Schnitzeljagd.
»Odette! Komm schnell!«
Sekunden später steht sie neben mir. »Ist es das, was ich denke?«
»Ja. Riecht nach Weihnachtsbaum. Das muss ein neuer Erpresserbrief sein! Ist gerade erst eingeworfen worden. Schnell, lass uns die Menschen holen! Sie müssen uns die Tür aufmachen – vielleicht erwischen wir den Erpresser noch!«
Blitzschnell sause ich wieder ins Wohnzimmer, den Brief zwischen die Zähne geklemmt. Ich springe kurz entschlossen auf den Sofatisch, lande dabei einigermaßen elegant zwischen den Wassergläsern der Kinder und lasse den Brief genau auf die Mitte des kleinen Tisches fallen.
»Winston! Benimm dich gefälligst und komm runter da«, zischt Kira mich an.
»Hey«, ruft Pauli überrascht, »guckt doch mal, was er da mitgebracht hat! Einen Brief!«
Aufgeregt springt Tom auf. »Vielleicht ist das ein neues Erpresserschreiben!« Er will gerade danach greifen, da kommt ihm Emilias Mutter zuvor und fischt den Umschlag mit einem Papiertaschentuch zwischen den Fingern vom Tisch.
»Vorsicht! Falls die Nachricht wirklich vom Erpresser stammt, dürfen wir keine Spuren zerstören. Wartet mal, ich hole einen Brieföffner.«
Warten? Ganz schlechte Idee! Bis dahin ist der Entführer doch längst über alle Berge! Ich springe wieder vom Tisch und beginne, laut zu fauchen und zu maunzen. Dann renne ich wieder zur Wohnzimmertür und fauche weiter.
»Winston will, dass wir ihm folgen!«, ruft Kira und läuft hinter mir her. Auch die anderen stehen auf und kommen zu mir. Ich sprinte weiter in den Flur, setze mich vor die Haustür und beginne, an ihr zu kratzen. Odette tut es mir gleich. Jetzt müssen die Menschen doch begreifen, dass sie die Tür öffnen sollen.
Tun sie auch! Kira greift zur Klinke und drückt sie runter. Kaum steht die Tür nur einen Spalt offen, renne ich los. Auf den Stufen vor dem Haus riecht es tatsächlich auch noch ein bisschen nach Tannenbaum, aber es ist schon merklich schwieriger, hier so etwas wie eine Fährte auszumachen. Langsam bekomme ich ein bisschen Respekt vor der Fähigkeit von Hunden, einem Geruch zu folgen. Ist gar nicht so einfach, vor allem, wenn noch viele andere Gerüche durch die Luft wirbeln. Wie sagt Werner immer: ›Irgendwas kann jeder.‹ Und das können Hunde echt gut! Auch wenn sie natürlich nicht so schlau sind wie wir Katzen.
Ich setze mich auf die unterste Stufe und schaue mich um. Niemand zu sehen. Logisch. War auch nicht zu erwarten, dass der Verbrecher hier so lange rumsteht, bis wir ihn finden.
Odette setzt sich neben mich. »Mist, den haben wir wohl verpasst, was?«
Ich maunze zustimmend. »Ja, sieht so aus.« Ich lasse den Kopf hängen.
»Ach, davon lassen wir uns doch nicht abschrecken. Komm – ich geh links die Straße runter, du rechts. Vielleicht haben wir doch noch Glück und finden noch eine Spur.«
»Stimmt, gute Idee. Auf geht’s!«
Bevor ich losrenne, kommt Kira zu mir. »Hey, Winston! Sag bloß, du hast eine Ahnung, wo der geheimnisvolle Brief herkommt. Oder gar, wo der Verbrecher steckt! Dann wärst du aber echt Super-Winston.«
Also zum einen bin ich Super-Winston – und zum anderen habe ich jetzt leider keine Zeit für ein Pläuschchen mit Kira. Finster entschlossen starte ich meine Suche und lasse Kira einfach stehen. Nach ein paar Metern mache ich einen glücklichen Zufallsfund: ein zerknülltes, benutztes Taschentuch. Okay, das ist an und für sich noch nicht so toll, aber: Es riecht auch nach Tannenbaum! Ich drehe mich um – Odette ist noch in Rufweite. »Hey, komm hierher!«, rufe ich ihr zu. »Ich habe etwas gefunden!«
Kurz darauf steht Odette neben mir. »Was gibt’s?«
»Hier, das Taschentuch.«
»Benutzt! Wie eklig!« Sie schnuppert trotzdem. »Du hast recht! Tannenbaum. Das ist eine Spur! Der Entführer scheint Schnupfen zu haben. Vielleicht haben wir Glück und er lässt noch ein paar Taschentücher fallen!«
Wir laufen weiter und stolpern tatsächlich bald über das nächste Taschentuch. Und wieder ein Hauch von Tannenbaum. Das ist ja die reinste Schnitzeljagd hier! Ich schaue mich um. In einiger Entfernung stehen zwei Menschen am Straßenrand und unterhalten sich. Dann hebt der eine von ihnen die Hand und: putzt sich die Nase! Sofort sausen wir auf die beiden zu, aber als ich etwas näher komme, sehe ich, dass es sich bei den beiden Menschen um Kinder handelt. Na, das werden ja kaum unsere Verbrecher sein!
Odette denkt das Gleiche wie ich. »Schade. Kinder. Wollen wir trotzdem noch näher ran?«
Ich überlege kurz. Weil mich in diesem Moment meine Schwanzspitze kitzelt, beschließe ich, genauer hinzusehen. Kann ja nicht schaden und eine andere Spur haben wir sowieso nicht.
Langsam schleiche ich mich an die beiden Kinder heran. Ein Junge und ein Mädchen, ein bisschen kleiner als Kira und ihre Freunde.
»Oh, guck mal, zwei Katzen!«, freut sich das Mädchen, beugt sich zu mir und streichelt mich. Sofort sticht mir der Geruch von Tannenbaum in die Nase. Die Hand des Mädchens riecht genau so wie der Briefumschlag. Also doch!
»Schnell, Odette! Hol Kira hierher! Dieses Mädchen hat irgendetwas mit dem Brief zu tun! Ich versuche, die beiden aufzuhalten.«
Odette sagt nichts, sondern rennt los.
»Komm, Lotti, wir müssen nach Hause, es wird schon dunkel«, sagt der Junge. Oh nein, wartet wenigstens noch zwei Minuten! Ich bemühe mich, möglichst niedlich zu sein. Vielleicht kann ich das Mädchen bewegen, noch ein bisschen zu bleiben.
Geschmeidig reibe ich mich an ihren Beinen und maunze so lieblich, wie ich nur kann. Das Mädchen kichert und streichelt mich weiter. Als ihre Hand meinen Kopf streift, beginne ich, ihr die Finger abzuschlecken. Sie kichert noch mehr.
»Aber guck mal, Finn, die Katze mag mich. Ich hätte auch sooo gern eine Katze. Ich spare schon dafür!«
»Na, dann kannste die fünf Euro ja gleich in dein Sparschwein stecken«, erwidert der Junge.
»Mach ich auch! Wirst schon sehen – bald habe ich eine eigene Katze. Mit der spiele ich dann den ganzen Tag und nachts darf sie in meinem Bett schlafen.« Sie lächelt mich verzückt an. Wenn ich könnte, ich würde zurücklächeln. Es geht doch nichts über Menschen, die Katzenfreunde sind!
»Hey, Lotti – es ist schon total spät, lass uns los. Wir kriegen sonst bestimmt Ärger!« Mist! Wo bleiben denn meine eigenen Katzenfreunde? Gelingt es Odette etwa nicht, ihnen zu verklickern, dass sie hier dringend gebraucht werden? Das wäre aber richtig ätzend, denn mein Gefühl sagt mir, dass wir kurz davor sind, in Sachen Entführung einen entscheidenden Schritt weiterzukommen. Vorausgesetzt natürlich, Kira erwischt die Kinder noch, bevor sie nach Hause gehen.
Vielleicht muss ich meine Taktik ändern: Ich drehe mich von Lotti zu Finn und kuschele mich an seine Beine. Dann noch ordentlich geschnurrt, ein kurzer Blick nach oben: Wirkt es schon?
Es wirkt! Nun lächelt auch Finn und streckt die Hand zu mir aus. »Also, süß ist so ’ne Katze schon. Wenn du deine hast, darf ich dann auch mal mit ihr spielen?«
Lotti nickt. »Klar«, sagt sie gönnerhaft. »Wenn du mir dann mal dein Kickboard leihst!«
»Mach ich.« Er streicht mir noch einmal über den Kopf und richtet sich dann wieder auf. »Wollen wir dann?«
»Okay. Tschüss, Katze«, verabschiedet sich das Mädchen von mir. Als ich noch überlege, was ich noch tun könnte, um sie am Gehen zu hindern, taucht endlich, ENDLICH, Odette wieder auf, dicht gefolgt von Kira.
»Hallo, ihr beiden – ich muss euch mal etwas fragen.«
Lotti und Finn drehen sich zu Kira um und gucken neugierig.
»Was denn?«, will Finn wissen.
»Habt ihr zufälligerweise jemanden gesehen, der gerade einen Brief bei dem Haus da drüben eingeworfen hat?«
Die beiden Kinder sagen nichts, sondern betrachten sehr gründlich ihre Fußspitzen.
»Also, habt ihr nun oder habt ihr nicht?«, hakt Kira nach.
»Na ja, also, es war …«, beginnt Lotti, schweigt dann aber wieder und guckt Finn fragend an. Der holt kurz Luft.
»Ähem, also, na ja … hm.«
»Oh Mann, was denn jetzt? Ich will doch nur wissen, ob ihr gesehen habt, wie jemand dahinten etwas durch den Postschlitz gesteckt hat.«
Lotti seufzt. »Ich wusste doch, dass das irgendwie Ärger gibt«, sagt sie dann zu Finn. »Wir haben den Brief da eingesteckt.«
Kira schnappt nach Luft. »Was?! Ihr wart das?«
Lotti guckt sie mit großen Augen an. »Ist das jetzt schlimm? Was ist denn mit dem Brief?«
Darauf antwortet Kira nicht. Stattdessen packt sie Lotti bei den Schultern, sodass diese zusammenzuckt.
»Woher habt ihr den Brief?«
»Den hat uns jemand gegeben. Eine Frau«, antwortet Lotti ängstlich.
»Eine Frau?« Kira klingt genauso erstaunt, wie ich es gerade bin. Ich weiß gar nicht warum – aber ich war mir ziemlich sicher, dass der Entführer ein Mann sein muss. Vielleicht, weil ich Frauen solche bösen Sachen gar nicht zugetraut hätte? Da sieht man mal, wie falsch man liegen kann!
»Ja, eine Frau«, bestätigt Finn. »Ziemlich groß war die.«
»Die Haare waren lang und blond. Und eine riesige Sonnenbrille hat sie getragen, ich konnte ihr Gesicht gar nicht richtig sehen. Sie hat gesagt, wenn wir den Brief einstecken, bekommen wir beide fünf Euro.«
Der Junge kramt in seinen Hosentaschen und befördert einen arg zerknitterten Geldschein zutage.
»Hier. Da ist das Geld – kannst uns ruhig glauben, mehr wissen wir darüber nicht.«
Ich hangle mich an Finns Beinen hoch und schnuppere an dem Schein. Auch hier wieder: Volltreffer! Eine Wolke von Tannenbaum umgibt die Banknote. Ich fauche laut.
Der Junge zuckt zurück. »Hey, was hat die Katze denn auf einmal? Die war doch eben ganz lieb!«
»Erstens: Winston ist ein Kater. Zweitens: Der ist immer noch ganz lieb. Allerdings stört ihn irgendetwas an dem Geldschein. Wahrscheinlich«, Kira überlegt kurz, »ja, wahrscheinlich merkt Winston, dass ihr das Geld von einem Verbrecher bekommen habt.«
»Von einem Verbrecher?«, rufen Lotti und Finn wie aus einem Mund.
Kira nickt. »Ja. Von einem Verbrecher. Ist ja nicht eure Schuld, aber so wie es aussieht, habt ihr einen Erpresserbrief transportiert.«
Die Kinder sagen nichts mehr, sondern starren Kira nur noch ängstlich an. Dann knufft Finn Lotti in die Seite.
»Komm, lass uns abhauen!«
»Stopp!«, ruft Kira. »So geht das nicht – ihr seid wichtige Zeugen. Ich brauche eure Namen und Telefonnummern, falls ich noch eine Frage habe. Außerdem möchte ich, dass ihr mir noch einmal ganz genau erzählt, wie das mit der Frau war. Jedes Detail ist wichtig!«
Heilige Ölsardine! Kira klingt so bestimmt und professionell, dass man glauben könnte, sie sei selbst Polizistin. Ich bin schwer beeindruckt und sehe aus den Augenwinkeln, dass es Odette genauso geht: Sie starrt Kira völlig fasziniert an. Finn und Lotti scheinen noch etwas unschlüssig, aber dann nickt Lotti.
»Okay, du hast recht. Wenn es nicht so lange dauert, kommen wir mit und erzählen es dir noch mal in Ruhe. Aber wenn wir in einer halben Stunde nicht zu Hause sind, kriegen wir echt Ärger!«
Kira seufzt. »Ich weiß genau, was du meinst. Fürchte, ich habe gerade das gleiche Problem. Wenn meine Mama und Oma gleich nach Hause kommen und merken, dass ich nicht da bin, ist garantiert die Hölle los. Aber das kann ich jetzt nicht ändern – ich muss jetzt erst mal jemanden retten!«
Meine Kira! Wenn es darum geht, anderen zu helfen, ist ihr selbst Ärger mit Babuschka egal. Gerade in diesem Moment bin ich ziemlich stolz auf meine mutige, schlaue Freundin.
Die beiden Kinder trotten hinter Kira her. Wir sind noch nicht ganz beim Haus angelangt, da kommt uns Tom schon entgegen und winkt aufgeregt.
»Es ist tatsächlich wieder ein Brief vom Entführer! Er meint es ernst, Frau Stetten ist völlig fertig! Emilia ist in großer Gefahr!«