Und so endete der Kampf. Als ich meinen Blick von der entsetzlichen Walstatt abwandte, fiel mir mit einem Mal schlagartig Alphonse ein. Seit jenem Moment vor etwa zwanzig Minuten - der Kampf dauerte in Wirklichkeit bei weitem nicht so lange, wie es seiner ausführlichen Beschreibung nach den Anschein hat -, als ich gezwungen war, ihm den Gewehrkolben in den Magen zu stoßen, und dabei selbst beinahe erschossen worden wäre, hatte ich nichts mehr von ihm gesehen. Nun befürchtete ich, daß der arme kleine Mann in der Schlacht gefallen war, und begann mit meinen Blicken die Reihen der Toten abzusuchen, um vielleicht irgendwo seine Leiche zu entdecken. Da ich jedoch nichts fand, kam ich zu der Überzeugung, daß er überlebt haben mußte, und ging an der Mauer des Kraals entlang zu der Stelle, an der wir zuerst postiert gewesen waren, wobei ich in regelmäßigen Abständen seinen Namen rief. Ungefähr fünfzehn Schritt von der Kraalmauer entfernt stand ein uralter Feigenbaum. Er war so alt, daß im Laufe der Jahrhunderte das Innere des Stammes weggefault war und nur noch die leere Hülle aus Rinde existierte.
»Alphonse«, rief ich, während ich die Mauer entlanglief, »Alphonse!«
»Oui Monsieur«, erklang hohl eine Stimme. »Hier bin ich.«
Ich blickte mich um, konnte aber nirgends eine Menschenseele erkennen. »Wo?« schrie ich.
»Isch bin 'ier, Monsieur, in dem Baum.«
Ich schaute in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Und siehe da - aus einem Loch in dem Stamm des Feigenbaums, ungefähr fünf Fuß über dem Erdboden, lugte ein bleiches Gesicht hervor; dazu die beiden Enden eines Schnauzbartes, eines gekappt und das andere so bejammernswert herunterhängend wie der Schwanz eines geprügelten Hundes. Da wurde mir zum ersten Mal in aller Deutlichkeit klar, was ich schon die ganze Zeit über vermutet hatte; nämlich, daß Alphonse ein riesiger Feigling war. Ich ging zu ihm hin. »Kommen Sie aus dem Loch raus!« fuhr ich ihn an.
»Ist es vorbei, Monsieur?« fragte er ängstlich. »Ganz vorbei? Ah, welsche Schrecken isch mußte erdulden, und welsche Gebete isch ausgestoßen 'abe!«
»Kommen Sie raus, Sie armseliges Würstchen!« rief ich wütend, denn ich hatte nicht gerade freundliche Gefühle in seiner Gegenwart. »Es ist alles vorbei.«
»Dann 'aben also meine Gebete ge'olfen, Monsieur? Isch komme sofort 'eraus.« Und dann stand er vor mir.
Als wir zusammen zu den anderen gingen, die sich an dem breiten Vordereingang des Kraals, der nun einem Schlachthof ähnlich sah, versammelt hatten, sprang plötzlich ein Masai, der geflohen war und sich die ganze Zeit über hinter einem Busch versteckt hatte, auf und startete einen wütenden Angriff gegen uns. Mit einem gellenden Angstschrei raste Alphonse los; der Masai hinter ihm her. Er schien wild entschlossen, noch einen von uns mit ins Grab zu nehmen, bevor wir ihm ein Ende machen würden. Bald hatte er den armen kleinen Franzosen eingeholt; und sicherlich hätte er ihn auf der Stelle niedergestreckt, wenn ich nicht, gerade in dem Augenblick, als Alphonse einen letzten verzweifelten Haken schlug, in der irrigen Annahme, dem hinter ihm aufblitzenden Stahl dadurch entrinnen zu können, eine Kugel genau zwischen die breiten Schulterblätter des Elmoran gejagt hätte. Das brachte jedenfalls die Sache zu einem befriedigenden Abschluß; zumindest, was den Franzosen betraf. Er stolperte und fiel der Länge nach hin, und der Masai fiel direkt über ihn und zuckte noch einen Moment im Todeskampf. Darauf erhob sich ein derart markerschütterndes Geheul, daß ich befürchtete, der Masai habe Alphonse doch noch den Speer in den Rücken gestoßen, bevor meine Kugel ihn traf. Ich rannte so schnell ich konnte zu ihm hin und zerrte den Masai von ihm herunter. Und da lag Alphonse, über und über mit Blut besudelt, und zuckte krampfartig wie ein galvanisierter Frosch. Armer Kerl! dachte ich, nun hat es ihn doch noch erwischt. Ich kniete mich neben ihn und suchte, soweit seine Zuk-kungen und Verrenkungen das zuließen, nach der Wunde.
»Oh, das fürschterliche Loch in mein Rücken!« schrie er auf. »Isch bin gemordet! Isch bin tot! Oh, Annette!«
Ich suchte weiter, aber ich fand beim besten Willen keine Wunde. Plötzlich dämmerte es mir - der Mann war gar nicht verwundet, er war bloß zu Tode erschrocken!
»Stehen Sie auf!« brüllte ich ihn an. »Stehen Sie auf! Schämen Sie sich überhaupt nicht? Ihnen ist kein Haar gekrümmt worden.«
Er stand auf, völlig unversehrt. »Aber, Monsieur, isch dachte, isch wäre tot«, sagte er mit Unschuldsmiene; »isch wußte nischt, daß isch ihn besiegt 'abe.« Dann versetzte er dem toten Masai einen Tritt und rief triumphierend: »Ah, du 'und von einem Masai, du schwarze Wilde, du bist tot nun! Was für ein Sieg!«
Angeekelt wendete ich mich von dem Kerl ab und ging zu den anderen zurück. Alphonse folgte mir wie ein Schatten und beeilte sich, ebenfalls zu den anderen zu kommen. Das erste, was ich sah, war Mr. Mak-kenzie. Er saß auf einem Stein. Um seinen Oberschenkel, aus dem er stark blutete, hatte er ein Taschentuch gebunden. Eine Speerspitze war ihm in den Oberschenkel gedrungen und hatte ihn durchbohrt. In der Hand hielt er noch immer sein geliebtes Schnitzmesser, dessen Klinge nun völlig verbogen war. Daraus schloß ich, daß er aus seinem Handgemenge mit dem Masai als Sieger hervorgegangen war.
»Ah, Quatermain!« rief er mit zitternder, erregter Stimme, »so haben wir denn nun obsiegt! Aber es ist ein schrecklicher Anblick; fürwahr, ein schrecklicher Anblick!« Und dann verfiel er in ein breites Schottisch und starrte auf die verbogene Klinge in seiner Hand: »Es ärgert mich nur, daß ich die Klinge meines besten Schnitzmessers verbogen habe!« Dann lachte er hysterisch. Der arme Kerl, was er alles hatte durchmachen müssen; und jetzt war er völlig mit den Nerven am Ende. Was Wunder! Es muß entsetzlich sein für einen Mann des Friedens, der noch dazu ein so gutes, weiches Herz hat, sich gezwungen zu sehen, an solch einem grauenhaften Gemetzel mitzuwirken. Aber manchmal treibt uns die Ironie des Schicksals in die seltsamsten Situationen.
Am Vordereingang des Kraals bot sich ein tragischer Anblick. Das Gemetzel war nun vorüber, und die Verwundeten waren von ihren Qualen erlöst worden; es hatte keine Gnade gegeben. Die Dornen-büsche, die den Eingang versperrt hatten, waren plattgetrampelt, und an ihrer Stelle füllten nun die Leiber von Toten den Eingang. Tote, überall Tote - sie lagen in Haufen herum; sie lagen einzeln und zu zweit in allen erdenklichen Positionen über den ganzen Kraal verstreut. Vor diesem Eingang auf einem Fleck von Leichen und von den Schilden und Spee-ren, die überall verstreut herumlagen, so wie ihre Träger sie fallengelassen hatten, standen und lagen die Überlebenden des Gemetzels, und zu ihren Füßen waren vier Verwundete. Wir waren dreißig Mann stark in den Kampf gezogen, und von diesen dreißig hatten bloß fünfzehn überlebt, und fünf davon (einschließlich Mr. Mackenzie) waren verwundet, davon zwei tödlich. Von denen, die den Eingang gehalten hatten, waren nur Curtis und der Zulu übriggeblieben. Good hatte fünf Mann verloren, ich zwei, und Mackenzie nicht weniger als fünf von den sechsen, die in seiner Gruppe gewesen waren. Diejenigen, die überlebt hatten, waren mit Ausnahme meiner Person
- ich selbst war nie im dichten Kampfgetümmel gewesen - von Kopf bis Fuß mit Blut beschmiert - Sir Henrys Panzerhemd hätte glatt rot gefärbt sein können - und völlig erschöpft; ausgenommen Umslopo-gaas, der, wie immer auf seine Axt gelehnt, mit grimmigem Gesicht auf einem kleinen Erdwall hinter einem Berg von Toten stand und wenig mitgenommen aussah, wenngleich die Haut über dem Loch in seinem Kopf heftig pulsierte.
»Ah, Macumazahn!« rief er, als ich erschöpft und müde zu ihm aufblickte. »Ich sagte dir doch, es würde ein guter Kampf werden, und so ist es auch gekommen. Nie hatte ich einen besseren gesehen, nie einen, in dem tapferer gekämpft wurde. Und dieses Eisenhemd - bestimmt ist es >tagati< (verzaubert); nichts vermochte es zu durchdringen. Ohne dieses Gewand läge ich jetzt dort«, und er deutete mit einer Kopfbewegung auf den riesigen Leichenhaufen.
»Ich schenke es dir; du bist ein tapferer Mann!« sagte Sir Henry knapp und treffend.
»Koos!« rief der Zulu aus, hocherfreut über das Geschenk und über das Kompliment. »Auch du, Incubu, hast gekämpft wie ein wahrer Mann. Aber ich muß dir einige Lehrstunden mit der Axt erteilen; du vergeudest deine Kräfte.«
In diesem Moment fragte Mackenzie nach dem Verbleib Flossies, und zu unserer großen Erleichterung sagte einer der Männer, er habe sie zusammen mit dem Kindermädchen in die Richtung des Hauses laufen sehen. Dann beluden wir uns mit so vielen Verwundeten, wie wir auf einmal tragen konnten, und machten uns langsam auf den Weg zurück zur Missionsstation. Wir waren ermattet von der fürchterlichen Schlacht, die soviel Blut gefordert hatte, aber in unseren Herzen glomm das ruhmreiche Gefühl des Sieges über eine solch überwältigende Übermacht von Feinden. Wir hatten das Leben des kleinen Mädchens gerettet und den Masai jener Gegend eine Lektion erteilt, die sie wohl während der folgenden zehn Jahre nicht vergessen würden - aber zu welch einem Preis!
Mühsam schleppten wir uns den Hügel hinauf, den wir vor etwas mehr als einer Stunde noch unter so ganz anderen Umständen heruntergekommen waren. An dem Tor der Mauer stand Mrs. Mackenzie und wartete auf uns. Als sie uns jedoch erblickte, schrie sie entsetzt auf und schlug die Hände vors Gesicht. »Wie schrecklich, wie schrecklich!« rief sie weinend. Ihre Angst verstärkte sich noch, als sie ihren geliebten Mann erblickte, der auf einer improvisierten Trage den Hügel heraufgetragen wurde. Doch ihre Befürchtungen über die Natur seiner Verletzung legten sich schnell. Und als ich ihr mit wenigen Worten vom Ausgang des Kampfes berichtet hatte (über den Flossie, die unversehrt oben angekommen war, schon einiges hatte erzählen können), trat sie zu mir und gab mir feierlich einen Kuß auf die Stirn.
»Gott segne Sie alle, Mr. Quatermain; Sie haben meinem Kind das Leben gerettet«, sagte sie schlicht.
Dann traten wir ins Haus, legten unsere Kleider ab und verarzteten unsere Wunden. Ich bin froh, sagen zu können, daß ich selbst keine hatte. Und die von Sir Henry und Good waren dank der nicht in Gold aufzuwiegenden Kettenhemden vergleichsweise harmlos; mit ein paar Stichen und ein wenig Heftplaster hatten wir sie schnell versorgt. Mackenzies Verletzung war hingegen recht schwerwiegend; wir konnten von Glück reden, daß der Speer keine größere Arterie durchschlagen hatte. Danach nahmen wir ein Bad. Ich kann gar nicht beschreiben, was für ein herrliches Vergnügen das bereitete! Nachdem wir uns wieder in normale Kleider gehüllt hatten, gingen wir ins Eßzimmer, wo wie gewöhnlich schon der gedeckte Frühstückstisch auf uns wartete. Es war ein seltsames Gefühl, sich dort hinzusetzen und wie ein zivilisierter Mensch des neunzehnten Jahrhunderts Tee zu trinken und Toast zu essen, so als hätten wir nicht die frühen Stunden des Tages mit einer regelrecht primitiven, mittelalterlich anmutenden Schlacht verbracht. Wie Good sagte; die ganze Sache erschien einem jetzt eher wie ein böser Alptraum vor dem Wecken, als ein Ereignis, das wirklich stattgefunden hatte. Wir hatten das Frühstück fast beendet, als die Tür aufging und die kleine Flossie hereintrat. Sie war noch ziemlich blaß und ein wenig wacklig auf den Beinen, aber ansonsten völlig unversehrt. Sie gab uns allen einen Kuß und bedankte sich. Ich beglückwünschte sie zu der Geistesgegenwart, die sie bewiesen hatte, als sie den Masaikrieger mit ihrer Derrin-gerpistole erschoß und dadurch ihr Leben rettete.
»Oh, bitte, sprechen Sie nicht davon!« sagte sie und fing sofort an zu weinen. »Ich werde nie sein Gesicht vergessen, als er sich vor mir im Kreis drehte und hinfiel - nie! Ich werde es immer genau vor mir sehen.«
Ich sagte ihr, so solle zu Bett gehen und ein bißchen schlafen. Sie gehorchte, und als sie am Abend aufwachte, war sie wieder einigermaßen hergestellt, zumindest physisch. Es mutete mir irgendwie seltsam an, daß ein Mädchen, das die Nerven besaß, einen riesigen schwarzen Burschen, der mit einem Speer auf sie losging zu erschießen, hinterher von dem Gedanken daran dermaßen aufgewühlt werden konnte. Aber das ist wohl charakteristisch für das weibliche Geschlecht. Arme Flossie! Ich fürchte, daß sie noch viele Jahre dazu brauchen wird, jene Ereignisse in dem Masailager zu verarbeiten. Später sagte sie mir, das Schlimmste sei die Ungewißheit gewesen; Stunde um Stunde während jener endlos lang erscheinenden Nacht dort zu sitzen und nicht zu wissen, ob man nun einen Versuch wagen würde, sie zu befreien, oder nicht. Und eigentlich habe sie auch gar nicht mehr damit gerechnet, wohl wissend, wie wenige wir waren und wie viele die Masai - die außerdem alle paar Minuten zu ihr kamen und sie anstarrten. Die meisten von ihnen hatten noch nie in ihrem Leben eine Weiße gesehen, und sie fingerten pausenlos mit ihren dreckigen Pfoten an ihren Armen und Haaren herum. Auch sagte sie mir, sie sei fest entschlossen gewesen, sich zu erschießen, sobald die ersten Strahlen der Morgensonne den Kraal erreichten und bis dahin noch keine Hilfe eingetroffen war. Das Kindermädchen hatte nämlich den Lygonani sagen hören, daß man sie zu Tode foltern wollte, sobald die Sonne aufging, wenn nicht bis dahin an ihre Stelle einer der weißen Männer getreten wäre. Es war ein schrecklicher Entschluß gewesen, aber sie hatte die feste Absicht gehabt, ihn auch in die Tat umzusetzen, und ich zweifle keinen Moment daran, daß sie es auch getan hätte. Obwohl sie in einem Alter war, in dem in England die Mädchen noch die Schulbank drücken und brav zum Mittagessen erscheinen, hatte dieses >Kind der Wildnis< mehr Courage, Besonnenheit und Geistesgegenwart als manch eine Frau reiferen Alters, die in Bequemlichkeit und Luxus aufgewachsen ist; deren Geist sorgfältig gedrillt und geschliffen wurde, fernab jeglicher Originalität und geistiger Wendigkeit, mit der die Natur sie vielleicht ausgestattet hatte.
Nach dem Frühstück begaben wir uns alle ins Bett und schliefen fest bis zum Dinner. Danach machten wir uns zusammen mit allen verfügbaren Kräften -Männern, Frauen, Knaben und Mädchen - erneut auf den Weg zu dem Orte unserer morgendlichen Schlacht, mit der Absicht, unsere Toten zu begraben; die Leichen der Masai wollten wir loswerden, indem wir sie in den Tana warfen, der nur etwa fünfzig Yards an dem Kraal vorbeifloß. Als wir die Stelle erreichten, scheuchten wir Tausende von Aasgeiern und ganze Schwärme von braunen Buschadlern auf, die sich aus allen Himmelsrichtungen zum Festmahl eingestellt hatten. Schon oft hatte ich die Gelegenheit, diese riesigen, widerwärtigen Vögel zu beobachten, und die Geschwindigkeit, mit der sie am Ort einer Schlacht eintreffen, hatte mich immer in Erstaunen versetz. Kaum hat man einen Bock mit dem Gewehr erlegt, da taucht schon, oft innerhalb von nur einer Minute, ein dunkler Fleck hoch oben im blauen Äther auf, der sich rasch als Geier entpuppt. Und schon kommt der nächste, und blitzschnell ist ein ganzer Schwarm von ihnen da. Ich habe viele Theorien über die wundersame Wahrnehmungsfähigkeit gehört, die die Natur diesen Vögeln mitgegeben hat. Meine eigene Theorie, die sich zum größten Teil auf Beobachtungen gründet, ist folgende: Die Geier, die meiner Ansicht nach mit einer Wahrnehmungsfähigkeit ausgestattet sind, wie sie vom Menschen selbst mit dem schärfsten Fernglas nicht erreicht werden kann, teilen untereinander den Himmel in verschiedene, etwa gleich große Abschnitte auf. Dann schweben sie in riesigen Höhen über der Erde - wahrscheinlich zwischen zwei und drei Meilen hoch -, und jeder von ihnen hält sorgsam über ein gewaltiges Gebiet hinweg ständig Ausschau. Sobald nun einer von ihnen irgendwo Nahrung sieht, läßt er sich sofort an der betreffenden Stelle herabsinken. Daraufhin folgt sein nächster Nachbar, der vielleicht in einem Abstand von ein paar Meilen gemächlich durch die luftigen Höhen segelt, seinem Beispiel, da er nun weiß, daß Nahrung gesichtet worden ist. Und schon schießt er herab, und all die anderen Geier in seiner Sichtweite folgen ihm, und desgleichen tun wiederum die, welche die letzteren hinabschießen sehen. Auf diese Weise können alle Geier in einem Umkreis von zwanzig Meilen in Minutenschnelle zum Festmahl zusammengerufen werden.
Wir begruben unsere Toten in feierlicher Stille. In Abwesenheit von Mr. Mackenzie, der ans Bett gefesselt war, wurde Good dazu ausersehen, den Totengottesdienst für sie zu lesen, da er nach der Meinung aller die beste und eindrucksvollste Stimme besaß. Die Andacht war in höchstem Maße melancholisch, aber, wie Good sagte, es hätte schlimmer kommen können; denn nur zu leicht hätten wir >uns selbst zu Grabe tragen< können. Ich wies darauf hin, daß dies ein fürwahr schwieriges Kunststück gewesen wäre, aber ich wußte natürlich, was er damit sagen wollte.
Als nächstes luden wir die Leichen der Masai auf einen Ochsenkarren, den wir eigens zu diesem Zweck von der Missionsstation mitgebracht hatten, nicht ohne jedoch zuvor die Speere, Schilde und die anderen herumliegenden Waffen eingesammelt zu haben. Fünfmal mußten wir den Karren, auf dem jeweils fünfzig Masai Platz fanden, beladen, zum Fluß ziehen und dort ausleeren. Hieraus kann man ersehen, daß nur wenige Masai geflohen sein konnten. Die Krokodile müssen sich in jener Nacht meilenweit völlig überfressen haben. Eine der letzten Leichen, die wir auf den Karren luden, war die des Wachtpostens vom anderen Ende des Kraals. Ich fragte Good, wie er es geschafft hatte, den Mann auszuschalten, und er antwortete mir, er sei ähnlich wie Umslopogaas ganz nahe an den Posten herangeschlichen und habe ihn dann mit dem Schwert niedergestochen. Der Mann habe noch eine ganze Weile ziemlich laut gestöhnt, aber zum Glück hatte niemand ihn gehört. Wie Good glaubhaft versicherte, hatte er bei der Sache ein abscheuliches Gefühl gehabt, denn noch niemals hätte er jemanden so kaltblütig ermorden müssen.
Mit der letzten Leiche, die von der Strömung des Tana fortgetrieben wurde, war auch dieser Zwischenfall mit unserem Angriff auf das Masailager beendet. Die Speere, Schilde und sonstigen Waffen nahmen wir mit zur Missionsstation, wo sie ein ganzes Lagerhaus füllten. Ein Ereignis jedoch muß ich unbedingt noch erzählen. Als wir von dem Leichenbegräbnis wieder zur Missionsstation zurückkehrten, kamen wir an dem hohlen Baum vorbei, in dem Alphonse sich am Morgen während der Schlacht verkrochen hatte. Zufällig war der kleine Mann gerade in meiner Nähe. Er hatte uns bei unserer höchst unangenehmen Aufgabe mit weit besserem Willen assistiert als dem, den er am Morgen, als es sich noch um höchst lebendige Masai handelte, an den Tag gelegt hatte. In der Tat, für jede Leiche, die er aufladen half, hatte er eine passende höhnische Bemerkung parat. Der Alphonse, der tote Masai in den Fluß warf, war ein völlig anderer Mensch als der Alphonse, der vor einem lebendigen, speerschwingenden Masai um sein Leben rannte. Er war lustig und guter Dinge, und jedesmal, wenn einer der toten, grimmigen Krieger mit einem lauten >platsch< im Wasser landete, um die Botschaft von Tod und Vernichtung zu seiner Verwandtschaft hundert Meilen flußabwärts zu tragen, klatschte er in die Hände und trällerte lauthals ein paar Takte. Da ich der Ansicht war, daß er dringend einmal einen Dämpfer brauchte, machte ich den anderen den Vorschlag, ein Kriegsgericht über ihn abzuhalten wegen seines Verhaltens vom Morgen.
Wir brachten ihn also zu dem Baum, in dem er sich versteckt hatte, und schickten uns an, über ihn zu Gericht zu sitzen. Sir Henry hielt ihm in bestem Französisch seine unerhörte Feigheit vor und führte ihm eindringlich sein unverzeihliches Verhalten vor Augen, besonders die Tatsache, daß er den öligen Lappen aus dem Mund hatte fallen lassen, was beinahe zur Folge gehabt hätte, daß er mit seinem Zähneklappern das gesamte Masailager aufgescheucht und damit unsere Pläne zum Scheitern gebracht hätte. Er beendete seine Anklage mit der Aufforderung an Alphonse, eine Erklärung abzugeben.
Aber wenn wir geglaubt hatten, Alphonse zerknirscht und vor Scham am Boden zerstört zu sehen, dann hatten wir uns gewaltig geirrt. Er verbeugte sich tief, machte einen Kratzfuß und gab charmant lächelnd zu, daß sein Verhalten auf den ersten Blick wohl merkwürdig erscheinen könne, es in Wirklichkeit jedoch nicht im geringsten so wäre. Schließlich hätte er nicht vor Angst mit den Zähnen geklappert -oh, lieber Himmel, nein! Doch deswegen nicht! Er wundere sich, wie die >Messieurs< auch nur im entferntesten an so etwas denken könnten - sondern die Kälte der Morgenluft hätte ihn dazu gebracht. Und was den Lumpen anbetrifft, wenn Monsieur selbst seinen gräßlichen Geschmack hätte probieren können - der sich in der Tat zusammensetzte aus einer Mischung von muffigem Paraffinöl, Fett und Schießpulver -, so hätte Monsieur ihn selbst auf der Stelle ausgespien. Aber er, Alphonse, hätte das nicht getan! Er hätte fest entschlossen den Lappen im Mund behalten bis - o weh! - sein Magen >revoltiert< und den Lappen in einem Anfall von entsetzlicher Übelkeit gleichsam hinauskatapultiert habe.
»Und was haben Sie dazu zu sagen, daß Sie sich in dem hohlen Baum versteckten?« fragte Sir Henry, der nur mit Mühe die Fassung bewahren konnte.
»Aber, Monsieur, die Erklärung ist einfach; oh, ganz einfach! Es war so: Isch stand dort 'inter der Kraalmauer, und der kleine graue Monsieur schlug mir in den Magen, so daß mein Gewehr losging; und die Schlacht begann. Isch beobachtete die Schlacht genau, während isch misch von Monsieurs grausamem Schlag erholte. Und dann, Messieurs, begann in meine Adern wieder das 'eroische Blut von meine Großvater zu kochen. Der Anblick der Schlacht machte misch verrückt. Isch knirschte mit den Zähnen! Aus meine Augen schossen Blitze! Isch schrie: >En avant!< Es dürstete misch nach Blut! Vor meine Augen er'ob sisch die Vision von meine 'eroische Großvater! Kurz, isch war rasend! Isch war in der Tat ein schrecklicher Krieger! Aber dann, in meinem 'erzen, da 'örte isch eine leise Stimme. Sie sagte: >Al-phonse, mäßige disch! Gib dieser bösen Leidenschaft nischt nach! Diese Männer sind Brüder, auch wenn es Schwarze sind! Und du willst sie abschlachten? Grau-samer Alphonse!< Die Stimme 'atte rescht. Isch wußte es. Isch war kurz davor gewesen, die abscheulichsten Grausamkeiten zu bege'en: zu verwunden! Zu massakrieren! Arme und Beine abzureißen! Aber wie sollte isch misch mäßigen? Isch blickte misch um; isch sah den Baum; isch erblickte das Loch. >Schließe disch ein!< sagte die Stimme, >und 'alte aus! Nur so kannst du die grausame Versuchung widerstehen! Nur dursch brutale Gewalt gegen disch selbst.< Es war bitter, wo doch gerade das 'eroische Blut von meine Großvater auf dem Siedepunkt war. Aber dennoch ge'orschte isch! Isch zog meinen unwilligen Leib zu dem Baum; meine Beine wollten mir kaum ge'orchen! Isch schloß misch ein! Dursch das Loch beobachtete isch die Schlacht! Mit gewaltigen Worten schleuderte isch Fluch um Fluch auf den Feind hinab! Mit Befriedigung sa' isch, wie einer nach dem anderen fiel! Warum nischt? Isch 'atte ihnen ja nischt ihr Leben geraubt! Isch 'atte meine 'ände ja nischt mit ihrem Blut befleckt. Das Blut von meine 'eroische Großvater -«
»Ach, hör auf, du kleiner Halunke!« platzte Sir Henry mit schallendem Gelächter heraus und versetzte ihm einen kräftigen Hieb auf die Schulter, der ihn mit kläglichem Gesichtsausdruck auf dem Boden landen ließ.
Am Abend hatte ich eine Unterredung mit Mr. Mackenzie, dem seine Wunden schwer zu schaffen machten. Good, der zwar ein unqualifizierter, aber dennoch geschickter Arzt war, behandelte ihn so gut er konnte. Mackenzie eröffnete mir, dieser Zwischenfall hätte ihn dazu bewogen, die Missionsstation, sobald er wieder gesund sei an einen jüngeren Mann zu übergeben und nach England zurückzukehren. Der junge Mann sei im übrigen schon auf dem Weg zur Station, wo er sich erst noch eine Weile unter seiner, Mackenzies, Führung einarbeiten wolle.
»Sehen Sie, Quatermain«, sagte er, »heute morgen, als wir uns an jene unwissenden Wilden heranschlichen, habe ich mich zu diesem Schritt entschlossen. >Wenn wir das hier überstehen und Flossies Leben retten sollten<, sagte ich mir, >dann werde ich heim nach England gehen. Ich habe genug von den Wil-den.< Nun, zu jenem Zeitpunkt hätte ich nicht im Traum daran gedacht, daß wir heil aus der Sache herauskommen würden; aber mit Gottes Hilfe und der Hilfe von euch haben wir nun doch überlebt; und ich habe die Absicht, zu meinem Entschluß zu stehen, damit uns nicht eines Tages noch etwas Schlimmeres passiert. Noch ein solches Ereignis, das würde meine arme Frau nicht überstehen. Und, unter uns gesagt, Quatermain, ich bin recht wohlhabend: Ich besitze heute gut dreißigtausend Pfund, und jeden Penny davon habe ich ehrlich erworben, durch ehrbaren Handel und durch die Zinsen meiner Ersparnisse, die auf der Bank von Sansibar liegen. Ich habe sehr viel sparen können, weil mich das Leben hier fast nichts kostet. Und so schwer es mir auch fallen mag, diesen Ort zu verlassen, den ich wie eine Rose in der Wildnis zum Blühen gebracht habe, und so hart es auch sein mag, diese Menschen, die ich lehrte und heranwachsen sah, allein zu lassen; ich habe die feste Absicht, nach England zurückzugehen.«
»Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Entschluß!« antwortete ich. »Und zwar aus zwei Gründen: zum einen, weil ich glaube, daß Sie das Ihrer Frau und Ihrer Tochter schuldig sind, und insbesondere der letz-teren, die eine gute Schulausbildung erhalten und auch unter Mädchen ihrer eigenen Rasse kommen sollte. Wenn sie weiter in der Wildnis aufwächst, wird sie sonst noch eines Tages ihren gleichaltrigen Geschlechtsgenossinnen aus dem Wege gehen. Der andere Grund ist der, daß, so wahr ich hier stehe, die Masai früher oder später den Versuch unternehmen werden, sich für die vernichtende Niederlage von heute morgen zu rächen. Zweien oder dreien von ihnen ist es mit Sicherheit gelungen, in dem allgemeinen Wirrwarr unbemerkt zu entkommen, und sie werden ihrem Stamm alles erzählen, und sicherlich wird man eines Tages eine riesige Expedition gegen Sie aussenden, um Sie zu vernichten. Vielleicht dauert es länger als ein Jahr, bis sie so weit sind, doch früher oder später werden sie auf jeden Fall wiederkommen. Schon allein aus diesem Grund würde ich an Ihrer Stelle gehen. Wenn sie erst einmal in Erfahrung gebracht haben, daß Sie nicht mehr hier sind, lassen sie die Missionsstation vielleicht in Frieden[8].«
»Sie haben völlig recht«, antwortete der Geistliche. »Ich werde diesem Ort in einem Monat den Rücken kehren. Aber es wird weh tun, glauben Sie mir. Es wird sehr weh tun.«