Auffällig unauffällig.
»Und denkt daran«, schwört uns Kira ein, als wir am Schrottplatz ankommen, »das Wichtigste ist, dass wir total unauffällig sind.«
Das kann wohl nur ein Scherz sein. Wir sind: drei Kinder, von denen eines ein Punkermädchen mit wild toupierten Haaren ist. Eine ältere Dame, die glitzert wie ein Weihnachtsbaum und die noch dazu eine dramatische Hochsteckfrisur auf dem Kopf spazieren trägt. Sowie vier Katzen. Eine weiße, eine schwarze UND eine fette getigerte und eine struppige braune. Spike und Karamell haben nämlich in letzter Minute beschlossen, sich unserem Kommando anzuschließen. Mit anderen Worten – mir fällt momentan nichts ein, was auch nur annähernd so auffällig ist wie unser bunt zusammengewürfelter Haufen. Noch dazu auf einem Schrottplatz – nicht gerade der natürliche Lebensraum von Kindern, Katzen und Großmüttern.
Apropos Großmütter: Erstaunlicherweise ist Babuschka nicht sofort in Ohnmacht gefallen, als ihr Kira von der Entführung erzählt hat. Ich glaube, Oma Hagedorn hätte mindestens fünf Gläschen Eierlikör gebraucht, um ihr Bewusstsein wiederzuerlangen und diese Nachricht zu verdauen. Babuschka hingegen hat nur die Augenbrauen hochgezogen und gesagt: »Gutt, mache ich Pelmeni lieber später, helfe ich euch jetzt, Verbrecher zu fangen!«
Wobei mich schon allein der Gedanke ans Verbrecherfangen innerlich zum Schlottern bringt. Heilige Ölsardine – hoffentlich fliegen wir nicht sofort auf! Wenn der Entführer merken sollte, dass wir ihm auf der Spur sind … oje, ich mag gar nicht daran denken, was dann passieren könnte! Da kräuseln sich gleich alle meine Schnurrhaare!
»Hey, alles in Ordnung, Winston?« Odette hat offenbar gemerkt, dass ich noch nicht hundertprozentig von unserem Schlachtplan überzeugt bin. Der sieht vor, dass wir zu acht über den Schrottplatz spazieren, alle verfügbaren Augen und Ohren aufsperren und danach eine Auswertung unserer Beobachtungen machen. Ist irgendjemandem etwas Verdächtiges aufgefallen, schauen wir noch einmal genauer hin. So weit, so gut – wenn wir nicht selbst so verdammt auffällig wären!
»Klar, alles paletti! Ich mache mir nur gerade Gedanken, was passiert, wenn der Entführer uns bemerkt, bevor wir ihn bemerken. Unser Vorteil gegenüber der Polizei war schließlich, dass wir viel unauffälliger suchen können – aber das galt, bevor wir so eine Riesentruppe waren. Zumal Babuschka nicht gerade unscheinbar ist.«
»Jetzt mach dir mal nicht so viele Sorgen, Winston! Klar, Babuschkas Kleidungsgeschmack ist tatsächlich eher ungewöhnlich und natürlich sind Kinder nie so leise, wie sie als Agenten eigentlich sein müssten. Aber sieh es doch mal so: Je mehr der Verbrecher durch unsere Menschen abgelenkt wird, desto ungestörter können wir Katzen uns auf dem gesamten Schrottplatz umsehen.«
Ich überlege kurz. »Okay, das klingt logisch. Die verrückte Babuschka ist eine perfekte Tarnung. Wenn jetzt noch Spike und Karamell mal ein bisschen mehr Einsatz zeigen als bisher, dann finden wir vielleicht tatsächlich eine heiße Spur. Das wäre dann mal der Erfolg, den wir brauchen, um uns weiter Die vier Muskeltiere nennen zu dürfen.«
Odette schnurrt. »Genau so ist es! Wegen der Muskeltiere hätte ich übrigens noch eine Anmerkung.«
»Ja?«
»Ähm, es ist nämlich so – die heißen in Wirklichkeit anders.«
»Weiß ich doch. Winston, Odette, Spike und Karamell sind natürlich keine Namen für echte Ritter oder Soldaten oder was auch immer die so genau waren.«
»Nein, ich meine doch nicht unsere Vornamen. Ich meine, dass die Muskeltiere in Wirklichkeit nicht Muskeltiere heißen.«
»Hä?« Vielleicht stehe ich auf dem Schlauch, aber ich habe keinen blassen Schimmer, was Odette mir gerade sagen will.
»Na ja, die heißen Musketiere, nicht Muskeltiere. Das Buch, aus dem du den Spruch hast – du weißt schon: Einer für alle und alle für einen –, also, das Buch heißt Die drei Musketiere. Weil ihre Waffe eine Muskete war, das ist eine Art Gewehr. Nicht wegen ihrer Muskeln. Im Grunde genommen ist es ja auch völlig wurscht, aber ich wollte es dir trotzdem mal sagen.«
Musketiere. Stimmt. So hießen die! Jetzt fällt es mir auch wieder ein. Ich fand das Wort schon komisch, als Werner zum ersten Mal aus dem Buch vorgelesen hat. Mir wird ein wenig warm im Pelz. Die Vorstellung, dass ich einen falschen Begriff benutzt habe und Odette das die ganze Zeit schon weiß, ist mir extrem unangenehm. Was für eine schlaue, gebildete Katze Odette doch ist! Und wie peinlich für mich!
»Aber warum hast du mir das denn nicht gleich gesagt?«, will ich von ihr wissen.
»Ich fand es nicht so wichtig. Und außerdem wollte ich dich nicht vor Spike und Karamell bloßstellen. Ich dachte, es ist irgendwie blöd für dich, wenn ich dich vor ihnen korrigiere.«
Stimmt. Das hätte ich tatsächlich blöd gefunden. Ganz schön nett von Odette! »Danke, dass du dir so viele Gedanken gemacht hast.«
»Kein Problem. Hab ich gern gemacht. Ich … äh … kann dich nämlich ganz gut leiden.«
MAUNZ! Jetzt wird mir tatsächlich sehr, sehr warm im Pelz – aber diesmal nicht, weil es mir unangenehm wäre. Ganz im Gegenteil! Odette sagt, dass sie mich mag: Mein Herz schlägt schneller und ich überlege, dass ich in diesem Moment mit Odette lieber ganz woanders wäre. Auf einer einsamen Insel zum Beispiel.
»Hey, ihr beiden!« Spike reißt mich aus meinen Gedanken. »Was sollen wir denn nun genau machen? Immer hinter dieser schrägen Oma herzutraben, scheint mir keine sonderlich gewiefte Taktik zu sein.«
Ich schüttle mich kurz. »Genau das haben Odette und ich auch gerade besprochen. Am besten wird es sein, wir halten Abstand zu den Menschen, während wir suchen. Dann stehen die Chancen, unentdeckt zu bleiben, ziemlich gut.«
»Guter Plan!«, lobt Spike.
Karamell kommt angeschlichen. »Ich finde, wir sollten bei unserer Suche aber lieber Zweierteams bilden. Nachher passiert uns doch etwas – dann kann wenigstens einer im Team Hilfe holen.«
Odette maunzt. »Also erstens: Angsthase! Zweitens: Trotzdem eine gute Idee. Team Nr. 1 sind Winston und ich.«
»Na, das ist ja mal eine Überraschung«, ätzt Spike. Soll er ruhig, mir egal. Hauptsache, ich bin mit Odette zusammen.
Während Karamell und Spike im vorderen Bereich des Schrottplatzes direkt an der Straße herumschleichen, stromern Odette und ich durch den hinteren Teil. Hier steht ein windschiefer Schuppen, neben dem jede Menge alte Reifen und verrostetes Zeugs lagern. Eine Tür hat der Schuppen auch, sie steht einen Spaltbreit auf.
»Guck mal, Winston – in dem Häuschen könnte man ein Kind sicher gut verstecken. Lass uns dort reinschauen.«
Bei dem Gedanken ist mir nicht ganz wohl. In einem geschlossenen Raum können wir dem Verbrecher kaum entkommen, falls er uns entdeckt. Vor Odette will ich aber auf keinen Fall als Angsthase Nr. 2 dastehen. Ich überlege kurz.
»Wir sollten zuerst gucken, wo Babuschka gerade herumläuft. Wenn sie weit genug weg ist, können wir davon ausgehen, dass der Entführer nicht in unserer Nähe ist. Dann schauen wir in den Schuppen.«
Odette seufzt. »Na gut. Wahrscheinlich hast du recht. Komm, lass uns auf das Dach klettern, von da oben haben wir bestimmt einen guten Überblick.«
Tatsächlich. Vom Schuppendach aus kann man den gesamten Schrottplatz gut sehen. Nicht weit vom Schuppen entfernt steht der Kran, von dem im Brief des Entführers die Rede war. Er ist ziemlich groß und hat einen Greifarm, der mich entfernt an eine Spinne erinnert. Vor dem Kran stapelt sich ein riesiger Haufen Schrott. Bestimmt waren das vor nicht allzu langer Zeit noch Autos. Jedenfalls blitzen an einigen Stellen noch Lack und Chrom durch. Allerdings kenne ich mich mit Autos nicht besonders gut aus. Werner hat kein Auto, er fährt immer Fahrrad. Er sagt, wenn alle Menschen auf der Welt Auto fahren würden, würde die Erde bald in Abgasen ersticken. Da macht er nicht mit!
Neben dem Autoschrott gibt es noch viele andere Haufen, deren Herkunft sich aber nicht auf Anhieb bestimmen lässt. Dahinter liegt ein größeres Feld, auf dem lauter unverschrottete Autos parken. Und zwischen diesen Autoreihen entdecke ich Babuschkas Hochsteckfrisur. Sie ragt über die Autodächer hinaus, wunderbar zu erkennen. Gut. Sollte der Entführer wirklich gerade auf dem Platz sein, kann er Babuschka beim besten Willen nicht übersehen.
»Ich glaube, die Luft ist rein«, sage ich deshalb zu Odette und springe wieder vom Schuppendach herunter. Sie folgt mir und kurz darauf strecken wir unsere Nasen durch den Türspalt des Schuppens. Es ist dort ziemlich dunkel, aber das ist für Katzenaugen bekanntlich überhaupt kein Problem. Wir schleichen in den kleinen Raum und gucken uns genauer um. Ein Regal, ein Schreibtisch mit einem Stuhl, an der Wand hängt ein Kalender – insgesamt ist der Schuppen ziemlich spärlich möbliert. Als Odette an dem Regal entlangläuft, bleibt sie auf einmal wie angewurzelt stehen.
»Winston! Komm schnell!«
Ich laufe zu ihr. »Was ist denn?«
»Riech mal!«
Ich schnuppere. Tatsächlich: Weihnachtsbaum!
»Heiliges Katzenklo! Das ist ja der Geruch, den wir suchen!«
»Nicht wahr? Irgendetwas in diesem Regal riecht danach. Die Frage ist bloß: Was?«
»Das sehen wir uns genauer an. Komm hoch!«
Odette und ich hüpfen auf das erste Regalbrett. Es ist ziemlich tief, sodass zwei Katzen von unserer Größe bequem darauf Platz finden. Direkt neben uns steht ein großer Karton und ich bilde mir ein, dass auch dieser nach Weihnachtsbaum riecht.
Odette hat den gleichen Eindruck. »Also, ich glaube, es ist irgendetwas in dieser Kiste.« Sie setzt sich auf die Hinterbeine und steckt den Kopf in den Karton. »Aha, hier ist es! Sieht aus wie …«
Ehe sie sagen kann, was sie sieht, schwingt die Schuppentür auf und ein Mann steht in dem kleinen Raum. Vor Schreck falle ich fast von dem Regalbrett und kann mich gerade noch am Holz festkrallen. Odette allerdings bekommt erst gar nicht mit, dass gerade der Katastrophenfall eingetreten ist.
»Hey, ihr beiden! Was macht ihr in meinem Büro!«, ruft der Mann und ist mit einem einzigen Schritt am Regal. Ich hüpfe vom Brett und springe unter den Schreibtisch. Odette zieht ihren Kopf aus dem Karton und maunzt ängstlich.
»Sucht ihr was zu fressen oder warum schnüffelt ihr hier herum?« Die Stimme von dem Kerl kommt mir bekannt vor. Irgendwo habe ich die schon mal gehört. Leider sehe ich von meinem Versteck unter der Tischplatte nur seine Schuhe.
Odette maunzt weiter, die Schuhe bewegen sich auf sie zu. Oje, was plant der Kerl?
»So, Miezekatze, du verschwindest jetzt hier. Ich kann es nämlich nicht leiden, wenn man seine Nase in meine Sachen steckt. Hau ab!« Ich kann es zwar nicht sehen, aber ich glaube, dass der Mann versucht, Odette aus dem Regal zu ziehen. Er macht einen weiteren Schritt nach vorn. Dann ein Schrei! Tja, niemand fasst Odette einfach an – schätze mal, sie hat dem Typen einen schönen Kratzer verpasst. Jedenfalls springen die Füße zurück und der Mann jault auf.
»AUA, du blödes Biest! Was fällt dir ein?« Er schüttelt sich, dann springt er wieder nach vorn zum Regal. »Gleich habe ich dich, du dummes Vieh!«
Mit einem Mal stellen sich mir sämtliche Nackenhaare auf: Genau diesen Moment habe ich doch schon einmal erlebt! Ich war genau hier und ein Mann hat Odette gejagt. Wie kann das sein? Das ist doch nicht möglich!
Odette springt vom Regal und hechtet in die andere Ecke des Raumes. Als ich sie dort kauern sehe, fällt es mir sofort wieder ein: Ich habe das nicht erlebt, ich habe es geträumt! Mein Traum von vor einigen Tagen – er scheint gerade wahr zu werden! Ich weiß also, was ich zu tun habe. Ich habe meinen Einsatz als Winston Churchill, Kater ohne Fehl und Tadel! Es ist genau wie im Traum: Ich springe auf seine Schulter, rieche den Gestank von Zigaretten und Weihnachtsbaum und fahre dem Verbrecher mit meinen Krallen über die Wange.
»Aaaah! Was ist das?« Sofort zieht er seinen Arm von Odette zurück und versucht stattdessen, nach mir zu schlagen. Aber er erwischt mich nicht, ich bin einfach zu geschickt. Odette, die schönste weiße Katze von allen, springt aus ihrer Ecke hervor.
»Lauf, Odette, lauf weg!«, rufe ich ihr zu. »Ich werde ihn so lange ablenken!«
»Nein, Winston, ohne dich werde ich nicht gehen!«
»Doch, es ist besser so! Lauf!«, rufe ich noch einmal, aber mein kleines Katzenherz macht einen freudigen Sprung, weil Odette bei mir bleiben will. Bevor mich der Kerl abschütteln kann, verpasse ich ihm noch einen Tatzenhieb. Er heult auf und schlägt wieder nach mir.
»Oh, Winston«, haucht Odette, »du bist so …«
Leider bin ich an dieser Stelle geweckt worden und weiß deshalb nicht mehr, wie es weitergeht. »… mutig«, höre ich Odette noch hauchen, was natürlich große Klasse ist, aber damit endet der schöne Teil der Veranstaltung dann leider auch schon. In der Wirklichkeit angekommen, packt mich der Kerl nun nämlich am Nacken und zieht mich hoch. MIAU! Das tut verdammt weh! So trägt man doch keine Katzen!
Dem Kerl ist das völlig schnuppe. Im Gegenteil: Jetzt schüttelt er mich auch noch. »So, mein Freundchen. Du hast Glück, wenn ich dich ins Tierheim bringe und dich nicht gleich in die Schrottpresse schmeiße! Und deine Kollegin hier«, er greift nach Odette und bekommt sie ebenfalls im Genick zu fassen, »die kommt gleich mit. Blöde Biester! Ich kann Katzen sowieso nicht leiden!«
Da hängen wir beide nun, Odette und ich, und sosehr wir auch strampeln, es nutzt uns nichts. Der Kerl hat einen Griff aus Stahl. Heilige Ölsardine, ich will nicht ins Tierheim!!!
Die Tür schwingt wieder auf und das Erste, was ich von meiner sehr unbequemen Lage aus sehen kann, ist ein gigantischer Berg aus aufgetürmten schwarzen Haaren. Babuschka! Ich war noch nie so froh, sie zu sehen!
»Hey, Sie! Was Sie machen mit mein liebe Katze? Wollen etwa stehlen? Geben Sie sofort her«, ruft sie mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldet, »sonst rufe ich Polizei!«
Völlig verdattert lässt der Kerl uns fallen. Ich lande unsanft, was mir aber egal ist. Hauptsache, ich bin den Schmerz im Nacken los. Auf dem Boden liegend, fällt mir endlich ein, woher ich den Grobian kenne: Es ist der Schulhausmeister. Besser gesagt: seine Krankheitsvertretung!