19 Eine seltsame Hochzeit

Einer Person jedoch war es nicht gelungen, noch rechtzeitig zu entkommen, bevor die Tore des Palastes geschlossen wurden; diese Person war niemand anderes als der Hohepriester Agon, der, wie wir allen Grund hatten anzunehmen, Sorais' großer Bundesgenosse und Herz und Seele ihres ganzen Haufens war. Dieser hinterhältige und grausame alte Mann hatte uns den Zwischenfall mit den Flußpferden noch immer nicht verziehen; zumindest schob er das immer als Hauptgrund für seine Feindseligkeit uns gegenüber vor. Was dahintersteckte, war klar: Er wollte um jeden Preis verhindern, solange das noch irgend möglich war, daß unsere freiere Geisteshaltung und unsere fremdländische Gelehrsamkeit in Zu-Vendis Schule machten und unser Einfluß noch größer wurde, als er es ohnehin schon war. Auch wußte er, daß wir ein anderes Religionssystem besaßen, und zweifelsohne plagte ihn ständig die Furcht, daß wir versuchen würden, es in Zu-Vendis einzuführen. Eines Tages hatte er mich gefragt, ob es in unserem Lande auch eine Religion gäbe, und darauf hatte ich geantwortet, daß wir meines Wissens sogar fünfundneunzig verschiedene davon aufzubieten hätten. Diese Antwort hatte ihn fast vom Stuhl gekippt; und es ist ja auch wirklich schwer, den Hohepriester eines fest etablierten Kultes, dem das Gespenst von fünfundneunzig; Religionen im Nacken sitzt, nicht zu bedauern.

Als wir die Nachricht hörten, daß Agon gefangengenommen worden war, berieten wir - das heißt, Nylephta, Sir Henry und ich -, was wir mit ihm anstellen sollten. Ich plädierte dafür, ihn kurzerhand in den Kerker zu werfen, worauf Nylephta jedoch heftig den Kopf schüttelte; sie sagte, daß das eine verhängnisvolle Wirkung im ganzen Lande nach sich ziehen würde.

»Wenn ich gewinne, dann werde ich die Macht dieser Priester brechen«, versicherte sie. »Ich hasse ihre Geheimniskrämerei und ihren Hochmut.«

»Nun«, schlug Sir Henry vor, »wenn wir ihn also nicht ins Gefängnis stecken sollen, dann lassen wir ihn doch besser gleich wieder laufen. Er ist unnütz. Was sollen wir mit ihm?«

Daraufhin schaute ihn Nylephta mit einem seltsamen Blick an und sagte mit einer Stimme wie die eines Vogels: »Bist du sicher, daß er zu nichts nütze ist?«

»He?« entfuhr es Curtis. »Nun, ich wüßte wirklich nicht, wozu es gut sein sollte, ihn hierzubehalten.«

Sie sagte nichts, schaute ihn jedoch mit einem ebenso schüchternen wie süßen Lächeln an.

Da begriff er endlich.

»Verzeih mir, Nylephta«, sagte er mit bebender Stimme. »Willst du damit sagen, daß du mich heiraten willst, jetzt und hier, auf der Stelle?«

»Ich weiß nicht; mein Geliebter möge es entscheiden. Wenn mein Gebieter es will ... ich bin bereit, dem Wunsche meines Gebieters Folge zu leisten. Höre, mein Gebieter, in acht Tagen, vielleicht gar schon früher, mußt du mich verlassen und in den Krieg ziehen; denn du sollst meine Armeen führen. Und im

Kriege - im Kriege fallen oft Männer, und wenn das auch dein Schicksal sein sollte, dann will ich dich wenigstens für eine kurze Zeit ganz für mich allein gehabt haben, und wenn es auch nur für die Erinnerung sein sollte.«

Ich sah, daß sie Tränen in den Augen hatte.

»Vielleicht«, fuhr sie fort, »wird es auch geschehen, daß ich meine Krone verliere, und mit ihr mein Leben und das deinige dazu. Sorais ist hart und voller Haß; wenn sie obsiegt, dann wird sie in ihrer Rache unbarmherzig sein. Wer kann schon in die Zukunft blik-ken? Das Glück ist der Welt weißer Vogel, und nur selten kommt er zu uns geflogen und läßt sich neben uns nieder; meistens fliegt er schnell vorbei und strebt in die weite Ferne, bis er eines Tages in den Wolken verschwindet. Und darum sollten wir ihn festhalten, solange es geht, wenn er einmal für eine Weile auf unserer Hand sitzt. Es ist nicht weise, die Gegenwart zu mißachten, indem man immer nur an die Zukunft denkt; denn wer weiß schon, was die Zukunft bringen wird, Incubu? Laß uns unsere Blume pflücken, solange noch der Tau auf ihr glitzert; denn wenn die Sonne am Himmel steht und auf sie herabbrennt, dann wird sie verwelken, und morgen schon wird eine andere blühen, die wir niemals sehen werden.« Und dann hob sie ihr schönes Antlitz und schaute ihn an und lächelte, und wieder spürte ich diesen merkwürdigen Stich der Eifersucht in meinem Herzen und ging leise davon. Sie scherten sich nie groß darum, ob ich dabei war oder nicht; wahrscheinlich dachten sie, ich wäre ohnehin nur ein alter Trottel, der solcherlei Dinge längst hinter sich hatte. Nun ja, eigentlich hatten sie ja auch recht damit.

Und so ging ich also zurück in unser Quartier und grübelte über Gott und die Welt nach und schaute durch das Fenster dem alten Umslopogaas zu, der seine Axt wetzte wie ein Geier, der neben einem toten Ochsen sitzt und seinen Schnabel wetzt.

Etwa eine Stunde später kam Sir Henry zu uns herübergehetzt. Seine Wangen und Augen glühten, und er machte einen mächtig erregten Eindruck. Er fragte Good und mich, ja sogar Umslopogaas, ob wir ihm bei einer richtigen Hochzeit mithelfen wollten. Natürlich sagten wir ja, und ab ging's in die Kapelle, wo wir schon Agon mit einem solch mürrischen Gesicht vorfanden, wie es wohl nur ein im höchsten Maße übelgelaunter Hohepriester zustandebringen kann. Alles andere wäre ja auch eine Überraschung gewesen. Es stellte sich heraus, daß es zwischen ihm und Nylephta eine kleine Meinungsverschiedenheit betreffs der bevorstehenden Zeremonie gegeben hatte. Er hatte es rundweg abgelehnt, die Feier zu zelebrieren oder einem seiner Priester dazu die Erlaubnis zu erteilen. Daraufhin war Nylephta sehr böse geworden und hatte ihn daran erinnert, daß sie in ihrer Eigenschaft als Königin das Oberhaupt der Kirche war, und daß sie als solches darauf bestünde, daß man ihre Befehle befolge. Sie verkörperte in der Tat die Rolle eines Heinrich VIII. a la Zu-Vendis bis zur Perfektion und bestand darauf, verheiratet zu werden, und zwar von ihm[14].

Und als er sich noch immer weigerte, den Trau-ungsakt zu vollziehen, brachte sie schließlich ein Argument vor, dem es an Überzeugungskraft nicht mangelte ...

»Nun gut, ich kann zwar einen Hohepriester nicht hinrichten lassen, dagegen spricht ein absurdes Vorurteil, und ich kann ihn auch nicht ins Gefängnis werfen, weil dann alle seine Untergebenen ein solches Gezeter anstimmten, daß die Sterne vom Himmel fallen und Zu-Vendis zerschmettern würden; aber eines kann ich doch tun: Ich kann ihn dazu zwingen, sich vor den Altar zu knien und in Andacht die Sonne anzubeten, und zwar ohne daß er etwas zu essen bekommt; denn das ist seine eigentliche Berufung. Und wenn du mich nicht trauen willst, Agon, dann werde ich dich mit ein bißchen Wasser vor den Altar setzen, und du wirst solange dort knien, bis du dir die Sache überlegt hast.«

Und wie es der Zufall wollte, war Agon an jenem Morgen schon von Sorais aufgescheucht worden, bevor er noch Zeit gehabt hatte, zu frühstücken, und mittlerweile plagte ihn schon so sehr der Hunger, daß er auf der Stelle seine Meinung änderte und sich zähneknirschend bereiterklärte, die beiden zu kauen. Er konnte sich jedoch nicht verkneifen, noch hinzuzufügen, daß er seine Hände in Unschuld wasche und in dieser Angelegenheit jegliche Verantwortung ablehne.

Und so kam es, daß kurz darauf Königin Nylephta erschien, nur von zwei ihrer Lieblingszofen begleitet, mit vor Freude glühendem Gesicht und gesenktem Blick; sie war ganz in Weiß gekleidet, wie es wohl bei solcherlei Anlässen überall auf der Welt üblich ist. Sie trug keinerlei Schmuck; sogar ihre Goldreifen hatte sie abgelegt. Ich für mein Teil hatte das Gefühl, daß sie ohne sie noch schöner als vorher aussah - wie es meistens bei so überragend schönen Frauen der Fall ist, wenn sie bar jeglichen Schmuckes sind.

Sie machte einen tiefen Knicks vor Sir Henry, ergriff seine Hand und führte ihn vor den Altar, und nach einem kurzen Moment der inneren Andacht sprach sie langsam und mit klarer Stimme die folgenden Worte, wie es der Brauch ist in Zu-Vendis, wenn die Braut den Bräutigam fragt:

»Schwörst du bei der Sonne, daß du keine andere Frau zum Weibe nimmst, es sei denn, ich lege meine Hand auf sie und bitte sie zu kommen?«

»Ich schwöre es«, antwortete Sir Henry und fügte auf Englisch hinzu: »Eine reicht mir völlig.«

Dann trat Agon, der die ganze Zeit in der Ecke neben dem Altar mit mürrischem Gesicht vor sich hingebrütet hatte, nach vorn und murmelte mit solcher Schnelligkeit etwas in seinen Bart, daß ich kaum ein Wort verstand. Es schien jedoch so etwas wie ein Anruf an die Sonne zu sein, der Bindung ihren Segen zu geben und sie fruchtbar zu machen. Ich bemerkte, daß Nylephta genau auf jedes Wort, das er sagte, achtete. Nach einer Weile ging mir schließlich auf, daß sie befürchtete, Agon würde sie vielleicht hereinlegen wollen, indem er die Anrufe an die Sonne in umgekehrter Reihenfolge abspulte und damit ihre Scheidung besiegelte, statt sie zu trauen. Nachdem das Bittgebet an die Sonne beendet war, wurde dem Brautpaar, wie auch bei unserem Trauungsakt, die Frage gestellt, ob sie einander zum Manne beziehungsweise zur Frau nehmen wollten. Beide antworteten laut und vernehmlich mit »ja«, und dann küßten sie sich vor dem Altar. Damit war gemäß ihrer Riten die Trauung vollzogen. Ich hatte jedoch das Gefühl, daß noch irgend etwas fehlte, und so holte ich mein Gebetbuch hervor, das mich, zusammen mit den >Ingoldsby-Sagen<, die ich sehr oft lese, wenn ich des Nachts wach im Bett liege, auf allen meinen Fahrten und Expeditionen begleitet hatte. Ich hatte es vor Jahren meinem armen Harry gegeben, und nach seinem Tod hatte ich es bei seinen Sachen gefunden und wieder an mich genommen.

»Curtis«, sagte ich, »du weißt, ich bin kein Geistlicher, und ich weiß auch nicht, ob ich das, was ich dir jetzt vorschlage, überhaupt tun darf - ich weiß jedenfalls, daß es nicht legal ist -, aber wenn ihr keine Einwände dagegen habt, dann würde ich jetzt gerne den englischen Traugottesdienst für euch lesen. Es ist ein wichtiger Schritt in eurem Leben, den ihr jetzt vollziehen wollt, und ich glaube, daß ihr, soweit die Umstände es erlauben, diesen Akt auch mit dem Segen eurer eigenen Religion versehen solltet, Sir Henry.«

»Ich habe auch schon daran gedacht«, antwortete er, »und ich möchte dich gerne darum bitten, es zu tun. Ich fühle mich bis jetzt noch nicht einmal halb verheiratet.«

Auch Nylephta hatte keinerlei Einwände dagegen. Sie verstand voll und ganz, daß ihr Gemahl den Wunsch hatte, die Trauungszeremonie nach den Riten zu vollziehen, die in seinem eigenen Lande üblich waren. Und so las ich denn den vollen Wortlaut unseres eigenen Traugottesdienstes vor, so schön ich eben konnte; und als ich an die Stelle kam, wo es heißt »Ich, Henry, nehme dich, Nylephta«, da übersetzte ich es, und ebenfalls »Ich, Nylephta, nehme dich, Henry«, und sie sprach es mir sehr schön nach. Als nächstes nahm Sir Henry einen schlichten Goldring von seinem kleinen Finger und schob ihn auf den Ringfinger seiner Frau. Der Ring war einst der Trauring von Curtis' Mutter gewesen, und mir kam unwillkürlich der Gedanke, wie verblüfft die gute alte Dame aus Yorkshire wohl gewesen wäre, hätte sie gewußt, daß ihr Trauring eines Tages denselben Zweck bei Nylephta, einer der Königinnen von Zu-Vendis, erfüllen sollte.

Was Agon anbetraf, so hatte er alle Mühe, ruhig zu bleiben, während diese zweite Zeremonie vonstatten ging. Er durchschaute sofort, daß es sich um eine ihrem Wesen nach religiöse Zeremonie handelte, und mit Sicherheit kamen ihm dabei sogleich wieder die fünfundneunzig verschiedenen Religionen in den Sinn, die da so unheilvoll drohend über ihm schwebten. Mich betrachtete er natürlich schon als den Hauptrivalen im Amt des Hohepriesters und starrte mich dementsprechend haßerfüllt an. Schließlich verschwand er jedoch, vor Wut und Entrüstung buchstäblich kochend, und mir war klar, daß wir uns in Zukunft noch mehr als zuvor vor ihm in acht nehmen mußten.

Und dann verschwanden auch Good und ich, und ebenso der alte Umslopogaas, um das glückliche Paar erst einmal mit sich und seinem Glück allein zu lassen. Wir fühlten uns alle irgendwie ziemlich niedergedrückt. Man nimmt im allgemeinen an, daß Hochzeiten eine fröhliche Angelegenheit sind, aber meiner Erfahrung nach sind sie eigentlich genau das Gegenteil, ausgenommen vielleicht für die beiden Hauptbetroffenen. Sie bedeuten, daß so viele alte Bande zerrissen und so viele neue geknüpft werden, und ich finde, es hat immer etwas Trauriges an sich, wenn eine so alte vertraute Ordnung zu bestehen aufhört. Um einmal diesen Fall als Beispiel zu nehmen: Sir Henry Curtis ist wirklich der prächtigste Kerl und beste Freund, den es auf der ganzen Welt gibt, aber seit jener kleinen Begebenheit in der Kapelle ist er nie wieder ganz der Alte gewesen. Alles dreht sich nur noch um seine geliebte Frau: Nylephta hier, Nylephta da - kurz: von morgens bis abends gibt es nichts anderes mehr als seine geliebte Nylephta, ob in Worten oder in Gedanken. Und was seine alten Freunde anbetrifft - nun, sie haben natürlich den Platz eingenommen, den alte Freunde eben so einnehmen; nämlich den - und darauf achten Ehefrauen in der Regel sehr peinlich, wenn der Mann heiratet - in der zweiten Reihe. Natürlich würde er heftig protestieren, wenn jemand ihm das sagte, aber so ist es nun einmal. Er ist nicht mehr so wie früher; und Nylephta ist sehr süß und charmant, und ich glaube, sie möchte, daß er auch deutlich merkt, daß sie ihn geheiratet hat, und nicht Quatermain, Good und Co. Aber Schluß jetzt mit dem Gemeckere! Es ist alles richtig und gut, wie jede Ehefrau auf der Welt ohne Schwierigkeiten behaupten könnte, und ich bin ein egoistischer, eifersüchtiger alter Mann, und ich hoffe nur, daß ich es niemals zeigen werde.



Good und ich verschwanden also. Wir aßen schweigend und taten uns danach an einem besonders feinen Tröpfchen besten alten Zu-Vendi-Weines gütlich, um unsere Stimmung wieder ein wenig zu heben. Da trat plötzlich einer unserer Dienstboten ins Zimmer und wartete mit einer Neuigkeit auf, die uns einiges zu denken gab.

Sie erinnern sich vielleicht daran, daß Alphonse nach seinem Streit mit Umslopogaas äußerst schlechtgelaunt weggegangen war, um sich eine Weile in seinen Schmollwinkel zu verziehen. Nun war er dabei auf direktem Wege zum Tempel marschiert, in den er jedoch nicht hineingegangen war, sondern er war die breite Straße, die hinter dem Tempel wieder bergab führte, weitergegangen, bis er in den schönen Park, beziehungsweise in die Gartenanlagen gelangt war, die sich direkt hinter der Außenmauer erstreckten. Nachdem er dort eine Zeitlang umhergewandert war, hatte er sich wieder auf den Rückweg gemacht. Am Außentor jedoch war er zufällig mit Sorais' Wagenkolonne zusammengetroffen, die sich in voller Fahrt in Richtung der nach Norden führenden Landstraße bewegte. Als Sorais Alphonse erblickte, hielt sie an und rief ihn zu sich. Und ehe er sich's versah, hatte man ihn schon gepackt und in einen der Wagen gezerrt, unter >lautem Gebrüll<, wie unser Informant sich ausdrückte, und nach allem, was ich über Alphonse weiß, nehme ich ihm das auf der Stelle ab.

Zuerst hatte ich mir überhaupt keinen Reim darauf machen können, warum Sorais ausgerechnet den armen kleinen Franzosen entführt hatte. Schließlich jedoch wurde mir die Sache auf einmal sonnenklar. Wir drei wurden von einem großen Teil der Bevölkerung von Zu-Vendis mit großer Ehrerbietung betrachtet, um nicht zu sagen: bewundert, und zwar zum einen aus dem Grund, weil wir die ersten Ausländer überhaupt waren, die sie jemals zu Gesicht bekommen hatten, und zum andern, weil die Leute glaubten, daß wir uns im Besitz übernatürlichen Wissens befanden.

Sorais' wütende Beschimpfungen, wir seien fremdländische Wölfe<, kamen ohne Zweifel bei den Adeligen und den Priestern gut an, bei der Mehrheit der Bevölkerung jedoch fanden sie, wie wir sehr bald merkten, kein besonderes Echo. Die Zu-Vendi sind, ähnlich wie die alten Athener, immer auf der Suche nach etwas Neuem, und allein die Tatsache, daß wir so etwas gänzlich >Neues< waren, reichte schon aus, daß sie uns mit Wohlwollen betrachteten. Dazu kam, daß Sir Henrys großartiges Äußeres einen tiefen Eindruck auf dieses Volk hinterließ, das mehr als jedes andere, das ich je kennengelernt habe, einen ausgeprägten Sinn für das Schöne besitzt. In anderen Ländern mag man durchaus das Schöne preisen; in Zu-Vendis wird es fast vergöttert, wie ja auch die überall im Lande immer wieder festzustellende Vorliebe für die Bildhauerkunst deutlich beweist. Die Menschen redeten ganz offen auf dem Marktplatz davon, daß es wohl kaum einen Mann im ganzen Lande gäbe, der Curtis in seinem Äußeren gleichkäme, so wie es ihrer Meinung nach niemanden außer Sorais gab, der es in bezug auf Schönheit mit Nylephta aufnehmen konnte. Sie fanden es daher auch völlig normal, daß diese beiden heirateten. Ja, sie waren sogar der festen Überzeugung, daß die Sonne Sir Henry ihrer Königin als Gemahl gesandt hatte. Nun, wenn man dies berücksichtigt, kann man sich wohl gut vorstellen, daß Sorais' Versuche, uns bei der Bevölkerung in ein schlechtes Licht zu rücken, nicht gerade auf fruchtbaren Boden fielen. Und niemand wußte das besser als Sorais selbst. Meine Folgerung war daher, daß sie sich wahrscheinlich dazu entschlossen hatte, draußen bei der Landbevölkerung den Eindruck zu erwecken, als rühre der Konflikt mit ihrer Schwester von ganz anderen, viel allgemeineren Ursachen her als lediglich der Heirat Nylephtas mit einem Fremden. In einem Land, das schon so oft von Bürgerkriegen erschüttert worden war, war es wahrscheinlich leicht, irgendeine alte Geschichte aufzurühren, die die Erinnerung an längst begrabene Fehden wieder wachrief und alte Wunden wieder aufriß. Und, wie ich es vermutete, hatte sie auch sehr schnell etwas Passendes gefunden. Aus diesem Grund war es von großer Wichtigkeit für sie, einen der Fremden bei sich zu haben, den sie der einfachen Landbevölkerung als einen der berühmten Ausländer verkaufen konnte, der sich für ihre gerechte Sache so begeistert hatte, daß er den Entschluß gefaßt hatte, seine Kameraden zu verlassen und ihrem Banner zu folgen.

Dies war ohne Zweifel auch der Grund dafür gewesen, daß sie so sehr darauf bedacht gewesen war, Good auf ihre Seite zu ziehen. Sie hätte ihn solange benutzt, wie er ihr für ihre Zwecke dienlich erschienen wäre, und dann hätte sie ihn fallenlassen. Aber als Good im letzten Moment doch noch abgesprungen war, hatte sie die sich so günstig bietende Gelegenheit, Alphonse zu ergreifen, sofort beim Schopf gepackt. Alphonse hatte, abgesehen vielleicht davon, daß er ein bißchen kleiner war als Good, eine gewisse Ähnlichkeit mit diesem. Ich war felsenfest davon überzeugt, daß Sorais die Absicht hatte, ihn den Leuten auf dem Lande und in den kleineren Städten als den großen Bougwan höchstpersönlich vorzuführen.

»Was?« rief Good mit gequälter Stimme. »Du glaubst wirklich, sie hat vor, dieses armselige Häuf-chen so zu verkleiden, daß alle Welt ihn für mich hält? Nun, dann werde ich so schnell wie möglich das Land verlassen müssen! Mein Ruf wird für immer ruiniert sein.«

Ich tröstete ihn, so gut ich konnte; aber es ist wirklich nicht gerade ein angenehmes Gefühl, zu wissen, daß man in einem fremden Land von einem ausgemachten Feigling verkörpert wird, und ich konnte ihm daher seinen Kummer nur allzu gut nachfühlen.

Nun, wie schon gesagt, an jenem Abend tafelten Good und ich also in zweisamer Erhabenheit, und wir fühlten uns eigentlich eher so, als hätten wir gerade einen guten Freund zu Grabe getragen, anstatt daß wir ihn verheiratet hätten. Am darauffolgenden Morgen begann dann in vollem Ernst die Arbeit. Die Depeschen und Befehle, die Nylephta zwei Tage vorher ins Land geschickt hatte, zeigten nun die erste Wirkung, und aus allen Richtungen strömten pausenlos bewaffnete Männer in die Stadt. In den darauffolgenden Tagen sahen wir, wie man sich wohl leicht denken kann, nur sehr wenig von Nylephta und Sir Henry. Good und ich saßen täglich von früh bis spät mit dem Generalstab und den loyalen Fürsten zusammen und entwarfen Kriegspläne, regelten Nachschub- und Versorgungsangelegenheiten. Stündlich meldeten sich neue Freiwillige bei uns, und von früh bis spät waren die großen Straßen, die nach Milosis führten, bunt gesprenkelt von den Fahnen und Standarten der Fürsten, die oftmals von weit her kamen, um sich um Nylephtas Banner zu scharen.

Nach den ersten beiden Tagen zeichnete sich ab, daß wir mit ungefähr vierzigtausend Fußsoldaten und zwanzigtausend Mann Kavallerie zu Felde zie-hen konnten. Das war, wenn man bedachte, in welch kurzer Zeit wir diese Truppe hatten ausheben müssen, eine respektable Streitmacht. Ungefähr die Hälfte der regulären Armee hatte sich entschlossen, Sorais zu folgen.

Aber wenn unsere Streitmacht auch groß war, so war die von Sorais, nach den Meldungen, die unsere Späher Tag für Tag hereinbrachten, noch erheblich größer. Sie hatte ihr Hauptquartier in einer gutbefestigten Stadt namens M'arstuna aufgeschlagen, die -ich erwähnte es bereits - nördlich von Milosis gelegen war, und nun strömte das gesamte Landvolk zu ihren Fahnen. Nasta befand sich ebenfalls auf dem Wege vom Hochland nach M'arstuna, und bei sich hatte er nicht weniger als fünfundzwanzigtausend seiner Hochländer, die zu den gefürchtetsten Soldaten in ganz Zu-Vendis gehörten. Ein anderer mächtiger Fürst mit Namen Belusha, der in der großen Pferdezuchtregion beheimatet war, war mit zwölftausend Mann Kavallerie bei ihr eingetroffen; und so überschlugen sich die Meldungen über gewaltige Truppenbewegungen in Richtung von Sorais' Sammelstellen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie eine gutausgerüstete Armee von nahezu hunderttausend Mann zusammenhaben würde.

Als nächstes überraschte uns die Nachricht, daß Sorais beabsichtigte, ihr Lager abzubrechen und direkt auf die finster blickende Stadt zuzumarschieren und alles Land auf ihrem Wege zu verwüsten. So warf sich die Frage auf, was wir unternehmen sollten; entweder erwarteten wir sie in Milosis, oder wir verließen den Schutz der Stadt und stellten uns ihr zur Schlacht. Als unser Rat zu dem Problem gefragt wurde, stimmten Good und ich ohne zu zögern für die zweite Möglichkeit. Denn wenn wir uns in der Stadt verschanzten und auf den Angriff warteten, dann bestand die Gefahr, daß man unsere abwartende Haltung als Furcht auslegte. Es ist von größter Wichtigkeit, besonders in einem derartigen Fall, wo schon das kleinste Ereignis bewirken kann, daß die Stimmung der Männer ins Gegenteil umschlägt, daß man aktiv ist und etwas unternimmt. Der glühende Eifer, mit dem man für eine Sache eintritt, löst sich sehr schnell in Luft auf, wenn die Truppe nicht in Bewegung ist, sondern zur Untätigkeit verdammt auf den Angriff des Feindes warten muß. Aus diesem Grunde traten Good und ich sofort dafür ein, loszumarschieren und die offene Feldschlacht zu suchen, statt herumzusitzen und zu warten, bis wir endlich aus unseren Mauern getrieben wurden wie ein Dachs aus seinem Loch.

Sir Henry war auch unserer Meinung, und ebenso Nylephta, die gleichsam wie ein Feuerstein immer dazu bereit war, Funken zu sprühen. Man brachte eine große Landkarte und breitete sie vor ihr aus. Etwa dreißig Meilen südlich von M'arstuna, wo Sorais sich bekanntlich aufhielt, und somit etwas mehr als neunzig Meilen nördlich von Milosis verlief die Straße über einen Paß von etwa zweieinhalb Meilen Breite. Er wurde an dieser Stelle auf beiden Seiten von bewaldeten Hügeln flankiert. Diese waren, wenn man gleichzeitig die Straße blockierte, auch wenn sie nicht besonders hoch waren, für eine große Armee mit schwerem Troß unpassierbar. Nylephta schaute mit ernstem Gesichtsausdruck auf die Karte, und plötzlich, mit einem verblüffend schnellen Wahrnehmungsvermögen, wie es bei manchen Frauen schon fast an Instinkt grenzt, tippte sie mit dem Finger auf eben jenen Paß. Dann wandte sie sich zu ihrem Gemahl um, warf ihre goldene Haarpracht in den Nak-ken und sagte mit stolzer, zuversichtlicher Miene: »Hier sollst du Sorais' Armee stellen. Ich kenne den Flecken, hier sollst du sie stellen, und du sollst sie vor dir hertreiben wie der Sturm den Staub!«

Sir Henry schaute düster drein und sagte nichts.

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