mischung. Der würde ich auch nicht gern die Hausaufgaben vorbeibringen, wenn sie krank ist.

»Tja, beim zweiten Mal Ziehen hatte ich dann mehr Glück«, bestätigt Kira. »Da hatte ich Pauli. Gut, oder?«

Tom seufzt noch einmal sehr tief.

»Wen hast du denn erwischt?«, will Pauli von ihm wissen. Tom holt tief Luft und bläst seine Backen auf, bevor er antwortet.

»Emilia. Ich habe Emilia gezogen.«

Maunz! Als Kater bin ich natürlich kein Experte in Sachen Losverfahren – aber ich denke, die beiden Mädchen sollten Tom schleunigst ein sehr, SEHR großes Spaghettieis ausgeben!

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