Meine Schwanzspitze juckt.


Und die irrt sich nie!


Von außen sieht das Haus ziemlich beeindruckend aus. Die Eingangstür liegt unter einem großen Bogen, der in zwei Säulen links und rechts mündet. Die Säulen sind oben mit Ranken und Blumen verziert, die golden glänzen. Neben dem Türbogen gibt es noch einen zweiten Bogen, der ein sehr großes Fenster umfasst – durch dieses hat man bestimmt einen sehr guten Ausblick auf das Geschehen vor dem Haus.

Das Haus sieht ganz anders aus als das, in dem ich mit Werner wohne – also insgesamt groß mit vielen Wohnungen darin. Es ist ein einzelnes Haus, etwas kleiner als unseres, aber immer noch groß und offensichtlich nur von einer Familie bewohnt. Jedenfalls sehe ich auf den ersten Blick nur ein Schild. Mit anderen Worten: Tom, Pauli, Kira und ich stehen vor einer richtigen Villa. Ich bin beeindruckt: Hier wohnt Emilia mit ihren Eltern? Im Fernsehen gehören solche Häuser immer den RICHTIG reichen Leuten!

Pauli stupst Tom in die Seite. »Los, nun mach schon! Oder traust du dich nicht?«

»Quatsch, natürlich trau ich mich. Meinst du, der Kasten hier schreckt mich ab?«

Pauli zuckt mit den Schultern. »Könnte doch sein.«

Tom lacht und schüttelt den Kopf. »Nee, das Haus muss erst gebaut werden, bei dem ich mich nicht traue, auf die Klingel zu drücken.«

»Okay, Mister Supercool. Dann können Kira und ich ja wieder gehen und du gibst das Kostüm alleine ab. Komm, Kira.« Pauli zupft ihre Freundin am Ärmel.

»Halt, hiergeblieben!«, ruft Tom. »Ihr seid schließlich mitgekommen, weil ihr mir die Geschichte mit dem Klassenbuddy eingebrockt habt. Sonst müsste jetzt Kira Emilia das Kostüm und den geänderten Text vorbeibringen.«

Da hat Tom natürlich recht. Und deswegen haben sich die Mädchen ihm auch gleich angeschlossen, als Frau Heinson Tom als Klassenbuddy beauftragt hat, Emilia die Sachen vorbeizubringen. Ich glaube, einen Moment hatte Tom gehofft, Leonie würde ihm die Sache abnehmen – aber daraus wurde nichts, weil die olle Ziege noch zum Kieferorthopäden musste. Pech gehabt!

Tom streckt die Hand aus und klingelt. Kurz darauf bewegen sich die Gardinen hinter dem Bogenfenster, dann hören meine Superkater-Ohren auch schon Schritte. Die Tür wird langsam geöffnet. Durch den entstehenden Spalt blickt das sehr blasse Gesicht einer Frau.

»Ja, hallo?« Ihre Stimme klingt sehr unsicher und zittrig, fast, als hätte sie gerade noch geweint. Komisch, was ist denn mit der los?

»Hallo, wir sind Klassenkameraden von Emilia. Sind Sie Frau Stetten?« Die Frau nickt stumm. Aha, das ist also Emilias Mutter.

»Guten Tag! Ich bin Tom Lauterbach und das sind Kira Kovalenko und Paula Seifert. Wir haben Emilia ein paar Sachen aus der Probe mitgebracht, die sie heute verpasst hat.«

Frau Stetten zögert kurz, dann öffnet sie die Tür.

»Danke, das ist nett. Ihr könnt sie da vorn auf die Kommode legen.« Sie gibt den Weg in einen großen hellen Flur frei. Na ja, eigentlich ist es eher eine Eingangshalle als ein Flur, mit unglaublich hohen Decken und vielen Türen. An einer Seite befindet sich eine Ausbuchtung, in der eine Statue steht – eine Frau aus Stein, die einen Korb oder eine Art Vase auf der Schulter trägt. Maunz – wo sind wir hier gelandet?

»Ähm, ein paar Sachen müssten wir Emilia noch erklären«, mischt sich Kira ein. »Wegen der Änderungen im Text. Können wir kurz zu ihr?«

Frau Stetten zuckt so stark zusammen, als hätte ihr Kira einen Schlag verpasst. Dann schüttelt sie heftig den Kopf. »Äh, nein! Das ist ganz und gar unmöglich. Unmöglich! Ihr könnt nicht zu ihr! Sie ist … äh … sehr, sehr krank!«

Die Kinder machen große Augen.

»Oh, ’tschuldigung«, stottert Pauli schließlich, »das wussten wir nicht.«

Tom geht zur Kommode und legt sowohl den Kostümentwurf als auch das Manuskript ab. Dann wendet er sich an Frau Stetten. »Tut uns leid, dass wir gestört haben. Wir wünschen Emilia natürlich gute Besserung. Grüßen Sie sie bitte von uns.«

Bei Toms letztem Satz schnappt Frau Stetten so scharf nach Luft, als würde sie mit den Tränen kämpfen. Sehr komisch. Sehr, sehr komisch!

Ich merke, wie meine Schwanzspitze anfängt zu jucken. Das ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt. Und meine Schwanzspitze täuscht mich nie! Irgendetwas ist hier ganz gewaltig faul! Nur – was?

Frau Stetten schluckt noch einmal trocken, dann hat sie ihre Sprache wiedergefunden. »Also, habt vielen Dank für die Sachen, Kinder. Ich denke, ihr braucht erst einmal nicht wiederkommen. Wenn es Emilia besser geht, rufen wir an.« Mit diesen Worten schiebt sie uns aus der Haustür und schließt diese sofort.

»Hm, bisschen seltsam war das schon, oder?« Tom geht es offenbar genauso wie mir. Als wir wieder auf der Straße vor dem Haus stehen, gucken die Kinder noch eine Weile ratlos auf die Eingangstür.

Kira nickt. »Tja, das scheint ja eine ganz schlimme Krankheit zu sein, wenn wir nicht mal zu ihr durften. Seltsam, oder? Wo ihr Klavierlehrer sie gestern Nachmittag doch noch putzmunter fand.«

Pauli zuckt mit den Schultern. »Ist mir aber auch egal. Auf Händchenhalten an Emilias Bett habe ich persönlich sowieso keinen großen Wert gelegt. Jetzt hat sie ihren Krempel – muss sie eben allein sehen, wie sie damit klarkommt.« Sie grinst. »Oder Mutti hilft ihrem kleinen Mädchen.«

»Also, ob die eine große Hilfe ist? Frau Stetten war doch völlig von der Rolle. Ob die immer so konfus ist?« Tom kratzt sich am Kopf.

»Weiß nicht. Meine Mutter wäre aber bestimmt auch aufgeregt, wenn ich sehr krank wäre«, gibt Kira zu bedenken.

»Ja, aber wenn Emilia wirklich soooo wahnsinnig krank wäre, dass man sie nicht mal besuchen kann – wäre sie dann nicht besser im Krankenhaus aufgehoben?«, wirft Pauli ein. »Vielleicht ist sie gar nicht krank, sondern macht nur blau. Und ihre Mutter hatte Angst, dass das rauskommt, wenn wir nachschauen. Das würde schließlich richtig Ärger mit Frau Heinson und der Direx geben. Ich meine: Sich erst die Hauptrolle krallen und dann die Proben schwänzen – das geht doch gar nicht!« Pauli hat völlig recht. Das wäre ein richtiger Hammer und insofern wäre es verständlich, dass Emilias Mutter versuchen würde, es vor uns geheim zu halten.

»Tja, wir werden das nicht herausfinden«, meint Tom. »Schließlich haben wir nur die Hausaufgaben vorbeigebracht, keinen Durchsuchungsbefehl.« Er grinst. »Und sooo wichtig ist es nun auch wieder nicht. Ob sie nun wirklich krank ist ODER nur blaumacht, das Ergebnis ist dasselbe: Weg ist weg. Und solange sie weg ist, ist Kira der Gestiefelte Kater. Coole Idee übrigens, dass du meinen Scherz in die Tat umgesetzt hast, Kira.«

Kira schaut verlegen zu Boden. »Ja, findest du?«

»Auf alle Fälle! Das war doch ein spitzenmäßiger Auftritt! Ich konnte mich kaum beherrschen, nicht ständig den Hauptscheinwerfer auf dich draufzuhalten, so klasse warst du! Und das bei einer Leseprobe – ich war total beeindruckt. Und nicht nur ich: Du hättest mal Fernandez und Heinson sehen sollen, denen stand vor Staunen der Mund offen, als du dein erstes Lied gesungen hast.«

»Genau!«, bekräftigt Pauli. »Das war absolute Weltklasse, ich war superstolz auf dich. Und ich glaube, Leonie hat sich richtig geärgert, dass du so einen tollen Auftritt hingelegt hast.« Sie kichert. »Das war ja noch nie etwas für unsere Leonie – wenn mal andere als sie und ihre tollen Freundinnen im Rampenlicht stehen. Also: Alles richtig gemacht, Kira!«

»Danke, ihr beiden! Das freut mich! Ich hatte schon Angst, ihr würdet mich peinlich finden.«

Tom und Pauli schütteln energisch den Kopf.

»Nee, auf keinen Fall!«, ruft Tom laut. »Von mir aus kann Emilia richtig lange krank sein.«

Kira verzieht das Gesicht. »Das finde ich aber nicht nett. Ich meine, ich freue mich, dass ich jetzt spielen darf – aber ihr deswegen was Böses wünschen?«

»Och, lass sie ruhig ein bisschen krank sein.« Pauli gibt sich ungerührt. »Jetzt ist sowieso erst mal Wochenende und am Montag, Dienstag muss sie sich bestimmt noch schonen. Falls sie eine richtig fiese Sommergrippe oder so was in der Richtung hat, liegt sie mit Sicherheit länger auf der Nase. Ihr Pech, wenn es dann ohne sie weitergeht.«

»Nee, das finde ich zu heftig«, widerspricht Kira. »Wenn sie wieder gesund ist, singe ich eben weiter im Chor. Fernandez und Heinson wissen ja jetzt, was ich kann. Meine Chance wird schon noch kommen. Ich brauche nur etwas Geduld.«

Ah, das ist mein Mädchen! So erwachsen und vernünftig! Wobei: Von mir aus kann die olle Emilia auch bleiben, wo der Pfeffer wächst.

In diesem Moment juckt meine Schwanzspitze wieder. Heilige Ölsardine! Ich nehme das mit dem Pfeffer zurück. Nicht dass Emilia meinetwegen noch am Ende der Welt landet!

Загрузка...