Manchmal wird aus einem kleinen Geheimnis plötzlich ein riesengroßes.


Wenn man nicht durch die große Eingangstür hineinspazieren kann, ist es gar nicht so einfach, in die Villa hineinzukommen. Vor allem nicht, wenn man wie Spike deutliches Übergewicht hat und schon lange nicht mehr hinter Mäusen herjagen muss, weil man ständig heimlich von Anna und Kira gefüttert wird. Karamell, Odette und ich sitzen schon auf der efeuüberrankten Mauer, die den Garten des Hauses umgibt, und feuern Spike an, aber der stellt sich so dämlich an, dass wir wahrscheinlich einen Kran bräuchten, um ihn zu uns hochzuhieven.

»Mensch, Spike, es ist doch ganz leicht: Klettere auf den Baum und dann spring den letzten Meter!« Ich versuche, möglichst viel Zuversicht in meine Stimme zu legen, aber das ist nicht einfach, schließlich ist Spike schon bei seinem letzten Anlauf gescheitert und außerdem gerade von zwei Eichhörnchen überholt worden, die mittlerweile in sicherer Entfernung sitzen und sich schlapplachen. Verdammt. So wird das nichts!

»Ich weiß auch nicht, Winston – früher hatte ich mit so etwas überhaupt keine Probleme. Aber heute …« Spike klingt niedergeschlagen und ich überlege, ob es nicht besser wäre, die ganze Aktion abzublasen. Es war sowieso eine blöde Idee und so wahnsinnig aufregend ist das Geheimnis, das sich hinter diesen Mauern verbirgt, nun auch wieder nicht. Wen interessiert schon ernsthaft, ob Emilia wirklich krank ist oder nur die Schule schwänzt? Aber um genau das herauszufinden, habe ich Spike, Odette und Karamell zum Haus von Emilia geschleift.

»Okay, dann lass uns die Geschichte hier vergessen und alle wieder nach Hause gehen«, schlage ich deshalb kurzerhand vor.

»Das ist die erste gute Idee, die ich heute von dir höre.«

Gut, dieser Kommentar von Karamell ist wenig überraschend. Aber was sagt Odette dazu? Ihre Meinung ist mir ehrlich gesagt am wichtigsten.

Sie scheint kurz nachzudenken, dann legt sie den Kopf schief. »Nein. Wir können doch nicht beim ersten kleinen Problem aufgeben. Wenn Spike die Mauer nicht hochkommt, dann muss er eben warten, bis wir wieder da sind. Ist vielleicht sowieso ganz gut, wenn einer draußen aufpasst. Falls uns drinnen etwas passiert, kann Spike Hilfe holen.«

»Falls uns drinnen etwas passiert?«, echot Karamell nervös.

Okay, ein falsches Wort jetzt und es bleiben genau noch zwei Abenteurer übrig: Winston und Odette. Wobei – eigentlich ein ganz schöner Gedanke!

»Na ja«, sage ich deshalb, »man weiß ja nie! Vielleicht haben die einen Hund oder eine Alarmanlage oder was weiß ich. Ohne Gefahr wär’s ja kein Abenteuer, sondern ein Ausflug.«

Karamell schluckt trocken. »Äh, meint ihr nicht, es wäre besser, wenn ich auch hierbliebe? Auf der Mauer? Also, wenn da drinnen etwas passiert, dann könnt ihr mir hier ein Zeichen geben und ich gebe wiederum Spike ein Zeichen. Und er holt Hilfe.«

Hihi! Dem habe ich anscheinend tatsächlich Angst eingejagt! »Klar, ist bestimmt eine gute Idee, wenn du hier wartest«, sage ich möglichst ernst, obwohl ich am liebsten kichern würde. Ich meine – alles, was wir vorhaben, ist, in ein stinknormales Haus zu schlüpfen und zu überprüfen, ob ein Kind dort eher im Bett liegt oder fröhlich herumhüpft. Gut, ich habe es meinen Mitmuskeltieren natürlich etwas spannender verkauft, damit sie überhaupt mitkommen. Tatsächlich habe ich ihnen etwas von »Kind in Gefahr« erzählt und dass ich glaube, dass Emilia etwas Schlimmes zugestoßen ist, was niemand wissen darf.

Odette schlägt mit dem Schwanz hin und her. »Wirklich, Karamell, nun sei nicht so ein Angsthase!«

»Ich hab keine Angst. Ich finde nur, ich sollte euch lieber Rückendeckung geben. Genau wie Winston sagt.«

»Wie du meinst. Dann bleib eben hier auf der Mauer. Ich stürze mich jetzt ins Abenteuer. Komm, Winston!« Mit einem äußerst eleganten Satz springt Odette in den Garten. Ohne zu zögern, folge ich ihr. Was für ein toller Tag – gemeinsam mit Odette einem Geheimnis auf der Spur!

Im Garten brauchen wir nicht lange nach einer Möglichkeit zu suchen, ins Haus zu gelangen: Die Terrassentür steht offen. Vorsichtig schleichen wir uns an – was völlig überflüssig ist, denn außer uns beiden ist niemand da.

»Kennst du dich im Inneren des Hauses aus?«, will Odette von mir wissen.

»Nee, ich war nur mit Kira und ihren Freunden in der Eingangshalle. Dort wurden wir ja gleich abgewimmelt. Von einer Frau, die behauptete, Emilias Mutter zu sein. Sie sagte, Emilia sei krank. Aber ich bin mir sicher, dass das gelogen war.«

»Also müssen wir das Kinderzimmer suchen. Wenn das Kind dort im Bett liegt, verziehen wir uns schnell wieder. Wenn es nicht dort ist, suchen wir weiter, richtig?«

»Genau.«

»Und wenn wir sie gar nicht finden?«

»Dann überlegen wir weiter. Ich finde, bei einem Abenteuer muss man vorher nicht für alle Möglichkeiten einen Plan haben. Sonst wird es langweilig.«

»Hm.« Odette klingt skeptisch. »Ich glaube, die drei Muskeltiere waren auf ihre Mission ziemlich gut vorbereitet. Ich weiß nicht, ob die einfach so in ein Haus marschiert wären.«

»Also erstens waren die keine Katzen. Die mussten sich natürlich viel mehr Gedanken machen, damit sie nicht sofort entdeckt werden.«

»Aha. Und zweitens?«

»Wieso zweitens?«

»Na, du hast doch gerade erstens gesagt.«

Stimmt. Was war noch mal zweitens? »Äh, zweitens, äh … und zweitens wird schon alles gut gehen.« Das ist natürlich kein tolles Argument, aber ich bin sowieso davon überzeugt, dass wir gleich über eine putzmuntere Emilia stolpern werden, die einfach keine Lust hatte, zur Schule zu gehen.

»Dann los. Meinst du wirklich, die haben einen Hund?«

»Glaube ich nicht. Ich wollte Karamell gestern nur ein bisschen ärgern.«

Langsam stromern wir von der Terrasse ins Haus und landen in einem gläsernen Zimmer. Miau, so etwas habe ich noch nie gesehen: Der Raum besteht nur aus Fenstern.

»Wow! Ein Wintergarten!« Odette scheint sofort zu wissen, worum es sich bei diesem Zimmer handelt. Das wundert mich nicht. Ich bin mir sicher, dass Odette von sehr edler Herkunft ist. Bestimmt hat sie auch einmal in solch einer Villa gewohnt. Ich verkneife mir die Frage, was denn ein Wintergarten ist, schließlich bin ich ein Professorenkater und will nicht zugeben, dass ich keine Ahnung habe.

»Wo könnte denn das Kinderzimmer sein, Odette? Kennst du dich in Häusern mit Kindern aus?«

»Ein bisschen. Ich habe zwar selbst noch nie in einem gelebt, aber mal eins besucht. Da waren die Kinderzimmer die Treppe hoch. In diesem Haus muss auch eine Treppe sein, so groß wie das ist.«

Wir schleichen also vom Wintergarten aus weiter. Der nächste Raum ist eindeutig: ein sehr großes Sofa, zwei große Ledersessel und ein Couchtisch – das Wohnzimmer. Und hier wird es auch schon gefährlich, denn sowohl auf dem Sofa als auch auf den Sesseln sitzen Menschen. Hoffentlich fliegen wir nicht gleich auf!

Odette und ich drücken uns ganz fest an die Wand und ducken uns so tief, dass wir eher kriechen als laufen. Ich merke, wie mein Herz anfängt zu rasen. Gleich sind wir auf Höhe der Menschen – wenn die sich jetzt umdrehen, sind wir geliefert!

Aber die Menschen sind so in ihr Gespräch vertieft, dass sie uns nicht bemerken. Vorsichtig riskiere ich einen Blick auf sie: Sofort erkenne ich Emilias Mutter. Sie weint. Neben ihr sitzt ein Mann, den ich noch nie gesehen habe, und hat den Arm um sie gelegt. Außerdem sind da noch zwei fremde Männer, die in den Sesseln sitzen und eindringlich auf das Paar einreden. Eine sehr seltsame Zusammensetzung! Jetzt hebt die Frau den Kopf und guckt sich um, als hätte sie ein Geräusch gehört. Schnell laufe ich hinter Odette her, die schon fast im Flur ist. Hoffentlich hat mich Emilias Mutter nicht gesehen!

Nein: Ich habe Glück und bleibe unerkannt. Schwer atmend setze ich mich auf die Fußmatte an der Eingangstür.

»Hey, Winston! Hast du geträumt?«, schimpft Odette. »Das war ganz schön knapp! Lass uns mal überlegen, wie wir hier am besten wieder rauskommen. Noch einmal durch das Wohnzimmer ist bestimmt keine gute Idee.«

In diesem Moment klingelt es an der Haustür. Mist! Hier stehen wir rum wie auf dem Präsentierteller!

»Schnell, komm!« Odette huscht zu der Nische, in der die Statue steht, und kauert sich dahinter auf den Boden. Mit einem Satz bin ich neben ihr. Mein Herz klopft so laut, dass ich das Gefühl habe, jeder im Raum müsste es hören.

Einer der Männer, die eben auf dem Sessel saßen, kommt in den Flur und öffnet die Tür. Dort steht: die Polizei! Mir wird abwechselnd heiß und kalt! Möglicherweise verwandelt sich der kleine Ausflug doch noch in ein echtes Abenteuer.

Der Mann reicht den Polizisten freundlich die Hand. »Grüß euch, Kollegen! Es gibt tatsächlich wieder ein neues Erpresserschreiben. Das könnt ihr gleich mit ins Präsidium nehmen.«

»Was sagen die Eltern?«, will einer der Polizisten wissen.

»Das Schreiben steckte vorhin im Briefkasten. Sonst haben sie nichts bemerkt.«

Erpresser? Schreiben? Präsidium? Ich versteh nur Bahnhof. Meine Krimikenntnisse aus langen Fernsehabenden mit Werner Hagedorn helfen mir jedenfalls gerade nicht weiter. Ich stupse Odette an. »Hast du eine Ahnung, wovon die reden?«

»Nee. Aber gut klingt das nicht. Ein Erpresser ist jedenfalls ein echter Verbrecher. Der droht Leuten, damit sie ihm Geld geben. Vielleicht kriegen wir mehr raus, wenn wir weiter lauschen. Komm, wir schleichen zurück ins Wohnzimmer.«

»Meinst du? Ich glaube, es ist besser, wenn wir Land gewinnen.« Mein Heldenmut ist auf einmal wie weggewischt.

Der von Odette leider nicht: »Winston, du klingst schon wie Karamell! Ich dachte, wir sind auf der Suche nach einem Abenteuer! Jetzt finden wir endlich eins und du machst dir gleich ins Hemd!« Dieser Vorwurf ärgert mich, aber er ist natürlich nicht ganz unberechtigt. »Du kannst ja wieder durch den Garten abhauen und dich zu den anderen Schissern setzen. Dann könnt ihr mir schön zu dritt Rückendeckung geben.« Autsch! Das hat gesessen!

»Auf keinen Fall lasse ich dich hier allein. Wenn du wissen willst, was hier vor sich geht, bleibe ich natürlich bei dir.«

Gemeinsam schleichen wir ins Wohnzimmer zurück und verstecken uns hinter einer Stehlampe. Der Mann geht mit den beiden Polizisten zum Sofa und hebt ein Blatt Papier vom Tisch auf. Dann liest er es laut vor:

»Was ist Euch Euer Töchterlein wert? Ich erhöhe den Preis: 2 Millionen Euro Lösegeld. Und keine Polizei. Das war meine Bedingung – aber Ihr habt Euch nicht daran gehalten. Ich habe die Bullen gesehen. Schluss damit! Sonst seht Ihr Emilia nicht wieder. Das ist kein Spiel. Drei Ausrufezeichen.« Er gibt das Blatt weiter. »Hm, hier meint es jemand ernst.«

Die Frau schluchzt laut auf, die anderen Männer schweigen. Heilige Ölsardine, wo bin ich da bloß reingeraten? Ich wollte doch nur Odette ein bisschen beeindrucken und Zeit mit ihr verbringen! Wenn ich gewusst hätte, dass hier ein echtes Verbrechen stattgefunden hat, hätte ich mich ferngehalten!

Odette stupst mich in die Seite. »Coole Sache, Winston! Du hattest genau den richtigen Riecher! Emilia ist wirklich nicht krank, sie ist entführt worden. Wie gut, dass du die Idee hattest, noch mal hierherzukommen. Jetzt können wir helfen, Emilia zu retten. Ich bin stolz auf dich!«

Grundgütiges Katzenklo, wie komme ich aus der Nummer bloß wieder raus? Und schon fängt meine Schwanzspitze an zu jucken …

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