Die Suche beginnt!


»Winston, sind sie weg?« Vorsichtig steckt Kira ihren Kopf durch den Spalt ihrer Zimmertür und lugt auf den Flur. Ich maunze laut – das soll heißen: Ja, Werner, Anna und Babuschka haben die Wohnung eben verlassen. Kira versteht mich anscheinend, jedenfalls kommt sie sofort aus ihrem Zimmer und kniet sich neben mich. »Bist du bereit für ein Abenteuer, Dicker?«

Erstens: Dicker??? Zweitens: Natürlich!!!

»Tom hat eben angerufen«, erklärt sie mir dann. Ach, darum hat Kira laut geredet! Das war gar kein Selbstgespräch – sie hat mit Tom telefoniert. »Emilias Mutter hat sich bei ihm gemeldet. Sie hat sich für unseren Besuch heute bedankt und gesagt, dass sie sich freut, wenn wir ihr helfen. Aber heimlich. Emilias Vater und die Polizei dürfen nichts davon wissen. Und deswegen müssen wir jetzt schnell zum Haus der Stettens. Weil Herr Stetten heute Abend nämlich nicht da ist.«

Heilige Ölsardine! Und das, obwohl ich es mir eigentlich gerade auf dem Sofa bequem machen wollte! Ich seufze. Innerlich. Kira muss ja nicht wissen, dass meine Abenteuerlust für heute ziemlich aufgebraucht ist.

»Oder willst du gar nicht mitkommen, Agent Winston?« Mist. Sie hat’s trotzdem sofort gemerkt. So ein Agentenleben ist aber auch beschwerlich. Ich recke mich in die Höhe und miaue höchst energisch. Natürlich komme ich mit!

»Dann aber los! Das ist die perfekte Gelegenheit – bei diesem Italiener sind Mama und die anderen bestimmt zwei Stunden beschäftigt. Die werden niemals merken, dass wir gar nicht da sind.« Sie läuft zur Garderobe, greift sich ihre Jacke und öffnet die Wohnungstür. Ich folge ihr.

Als wir unten auf der Straße ankommen, fällt mir ein, dass ich Kira unbedingt noch in den Plan der vier Muskeltiere einweihen muss. Genau genommen muss ich ihr sogar erst mal erklären, dass es die vier Muskeltiere gibt. Auch wenn ich Spike und Karamell gegenüber das Maul ziemlich vollgenommen habe, was die Verständigung zwischen Kindern und Katzen anbelangt: So richtig einfach wird das wohl nicht werden. Packen wir’s an!

Ich laufe vor Kira her und biege in den Hof ab.

»Hey, Winston! Nicht in den Hof! Dafür haben wir keine Zeit, denn irgendwann kommen Mama, Werner und Babuschka wieder, und wenn wir dann nicht zu Hause sind, gibt es bestimmt RICHTIG Ärger. Komm jetzt!«

Hm, wie mache ich Kira bloß klar, dass wir Odette, Spike und Karamell auf alle Fälle mitnehmen müssen? Ich setze mich erst mal und miaue lautstark.

Kira kommt zu mir. »Winston! Wir müssen schnell zu Stettens! Pauli und Tom sind auch schon unterwegs, wir wollen die doch nicht warten lassen. Aber wenn du nicht willst, dann bleib hier. Ich sammle dich auf dem Rückweg wieder ein.«

MAUNZ! Wieder einmal wünsche ich mir, Kira könnte noch meine Gedanken lesen. Das war wesentlich praktischer. Jetzt muss es irgendwie anders gehen. So gut ich kann, versuche ich, mich auf den Hinterbeinen sitzend aufzurichten und mit meiner Pfote mal Richtung Hof, mal Richtung Straße zu zeigen.

Kira fängt an zu lachen. »Was machst du da? Was soll das? Auf alle Fälle sieht es irre komisch aus!«

Okay. Nächster Versuch. Ich laufe weiter in die Hofeinfahrt, miaue laut und deutlich, drehe einen Kreis und laufe dann wieder zu Kira. Wahrscheinlich würde ich an ihrer Stelle auch nicht verstehen, was ich damit meine, aber etwas Besseres fällt mir auf die Schnelle nicht ein.

»Hm«, überlegt Kira, »was willst du denn bloß?«

Sie guckt in den Hof, der schon im Dunklen liegt. Ob sie draufkommt, wenn ich zum Unterstand laufe? Immerhin weiß sie, dass das der Treffpunkt der Hofkatzen ist. Von denen ist zwar leider niemand zu sehen, aber vielleicht versteht es Kira trotzdem. Ich sprinte also zu den Mülltonnen, mache einen Satz auf den Unterstand, maunze dort in alle Richtungen, springe wieder hinunter und laufe zurück zu Kira.

»Tja, also …«, Kira sieht richtig angestrengt aus, »du willst … ähm … ich soll …«, sie kratzt sich am Kopf, dann erhellt ein Lächeln ihr Gesicht, »du willst, dass wir deine Freunde mitnehmen? Ist es das?«

BINGO! Volltreffer! Ich schnurre sofort los, damit Kira gleich weiß, was Sache ist.

»Also das ist es tatsächlich! Aber warum denn nur?«

Ohgottohgottohgott! Bei meinen Schnurrhaaren! Wie erkläre ich das jetzt? Unseren gesamten komplizierten Katzen-Plan von den Ermittlungen in der Schule kann ich hier nicht auch noch vortanzen. Kann mir Kira nicht einfach vertrauen? Ich maunze noch einmal und deute wieder mit meiner Pfote Richtung Hof. Kira seufzt.

»Na gut, wenn es unbedingt sein muss! Aber wir können nicht stundenlang warten, dass deine Freunde aufkreuzen. Entweder sie kommen gleich, wenn ich sie rufe – oder wir gehen ohne sie los. Klar?«

Miau. Klar wie Kloßbrühe.

Kira geht mit mir zum Unterstand und schlägt mit der flachen Hand auf das Dach.

»Odette! Katzen! Wo seid ihr? Kommt mal her!«

Ich maunze ebenfalls: »Los, Kollegen! Auf geht’s, das Abenteuer ruft!«

Ganz langsam kommt Odette zum Unterstand geschlichen. »Hey, Winston! Sag bloß, du hast Kira wirklich unseren Plan erklärt.«

Ich nicke. »Hab ich.«

»Cool. Schade, dass Spike und Karamell gerade nicht da sind. Die wollten es doch nicht glauben. Und was hat Kira dazu gesagt? Wie findet sie den Plan?«

»Na ja, also, ähem … sie findet ihn richtig gut.«

Das ist jetzt nicht völlig gelogen. Ich bin mir sicher, dass sie ihn gut finden wird, wenn sie ihn denn erst mal kennt. Und ich habe ihn doch schon so gut wie erklärt. Also fast. Irgendwie. Und den Rest hole ich schon noch nach.

»Sehr gut, Winston! Dann können wir endlich loslegen und das arme Kind retten!«

»Genau. Aber wo sind eigentlich Karamell und Spike? Hast du eine Ahnung?«

»Nee. Die habe ich seit unserer kleinen Besprechung vorhin nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich liegen die irgendwo rum und schlafen. Spike ist nicht der Fitteste und Karamell ziemlich ängstlich – ich glaube, der heutige Tag war zu viel für sie.«

Ich seufze. Zwei von vier Muskeltieren können wir schon mal vergessen. Na toll!

»So, Winston«, mischt sich Kira ein, »was ist jetzt? Kommt Odette mit?«

Als Antwort maunze ich und trotte hinter Kira her, die wieder zur Straße geht. Odette folgt uns und so tigern wir zu dritt in Richtung Emilias Haus. Ein Mädchen und zwei Katzen. In diesem Moment habe ich plötzlich das Gefühl, dass die Idee, ausgerechnet wir könnten Emilia retten, ziemlich verrückt ist. Liegt aber vielleicht nur daran, dass auch mein Tag schon ziemlich lang war.

»Schön, dass du es so schnell geschafft hast! Deine beiden Freunde sind schon da.« Emilias Mutter begrüßt uns sehr freundlich und bittet uns ins Haus. »Oh, da ist ja noch eine Katze dazugekommen! Niedlich, die beiden!«

Niedlich? Wir sind nicht niedlich! Wir sind Agenten! Obwohl die Bemerkung bestimmt nett gemeint war, ärgert sie mich. Und weckt meinen alten Kampfgeist wieder. Wenn hier jemand Emilia befreit, dann doch wohl wir!

Frau Stetten führt Kira ins Wohnzimmer. Dort auf dem Sofa sitzen schon Tom und Pauli und winken uns freundlich zu.

»Hallo, Kira, hallo, Winston!«, begrüßt uns Tom. Dann fällt sein Blick auf Odette. »Oh, und wer ist das?«

»Odette«, erklärt Kira. »Eine Katze aus unserem Hinterhof. Auch sehr schlau. Falls wir vierbeinige Unterstützung brauchen, ist sie bestimmt nicht schlecht.«

Odette knufft mich mit ihrer Schnauze in die Seite. »Hey, ich denke, sie kennt den Plan?«

»Äh, ja, tut sie ja auch.«

»Aber was heißt denn dann, falls wir vierbeinige Unterstützung brauchen? Es ist doch genau umgekehrt – wir brauchen zweibeinige Unterstützung. Den Hauptjob erledigen wir Katzen. Und wenn wir den Verbrecher haben, dann sagen wir – also du – den Kindern Bescheid. So machen wir’s!«

Bei meinem Katzenklo, Odette kann ganz schön anstrengend sein!

»Das ist doch Haarspalterei. Ich habe Kira klargemacht, dass wir den Fall irgendwie zusammen lösen müssen. Und das werden wir auch tun.«

»Hm«, Odette beäugt mich misstrauisch, als ob sie mir nicht recht glauben würde. Ich beschließe, das zu ignorieren. Für solches Geplänkel haben wir nun keine Zeit. Wir müssen schließlich ein Kind retten, maunz!

Frau Stetten stellt ein paar Gläser auf den Tisch und gießt den Kindern etwas zu trinken ein. Dann setzt sie sich ebenfalls. Sie sieht sehr müde und blass aus, so, als habe sie in der Nacht zuvor gar nicht geschlafen.

»Ich bin wirklich froh, dass ihr gekommen seid. Mein Mann war heute nicht gerade nett zu euch – aber wir haben eben sehr große Angst um Emilia. Da reagiert man schon mal ein bisschen komisch. Ich hoffe, ihr versteht das.«

Tom, Pauli und Kira nicken. Ich nicke zwar nicht, aber ich verstehe es auch. Nicht auszudenken, jemand hätte Kira entführt!

»Aber ich finde euren Vorschlag, uns zu helfen, richtig gut. Deswegen habe ich mir auch eben Toms Telefonnummer aus der Klassenliste rausgesucht und ihn gebeten, noch einmal herzukommen.« Sie seufzt und schaut in die Runde. »Die Polizei hat momentan jedenfalls keine heiße Spur, die sie verfolgt. Und es ist genau so, wie ihr vermutet habt: Es gab schon einen Versuch, das Lösegeld zu übergeben. Leider hat der Entführer wohl gemerkt, dass die Polizei vor Ort war, und hat sich nicht blicken lassen. Beim nächsten Mal muss es einfach klappen, sonst …« Ihre Stimme fängt an zu zittern, dann bricht sie ab.

Tom, der direkt neben ihr sitzt, legt ihr eine Hand auf die Schulter. »Frau Stetten, ich glaube, dass wir Ihnen helfen können, den Entführer aufzuspüren. Wir sind viel unauffälliger als Polizisten. Auf uns achtet der bestimmt nicht.«

Na, und auf mich und Odette achtet der noch viel weniger! Genau genommen gibt es mit Sicherheit nichts Unauffälligeres als zwei scheinbar streunende Katzen. Wir sollten hier also nicht länger rumsitzen, sondern endlich mal mit der Suche anfangen. Das heißt, ich könnte eigentlich schon mal damit beginnen. Vielleicht gibt es hier ja noch einen Hinweis, irgendetwas, das nach Weihnachtsbaum riecht.

Ich schleiche vom Sofatisch weg und laufe kreuz und quer durchs Wohnzimmer, meine Nase immer dicht über dem Parkett, schnüffelnd. Wahrscheinlich sehe ich aus wie ein doofer Hund, aber das ist mir egal. Immerhin ist es für einen guten Zweck.

Odette sitzt weiter neben dem Sofa und beobachtet mich. »Sag mal, was treibst du da?«

Ich halte kurz inne. »Überprüfung der Spurenlage. Sehr wichtige Ermittlungstaktik«, antworte ich dann knapp.

»Aha.« Odette kommt näher. »Und? Schon was gefunden?«

Ich schüttle den Kopf und schnüffle weiter. Hoffentlich entdecke ich bald etwas. Ich will mich nicht umsonst vor Odette zum Clown gemacht haben.

Als ich an der Tür zum Flur entlangschnuppere, höre ich etwas klappern. Nur eine Sekunde später weht der Hauch eines Hauches Weihnachtsbaum durch den Türspalt. Sofort bin ich wie elektrisiert! Ich stürze in den Flur, immer der Nase nach. Und da sehe ich ihn auch schon liegen: einen Briefumschlag. Jemand muss ihn gerade durch den Briefkastenschlitz an der Eingangstür geworfen haben! Vorsichtig schnuppere ich an dem Brief: Eindeutig! Weihnachtsbaum!

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