Der Gestiefelte Kater.


Kurz vor der Premiere ist die Stimmung so angespannt, dass man auf meinen Schnurrhaaren fast Geige spielen könnte. Miau! Ich fühle mich furchtbar – ob es das ist, was Herr Fernandez mit Lampenfieber gemeint hat?

Emilia kommt hinter den Vorhang gehuscht. »Hey, ich wollte euch allen noch einmal sagen: Toi, toi, toi und Hals- und Beinbruch!«

Hals und Beinbruch? Das ist aber nicht sehr freundlich! Ich maunze auf.

Kira lacht. »Nee, Winston, das sagt man am Theater so. Wenn man einfach ›Viel Glück!‹ sagt, bringt das angeblich sogar Unglück.«

Ach so! Na, woher soll man das als Kater auch wissen?

»So isses!«, sagt Emilia. »Aber ihr werdet das schon hinkriegen. Bis später!«

»Emilia!«, ruft Kira ihr noch nach, bevor diese wieder auf die andere Seite des Vorhangs verschwindet.

»Ja?«

»Ist es wirklich okay für dich?«

»Was denn?«

»Na, dass ich deine Rolle spiele.«

Emilia lacht. »Völlig okay, Kira! Ich bin froh, dass es mir wieder ganz gut geht. Theaterspielen wäre mir trotzdem noch zu anstrengend. Aber sieh dich vor: Die nächste Hauptrolle schnappe ich dir unter Garantie wieder weg!«

Die beiden Mädchen lachen, dann ist Emilia weg. Ich versuche, mich zu entspannen. Ob Odette, Spike und Karamell auch so nervös sind wie ich gerade? Immerhin bilden sie nun mit mir ein Katzenrudel, das während der nächsten anderthalb Stunden auf der Bühne den Gestiefelten Kater begleiten wird. Herr Fernandez fand nämlich die Idee, mehr als eine echte Katze auftreten zu lassen, ziemlich genial. Und so haben die vier Musketiere ihren nächsten Einsatz.

Da! Die Musik setzt ein. Die Show beginnt …

Als sich der Vorhang das letzte Mal senkt, geht ein ohrenbetäubender Lärm los. Ich luge durch den kleinen Spalt, der sich zwischen Stoff und Bühne gebildet hat: Die Leute springen tatsächlich von ihren Sitzen auf, um zu applaudieren. »Bravo«-Rufe werden laut, die Mitschülerinnen und Mitschüler stampfen vor Begeisterung mit den Füßen. Mir wird heiß und kalt – vor Erleichterung. Und vor Freude! Denn bei aller Bescheidenheit: Wir waren toll! Allen voran Kira, die den Auftritt ihres Lebens hingelegt hat.

Meine menschlichen Schauspielerkollegen fassen sich an den Händen und treten vor den Vorhang. Wir Katzen laufen auch nach vorn und setzen uns an den Bühnenrand. Karamells Schwanz zuckt verdächtig.

»Mann, ist das laut hier!«, beschwert er sich.

»Stell dich nicht an, sondern genieß es!«, schimpft Odette mit ihm.

»Mach ich doch!« Wenn Karamell grinsen könnte, er würde es tun.

Als sich das Publikum etwas beruhigt hat, kommen Frau Heinson und Herr Fernandez auf die Bühne. Sie verbeugen sich ebenfalls, dann lässt sich Frau Heinson ein Mikrofon geben.

»Liebe Theaterfreunde, liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Eltern und Großeltern! Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass wir eben einen ganz großartigen Musicalabend erleben durften.«

Wieder Applaus. Frau Heinson wartet kurz.

»Das gesamte Ensemble hat tolle Arbeit geleistet. Ich danke allen dafür und ich danke insbesondere Herrn Fernandez, der als Dramaturg des Schauspielhauses ein echter Profi ist und die letzten Wochen sehr hart mit uns gearbeitet hat. Vielen Dank, Herr Fernandez!«

Applaus, Applaus.

»Erst schien diese Aufführung unter keinem so guten Stern zu stehen – es gab im Vorfeld einige unvorhergesehene Probleme. Dass dann aber alles noch so gut geklappt hat, liegt unter anderem auch an einer Person, die ich lobend erwähnen möchte: Anna Kovalenko hat sich spontan bereit erklärt, die musikalische Leitung zu übernehmen, nachdem uns unser bisheriger Leiter überraschend abhandengekommen ist. Frau Kovalenko, kommen Sie bitte kurz zu mir auf die Bühne?«

Ein Tuscheln geht durch das Publikum – natürlich weiß jeder hier im Saal, was es mit dieser Geschichte auf sich hat. Anna ist mittlerweile von ihrem Klavier aufgestanden und hat die Bühne betreten. Als sie schließlich neben Frau Heinson steht, überreicht ihr diese einen Blumenstrauß.

»Vielen Dank, Frau Kovalenko! Sie waren unsere Rettung. Liebes Publikum«, fährt sie fort, »nur zur Erklärung: Frau Kovalenko ist die Mutter unseres Gestiefelten Katers Kira. Sie ist studierte Pianistin aus Omsk und ich verrate nicht zu viel, wenn ich sage, dass ich Frau Kovalenko in Zukunft hoffentlich noch für einige andere Projekte gewinnen kann.«

Moment mal! Was heißt denn hier andere Projekte? Das bedeutet doch hoffentlich nicht, dass wir schon wieder eine neue Haushälterin brauchen, oder? Meine Schwanzspitze fängt an zu jucken, und zwar kräftig! Leider kann ich mich diesem Symptom nicht mit der nötigen Hingabe widmen, denn nun applaudiert das Publikum noch einmal wie verrückt und fordert eine Zugabe. Der Rest meiner Bedenken geht in einem letzten Lied unter, aber ein leichtes Unwohlsein bleibt.

Eine gute Stunde und etliche Portionen Pelmeni später hat es sich dann aber doch in Wohlgefallen aufgelöst, mein Unwohlsein. Zur Feier des Tages hat Babuschka nämlich einen Riesentopf Pelmeni gekocht, mit einer Extraportion für alle Katzen! Und so hängen wir mit unseren Mäulern über den Näpfen und lassen es uns schmecken, bis einfach nichts mehr in unsere Katzenbäuche hineinpasst. Köstlich! Und ich muss sagen, dass Babuschkas Pelmeni tatsächlich noch ein kleines bisschen besser schmecken als die von Anna.

Vollgefressen schleppe ich mich ins Esszimmer zu meinen Menschen. Auch dort herrscht gefräßiges Schweigen.

Schließlich legt Werner seine Gabel beiseite und hebt sein Glas. »Ihr Lieben, ich muss jetzt einfach noch einmal auf die Köchin trinken! Frau Kovalenko, das schmeckt einfach großartig! Wie gut, dass ich es nicht verpasst habe, das wäre ja eine Katastrophe gewesen.«

Die Erwachsenen prosten sich zu und auch Kira hebt kichernd ihr Glas mit Cola. »Okay, also auf die Köchin, liebe Oma«, sie macht eine kleine Pause, »UND natürlich auf meine liebe Mama! Mama, ich bin total stolz auf dich – und ich freue mich, dass du Frau Heinson in Zukunft auch bei anderen Sachen hilfst!«

Alle trinken und stellen die Gläser wieder ab.

Werner räuspert sich. »Apropos helfen: Muss ich mir jetzt Sorgen machen? Anna, ich hoffe, Sie gehen mir nicht genauso plötzlich verloren, wie ich Sie gefunden habe! Das wäre schrecklich!«

Aha! Werner macht sich also die gleichen Sorgen wie ich!

Aber Anna lacht nur. »Nein, nein! Ein bisschen Unterstützung für die Schule leiste ich gern, aber ich werde Sie nicht im Stich lassen. Versprochen.«

Maunz! Da fällt mir aber ein Stein vom Katerherzen.

»Oh, ich habe übrigens auch gehabt gute Idee zum Thema Hilfe«, meldet sich nun Babuschka zu Wort. Gespannt blicken Werner, Anna und Kira sie an. »Habe ich in Vergangenheit festgestellt, dass ihr kommt nicht gut klar ohne meine Hilfe. Deshalb ich habe gute Nachricht für euch: Ich habe entschlossen, erst mal in Hamburg zu bleiben.« Dann lächelt Babuschka gütig.

Kira springt auf und fällt ihr um den Hals. »Oh, klasse, Babuschka! Das ist ja toll!« Es ist wirklich schön zu sehen, wie nahe sich Babuschka und Kira durch unser Abenteuer gekommen sind. Hätte man mir das am Tag von Babuschkas Anreise erzählt, ich hätte es niemals für möglich gehalten.

Anna und Werner gucken hingegen, als hätte sie der Schlag getroffen. Sie scheinen nicht ganz so begeistert zu sein. Im Gegensatz zu mir – ich finde die Idee super! Jemand wie Babuschka hat hier eindeutig gefehlt, das habe auch ich mittlerweile eingesehen.

Anna atmet tief durch. »Äh, Mamuschka, wie nett von dir. Aber hast du dir das wirklich gut überlegt?«

Babuschka nickt.

»Da. Sährrr gutt! Und wenn du bist in Schule, ich helfe Professor. So einfach ist das.«

Werner hüstelt, dann hebt er sein Glas. »Tja, dann sage ich mal: Auf gute Zusammenarbeit.«

Mittlerweile ist auch Odette mit dem Fressen fertig und im Esszimmer angekommen. »Na, hier alles in Ordnung?«, will sie von mir wissen.

»Klar, warum nicht?«

»Na, die großen Menschen gucken so komisch, finde ich. Zumindest Anna und Werner.«

»Och nee. Die haben nur gerade festgestellt, dass sie in Zukunft bestimmt noch weitere Abenteuer zusammen erleben werden. Darauf freuen sie sich.«

Odette schnurrt. »Ach so. Verstehe. Und soll ich dir mal was sagen? Mir geht es genauso.«

»Hä? Du freust dich auf weitere Abenteuer mit Professor Hagedorn?«

»Pah, Quatschkopf! Ich freue mich auf weitere Abenteuer mit dir, Winston Churchill!«

Und schon wieder juckt meine Schwanzspitze. Aber diesmal fühlt es sich ziemlich gut an.

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