Auf der Spitze des Anstiegs hielten wir für einen Moment an, um unseren Pferden eine Atempause zu gönnen. Als wir uns umwandten, konnten wir weit unten die Schlacht wogen sehen. Von hier oben aus betrachtet mutete sie im Licht der untergehenden Sonne, die die ganze Szene in ein blutiges Rot tauchte, eher an wie ein wildes Titanengemälde als eine wirkliche Schlacht Mann gegen Mann. Das einzige, woran man deutlich erkennen konnte, daß es sich um ein echtes Gefecht handelte, waren die ständig und überall aufblitzenden Lichtreflexe der Speere und Schwerter, ansonsten jedoch wirkte das Panorama bei weitem nicht so beeindruckend, wie man hätte erwarten können. Die große grüne Rasenfläche, auf der sich die Schlacht abwickelte, die deutlich erkennbaren Umrisse der dahinter liegenden Hügel und das riesige Ausmaß der großen Ebene bewirkten, daß sich der eigentliche Raum, auf dem die Schlacht wogte, recht klein, ja geradezu kümmerlich ausnahm. Das, was einem gewaltig und bedeutsam vorkam, wenn man selbst mitten darin steckte, schien mit wachsendem Abstand immer winziger und unbedeutender zu werden. Aber ist es nicht so mit all den großen Taten und Werken unseres Menschengeschlechtes, über die wir so gewaltig die Trompete blasen und von denen wir solch großes Aufhebens machen? Wie unerheblich und lächerlich, wie unbedeutend, moralisch und physisch, müssen sie doch auf jenes ruhige Auge wirken, das von den Höhen des Himmelsgewölbes auf sie herabschaut.
»Wir gewinnen, Macumazahn«, sagte der alte Umslopogaas, der sogleich die ganze Szene mit dem erfahrenen Auge des alten Kämpfers überblickt hatte. »Schau, die Truppen der Herrin der Nacht geben an allen Fronten nach, es ist keine Kraft mehr in ihnen, sie biegen sich wie heißes Eisen und kämpfen nur noch mit halbem Herzen. Doch leider wird die Schlacht nur unentschieden ausgehen, denn schon bricht die Dunkelheit herein, und unsere Regimenter werden nicht mehr nachsetzen können und die Feinde töten!« - Traurig schüttelte er den Kopf. »Aber ich glaube nicht, daß der Feind noch einmal beginnen wird zu kämpfen; zu bitter war die Speise, mit der wir ihn gefüttert haben. Ah! Es ist gut, gelebt zu haben! Endlich habe ich einen Kampf gesehen, der es wert war, ihn erlebt zu haben.«
Mittlerweile hatten wir uns wieder auf den Weg gemacht, und während wir Seite an Seite dahinflogen, erzählte ich ihm, welches unsere Mission war, und daß all das Blut, das an jenem Tage vergossen worden war, umsonst vergossen sein sollte, wenn diese Mission scheiterte.
»Ah«, sagte er, »nahezu hundert Meilen, und keine anderen Pferde als diese, und im Morgengrauen müssen wir dort sein! Vorwärts! Vorwärts! Wir müssen es versuchen, Macumazahn; und vielleicht erreichen wir die Stadt zeitig genug, um dem alten Hexenmeister Agon den Schädel zu spalten. Einst wollte er uns doch verbrennen, der alte Regenmacher, nicht wahr? Und nun will er also Nylephta, meiner Mutter, eine Falle stellen, oder? Nun gut! So wahr mein Name der des Spechtes ist, so wahr werde ich ihm, gleich, ob meine Mutter stirbt oder nicht, den Schädel bis zum Bart spalten. Ah, ich schwöre es beim Haupte des T'Chaka!« Und während er dahingaloppierte, schüttelte er Inkosi-kaas drohend über seinem Kopf. Inzwischen hatte sich die Dunkelheit herabgesenkt, aber zum Glück würde bald der Mond aufgehen, und der Weg war gut.
Und so sprengten wir voran durch die Dunkelheit, einen leichten Wind im Rücken, und die beiden prachtvollen Pferde, auf denen wir ritten, jagten dahin mit weitausholendem, mächtigem Schritt, Meile um Meile, mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks. Nicht ein einziges Mal gerieten sie aus dem Tritt. Wir galoppierten jetzt einen Abhang hinunter und kamen durch ein breites Tal, das sich bis an den Fuß einer weit entfernten Bergkette erstreckte.
Langsam wuchsen die blauen Hügel aus der Dunkelheit; jetzt sprengten wir ihrer Kuppe entgegen und hinüber ging's, weiter, immer weiter, bis in der Ferne wieder andere aus der Dunkelheit emporwuchsen wie geisterhafte Visionen.
Vorwärts, nur nicht anhalten oder die Zügel straffen, immer vorwärts durch die völlige Stille der Nacht, in der das Trommeln unserer Hufe wie ein Lied erschallt; weiter, durch verlassene Dörfer, in denen uns verwahrloste, halbverhungerte Hunde ein melancholisches Willkommen heulen; weiter, vorbei an einsamen, grabumzogenen Häusern; weiter, durch das weiße, fleckige Mondlicht, das kalt auf dem Busen der Erde liegt, als habe es alle Wärme verloren; vorwärts, im Rhythmus der Hufe, Stunde um Stunde!
Wir sprachen nicht, sondern beugten uns weit vor über die Hälse jener herrlichen Rosse und lauschten ihren tiefen, langen Atemzügen, wenn sie ihre großen Lungen füllten, und dem regelmäßigen Klang ihrer unbeirrt trommelnden Hufe.
Drohend und schwarz sah der alte Umslopogaas aus, während er auf dem großen weißen Pferd dahinjagte, wie die Gestalt des Todes in der Offenbarung des Johannes. Dann und wann hob er grimmig den Blick, starrte nach vorn in die Dunkelheit und deutete mit seiner Axt auf eine in der Ferne auftauchende Erhebung oder auf ein weit abgelegenes Haus.
Und weiter ging der wilde Ritt, immer weiter, ohne Pause, Stunde um Stunde.
Doch schließlich fühlte ich, daß auch dem großartigen Pferd, auf dem ich ritt, langsam die Kräfte zu schwinden begannen. Ich schaute auf meine Uhr; es war fast Mitternacht, und wir hatten bereits mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt. Ich konnte mich daran erinnern, daß sich auf der Kuppe der nächsten Anhöhe eine kleine Quelle befand, denn ich hatte ein paar Nächte zuvor neben dieser Quelle geschlafen. Kurz darauf hatten wir die Anhöhe erreicht. Ich gab Umslopogaas ein Zeichen, anzuhalten, denn ich hatte mich dazu entschlossen, den Pferden und uns zehn Minuten Verschnaufpause zu gönnen. Er zügelte sein Pferd, und wir stiegen ab - das heißt, Umslopogaas stieg ab und half mir aus dem Sattel. Ich war so erschöpft, steif und geschwächt von dem Schmerz, den meine Wunde verursachte, daß ich es allein nicht mehr schaffte. Die braven Pferde standen keuchend da, ließen sich erst auf ein Vorderbein herab, und dann auf das andere, während der Schweiß ihnen in Strömen vom Leibe rann und Dampf von ihnen aufstieg und in blassen Wolken in der kühlen Nachtlufthing.
Während Umslopogaas auf die Pferde achtgab, humpelte ich zu der Quelle und trank in tiefen Zügen von ihrem klaren, süßen Wasser. Seit dem Mittag hatte ich nichts außer einem einzigen Schluck Wein zu mir genommen. Ich fühlte mich völlig ausgedörrt, obwohl meine Müdigkeit zu groß war, als daß ein Hungergefühl hätte aufkommen können. Nachdem ich meinen fieberheißen Kopf und meine Hände in dem klaren, kühlen Wasser gewaschen hatte, ging ich zurück, und dann ging der Zulu trinken. Als nächstes ließen wir die Pferde ein paar Schlucke von dem köstlichen Naß nehmen; und ein paar Schlucke nur -nicht mehr! Sie hätten erleben müssen, welche Mühe wir hatten, die armen Tiere wieder von dem Wasser wegzubekommen! Wir hatten noch zwei Minuten Zeit, und ich nutzte sie, indem ich mich auf- und niederbeugte, um meine steifen Glieder ein wenig zu lockern. Dann inspizierte ich die Pferde. Mein Tier, so tapfer und brav es sich auch schlug, machte einen erbarmungswürdigen Eindruck; es ließ den Kopf hängen, und sein Auge war trüb und abwesend. Daylight hingegen, Nylephtas herrliches Pferd - das, so schwor ich mir, würde es bis Milosis durchhalten, bis ans Ende seiner Tage aus einer goldenen Krippe zu fressen bekommen sollte, wie die Pferde, die den großen Ramses aus bitterster Not retteten, machte noch immer einen vergleichsweise frischen Eindruck, obwohl es das weit schwerere Gewicht zu tragen hatte. Es war zwar ein wenig ermattet, und seine Beine waren müde, aber sein Auge war noch immer hell und klar, und es hielt seinen wohlgeformten Kopf in die Luft und blickte in die Dunkelheit, als wollte es sagen: »Wer auch immer versagen mag, ich bin noch immer stark genug für die fünfundvierzig Meilen, die noch vor uns liegen.« Dann half mir der alte Umslo-pogaas wieder in den Sattel - er war einfach nicht kleinzukriegen, dieser prächtige alte Wilde! Er selbst sprang mit einem Satz aufs Pferd, ohne den Steigbügel auch nur zu berühren, und wieder ging es los, zuerst langsam, bis die Pferde ihren Tritt gefunden hatten, und dann wieder schneller. Und so legten wir weitere zehn Meilen zurück, und dann kam ein langer, mühseliger Ritt, der uns weitere sechs oder sieben Meilen einbrachte. Dreimal wäre mein armer Rappe fast mit mir zu Boden gegangen, aber er fing sich wieder und stürmte mit bebenden Flanken und keuchendem Atem den nächsten Abhang hinunter. Die nächsten drei oder vier Meilen kamen wir schneller voran als je zuvor, seit wir zu unserem wilden Ritt aufgebrochen waren, aber ich fühlte, daß es eine letzte verzweifelte Anstrengung meines Pferdes war. Ich sollte leider recht behalten. Plötzlich biß das arme Tier heftig auf die Kandare und ging mit mir durch. Wie von Sinnen schoß es etwa drei- oder vierhundert Yards auf ebener Strecke dahin. Dann machte es noch zwei oder drei schwankende Schritte und blieb stehen. Ein fürchterliches Zucken erfaßte seinen Leib, und dann fiel es mit einem lauten Krachen geradewegs vornüber auf den Kopf und kippte auf die Seite. Es gelang mir mit letzter Kraft, mich zur Seite zu rollen, um nicht von dem Gewicht des Tieres erdrückt zu werden. Als ich mühsam wieder auf die Beine kam, hob das arme Tier ein letztes Mal seinen Kopf und starrte mich aus blutunterlaufenen Augen an. Dann ließ es mit einem letzten Stöhnen den Kopf zu Boden sacken. Es war tot. Es hatte einen Herzschlag erlitten.
Umslopogaas zügelte sein Pferd neben dem Kadaver, und ich schaute ihn bestürzt an. Noch immer lagen mehr als zwanzig Meilen bis zum Morgengrauen vor uns, und wie sollten wir es bloß schaffen, sie mit einem Pferd zurückzulegen? Die Lage schien hoffnungslos. Doch ich hatte eines vergessen: die außergewöhnliche läuferische Fähigkeit des alten Zulu.
Ohne ein Wort zu verlieren, sprang er aus dem Sattel und begann, mich hineinzuhieven.
»Was willst du tun?« fragte ich.
»Laufen«, antwortete er und ergriff meinen Steigbügelriemen.
Und wieder machten wir uns auf den Weg; wir kamen fast so schnell voran wie vorher. Und was für eine Erleichterung es erst für mich war, jetzt auf dem anderen Pferd zu sitzen! Jeder, der schon einmal gegen die Zeit geritten ist, wird es mir nachfühlen können.
Daylight jagte in langgestrecktem Galopp dahin, und mit jedem Schritt zog er den hageren Zulu ein Stück voran. Es war ein herrlicher Anblick, wie der alte Zulu vorwärtsstürmte. Meile für Meile, mit leicht geöffnetem Mund. Seine Nüstern waren weit gebläht und bebten wie die des Pferdes. Ungefähr alle fünf Meilen hielten wir für ein paar Minuten lang an, damit er wieder zu Atem kommen konnte, und dann stürmten wir weiter.
»Kannst du noch weiterlaufen«, fragte ich ihn, als wir zum dritten Male anhielten, »oder soll ich voraus-reiten und auf dich warten?«
Er zeigte mit seiner Axt auf eine verschwommene Masse weit in der Ferne. Es war der Tempel der Sonne. Ungefähr fünf Meilen trennten uns noch von ihm.
»Entweder erreiche ich ihn, oder ich sterbe!« brachte er keuchend hervor.
Oh, was waren das für schreckliche, unendlich lange fünf Meilen, dieses letzte Stück bis zum Stadttor! Die Innenseiten meiner Schenkel waren wundgerieben, und jede Bewegung meines Pferdes bereitete mir wahre Höllenqualen. Doch das war noch nicht alles! Ich war völlig erschöpft vor Anstrengung, Hunger und Müdigkeit, und die Wunde auf meiner linken Seite schmerzte entsetzlich. Ich hatte das Gefühl, als bohre sich ein Knochensplitter ganz langsam in meine Lunge. Auch der arme Daylight war fast am Ende - kein Wunder nach diesem irrsinnigen Höllenritt. Aber schon lag der Geruch des Morgengrauens in der Luft, und wir wollten um jeden Preis durchhalten. Besser, wir starben alle drei auf dem Wege, als daß wir aufgaben, solange auch nur ein Fünkchen Leben in uns flackerte. Die Luft war dick und schwer, wie es häufig der Fall ist, kurz bevor der Morgen anbricht. Und dann kündigte sich der bevorstehende Sonnenaufgang durch ein weiteres, unverkennbares Zeichen an, dem ich in Zu-Vendis schon häufig begegnet war: Hunderte von kleinen Spinnen, die an den Enden ihrer langen Fäden und Gewebe klebten, schwebten mit einem Mal durch die Morgenluft. Diese kleinen Tiere, oder vielmehr ihre Netze, legten sich zu Dutzenden über uns, und da wir weder die Zeit noch die Kraft dazu hatten, sie wegzubürsten, stürmten wir dahin, über und über mit Hunderten von langen, grauen Fäden bedeckt, die bis zu mehreren Yards hinter uns herflatterten - wir müssen wirklich furchterregend ausgesehen haben.
Und nun tauchen die riesigen Messingtore der Außenmauer von Milosis vor uns auf, und eine neue, schreckliche Sorge ergreift mich: Was sollen wir tun, wenn sie uns nicht einlassen?
»Öffnet, öffnet!« rufe ich mit gebieterischer Stimme und gebe das königliche Losungswort. »Macht das Tor auf! Hier ist ein Bote, der Nachricht vom Kriege bringt!«
»Was für eine Nachricht?« rief der Wachtposten. »Und wer bist du, der du geritten kommst wie ein Rasender? Und wer ist der, dessen Zunge so weit heraushängt« - das tat sie auch wirklich - »und der neben dir einherrennt wie ein Hund neben dem Streitwagen?«
»Es ist Fürst Macumazahn, und bei ihm ist sein Hund, sein schwarzer Hund. Öffne! So öffne doch! Ich bringe wichtige Kunde.«
Die großen Tore glitten auf ihren Rollen zur Seite, und die Zugbrücke fiel mit lautem Gerassel herunter, und schon waren wir hinüber und stürmten weiter.
»Welche Kunde, Herr, welche Kunde bringst du?« schrie der Wachtposten.
»Incubu treibt Sorais zurück wie der Wind die Wolken«, antwortete ich noch, und dann waren wir schon außer Sichtweite.
Noch eine letzte Anstrengung, braves Pferd, und noch braverer Mann!
Strauchle nun nicht in letzter Minute, Daylight, und du, altes Zulu-Kriegsroß, halte dein Leben noch in dir, nur fünfzehn kurze Minuten, und beide werdet ihr für ewig in die Annalen dieses Volkes eingehen!
Weiter, in wildem Galopp durch die schlafenden Straßen, vorbei jetzt am Blumentempel - noch eine Meile, nur noch eine winzige Meile - halte aus, nimm deine letzte Kraft zusammen, schau, wie die Häuser fast wie von selbst an uns vorüberfliegen! Vorwärts, braves Pferd, vorwärts - nur noch fünfzig Yards! Ja, du siehst deinen Stall vor Augen und wankst tapfer weiter!
»Dem Himmel sei gedankt - endlich - der Palast!« Und siehe da, die ersten Pfeile der Morgendämmerung treffen auf die goldene Kuppel des Tempels![17] Werde ich eintreten können, oder ist die Bluttat schon vollbracht und das Tor verriegelt?
Erneut gebe ich das Losungswort und rufe laut: »Öffnet! He da, öffnet!«
Keine Antwort, und der Mut sinkt mir.
Und wieder rufe ich, und dieses Mal antwortet eine einzelne Stimme, und zu meiner Freude erkenne ich in ihr die Stimme von Kara, einem Offizier aus Nylephtas Garde, einem Mann, von dem ich weiß, daß er treu wie Gold ist - es ist jener Mann, den Nylephta gesandt hatte, Sorais zu verhaften an dem Tage, als sie zum Tempel geflohen war.
»Bist du es, Kara?« rufe ich. »Hier ist Macumazahn. Gib der Wache den Befehl, die Brücke herunterzulassen und das Tor weit zu öffnen! Rasch, rasch!«
Die darauffolgenden Minuten schienen mir endlos. Doch endlich fiel die Brücke, ein Torflügel schwang auf, und wir stürmten in den Hof. Und hier brach der arme Daylight unter mir zusammen, tot, wie ich vermutete. Ich rappelte mich mühsam auf, lehnte mich erschöpft gegen einen Pfosten und schaute mich um. Außer Kara war niemand zu sehen. Er machte einen verstörten Eindruck; seine Kleider hingen ihm in Fetzen vom Leibe. Er hatte allein das Tor geöffnet und die Brücke heruntergelassen, und nun war er dabei sie wieder hochzuziehen (was ein einzelner Mann dank eines genial konstruierten Mechanismus aus Hebeln und Winden auch ohne Schwierigkeiten konnte und in der Tat gewöhnlich auch machte).
»Wo ist die Leibwache?« fragte ich, noch immer schwer atmend. Ich hatte eine solche Furcht vor seiner Antwort, wie noch nie vor etwas in meinem ganzen Leben.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte er. »Vor zwei Stunden, als ich noch schlief, ergriff man und fesselte mich, und erst jetzt ist es mir gelungen, mich mit den Zähnen meiner Fesseln zu entledigen. Ich fürchte, ich fürchte sehr, daß wir verraten wurden.«
Seine Worte gaben mir neuen Mut. Ich griff ihn beim Arm und humpelte, gefolgt von Umslopogaas, der wie ein Betrunkener hinter uns hertorkelte, über den Hof, durchquerte die große Halle, die jetzt still war wie ein Grab, und näherte mich dem Schlafgemach der Königin.
Wir kamen in das erste Vorzimmer - kein Wachtposten war zu sehen; dann ins zweite - immer noch kein Wachtposten! Allmächtiger! Sicher war es schon geschehen! Nun waren wir doch zu spät gekommen! Die Stille und die Einsamkeit der großen leeren Gemächer waren bedrückend; sie lasteten auf mir wie ein böser Traum. Und dann kamen wir an Nylephtas
Schlafgemach. Wir stürzten hinein, das Schlimmste befürchtend. Doch da - ein Licht, ja, und eine Gestalt, eine weibliche Gestalt, die das Licht trägt. Oh, Gott sei Dank, es ist die Königin selbst, die Weiße Königin; sie ist unverletzt! Da steht sie vor uns in ihrem Nachtgewand. Der Lärm unserer Ankunft hat sie geweckt, und sie ist aus ihrem Bette aufgestanden. Sie ist noch benommen vom Schlafe, und die Röte der Furcht und der Scham bedeckte wie ein Tuch ihre liebliche Brust und ihre Wange.
»Wer ist da?« ruft sie voller Angst. »Was hat dies zu bedeuten? Oh, Macumazahn, du bist es. Warum siehst du so verwirrt und erschöpft aus? Du scheinst mir wie einer, der schlimme Kunde bringt - und mein Gebieter - oh, bitte, sage mir nicht, daß mein Gebieter tot ist!« Sie brach in Tränen aus und rang ihre weißen Hände.
»Als ich Incubu verließ, war er zwar leicht verwundet, aber er führte dennoch den Vorstoß unseres Heeres gegen Sorais gestern abend bei Sonnenuntergang; darum mag dein Herz sich beruhigen. Sorais ist auf ganzer Linie zurückgeschlagen, und deine Streitmacht hat die Oberhand gewonnen.«
»Ich wußte es!« rief sie triumphierend. »Ich wußte, er würde obsiegen; doch sie nannten ihn einen Ausländer und schüttelten ihre weisen Häupter, als ich ihm das Kommando übertrug! Gestern abend bei Sonnenuntergang, sagst du, und noch hat der Morgen nicht gegraut. Gewiß ... «
»Wirf einen Mantel über deine Schultern, Nylephta«, unterbrach ich sie, »und gib uns Wein zu hinken; ja, und rufe schnell deine Zofen herbei, wenn dir dein Leben lieb ist. Säume nicht! Rasch nun!«
Solchermaßen inbrünstig gebeten eilte sie zum Vorhang ihres Gemaches und rief etwas in einen dahinterliegenden Raum. Dann schlüpfte sie hastig in ihre Sandalen und warf sich einen warmen Mantel über. Mittlerweile hatte sich der Raum schon mit etwa einem halben Dutzend halbbekleideter Frauen gefüllt.
»Folgt uns und gebt keinen Laut von euch«, sagte ich zu ihnen. Sie starrten mich verwundert an und hielten sich aneinander ängstlich fest. Dann gingen wir in das erste Vorzimmer.
»Nun«, sagte ich, »gebt uns Wein zu trinken und Nahrung so ihr welche habt, denn wir sind dem Hungertode nahe.«
Der Raum diente als Messe für die Offiziere der Leibgarde. Man brachte uns schnell mehrere Flaschen Wein aus einem Schrank und ein wenig kaltes Fleisch. Hungrig fielen Umslopogaas und ich darüber her, und bald fühlten wir, wie mit dem guten Wein auch wieder neues Leben in unsere Venen rann.
»Horche, Nylephta«, sagte ich, als ich das leere Seidel absetzte. »Hast du hier unter deinen Zofen solche, die zuverlässig und verschwiegen sind?«
»Gewiß.«
»Dann heiße sie, durch eine Seitentür den Palast zu verlassen, auf die Straße hinauszugehen und jeden Bürger, von dem du weißt, daß er dir treu ergeben ist, zu bitten, daß er bewaffnet hierherkomme. Sie sollen alle ehrenhaften Leute versammeln, um dich vor dem Tode zu erretten. Nein, stelle mir keine Fragen; tu, wie ich dir sage, rasch! Kara wird die Mädchen hinauslassen.«
Sie blickte in die Runde, wählte zwei aus dem Kreise der Zofen aus und wiederholte meine Worte. Dann nannte sie ihnen die Namen der Männer, zu denen sie gehen sollten.
»Eilet schnell und lasset euch nicht erblicken; eilet, als ginge es um euer eigenes Leben«, fügte ich hinzu.
Im nächsten Moment verschwanden sie schon zusammen mit Kara, den ich beauftragt hatte, uns an dem Tor, das den großen Hof mit der Treppe verband, zu erwarten, sobald er die Tür hinter den Mädchen geschlossen hatte. Dann gingen auch Umslopogaas und ich zu dem vereinbarten Treffpunkt, gefolgt von der Königin und ihren Dienerinnen. Während wir gingen, bissen wir gierig große Stücke von dem kalten Fleisch ab. Zwischen den einzelnen Bissen erzählte ich der Königin, was ich von der Gefahr wußte, die ihr drohte, und in welchem Zustand wir Kara vorgefunden hatten, und daß alle Gardisten und Diener fortgelaufen waren, und daß sie ganz alleine mit ihren Zofen und Dienerinnen im Palast war. Daraufhin berichtete sie mir, in der ganzen Stadt hätte sich das Gerücht verbreitet, daß unsere Armee völlig vernichtet worden sei, und daß Sorais im Triumphe auf Milosis marschiere. Daraufhin seien alle Männer von ihr, Nylephta, abgefallen.
Auch wenn es eine ganze Weile dauert, all dies zu erzählen, so waren doch kaum mehr als sechs oder sieben Minuten vergangen, seit wir den Palast betreten hatten. Zwar glänzte die hehre goldene Kuppel des Tempels bereits hell in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne, doch noch hatte der Tag nicht begonnen. Ich wußte, zehn Minuten würden uns noch bleiben. Wir befanden uns inzwischen auf dem großen Hofe des Palastes. Meine Wunde bereitete mir jetzt solche Schmerzen, daß ich Nylephtas Arm als Stütze nehmen mußte. Umslopogaas ging hinter uns her und schlang heißhungrig Fleisch in sich hinein.
Jetzt hatten wir den Hof überquert und standen vor dem schmalen Durchgang in der Palastmauer, hinter dem die riesige Treppe begann, die hinunter zum Wasser führte.
Ich blickte durch die schmale Öffnung hindurch und stutzte. Ich blickte erneut hindurch und glaubte, meinen Augen nicht zu trauen. Was ich sah, ließ mir fast das Blut in den Adern gefrieren - die Tür war verschwunden; ebenso das große Außentor aus Bronze - einfach fort, wie vom Erdboden verschwunden. Sie waren einfach aus den Angeln gehoben worden und, wie wir später erfuhren, von der großen Treppe herab in die Tiefe geworfen worden und zweihundert Fuß weiter unten zerschellt. Vor uns befand sich nur noch eine Öffnung von etwa der doppelten Größe eines ovalen Eßtisches; dahinter schlossen sich direkt die zehn runden schwarzen Marmorstufen an, die zur Haupttreppe führen - das war alles.