Ich betrete Bretter, die die Welt bedeuten.


»Hurra, die Englischarbeit ist geschafft!« Kira kommt nach Hause und wirft jubelnd ihre Schultasche in die Ecke. Dabei verfehlt sie mich nur ganz knapp – fauchend hechte ich zur Seite. Heilige Ölsardine! Da werde ich in meiner eigenen Wohnung mit Gegenständen beworfen, ist es denn zu fassen?

»Oh, sorry, Winston. War nicht so gemeint. Ich bin nur einfach sooo glücklich! Vor Englisch hatte ich richtig Bammel, aber es war gar nicht so wild. Und deswegen bin ich jetzt echt gut drauf.« Sie bückt sich, nimmt mich auf den Arm und trägt mich zum Sofa. »Ich meine, du weißt ja selbst, wie ätzend Schule sein kann.« Sie legt sich auf ein sonniges Fleckchen und mich netterweise gleich daneben. Okay, die Sache mit der Schultasche ist vergessen!

»Aber nächste Woche fängt etwas richtig Cooles an, auf das ich mich schon riesig freue!« Sie senkt die Stimme geheimnisvoll, als würde sie darauf warten, dass ich errate, was das wohl sein könnte. Aber das wird natürlich nicht passieren, denn obwohl ich gezwungenermaßen einige Zeit in Kiras Körper und somit auch in ihrer Klasse verbracht habe, bin ich noch lange kein Experte in Sachen Schule. »Wir haben eine Projektwoche zum Thema Darstellendes Spiel! Eine ganze Woche – total super! Und es kommt sogar ein Dramaturg von einem richtigen Theater und hilft uns. Das ist krass, oder?«

Aha. Das sagt mir gar nichts. Darstellendes Spiel – was mag das sein? Werner spielt gern Schach, Anna Klavier und Werners Mutter, der das Klavier vorher gehörte, spielt gern Bridge. Mit keiner dieser Tätigkeiten haben sie sich allerdings bisher wochenlang aufgehalten, vielleicht meint Kira also etwas anderes. Immerhin macht ja auch ein Dramaturg mit, wer oder was auch immer das ist. Ich schaue Kira ratlos an, sie grinst.

»Du weißt nicht, wovon ich rede, richtig? Also, Darstellendes Spiel bedeutet Theater spielen! Und der Dramaturg ist ein Fachmann, der uns bei der Erarbeitung des Theaterstücks hilft. Hat uns unsere Lehrerin heute so erklärt.«

Mensch, Kira – als ob diese Erklärung die Sache für mich klarer machen würde! Für mich ist Theater lediglich eine Veranstaltung, bei der ich selbst noch nie dabei war und die ich nur daran bemerke, dass sich Werner abends in Schale schmeißt, weggeht und erst relativ spät wieder nach Hause kommt. Ich gähne demonstrativ, Kira rollt mit den Augen.

»Was ist denn bloß mit meinem schlauen Winston los? Du weißt immer noch nicht, was ich meine, oder? Also – Theater spielen heißt, dass Menschen eine Geschichte spielen. Die Menschen tun dann so, als ob sie jemand anderes wären, und spielen etwas vor, was in Wirklichkeit überhaupt nicht passiert, verstanden?«

Heißt das, Theater ist so was wie Fernsehen? Werner hat mir mal erklärt, dass die Dinge, die dort zum Beispiel in einer Sendung namens Tatort vonstattengehen, gar nicht wirklich passieren, sondern von Menschen, die man Schauspieler nennt, nur vorgetäuscht werden. Na gut, Werner hat es eigentlich nicht mir erklärt, sondern einem seiner kleinen Neffen, auf den er aufpassen sollte. Mit dem haben wir dann Fernsehen geguckt, dort wurde jemand erschossen, der Neffe fing an zu heulen und dann hat es Werner ihm erklärt, dass die alle nur so tun, als ob. So hat er es genannt. Damit der Kleine endlich aufhört zu weinen. Und ich habe zugehört und war erstaunt, auf was für Ideen Menschen so kommen. So tun, als ob – wozu soll das denn gut sein? Aber ich schweife ab. Kira wird also die gesamte nächste Woche so tun, als ob. Und darauf freut sie sich. Seltsam, seltsam … aber so sind sie halt, die Menschen. Als Kater weiß man nicht immer, woran man bei ihnen ist.

»Und weißt du, was das Tollste ist?«

Ich lege den Kopf schief, rücke ein bisschen von Kira ab und mustere sie gründlich von der Seite.

»Also genau genommen gibt es gleich zwei tolle Sachen. Erstens: Das Theaterstück ist ein Musical – es wird also gesungen. Und zweitens: Du darfst mitkommen! Wir führen nämlich Der Gestiefelte Kater auf und ich habe unsere Musiklehrerin und den Dramaturgen überzeugt, dass eine echte Katze auf der Bühne der Knaller wäre. Der Dramaturg fand es sogar experimentell

Experimentell? Soll mich das beruhigen? Ich finde zwar, das klingt eher gefährlich nach Tierversuch, aber Kira ist so begeistert, dass sie munter weiterplappert.

»Die Direktorin hat es auch schon abgesegnet – ausnahmsweise! Also darfst du zwischen den Kulissen herumlaufen, um der ganzen Sache die richtige Atmosphäre zu verpassen. Toll, oder?« Jetzt strahlen Kiras Augen richtig.

Für mich sind das allerdings zwei schlechte Nachrichten auf einmal. Was ist für empfindliche Katerohren nämlich schlimmer als redende Menschen? Richtig: singende Menschen. Der menschliche Musikgeschmack ist mir ein Graus. Meistens klingt das, was Menschen für Musik halten, für mich einfach nur zum Davonlaufen! Die Kombination aus »Musik« und »Du darfst mitkommen« klingt also nur schrecklich! Ich dachte immer, Katzen in der Schule seien verboten – immerhin hat Kira nach meinem ersten und letzten Ausflug in die Schule richtig Ärger bekommen. Seitdem war ich nur noch in Menschengestalt da – und ich habe es bisher wirklich nicht vermisst. Ich will da nicht wieder hin! Weil ich leider nicht jaulen kann wie ein Hund, beschränke ich mich auf möglichst jämmerliches Maunzen.

Kira hat allerdings beschlossen, dies zu ignorieren. Stattdessen krault sie mich im Nacken und flüstert in mein Ohr: »Morgen werden schon die Rollen und Aufgaben verteilt, damit wir Montag richtig loslegen können. Bevor ich also morgen früh abschwirre, wecke ich dich und nehme dich mit. Frau Heinson, unsere Musiklehrerin, hat gesagt, sie will erst mal gucken und dann zusammen mit Herrn Fernandez, dem Dramaturgen, entscheiden, ob meine Idee wirklich etwas taugt. Also, wenn du dich gut anstellst, darfst du richtig mitmachen.«

Korrigiere – es sind nicht zwei, sondern drei schlechte Nachrichten: Musik. Mitmachen. Früh aufstehen. Uaaahhhgrrrrr! ICH! WILL!! NICHT!!!

Herr Fernandez ist ein kleiner Mann mit einer großen Hornbrille und einem sehr freundlichen Lächeln. Außerdem ist er von oben bis unten schwarz angezogen, was ich spontan sehr sympathisch finde – schließlich bin ich selbst von Kopf bis Fuß schwarz. Jetzt bückt er sich zu mir, bleibt vor mir knien und mustert mich genau.

»Du bist wirklich ein ganz hübscher Kerl. Mal sehen, was wir so mit dir anfangen können.«

Ich beginne zu schnurren. Ein bisschen Reklame für mich kann bestimmt nicht schaden. Während ich heute Morgen nämlich noch der unglücklichste Kater der Welt – na gut: der unglücklichste Kater der Hochallee war, finde ich die Theateridee mittlerweile doch gar nicht mehr so schlecht. Immerhin ist es eine gute Gelegenheit, meine Freunde Tom und Pauli mal wieder in freier Wildbahn zu sehen.

»Hey, Tiere sind hier aber nicht erlaubt!« Ein anderer Mann steckt den Kopf durch die Tür zur Aula, kommt dann ein paar Schritte auf uns zu und deutet mit dem Zeigefinger auf mich.

Frau Heinson blickt ihn erstaunt an. »Darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Albert Schmidt vom Hausmeisterservice. Ich vertrete in den nächsten Wochen den Schulhausmeister. Herr Lüttge hat’s im Kreuz und ist krankgeschrieben.« Er schaut unfreundlich und zeigt wieder auf mich. »Wie gesagt, Tiere sind hier nicht erlaubt.«

Frau Heinson reicht ihm die Hand. »Heinson mein Name, ich bin die Musiklehrerin. Die Katze ist mit der Direktorin Frau Rosenblatt abgestimmt. Sie ist Teil der Inszenierung.«

Schmidt zuckt mit den Schultern. »Na gut. Hauptsache, das Viech pinkelt hier nirgendwohin. Dann schmeiß ich es raus.« Er dreht sich um und geht. Einen Moment lang liegt ein Geruch in der Luft, der mich an irgendetwas erinnert. Was für ein ungehobelter Kerl! Als ob ich, Winston Churchill, einfach in eine Ecke machen würde! Ohne mein Katzenklo! Also wirklich, Frechheit! Aber offenbar darf ich nun wirklich bleiben und das ist doch die Hauptsache.

Obwohl ich heute Morgen fast noch um diesen Ausflug herumgekommen wäre: Anna wollte mich erst nicht aus der Wohnung lassen. Sie fand, ich hätte für diese Woche schon genug Freigang gehabt. Was ich nicht ganz nachvollziehen kann: Immerhin weiß sie doch jetzt, dass ich mich nicht zum Spaß im Müll gewälzt habe. Der Tierarzt, zu dem sie Karamell noch geschleppt hat, hat sogar gesagt, dass Karamell in der warmen Mülltonne irgendwann am Hitzschlag eingegangen wäre und dass die Rettung keine Minute zu früh kam. Ich bin also ein Held, kein Stinktier!

Zum Glück konnte Kira ihre Mutter aber davon überzeugen, dass ich eine wichtige Requisite für die Theaterwoche sei, was auch immer das sein mag. Und deswegen sitze ich nun hier, auf der Bühne der Aula. Bretter, die die Welt bedeuten, hat Frau Heinson das Podest gerade genannt. Ich verstehe nicht ganz, was sie damit meint. Quatsch: Ich verstehe überhaupt nicht, was sie damit meint. Für mich sehen die Bretter, aus denen die Bühne besteht, nämlich nach völlig normalem Holz aus. Gewissermaßen bedeutungslos. Aber weil ich hier nur der Kater bin, lege ich mich einfach auf die Seite und höre zu, was Herr Fernandez den Kindern erklärt.

»Ihr wart ja bestimmt alle schon mal im Theater. Also habt ihr auch einen Teil der Menschen, die man für ein Theaterstück braucht, schon gesehen. Wen nämlich?« Er schaut in die Runde der Kinder, die sich brav vor der Bühne aufgestellt haben. Ein Mädchen hebt die Hand.

»Die Schauspieler?«

Fernandez nickt und lächelt. »Genau. Das war einfach, oder? Es gehören aber noch mehr Menschen dazu, wenn ein Theaterstück auf die Bühne kommt. Kennt ihr noch welche?«

Wieder heben ein paar Kinder die Hand. Diesmal nickt Fernandez der doofen Leonie zu.

»Ganz entscheidend ist auch der Regisseur«, erklärt sie mit wichtiger Miene.

»Richtig!«, lobt der Dramaturg sie. »Weiß denn hier jeder, was ein Regisseur ist?«, erkundigt er sich dann. Ich weiß es nicht, kann es aber natürlich nicht sagen. Das ist allerdings auch gar nicht nötig, denn bevor jemand von den anderen reagieren kann, plappert Leonie schon drauflos: »Der Regisseur ist der Chef im Theater. Die Schauspieler müssen machen, was er sagt! Er ist also eigentlich die wichtigste Person bei einem Theaterstück. Ein total interessanter Job. Ich könnte mir gut vorstellen, das später mal zu machen.«

Aha. War ja klar, dass Leonie sich mit Jobs auskennt, bei denen man andere Leute herumkommandieren kann. Das passt wie die Faust aufs Auge!

Frau Heinson mischt sich ein. »Ganz so ist es nicht, Leonie. Ein Theaterstück zu produzieren, ist immer Teamarbeit. Der Regisseur ist zwar tatsächlich der Spielleiter, der mit den Schauspielern das Stück erarbeitet – aber ohne sein Team kommt er auch nicht weit. Neben den Schauspielern gibt es da noch den Techniker, der sich um das Licht oder die Musik kümmert, die Kostümbildnerin, den Bühnenbildner, die Souffleuse und, und, und … Den Dramaturgen habt ihr mit Herrn Fernandez ja schon kennengelernt – noch ein wichtiger Beruf am Theater.«

»Tja, und weil so viele Leute bei einem Theaterstück mitmachen, kann auch jeder von euch bei diesem Projekt einen Job übernehmen. Dann ist es auch wirklich euer eigenes Stück«, erklärt der Dramaturg.

Sofort schießt Leonies Arm wieder nach oben. »Ich will Regisseurin sein!«

»Du möchtest, Leonie«, korrigiert Frau Heinson sie sanft.

»Okay, ich möchte Regisseurin werden«, schiebt Leonie schnell hinterher.

Frau Heinson blickt in die Runde ihrer Schülerinnen und Schüler. »Gibt es noch andere Interessenten?«

Schweigen. Kein Wunder. Die meisten hier haben vor der fiesen Leonie ein bisschen Angst. Das weiß ich von meinem kurzen Gastspiel als Schüler der 7c nur zu gut. »Okay, Leonie. Dann hast du den Job.«

»Dann kommen wir mal zu den einzelnen Rollen«, fährt der Dramaturg fort. »Da wäre natürlich als Erstes der Gestiefelte Kater. Wer von euch denkt, dass er sich gut in eine Katze hineinversetzen kann? Und dabei noch gut singt? Schließlich hat der Kater so einige Solo-Stücke zu bewältigen. Viel Text hat er auch. Also, wer traut sich das zu?«

Kira und Emilia melden sich gleichzeitig. Bei Kira wundert mich das überhaupt nicht – schließlich ist sie für die Rolle perfekt geeignet. Sie kann sich nicht nur in eine Katze hineinversetzen, sie war schon mal eine! Von Emilia bin ich allerdings überrascht. Sich in jemanden hineinversetzen, bedeutet doch wohl auch, ab und zu mal über andere nachzudenken. Ich glaube nicht, dass Emilia das schon mal gemacht hat. Sie ist genau so eine Ziege wie Leonie und der Rest ihrer Clique. Ich kann ein Lied davon singen! Wenn ich nur daran denke, was für eine linke Nummer diese Mädchen mit mir abgezogen haben, als ich noch Kira war … Ein T-Shirt sollte ich klauen, als angebliche Mutprobe. In Wirklichkeit wollten sie aber nur, dass ich richtig Ärger bekomme, und haben deshalb sogar den Kaufhausdetektiv auf mich aufmerksam gemacht. MAUNZ, bei meinen Schnurrhaaren – wer solche Schweinereien begeht, kann einfach kein edles Geschöpf wie eine Katze darstellen!

»Noch mehr Bewerber?«, will Fernandez wissen. Nein. Niemand meldet sich mehr. Warum auch – mit Kira haben wir schon die ideale Besetzung gefunden. Wahrscheinlich haben das alle bis auf Emilia einfach gleich gemerkt. »Wenn es mehrere Bewerber für eine Rolle gibt, dann lässt der Regisseur sie normalerweise vorsprechen, um dann zu entscheiden. Nun seid ihr natürlich keine Schauspieler, die uns schon eine Rolle darstellen könnten. Deshalb stelle ich euch eine Frage: Warum denkt ihr, dass ihr ein guter Gestiefelter Kater wärt?« Er nickt Kira freundlich zu.

»Also, ich singe schon sehr lange im Chor und spiele Klavier. Ich glaube also, dass ich musikalisch bin.« Ehrlich? Kira kann auch auf diesem Klavierdings spielen? Das wusste ich nicht. An unseren Flügel hat sie sich noch nicht gesetzt – worüber ich recht froh bin. Wie ich schon erwähnte, haben Menschen und Kater sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, was schöne Musik ist. »Außerdem habe ich selbst einen Kater«, fährt Kira fort, »ich denke deswegen, dass ich schon viel über diese Figur weiß.«

Fernandez und Heinson nicken einträchtig. Kira scheint sie überzeugt zu haben.

Emilia räuspert sich. »Ich finde, ich bin eine tolle Schauspielerin. Ich habe zwar keine Katze. Aber das ist egal – ich will ja schließlich keine Katze werden, sondern sie nur spielen. Im Chor bin ich auch, ich bekomme außerdem sogar privat Gesangsunterricht. Klavierunterricht selbstverständlich auch. Ich glaube, es ist klar, wer hier die Bessere von uns beiden ist. Die Rolle ist einfach perfekt für mich.«

Frau Heinson schüttelt unwillkürlich den Kopf und ich sehe, dass Tom und Pauli mit den Augen rollen. Sie scheinen dasselbe zu denken wie ich. Was für eine unsympathische Vorstellung. Ist doch wohl völlig klar, wer diese Rolle verdient!

Aber zu meiner großen Überraschung zeigt Herr Fernandez nun auf Leonie. »Wir haben die beiden Bewerberinnen gehört. Nun ist es an der Regisseurin zu entscheiden. Wie im richtigen Leben.«

WAS? Das ist doch nicht sein Ernst! DIE darf das entscheiden?

Leonie grinst von einem Ohr zum anderen. »Emilia bekommt die Rolle.«

Fernandez wiegt den Kopf hin und her. »Gut. So soll es sein. Glückwunsch, Emilia.«

Ich fasse es nicht. Das ist ja wohl eindeutig ein Griff ins Katzenklo! Ganz klar: Das hier sind nicht die Bretter, die die Welt bedeuten. Es sind die Bretter, die gewisse Leute vor dem Kopf spazieren tragen!

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