Wie ich das Richtige tue und trotzdem in einer Mülltonne lande.


Mit einem Satz hechte ich von der Fensterbank in Richtung Wohnzimmertür. Dann schnell auf den Flur und wieder zu Kira und Pauli ins Zimmer. Laut fauchend werfe ich mich an Kiras Beine: Mädels, macht mir die Tür auf! Und zwar flott!

Aber nicht nur, dass Kira meine Gedanken nicht mehr lesen kann, sie ist offenbar gerade auch völlig unempfänglich für meine hochintelligente Zeichensprache. Anstatt nämlich mit mir zur Wohnungstür zu laufen und diese für mich zu öffnen, bückt sie sich und nimmt mich auf den Arm. »Winston, wie kann es denn sein, dass du schon wieder Hunger hast? Außerdem sollst du nicht betteln.«

Maunzmiaumiaumioooo! Ich habe keinen Hunger! Und ich bettle NICHT! Das musst du doch wissen, Kira! Ich brauche Hilfe, und zwar SOFORT! Ein neuer Anlauf meinerseits – diesmal versuche ich, mich zappelnd aus Kiras Umarmung zu winden, um sie dann aus ihrem Zimmer zu schieben. Was natürlich eigentlich aussichtslos ist, aber irgendwie muss ich ihr begreiflich machen, was ich von ihr erwarte.

Es ist vergeblich: Kira kichert und hält mich noch ein bisschen fester.

Pauli betrachtet mich neugierig. »Also, wenn er ein Hund wäre, würde ich denken, er will mal raus.«

Erstens: Was für eine Mega-Unverschämtheit. Ich bin doch kein Hund! Zweitens: Völlig richtig! Los, Kira, hör auf deine Freundin und lass mich raus!

Kira zuckt mit den Schultern und macht Anstalten, mich wieder runterzulassen. »Wenn du meinst …«

Meine Pfoten haben noch nicht ganz den Boden berührt, da sause ich schon los und bleibe erst wieder stehen, als ich die Wohnungstür erreicht habe. Kira und Pauli kommen hinter mir hergelaufen, diesmal scheinen sie meinen Wink tatsächlich verstanden zu haben. Endlich! Kaum hat Kira die Tür geöffnet, bin ich im Hausflur und renne die Treppe hinunter. Im Erdgeschoss habe ich Glück: Die Haustür steht sperrangelweit auf, weil Klaus-Dieter, der bärtige Zahnarzt aus dem dritten Stock, gerade sehr umständlich seine Wocheneinkäufe vor der Tür abstellt und dann sein Fahrrad in den Flur hievt. Schwupps! bin ich draußen und biege sofort Richtung Innenhof ab.

Dort angekommen, suche ich gleich nach Odette. Aber ich sehe sie nicht und hören kann ich sie auch nicht mehr. Ratlos setze ich mich in die Hofmitte und schaue mich noch einmal um. Nichts.

Oder etwa doch? Kommt da nicht ein leises Wimmern aus dem Unterstand für die Mülltonnen? Ich laufe hinüber und horche noch einmal genau hin. Tatsächlich!

»Odette!«, rufe ich. »Bist du das?«

Aus dem Unterstand dringt ein Rumpeln, dann kriecht Odette zwischen zwei Mülltonnen hervor. Sie sieht furchtbar aus: Ihr weißes Fell ist verklebt und dreckig, außerdem riecht sie so streng, dass es mir fast den Atem verschlägt. »Odette! Heilige Ölsardine! Was ist passiert?«

Odette setzt sich neben mich, sie ist offenbar völlig erschöpft. »Winston – dich schickt der Himmel!«

Na, das ist ja mal eine Begrüßung nach meinem Geschmack. Ich werfe mich in Positur. Wennschon Held, dann richtig!

»Wie kann ich dir helfen?«, erkundige ich mich mit möglichst markiger Stimme.

»Karamell ist in einen der Container gefallen und hat sich eingeklemmt. Ich habe schon versucht, ihn zu befreien, aber ich komme einfach nicht an ihn ran. Er steckt ganz fest zwischen der Containerwand und einer Obstkiste und bekommt kaum noch Luft. Es ist einfach schrecklich! Aber vielleicht schaffen wir es ja zu zweit!«

Ach so. Es geht um den doofen Karamell. Ich merke, wie mein Heldenmut schlagartig schwindet. Also, Odette würde ich natürlich überall und immerzu helfen, da würde mich nichts schrecken – aber Karamell? Für den soll ich in einen dunklen, stinkenden Müllcontainer klettern? Maunz, so hatte ich mir das nicht vorgestellt!

»Hm, wo steckt denn Spike?«, versuche ich, Odette auf das Naheliegende zu bringen. Soll der seinem Kumpel doch helfen!

»Keine Ahnung. Nicht da. Vielleicht mit seinem Frauchen beim Tierarzt.«

»Ach so. Na, der kommt bestimmt bald wieder. Also, ich … äh …« Ich zögere, weil ich überlege, wie ich Odette klarmachen kann, dass ich keine Lust habe, mich für Karamell in die Mülltonne zu stürzen.

»Sag mal, das heißt doch jetzt nicht etwa, dass ich auf Spike warten soll? Weil du uns nicht helfen willst?« Odette klingt unheimlich enttäuscht.

»Äh … nein … ich dachte nur … äh …«

»Winston, Karamell braucht JETZT Hilfe, nicht irgendwann. Und Spike wäre sowieso zu dick – der passt da gar nicht rein! Los, lass uns gemeinsam in den Container springen und versuchen, die Obstkiste irgendwie von Karamell wegzurücken.«

Ich gucke zwischen Odette und dem Container hin und her, immer noch unentschlossen.

»WINSTON!« Odette schnaubt empört. »Hier ist ein Kollege in Not! Hör doch mal hin – Karamell schnauft schon richtig jämmerlich! Ich weiß, ihr versteht euch nicht besonders. Aber wenn ein anderer in Schwierigkeiten steckt, muss man ihm helfen. Nicht, weil man ihn mag. Sondern, weil es einfach das Richtige ist! Verstanden?«

Ich seufze. Vorsichtshalber nur innerlich, denn ich will nicht noch mehr Ärger mit Odette. Okay, also ab in die Mülltonne! Ich habe den ersten Schritt Richtung Container gemacht, da kommt mir eine bessere Idee.

»Pass auf, Odette, jetzt hab ich’s! Kira und ihre Freundin Pauli sind in der Wohnung. Die haben mich gerade rausgelassen, weil ich so ein Theater veranstaltet habe, als ich dich gehört habe. Wahrscheinlich fragen sie sich sowieso, wo ich so dringend hinwollte. Ich sprinte also rasch nach oben und lotse die beiden hier herunter. Für die ist es doch nur ein Griff, dann haben sie Karamell befreit. Er müsste bloß ein bisschen Lärm machen, wenn die beiden vor dem Unterstand stehen, okay? Also, du erklärst ihm das, ich hole die Damen.«

Odette guckt erst skeptisch, aber dann steht sie auf. »Gut, vielleicht hast du wirklich recht und wir brauchen menschliche Hilfe. Ich klettere zu Karamell und erklär’s ihm. Dann bleibe ich auch gleich bei ihm, ich glaube, er braucht jetzt eine freundliche Seele an seiner Seite.«

»Genau. Mach das. Ich bin unterwegs!«

Schnell laufe ich zum Hofausgang, um wieder ins Haus zu gelangen. Hoffentlich kämpft Klaus-Dieter im Eingang noch mit seinem Fahrrad!

Nein – er tut es leider nicht. Die Haustür ist zu, nur die Einkaufstüten vom Zahnarzt stehen noch davor. Von Kira und Pauli ist weit und breit nichts zu sehen. Mist! Wie komme ich denn jetzt wieder ins Haus? Ich beschließe, mich erst mal auf die Fußmatte zu legen. Bestimmt dauert es nicht lang und Klaus-Dieter taucht wieder auf, um seine Tüten zu holen. Gut, Karamell ist wirklich in einer misslichen Lage, aber so viel Zeit muss nun einfach sein.

Es dauert ungefähr zwei Sekunden, dann erkenne ich, dass so viel Zeit definitiv nicht mehr ist. Ich erkenne es an einem riesigen Auto, das in diesem Moment in die Hofeinfahrt unseres Nachbarhauses fährt. Das ist doch das … MÜLLAUTO!!! Oh nein! Und wenn die Müllabfuhr beim Nachbarhaus fertig ist, dann fährt sie bestimmt in unseren Innenhof und leert dort die Container! Mitsamt dem armen Karamell und … ODETTE!

Der Schreck fährt mir so heftig in die Glieder, dass ich sofort aufspringe und um ein Haar mit den gesammelten Einkäufen von Klaus-Dieter die Eingangsstufen hinunterpurzele. Ich rase weiter Richtung Innenhof, zum Unterstand und dann: springe ich tatsächlich in den Müllcontainer. Sofort umgibt mich ein ekelerregender Gestank – aber wenigstens lande ich weich auf einer Art Kissen.

»Aua!« Gut, kein Kissen, sondern Odette. »Was machst du denn da? Und wo bleibt Kira? Ich glaube, Karamell ist schon ohnmächtig geworden.«

»Odette, wir haben keine Zeit mehr! Gleich kommt die Müllabfuhr und kippt diesen Container mit allem, was drin ist, in das Müllauto. Ich habe es schon oft genug von meinem Fenster aus beobachtet – glaub mir, da wollen wir nicht rein!«

»Aber was machen wir mit Karamell? Er hängt immer noch kopfüber neben der Obstkiste und ich kriege ihn nicht da raus!«

»Warte, ich schau mal.« Ich zwänge mich an Odette vorbei und tauche tiefer in den Container. Irgendwo unter mir höre ich Karamell stöhnen. Es ist stockdunkel hier drin, aber als ich genauer hinsehe, meine ich, die Umrisse von Karamells Hinterteil zu erkennen. Er ist tatsächlich eingeklemmt zwischen einer Kiste und der Containerwand, garniert mit etwas, das wie ein alter Salat oder ein welker Blumenstrauß aussieht. Und auch so stinkt. Igitt!

Ich robbe zu ihm vor und rüttle ihn. Keine Reaktion. Heilige Ölsardine! Das gibt’s doch gar nicht! Wach auf! Wieder Rütteln, wieder nichts. Ich stemme mich gegen die Kiste, aber sie bewegt sich keinen Millimeter. Mist, Mist, Mist!

»Und? Kriegst du ihn raus?«, ruft Odette schräg über mir.

»Nee, keine Chance! Wie ist er da überhaupt reingeraten? Ich meine, wer kommt auf die bekloppte Idee, kopfüber in eine Mülltonne zu springen?«

»Er wollte an ein Mettbrötchen, das irgendjemand in den Container geworfen hatte. Es roch so lecker.«

»Es roch so lecker? Ich wundere mich, wie er das bei dem ganzen Gestank hier überhaupt erschnuppert hat. Aber egal, wir müssen uns jetzt dringend etwas einfallen lassen, bevor …«

In diesem Moment gibt es einen gewaltigen Rums und die Tonne bewegt sich. Odette und ich werden mitsamt dem unappetitlichen Inhalt durcheinandergeschüttelt.

»Odette, das sind die Müllmänner! Spring sofort hier raus!«

»Aber was wird mit Karamell?«

»Um den kümmere ich mich. Raus mit dir!«

Sie zögert.

»Odette, du kannst mir hier nicht helfen, also behindere mich auch nicht. Raus!« Okay, das ist zwar kompletter Schwachsinn, denn woran sollte sie mich schon hindern, aber der Gedanke, dass sie auch gleich im Müllwagen landen könnte, ist unerträglich für mich. Dann lieber den Helden mimen und zusammen mit Karamell untergehen. Odettes Hinterpfoten, die ich eben noch an meiner Seite gespürt habe, verschwinden.

»Hey, was machst du denn da drin?« Ich höre eine überraschte Männerstimme. Der Müllmann. »Du hast vielleicht Nerven! Noch zwei Minuten, und du wärst in der Müllpresse gelandet! Los, weg mit dir!«

MAUNZ! Müllpresse? Das klingt gar nicht gut! Überhaupt nicht gut! Ich merke, wie ich panisch werde. Cool bleiben, Winston, versuche ich, mich selbst zu beruhigen, du musst das Richtige tun! Ich nehme noch einmal Anlauf, tauche wieder zu Karamell und rüttle an der Obstkiste, so fest ich kann. Keine Chance! So wird es nichts werden. Ich habe einfach nicht genug Kraft in meinen Vorderläufen. Wenn ich jetzt Arme wie ein Müllmann hätte, ja dann …

Moment mal! Das ist es! Arme wie ein Müllmann! Ich wühle mich aus dem Müll heraus und klettere zum Rand der Mülltonne. Kaum sehe ich wieder Tageslicht, befinde ich mich auch schon Auge in Auge mit dem Menschen, der versucht, den Container aus dem Unterstand zu wuchten.

»Guck mal, Gerd«, ruft er, »hier ist noch eine Katze! Wahnsinn, was machen die denn alle im Müll?« Er will nach mir greifen, aber ich ducke mich weg und fauche laut. »Hey, Miezekatze, komm da raus oder willst du als gepresstes Wollknäuel auf der Müllkippe landen?« Er fasst hinterher, erwischt mich im Nacken, aber ich bekomme den oberen Rand der Obstkiste zu fassen und kralle mich dort fest. Ha! So leicht kriegt der mich da nicht mehr runter! Auf meine Krallen ist eindeutig Verlass, damit habe ich auf der Flucht vor Werners nichtsnutzigen kleinen Nichten und Neffen ganze Vorhänge von der Wand geholt!

»Nun sieh dir das an, Gerd – der Kollege hier will wohl unbedingt in die Müllpresse! Ich kriege ihn nicht aus der Tonne!«

»Hm«, ertönt eine zweite, sehr dunkle Stimme, »vielleicht ist da noch irgendwas anderes in der Tonne. Muss doch ’nen Grund geben, dass die Katze da nicht wegwill.«

Sehr gut, der Mann! Hundert Punkte! Mit einer möglichst auffälligen Mischung aus Maunzen, Schnurren und Fauchen versuche ich, ihm begreiflich zu machen, dass er auf der richtigen Spur ist. Ich hüpfe wieder tiefer in den Container. Los, folgt mir! Grabt doch mal da, wo ich jetzt grabe!

Tatsächlich gucken nun zwei Müllmänner neugierig in den Container. Ich drücke mich neben die Obstkiste und versuche, Karamells Schwanz nach oben zu holen, damit die beiden ihn sehen können. Zwar muss ich dafür den ollen Salatkopf mit der Schnauze zur Seite schieben – aber egal! Das kann Super-Winston nicht davon abhalten, einen Kater in Not zu retten!

»Guck mal, Murat – da ist tatsächlich noch etwas. Eine andere Katze. Ich kann den Schwanz sehen.« Ich mache ein bisschen Platz, damit Gerd und Murat Karamell besser erkennen können. Vorsichtig drückt Gerd die Obstkiste zur Seite und greift nach Karamell. »Oh, der steckt hier irgendwie fest. Zieh mal die Kiste da raus.« Ein Griff, ein Ruck, dann ist die Kiste aus der Tonne. Toll, was Menschen mit ihren Armen und Händen so alles machen können! Das hat mir auch gut gefallen, als Kira und ich die Körper getauscht hatten. Ich schnurre laut und vernehmlich.

»Donnerwetter, ich glaube, der schwarze Kollege hier wollte den anderen retten.« Murat kratzt sich am Hinterkopf. »Wie mutig von ihm! Hätte ja auch schiefgehen können. Da siehst du mal, was es unter Tieren für enge Freundschaften gibt.«

Gerd nickt andächtig. »Ja, wirklich toll.« Dann streichelt er mir über den Kopf. »Da haste deinem Freund aber echt geholfen. Den musste ja wirklich mögen!«

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