15 Sorais' Lied

Nachdem wir Agon und seiner bigotten Mörderbande so glücklich entkommen waren, kehrten wir in unsere Quartiere im Palast zurück. In der Folgezeit erging es uns prächtig. Die beiden Königinnen, die Adeligen und die Bevölkerung wetteiferten miteinander darin, uns mit Ehrerbietungen und Geschenken zu überschütten. Und was den unglücklichen Zwischenfall mit den Flußpferden betrifft, so geriet er sehr bald in Vergessenheit, was uns auch alles andere als ungelegen war. Jeden Tag kamen Menschen, manchmal sogar ganze Abordnungen, zu uns, die unsere Waffen, unsere Kleidung, unsere Kettenhemden, unsere Instrumente, und insbesondere unsere Uhren bestaunen wollten. Die letzteren hatten es ihnen besonders angetan und schienen ihnen ein Heidenvergnügen zu bereiten. Kurz, wir kamen ganz groß in Mode; das ging sogar so weit, daß einige der modebewußten jungen Burschen unter den Zu-Vendi anfingen, den Schnitt einiger unserer Kleider zu kopieren, besonders Sir Henrys Jägerjacke. Eines Tages erwartete uns wieder einmal eine Gesandtschaft, und Good legte wie üblich zum Anlaß eines solchen Ereignisses seine Uniform an. Allem Anschein nach war diese Abordnung von etwas anderer Art als die, die uns gewöhnlich mit ihrem Besuch beehrten. Sie bestand aus einer Gruppe unscheinbar aussehender kleiner Männer, die ein ausgesucht höfliches, um nicht zu sagen unterwürfiges Verhalten an den Tag legten; ihre ganze Aufmerksamkeit galt augenscheinlich ausschließlich den Details von Goods Uniform; sie waren die ganze Zeit über damit beschäftigt, Aufzeichnungen davon anzufertigen und die exakten Maße der einzelnen Uniformteile zu nehmen. Good fühlte sich höchst geschmeichelt; denn er hatte zu dem Zeitpunkt noch keine Ahnung davon, daß es sich bei den Männern um die fünf führenden Schneider von Milosis handelte. Vierzehn Tage später jedoch - wir hielten wieder einmal wie gewöhnlich hof - hatte er das Vergnügen, zu sehen, wie sieben oder acht Zu-Vendi->Stutzer< in der vollen Pracht einer ausgezeichneten Imitation seiner Paradeuniform hereinstolziert kamen. Mit seiner guten Stimmung war es schlagartig vorbei. Ich werde niemals vergessen, wie er verblüfft und angewidert das Gesicht verzog. Nach diesem Ereignis beschlossen wir, in erster Linie, um nicht immer so viel Aufsehen zu erregen, und zweitens, weil sich unsere Kleider langsam auftrugen und geschont werden mußten, uns gemäß der einheimischen Gepflogenheiten zu kleiden. Und ich muß sagen, die Zu-Vendi-Tracht erwies sich als äußerst bequem, auch wenn ich zugeben muß, daß ich meines Erachtens nach einen recht lächerlichen Eindruck darin machte, ganz zu schweigen von Alphonse! Nur Umslopogaas scherte sich nicht darum; als sein altes Moocha durchgewetzt war, machte sich der wilde alte Zulu ein neues und lief weiterhin völlig unbekümmert darin herum, grimmig und nackt wie seine Streitaxt.

In der Zwischenzeit hatten wir eifrig unsere Sprachlektionen aufgenommen und recht gute Fortschritte gemacht. Am Morgen nach unserem Abenteuer im Tempel hatten sich drei gesetzte, ehrwürdig aussehende Herren bei uns eingefunden, bewaffnet mit Büchern, Tintenfässern und Federkielen, die uns eröffneten, daß man sie geschickt habe, uns in der Sprache der Zu-Vendi zu unterweisen. Mit Ausnahme von Umslopogaas machten wir uns alle eifrig ans Werk und büffelten vier Stunden pro Tag. Umslopo-gaas wollte auch damit nichts zu tun haben; er lehnte es ab, das >Weibergewäsch< zu erlernen - nein, nicht mit ihm! Und als einer der Lehrer auf ihn zuging und ihm mit dem Buch und dem Gänsekiel aufmunternd vor der Nase herumwedelte, etwa so wie ein Kirchendiener, der einladend mit dem Klingelbeutel unter der Nase eines reichen, aber knickrigen Ge-meindeschäfleins rasselt, da sprang der alte Zulu mit einem wütenden Fluch auf und fuchtelte unserem gelehrten Freund mit Inkosi-kaas vor dem Gesicht herum. Damit war der Versuch, ihm Zu-Vendi beizubringen, ein für allemal im Keim erstickt.

So verbrachten wir unsere Vormittage mit nützlicher Beschäftigung, die uns überdies auch großen Spaß machte, besonders, als wir feststellten, daß wir Fortschritte machten. Unsere Nachmittage waren ganz der Erholung gewidmet. Einige Male machten wir Ausflüge; unter anderem besuchten wir die Goldminen und die Marmorbrüche. Schade, daß mir Platz und Muße fehlen, diese ausführlich zu beschreiben. Ein paarmal gingen wir auch auf die Rehjagd, und zwar mit Hunden, die eigens für diesen Zweck ausgebildet waren; es machte ungeheuren Spaß, denn das Land verfügt über zahlreiche ausgezeichnete Wildgehege, und wir hatten wunderbare Pferde. Das war nicht weiter verwunderlich, zieht man in Betracht, daß wir nach Belieben über die königlichen Stallungen verfügen durften. Zusätzlich hatte uns Nylephta noch vier herrliche Reitpferde überlassen.

Manchmal vergnügten wir uns auch auf der Falkenjagd, die eine äußerst beliebte Freizeitbeschäftigung bei den Zu-Vendi darstellt. Sie richten ihre Vögel gewöhnlich auf eine Rebhuhngattung ab, die sich durch die große Schnelligkeit und die bemerkenswerte Ausdauer ihres Fluges auszeichnet. Wenn dieses Rebhuhn von dem Falken angegriffen wird, verliert es anscheinend den Kopf und fliegt, statt einen sicheren Schutz zu suchen, in schwindelnde Höhen hinauf und bietet damit natürlich dem Falken ein hervorragendes Angriffsziel. Einmal wurde ich Zeuge, wie ein Rebhuhn, das von einem Falken verfolgt wurde, so hoch aufstieg, daß ich es beinahe aus dem Blick verloren hätte. Ein noch besseres Opfer für den Falken bietet eine Spielart der Einsiedlerschnepfe, die fast die Größe einer kleinen Waldschnepfe erreicht und in diesem Lande sehr häufig vorkommt. Man jagt sie mit einem sehr kleinen, beweglichen, hervorragend abgerichteten Falken, der einen fast roten Schwanz besitzt. Der Zickzacklauf der großen Schnepfe und der pfeilschnelle Flug und die blitzartigen Bewegungen des rotschwänzigen Falken machen diesen Zeitvertreib zu einem höchst erbaulichen Vergnügen. Eine andere Variante dieses Sports ist die Jagd auf eine sehr kleine Antilopenart mit abgerichteten Adlern; und es ist wirklich ein grandioses Erlebnis, den großen Vogel zu beobachten, wie er in den Äther steigt, bis man ihn nur noch als winzigen schwarzen Fleck im Sonnenlicht erkennen kann, und dann, ganz plötzlich, kommt er heruntergeschossen wie eine Kanonenkugel und stürzt sich auf den Bock, der, vor allem verborgen außer dem alles durchbohrenden Blick des Adlers, irgendwo im Gras kauert. Das ganze Schauspiel ist noch schöner, wenn der Adler die Antilope in vollem Lauf schlägt.

An manchen Tagen fuhren wir hinaus auf die Landsitze einiger hoher Adeliger und besichtigten ihre wunderschönen Festungen mit den hinter ihre Mauern geschmiegten Dörfern. Wir sahen Weingärten, Kornfelder und gepflegte parkähnliche Anlagen mit herrlichen Bäumen, bei deren Anblick mir oftmals das Herz höher schlug; denn ich liebe schöne Bäume über alles. Kräftig und standhaft stehen sie da, so stark und doch voller Schönheit, eine wahre Verkörperung edlen Mannestums. Wie stolz ein edler Baum sein bares Haupt gegen den winterlichen Sturm erhebt, und mit welch freudig vollem Herzen er frohlockt, wenn der Frühling zurückgekehrt ist! Und wie erhaben seine Stimme erklingt, wenn er mit dem Winde spricht: Selbst der Klang von tausend Aeols-harfen kommt nicht dem wunderbaren Seufzen des Windes gleich, wenn er durch einen Baum in voller Blätterpracht rauscht. Am Tage ist er auf die Sonne gerichtet, und des Nachts auf die Sterne, und so überdauert er leidenschaftslos, und zugleich doch so voll mit Leben, die Jahrhunderte, ob es stürmt, oder ob die Sonne scheint, und er saugt seinen Lebenssaft aus dem kühlen Busen der Mutter Natur, und während die Jahre langsam dahingehen, erfährt er das Geheimnis des Wachstums und des Verfalls. Und ganze Generationen überdauert er, er überlebt Personen, Reiche, Dynastien - alles, bis auf die Erde, die er schmückt und Mutter Natur selbst - bis zu jenem Tage, an dem der Wind in dem langen Kampfe den Sieg davonträgt und sich des wieder errungenen Platzes erfreuen kann, oder bis der Verfall zu seinem letzten, zerstörerischen Schlag ausholt und den schon vom Tode gezeichneten Baum niederstreckt.

Das Abendessen pflegten Sir Henry, Good und ich gemeinsam mit den königlichen Majestäten einzunehmen - zwar nicht immer, aber wohl drei oder vier Mal die Woche, wann immer es ihnen an Gesellschaft ermangelte, oder die Staatsgeschäfte ihnen dazu Zeit ließen. Und ich muß sagen, daß diese gemeinsamen Mahlzeiten die reizendsten ihrer Art waren, die ich je erlebt hatte. Ich glaube wirklich, daß der ungeheure Liebreiz, den Nylephta ausstrahlt, in erster Linie in ihrer reizenden Schlichtheit und Unkompliziertheit begründet ist und in ihrem nicht gespielten, freundlichen Interesse, das sie selbst kleinen, unwichtig erscheinenden Dingen gegenüber an den Tag legt. Sie ist die einfachste Frau, die je kennenzulernen mir vergönnt war, und sie ist, sofern ihre Leidenschaften nicht berührt werden, auch die bezauberndste von allen Frauen, die ich je sah; aber wann immer es erforderlich erscheint, dann kann sie auch wahrhaft königlich und würdig auftreten und so heftig und ungestüm sein wie eine echte Wilde.

So werde ich zum Beispiel niemals jene Situation vergessen, in der mir zum erstenmal klar wurde, daß sie verliebt war in Curtis. Die ganze Sache wurde ins Rollen gebracht durch Goods bekannte Schwäche für weibliche Gesellschaft. Nachdem wir etwa drei Monate lang eifrig jeden Tag Zu-Vendi gelernt hatten, war Master Good der ehrwürdigen alten Herren, die so freundlich gewesen waren, uns mit gutem Erfolg in die Geheimnisse des Zu-Vendi einzuführen, überdrüssig. Und ohne auch nur ein Sterbenswörtchen einem von uns gegenüber darüber zu verlieren, gab er ihnen zu verstehen, daß er der Ansicht sei, man könne nur dann tiefer in die Feinheiten einer Fremdsprache eindringen, wenn man von Damen unterrichtet würde - jungen Damen, wie er nicht ausdrücklich hinzuzufügen vergaß. Außerdem sei das ein wissenschaftlich erwiesenes Faktum. In seinem eigenen Lande, so erklärte er ihnen im Brustton der Überzeugung, sei es gang und gäbe, daß man die bestausse-henden und reizvollsten Mädchen aussuche, die man finden könne, wolle man Fremden, die der Zufall ins Land verschlagen habe, die Sprache beibringen.

Die alten Herren standen mit offenem Mund da. Es wäre, so gaben sie zu, etwas Wahres in seinen Worten, führe doch die Betrachtung des Schönen, wie ihre Philosophie lehrte, zu einer gewissen Durchlässigkeit des Geistes, ähnlich der, die der heilsame Einfluß von Sonne und Luft beim physischen Körper hervorrufe. Folglich wäre die Wahrscheinlichkeit hoch, daß wir die Sprache der Zu-Vendi ein wenig schneller absorbieren könnten, wenn man passende Lehrkräfte für uns finde. Ein weiterer Vorteil wäre darin zu sehen, daß wir, da ja das weibliche Geschlecht bekanntlich etwas geschwätzig wäre, hervorragende Praxis im Viva-voce-Bereich unserer Sprachstudien erlangen würden.

Diesen Ausführungen pflichtete Good eifrig bei, und alsbald entschwanden die Herren mit der festen Zusicherung, ihre Anweisungen würden voll und ganz unseren Wünschen entsprechen, und man würde sich bemühen, unserem Geschmack so gut wie möglich gerecht zu werden.

Sie können sich daher, verehrter Leser, vorstellen, wie überrascht und gleichzeitig ärgerlich ich war -und ich bin sicher, Sir Henry teilte in diesem Punkt voll und ganz meinen Standpunkt -, als wir am darauffolgenden Morgen beim Betreten des Raumes, in dem wir wie gewöhnlich unsere Studien fortsetzen wollten, anstelle der ehrwürdigen alten Herren drei der bestaussehenden jungen Damen vorfanden, die Milosis aufbieten konnte - und das will schon etwas heißen! Als wir eintraten, erröteten sie heftig, machten schüchtern lächelnd einen Knicks und gaben uns zu verstehen, daß sie gekommen wären, unsere Anweisungen auszuführen. Und während wir noch dastanden und uns verblüfft anstarrten, hielt Good die Zeit für gekommen, uns zu sagen, daß die alten Herren ihn am Abend zuvor unterrichtet hätten, sie hielten es für absolut notwendig, daß unsere weitere sprachliche Unterweisung von Mitgliedern des anderen Geschlechts durchgeführt werde. Ich fühlte mich von der Situation völlig überrumpelt und wandte mich an Sir Henry mit der Bitte um einen Rat in einer derartigen Krise.

»Hm«, sagte er, wobei er sich räusperte, »wie ihr seht, sind die Damen nun einmal hier, nicht wahr? Wenn wir sie nun wieder fortschicken, glaubt ihr nicht, daß wir damit ihre Gefühle verletzen? Wir wollen doch nicht unhöflich und grob sein, oder? Und außerdem - sehen sie nicht bezaubernd aus?«

Mittlerweile hatte Good schon seine Lektion mit der hübschesten von den dreien begonnen; zu ändern war ohnehin nichts mehr an der Situation. Also seufzte ich einmal tief und ergab mich in mein Schicksal. An jenem Tag verlief alles bestens: die jungen Damen waren wirklich sehr klug, und sie lächelten auch nur dann, wenn einer von uns einen Schnitzer machte. Good war so eifrig bei der Sache wie nie zuvor, und sogar Sir Henry paukte Zu-Vendi mit ganz neuem Elan. Je nun, dachte ich, ob das wohl lange so anhält?

Tags darauf waren wir schon weit lebendiger als am Vortage: Unsere Studien waren angenehm aufgelockert mit Fragen, die unser Heimatland betrafen: z.B. wie die Frauen in England wären etc. Wir beantworteten alle Fragen so gut wir konnten auf Zu-Vendi, und ich hörte, wie Good seiner Lehrerin versicherte, ihr Liebreiz sei im Vergleich mit den Schönheiten Europas wie der der Sonne im Vergleich zum Mond, worauf sie neckisch den Kopf zurückwarf und erwiderte, sie sei nichts weiter als eine schlichte, unscheinbare Lehrerin, und es wäre nicht nett, ein armes Mädchen so in Verlegenheit zu bringen. Danach sangen sie uns ein Lied vor; es war wirklich ganz reizend, so natürlich und unaffektiert. Die Liebeslieder der Zu-Vendi sind sehr schön und ergreifend.

Am dritten Tag waren wir schon ganz vertraut miteinander; Good erzählte seiner hübschen Lehrerin seine letzten Liebesaffären, was sie so sehr rührte, daß sich ihre Seufzer mit den seinigen vermengten. Ich plauderte mit der meinigen, einem aufgeweckten, blauäugigen Geschöpf, über die Kunst der Zu-Vendi, während hinten in der Ecke Sir Henry mit seiner Erzieherin allem Anschein nach gerade dabei war, eine anschauliche Lektion durchzunehmen. Die Dame wiederholte mit sanft vibrierender Stimme das Zu-Vendi-Wort für >Hand<, woraufhin er die ihrige zärtlich ergriff; sie sagte das Wort für >Augen<, und er schaute tief in ihre rehbraunen Pupillen; dann sagte sie das Wort für >Lippen<, und - aber just in dem Moment öffnete sich die Tür und, begleitet von nur zwei Wächtern, spazierte Nylephta herein! Good hörte auf der Stelle mit seiner Seufzerei auf und radebrechte mit lauter Stimme Zu-Vendi. Sir Henry stieß einen Pfiff aus und machte ein dämliches Gesicht. Und die armen Mädchen standen mit hochroten Köpfen da und wußten nicht, was sie sagen sollten.

Nylephta reckte sich, bis ihr Körper die der hochgewachsenen Gardisten zu überragen schien; ihr Gesicht lief erst rot an, und dann wurde es bleich wie der Tod.

»Wächter«, sagte sie mit leiser, erstickter Stimme und zeigte auf die gelehrige, aber unfreiwillige Schülerin Sir Henrys, »tötet diese Frau!«

Die Männer zögerten.

»Wollt ihr meinen Befehl ausführen«, sagte sie wieder mit derselben, mühsam beherrschten Stimme, »oder nicht?«

Sie gingen mit erhobenen Speeren auf das Mädchen zu. Mittlerweile hatte Sir Henry sich wieder von dem Schrecken erholt. Er merkte, daß die Komödie dabei war, in eine Tragödie umzuschlagen.

»Zurück!« rief er mit donnernder Stimme; gleichzeitig stellte er sich schützend vor das zu Tode erschrockene Mädchen. »Schäm dich, Nylephta -schäm dich! Du wirst sie nicht töten!«

»Zweifellos hast du allen Grund, sie in Schutz zu nehmen. Du könntest kaum etwas weniger Ehrenhaftes tun!« erwiderte die Königin, bebend vor Wut.

»Aber sie soll sterben - ich will, daß sie stirbt!« Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf.

»Wohlan denn!« gab er zur Antwort. »Dann werde ich mit ihr zusammen sterben! Ich bin dein Diener, o Königin; mache mit mir, was du willst!« Und dann beugte er sich zu ihr herunter und schaute ihr mit seinen offenen, klaren Augen voller Verachtung ins Gesicht.

»Am liebsten würde ich dich auch töten lassen«, antwortete sie; »denn du machst mich zum Gespött.« Und als sie spürte, daß sie besiegt war, und, wie ich vermute, nicht wußte, was sie anderes hätte tun können, brach sie in ein solches Meer von Tränen aus und schaute dabei so königlich reizend aus in ihrem leidenschaftlichen Kummer, daß ich, alt wie ich bin, Curtis um seine Aufgabe, sie zu trösten, zutiefst beneidete. Es war schon recht komisch, zu sehen, wie er sie in den Armen hielt, bedenkt man, was soeben noch vorgefallen war; dies schien auch ihr plötzlich bewußt zu werden, denn sie wand sich aus seinem Arm und ließ uns mit unserer Betroffenheit allein.

Kurz darauf kam einer der Gardisten zurück und überbrachte den Mädchen eine Botschaft, daß sie auf der Stelle, andernfalls sie mit dem Tode bestraft würden, die Stadt verlassen müßten und sich wieder in ihre Heimat auf dem Lande zu begeben hätten; ansonsten würde ihnen nichts weiter geschehen. Sie machten sich sogleich auf; eine von ihnen bemerkte noch, man könne eben nichts daran ändern, und es sei sehr befriedigend, zu wissen, daß sie uns ein wenig nützliches Zu-Vendi beigebracht hätten. Meine war ein äußerst nettes Mädchen, und ich schenkte ihr zum Abschied meinen Lieblingsglücksbringer, ein Sixpence-Stück mit einem Loch darin. Nach diesem Zwischenfall nahmen wieder unsere vorherigen Lehrer den Unterricht auf, zu meiner großen Erleichterung, wie ich wohl nicht extra zu betonen brauche.

An jenem Abend begaben wir uns etwas unbehaglich an die königliche Tafel. Nylephta ließ sich entschuldigen; sie liege mit starken Kopfschmerzen zu Bett. Diese Kopfschmerzen hielten drei volle Tage an; am dritten Tag war sie jedoch wieder wie gewöhnlich beim Abendessen zugegen, und mit dem anmutigsten und süßesten Lächeln der Welt bot sie Sir Henry ihre Hand, um sich an die Tafel geleiten zu lassen, und mit keinem Wort erwähnte sie den Zwischenfall. Damit war das Thema endgültig beendet. Nach dem Abendessen geruhte Nylephta, uns einer Prüfung zu unterziehen, um zu sehen, was wir gelernt hatten; sie war mit dem Resultat sehr zufrieden. Sie ließ sich sogar dazu herab, uns - insbesondere Sir Henry - eine Privatstunde zu erteilen, und es war in der Tat eine sehr interessante.

Und die ganze Zeit über, während wir plauderten, oder vielmehr, uns bemühten, zu plaudern, und lachten, saß Sorais da in ihrem geschnitzten Elfenbeinstuhl, schaute uns zu und las in unseren Gesichtern wie in einem Buch. Nur dann und wann streute sie eine Bemerkung ein und lächelte dabei ihr flüchtiges, geheimnisvoll dunkles Lächeln, das mir erschien wie ein Blitz, der in einem Sommergewitter durch eine dunkle Wolke fährt. Und in ihrer Nähe, so nahe, wie er sich eben heranwagte, saß Good und schaute sie hingebungsvoll durch sein Monokel an. Er war auf dem besten Wege, sich ernsthaft in diese dunkle Schönheit zu verlieben, vor der ich persönlich schreckliche Furcht empfand. Ich beobachtete sie sehr genau, und bald war mir klar, daß all ihre zur Schau getragene Gelassenheit nur dazu diente, die bittere Eifersucht, die sie Nylephta gegenüber empfand, zu verbergen. Und noch etwas bemerkte ich an ihr; eine Erkenntnis, die mich in Angst und Schrecken versetzte: auch sie war auf dem besten Wege, sich in Sir Henry Curtis zu verlieben! Ich war natürlich nicht sicher; es ist nicht leicht, einer so kühlen, stolzen Frau die Gefühle vom Gesicht abzulesen. Aber ich war doch ziemlich sicher, zwei oder drei Anzeichen bemerkt zu haben, und, wie Elefantenjäger wissen: trockenes Gras zeigt am besten, woher der Wind weht.

Und so vergingen drei weitere Monate. Inzwischen hatten wir alle einen beachtlichen Stand im Zu-Vendi, einer im Grunde auch recht leicht zu erlernenden Sprache, erreicht. Mit der Zeit hatten wir eine riesige Beliebtheit bei der Bevölkerung, ja sogar bei den Adeligen des Hofes, erlangt. Wir standen in dem Ruf enormer Klugheit, und zwar in erster Linie deshalb, weil Sir Henry - ich glaube, ich erwähnte es bereits -in der Lage war, ihnen zu zeigen, wie Glas hergestellt wurde (womit in der Tat ein großer nationaler Mangel behoben werden konnte); aber auch deshalb, weil wir mit Hilfe eines aus England mitgebrachten Kalenders, der eine Übersicht über die kommenden zwanzig Jahre bot, Voraussagen über diverse Himmels- und Gestirnskombinationen machen konnten, die die einheimischen Astronomen nicht vorausgesehen hatten. Es gelang uns sogar, vor einer Versammlung von Gelehrten, das Prinzip der Dampfmaschine zu demonstrieren; was die Herren mit großem Erstaunen erfüllte. Und noch weitere derartige Dinge brachten wir ihnen bei. Und so kam es, daß das Volk an die Königinnen appellierte, man dürfte auf keinen Fall zulassen, daß wir außer Landes gingen (was wir ohnehin, selbst, wenn wir es gewollt hätten, kaum hätten tun können). Wir wurden mit Ehrungen geradezu überhäuft: man ernannte uns sogar zu Offizieren der Leibwache Ihrer Majestäten, der Königinnen. Man teilte uns feste Quartiere im Palast zu, und bei wichtigen politischen Fragen von nationaler Bedeutung wurde unser Rat eingeholt.

Und so wäre alles eitel Sonnenschein für uns gewesen, wenn sich nicht am Horizont drohend eine große Wolke zusammengeballt hätte: Zwar war der Zwischenfall mit den verdammten Flußpferden nie wieder erwähnt worden, aber das bedeutete beileibe nicht, daß unser Sakrileg vergeben und vergessen war, oder daß die wütende Feindschaft, die die Priesterschaft, angeführt von dem mächtigen Hohepriester Agon, gegen uns hegte, besänftigt war. Im Gegenteil - sie loderte um so heller, je mehr sie aufgrund unserer allgemeinen öffentlichen Beliebtheit unterdrückt werden mußte, und was vielleicht aus purer Frömmelei begonnen hatte, war mittlerweile zu tiefem, aus Neid genährtem Haß geworden. Bisher nämlich waren die Priester immer die weisen Männer im Lande gewesen, und man hatte sie deshalb, und darüber hinaus noch aus Gründen des Aberglaubens, mit besonderer Ehrfurcht betrachtet. Unser Erscheinen jedoch hatte den jahrhundertealten Stand der Dinge erheblich aus dem Gleichgewicht gebracht; mit unserem für die Bevölkerung fast übernatürlich anmutenden Wissen, mit unseren fremdartigen Erfindungen und unseren Hinweisen auf bisher unvorstellbar gehaltene Dinge hatten wir, insbesondere bei den gebildeten Zu-Vendi, ein unerhörtes Prestige erlangt und gleichzeitig die bornierte Priesterschaft in den Augen der Bevölkerung von ihrem Sockel des Hochmuts heruntergeholt. Was ihnen jedoch als noch viel größerer Affront erscheinen mußte, waren die ungeheure Beliebtheit und die offiziellen Ehrungen, die wir genossen. All dies hatte bewirkt, daß wir der gesamten Priestersippschaft, und damit der mächtigsten, weil am straffsten organisierten Interessengruppe innerhalb des Staatsgefüges, ein unerträglicher Dorn im Auge waren.

Einen anderen Herd ständig drohender Gefahr stellte der wachsende Neid seitens einiger mächtiger Adeliger, an ihrer Spitze Nasta, für uns dar. Lange Zeit hatte ihre Abneigung uns gegenüber nur mühsam verschleiert im Verborgenen geschwelt, und nun drohte sie, in eine hell auflodernde Flamme offener Feindschaft umzuschlagen. Nasta war schon seit einigen Jahren ein aussichtsreicher Kandidat für die Hand Nylephtas gewesen, und ich glaube, nach allem, was ich gehört und gesehen hatte, daß er zu dem Zeitpunkt, als wir auf der Bildfläche erschienen, ungeachtet der Tatsache, daß es noch einige Hindernisse aus dem Weg zu räumen galt, seinem Ziel ein ganzes Stück nähergekommen war. Aber mit einem Male war alles anders geworden: die scheue Nylephta lächelte plötzlich nicht mehr schüchtern in seine Richtung, sobald er irgendwo auftauchte, und er hatte sehr bald die Gründe dafür erraten. Enttäuscht und außer sich vor Zorn hatte er seine Aufmerksamkeit Sorais zugewandt und nur zu bald feststellen müs-sen, daß er ebensogut einer Wand den Hof hätte machen können. Das einzige, was er von der stolzen Königin Sorais geerntet hatte, waren ein oder zwei bittere Scherze über seinen Wankelmut, und damit war ihm auch diese Tür für immer vor der Nase zugeschlagen worden. Also war ihm nichts anderes übriggeblieben, als sich der dreißigtausend grimmigen Schwertkämpfer zu entsinnen, die auf sein Kommando über die Pässe der nördlichen Gebirgskette einfallen würden, wenn er es wollte; und ich bin sicher, er hatte hoch und heilig geschworen, die Tore von Milo-sis mit unseren Köpfen zu zieren.

Wie wir jedoch bald erfahren sollten, hatte er zunächst einmal einen anderen Entschluß gefaßt: und zwar hatte er die Absicht, einen erneuten Versuch zu machen und Nylephta um ihre Hand zu bitten. Dies sollte vor Augen des ganzen Hofes geschehen, sobald die alljährlich stattfindende Zeremonie der Unterzeichnung der Gesetze, die im Laufe des Jahres von den Königinnen proklamiert worden waren, vorbei war.

Auf diese verblüffende Neuigkeit reagierte Nyle-phta mit gespielter Gleichgültigkeit und Gelassenheit. Ihre Stimme zitterte jedoch ein wenig, als sie uns am Vorabend der großen Zeremonie der Gesetzesunterzeichnung die Nachricht brachte, während wir wie gewöhnlich gemeinsam beim Abendessen saßen.

Sir Henry biß sich auf die Lippen; er gab sich kaum die Mühe, seine Erregung, die ob dieser Nachricht von ihm Besitz ergriffen hatte, zu verbergen.

»Und welche Antwort gedenkt Ihre Majestät dem großen Fürsten zu geben?« fragte ich, wobei ich mich um einen möglichst scherzhaft klingenden Ton bemühte.

»Antworte selbst, Macumazahn« (wir waren nämlich übereingekommen, uns in Zu-Vendi mit unseren Zulunamen anreden zu lassen), erwiderte sie und hob anmutig ihre alabasterfarbenen Schultern. »Was bleibt einer armen Frau schon anderes übrig, als zu gehorchen, wenn der Freier über dreißigtausend Schwerter verfügt, mit denen er seinem Werben Nachdruck verleihen kann?« Und durch ihre langen Wimpern hindurch sah sie Curtis an.

Wir waren gerade im Begriff, in einen anderen Raum hinüberzugehen, als Curtis mich am Arm packte und beiseite nahm. »Quatermain, einen Augenblick - ich möchte dir etwas sagen. Ich habe zwar noch nie über das Thema gesprochen, aber ich bin sicher, du hast schon erraten, worum es sich handelt: Ich liebe Nylephta. Was soll ich bloß tun?«

Glücklicherweise hatte ich das Problem schon mehr oder weniger in Betracht gezogen und war deshalb in der Lage, ihm die Antwort zu geben, die mir unter den gegebenen Umständen die klügste zu sein schien.

»Du mußt noch heute nacht mit Nylephta sprechen«, sagte ich ihm. »Jetzt muß es geschehen - jetzt oder nie. Hör zu: Geh gleich im Salon ganz nah an sie heran und flüstere ihr zu, daß du sie um Mitternacht an der Rademas-Statue am Ende der großen Halle treffen möchtest. Ich werde auch dort sein und aufpassen, daß niemand euch dort sieht. Und vergiß nicht: jetzt oder nie, Curtis!«

Wir schlenderten hinüber in den Salon. Nylephta hatte schon Platz genommen. Sie starrte auf ihre Hände hinab; ein trauriger, angstvoller Ausdruck lag in ihren Augen. Ein Stück von ihr entfernt saß Sorais und unterhielt sich mit Good; ich hörte ihre ruhige, gemessene Stimme deutlich zu mir herüberschallen.

Die Zeit verrann. In einer Viertelstunde - das wußte ich - würden sich die Königinnen wie gewöhnlich in ihre Gemächer zurückziehen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Sir Henry noch keine Gelegenheit gehabt, Nylephta für einen Moment unter vier Augen zu sprechen; sooft wir die königlichen Schwestern auch sahen, eine Gelegenheit, sie einmal allein zu sehen oder zu sprechen, gab es nur sehr selten. Ich zermarterte mir das Gehirn, und dann hatte ich plötzlich eine Idee.

»Würde die Königin die Güte haben«, sagte ich, wobei ich mich vor Sorais verbeugte, »ihren Dienern etwas vorzusingen? Unsere Herzen sind schwer in dieser Nacht; sing uns ein Lied, o Herrin.«

»Meine Lieder sind nicht von der Art, daß sie einem das Herz erleichtern könnten, Macumazahn, und doch; wenn es dir Freude bereitet, dann will ich gern singen«, war ihre Antwort. Und dann erhob sie sich und ging ein paar Schritte zu dem Tisch, auf dem ein Instrument lag, das einer Zither nicht unähnlich war. Gedankenverloren schlug sie leise ein paar Saiten an.

Und dann, ganz plötzlich und unvermittelt, erhob sie ihre weiche Stimme zu einem Lied; ihre Stimme klang so wild und süß wie der Gesang eines klagenden, aus voller Kehle jubilierenden Vogels - und doch war der Refrain so unheimlich und traurig, daß mir fast das Blut in den Adern gefror. Hoch, immer höher, schwebten die Klänge, weit in der Ferne schienen sie zu verhallen, um sich dann wieder zu voller Kraft aufzuschwingen und weiterzufliegen - beladen mit allem Kummer der Welt und mit all der Verzweiflung der Verlorenen ... Es war ein herrliches Lied, aber ich hatte nicht die Muße, mich seinem Klang gebührend zu widmen. Ich bekam jedoch später die Gelegenheit, mir den genauen Text anzusehen. Hier ist eine Übersetzung seines Leitmotivs, soweit eine solche überhaupt möglich ist:


SORAIS' LIED

Wie ein einsamer Vogel auf seinem verlorenen Flug durch die Finsternis,

Wie eine Hand, die sich hilflos erhebt, wenn die Sichel des Todes fällt,

So ist das Leben! ja, das Leben, das meinem Gesang Leidenschaft und Odem verleiht.

Wie das Lied der Nachtigall, das erfüllt ist von unaussprechlicher Süße,

Wie der Geist, der des Himmels Pforten aufstößt, um nach einem Zeichen zu suchen,

So ist die Liebe! ja, die Liebe, die sterben wird, wenn ihre Schwingen gebrochen.

Wie das Donnern der Legionen, wenn die Trompeten zum Angriff blasen,

Wie der Ruf des Sturmgottes, wenn Blitze durch den dunklen Himmel zucken,

So ist die Macht, ja die Macht, die am Ende zu Staub zerfallen wird.

So kurz ist unser Leben; und doch lang genug, uns Verzicht zu lehren,

Ein bitterer Wahn, ein Traum, aus dem uns nichts erwecken kann,

Bis des Todes ohn' Unterlaß uns nachspürender Schritt uns eines Morgens oder Abends einholt.

Refrain

Oh, die Welt, sie ist schön, wenn dämmert der Morgen -der Morgen,

Doch die rote Sonne versinkt im Blut - die Sonne versinkt im Blut.

Ich wünschte nur, ich hätte können auch die Musik aufschreiben!

»Los, Curtis - jetzt!« flüsterte ich, in dem Augenblick, als Sorais mit der zweiten Strophe anfing. Dann wandte ich ihm wieder den Rücken zu.

»Nylephta«, sagte er im Flüsterton - ich war unter einer solch starken nervlichen Anspannung, daß ich jedes Wort verstehen konnte, obwohl sie sehr leise miteinander sprachen und trotz Sorais' göttlichem Gesang -, »Nylephta, ich muß heute nacht mit dir sprechen - so wahr ich lebe, ich muß es! Sag nicht nein; oh, bitte sag nicht nein!«

»Aber wie kann ich mit dir sprechen?« fragte sie, die Augen starr nach vorn gerichtet. »Königinnen sind nicht wie andere Menschen. Ich bin ständig von Wachen umgeben.«

»Höre, Nylephta, wie es geschehen soll: Ich werde um Mitternacht bei der Statue des Rademas in der großen Halle sein. Ich kenne das Losungswort und kann die Halle unbehelligt betreten. Macumazahn wird auch dort sein und uns warnen, wenn jemand naht. Bei ihm wird auch der Zulu sein. O komme, meine Königin, weise mich nicht ab!«





»Es geziemt sich nicht«, sagte sie leise, »und morgen ... «

In diesem Augenblick verklangen die letzten klagenden Töne des Refrains, und Sorais drehte sich langsam um.

»Ich werde dort sein«, sagte Nylephta hastig; »sieh zu, daß wir uns nicht verpassen.«

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