Und nun braute sich noch zu allem Überfluß ein anderes Unheil wie eine drohende schwarze Wolke am Horizont zusammen, das schon eine ganze Weile über wie eine zunächst noch kleine Regenwolke am blauen Himmel gelauert hatte: nämlich Sorais' Zuneigung zu Sir Henry. Ich sah förmlich, wie der Sturm näher und näher kam, und schließlich war es dann soweit. Die Liebe einer solch schönen und hochgestellten Frau wäre unter normalen Umständen für jeden normal empfindenden Mann alles andere als ein trauriges Ereignis gewesen, aber für Curtis bedeutete sie, in Anbetracht der Lage, in der sie sich befand, eine bedrückende Last.
Dazu muß gesagt werden, daß Nylephta, so bezaubernd sie auch war, leider Gottes eine sehr eifersüchtige Person war, die häufig ihren Zorn über die eindeutigen Blicke, mit denen ihre königliche Schwester Curtis bedachte - Alphonse pflegte das als >bemer-kenswerte Consideration zu bezeichnen -, an ihrem armen Geliebten ausließ. Da seine wahre Beziehung zu Nylephta höchster Diskretion unterlag, traute Curtis sich nicht, diesen Anschuldigungen, die, was ihn anbetraf, jeglicher Grundlage entbehrten, ein Ende zu machen oder wenigstens den Versuch dazu zu unternehmen, indem er vielleicht gelegentlich Sorais diskret davon in Kenntnis gesetzt hätte, daß er die Absicht hatte, ihre Schwester zu heiraten. Eine dritte Fliege in Sir Henrys Suppe war die Tatsache, daß er sehr wohl um Goods ernsthafte Zuneigung zu der unheimlichen, aber nichtsdestoweniger höchst attraktiven »Herrin der Nacht«, wie Sorais vom Volk genannt wurde, wußte. Der arme Bougwan hatte sich in der Tat zu einem Schatten seiner selbst heruntergehungert, um ihr zu gefallen; sein sonst so volles Gesicht war schon so hager geworden, daß er Mühe hatte, sein Monokel fest ins Auge zu klemmen; und sie ermunterte ihn in einer Art sorgloser Koketterie immer wieder soweit, daß er glauben konnte, berechtigte Hoffnungen zu hegen, sie eines Tages zu erobern. Zweifellos verfolgte sie damit die Absicht, sich den armen Kerl für ihre Zwecke warmzuhalten. Ich versuchte, ihn so behutsam wie nur eben möglich darauf hinzuweisen - mit dem Erfolg, daß er sich zutiefst beleidigt von mir abwandte. Also entschloß ich mich schweren Herzens dazu, ihn gewähren zu lassen, aus Furcht, alles nur noch schlimmer zu machen. Der arme Good ahnte gar nichts wie sehr er sich in seinem Liebeskummer zum Clown machte. In der Hoffnung damit seinem Ziel ein wenig näherzukommen, verfiel er in alle möglichen Tollheiten. Schließlich setzte er seinem Wahn die Krone auf, indem er - mit Hilfe eines der gesetzten, ehrwürdigen alten Herren, die uns unterrichteten - ein endloses Liebeslied auf Zu-Vendi verfaßte (der alte Herr mag zwar sehr gebildet gewesen sein; Verse zu schmieden war jedenfalls nicht seine starke Seite). Der sich ständig wiederholende Refrain dieses schauerlichen Machwerks war: »Ich will dich küssen; o ja, ich will dich küssen!« Nun ist es bei den Zu-Vendi ein sehr verbreiteter und harmloser Brauch, daß junge Männer des Abends ihrer Angebeteten vor dem Fenster ein Ständchen darbringen und allerlei liebestolle Liedchen schmettern, wie man es meines Wissens nach auch recht häufig in südeuropäischen Ländern findet. Ob der junge Mann dabei ernste Absichten verfolgt oder nicht, spielt dabei keine Rolle; jedenfalls werden solche Ständchen nicht als Beleidigung aufgefaßt. Man hat halt seinen Spaß daran, und selbst Damen höchsten Ranges fassen das ganze Spektakel etwa so auf, wie ein englisches Mädchen etwa ein freundliches Kompliment auffassen wurde.
Sich diesen Brauch zunutze machend, beschloß der gute Good also, Sorais ein Ständchen zu bringen. Ihre Privatgemächer lagen, gemeinsam mit denen ihrer Zofen, direkt den unsrigen gegenüber, das heißt, auf der gegenüberliegenden Seite eines engen Hofes, der einen Teil des riesigen Palastes vom anderen trennte. Nachdem er sich mit einer der landesüblichen Zithern bewaffnet hatte, auf der er in seiner Eigenschaft als passabler Gitarrenspieler recht schnell gelernt hatte, ein paar Akkorde zu zupfen, begab sich der Unglücksrabe zu mitternächtlicher Stunde - also genau der passenden Zeit für derartiges Katzengejammer - vor das Fenster seiner Angebeteten, um sein Liebesgeschluchze ertönen zu lassen. Ich schlief schon fest, als sein Gegreine anfing, aber es machte mich auf der Stelle hellwach - denn Good besitzt eine gewaltige Stimme und hat darüber hinaus kein Zeitgefühl. Ich sprang aus dem Bett und rannte ans Fenster, um zu sehen, was los war. Und unten, im vollen Mondlicht, stand Good. Er trug einen riesigen Kopfschmuck aus Straußenfedern und ein flatterndes Seidengewand - wohl genau das Passende bei einer derartigen Gelegenheit - und gab mit grölender Stimme das abscheuliche Lied zum besten, das er und der alte Herr fabriziert hatten. Dazu klimperte er abgehackt auf der Zither herum. Es war wirklich ein ohrenbetäubender Alptraum. Aus der Richtung der Zofengemächer erklang ein leises Kichern; hinter den Fenstern von Sorais hingegen - die ich, sofern sie überhaupt da war, wirklich aus tiefster Seele bedauerte -blieb alles totenstill. Als der entsetzliche Gesang mit seinem ewigen »Ich will dich küssen!« überhaupt kein Ende nehmen wollte, hielten weder ich noch Sir Henry, den ich herbeigerufen hatte, damit auch er sich an dem Anblick ergötzen konnte, es länger aus; ich steckte den Kopf durch die Fensteröffnung nach draußen und brüllte: »In drei Teufels Namen! Red nicht soviel drumherum, sondern geh endlich zu ihr hoch und küß sie, damit wir endlich schlafen können!« Das brachte ihn dann doch zum Schweigen, womit das Ständchen beendet war.
Dieses mitternächtliche Ereignis war ein lustiger Zwischenfall in einer ansonsten doch recht tragischen Angelegenheit. Wir sollten wirklich dankbar dafür sein, daß selbst die ernstesten Dinge bisweilen ein bißchen Spaß mit sich bringen, wenn auch die meisten Leute diesen häufig nicht erkennen können oder wollen.
Nun, je mehr Sir Henry sich jedenfalls zurückhielt, desto forscher ging Sorais an ihn heran, wie das ja in solchen Fällen nicht ungewöhnlich ist, bis dann schließlich alles verquer lief. Offensichtlich war Sorais in ihrer Zuneigung zu Sir Henry so verbohrt, daß sie überhaupt kein Auge mehr für den wahren Stand der Dinge hatte; und ich muß gestehen, ich fürchtete nichts mehr als den Augenblick ihres Erwachens.
Sorais war eine gefährliche Frau, wenn man es mit ihr zu tun bekam; ob man nun willentlich oder unbeabsichtigt mit ihr aneinandergeriet, spielte dabei keine Rolle. Schließlich kam es, wie es kommen mußte: Eines schönen Tages - Good war auf die Falkenjagd gegangen, und Sir Henry und ich saßen gerade zusammen und besprachen die Situation - trat ein königlicher Bote in den Raum und überreichte Sir Henry einen Brief. Wir brauchten eine ganze Weile, ihn zu entziffern. Er lautete sinngemäß folgendermaßen: »Königin Sorais befiehlt dem Fürsten Incubu, sich umgehend in ihren Privatgemächern einzufinden. Der Überbringer des Briefes wird ihn dorthin geleiten.«
»Lieber Himmel«, stöhnte Sir Henry. »Kannst du nicht für mich gehen, alter Knabe?«
»Kein Bedarf«, erwiderte ich mit Nachdruck. »Lieber würde ich einem verwundeten Elefanten mit einer Schrotflinte gegenübertreten. Das mußt du schon selbst in die Hand nehmen, mein Junge. Wenn du schon eine solche Faszination auf die Damenwelt ausübst, dann mußt du auch die Konsequenzen tragen. Ich würde nicht für ein Königreich mit dir tauschen wollen.«
»Wenn ich dich so reden höre, dann fällt mir meine Schulzeit ein«, sagte er mürrisch. »Wenn ich verprügelt werden sollte, haben mich meine Klassenkameraden auch immer so liebevoll getröstet wie du jetzt. Mit welchem Recht befiehlt mir diese Königin eigentlich, in ihre Privatgemächer zu kommen? Das würde ich doch gern einmal wissen. Ich werde nicht gehen!«
»Aber du mußt! Du bist einer ihrer Offiziere, und damit bist du verpflichtet, ihr zu gehorchen. Das weiß sie natürlich genau. Und außerdem - es ist ja bald vorüber.«
»Das sagten meine Klassenkameraden auch immer! Ich will nur hoffen, daß sie mir keinen Dolch zwischen die Rippen steckt; das würde ich ihr nämlich ohne weiteres zutrauen.« Dann machte er sich seufzend mit weichen Knien auf den Weg zu ihr - wen wundert's?
Ich blieb sitzen und wartete. Nach ungefähr einer Dreiviertelstunde kam er zurück. Er machte ein noch sorgenvolleres Gesicht als vorher.
»Gib mir was zu trinken«, sagte er mit heiserer Stimme.
Ich schenkte ihm einen Becher Wein ein und fragte, was geschehen sei.
»Was geschehen ist? Wenn wir jemals wirklichen Ärger hatten, dann jetzt! Aber der Reihe nach: Also, der Bote führte mich auf direktem Wege in Sorais' Privatgemach; ich sage dir, es ist wirklich ein wunderschöner Raum. Sie war allein. Sie saß auf einem seidenbezogenen Bett am anderen Ende des Zimmers und spielte leise etwas auf ihrer Zither. Ich stellte mich vor sie und wartete. Eine Zeitlang nahm sie keinerlei Notiz von mir, sondern spielte weiter auf ihrer Zither und sang dazu. Es war wirklich eine sehr betörende Musik. Nach einer Weile blickte sie plötzlich auf und lächelte mich an.
>So bist du also gekommen<, sagte sie. >Ich dachte schon, du würdest nur noch Königin Nylephtas Angelegenheiten verrichten. Du verrichtest doch meistens ihre Angelegenheiten, nicht wahr? Und ich bezweifle nicht im geringsten, daß du ihr dabei stets ein guter und treuer Diener bist.<
Ich verzichtete darauf, eine Antwort zu geben, verbeugte mich vor ihr und sagte, ich wäre gekommen, die Befehle der Königin entgegenzunehmen.
>Ach, richtig, ich wollte ja mit dir sprechen. Aber setz dich doch erst einmal. Es strengt mich an, immerzu aufblicken zu müssen.< Mit diesen Worten rückte sie zur Seite, um mir auf dem Bett Platz zum Hinsetzen zu machen. Sie lehnte sich mit dem Rücken an das Kopfende des Bettes, damit sie mir beim Reden in die Augen blicken konnte.
>Es geziemt sich nicht für einen Soldaten Ihrer Majestät, sich auf eine Stufe mit der Königin zu erheben<, erwiderte ich.
>Ich sagte: Setz dich!< war ihre Antwort. Also setzte ich mich auf die Kante des Bettes. Und dann begann sie, mich unverwandt aus ihren dunklen Augen anzuschauen. Sie saß da wie eine Inkarnation der Schönheit und schaute mich unablässig an. Sie sprach nur sehr wenig, und wenn, dann tat sie es mit ganz leiser, suggestiver Stimme. Sie hatte eine weiße Blume in ihr schwarzes Haar gesteckt, und ich versuchte, diese Blume zu fixieren und ihre Blätter zu zählen; aber vergeblich. Nach einer Weile - ich wußte nicht, ob es an ihrem Blick lag oder an dem verführerischen Duft ihrer Haare oder weiß der Himmel woran - kam ich mir wie hypnotisiert vor. Schließlich - es kam mir vor, als hätten wir Stunden so dagesessen - erhob sie sich.
>Incubu<, sagte sie, >liebst du Macht?<
Ich antwortete, daß wohl alle Männer auf irgendeine Weise Macht lieben.
>Du sollst Macht haben<, lautete ihre Antwort. >Liebst du Reichtum?<
Ich sagte, daß ich Reichtum nicht in Bausch und Bogen verdamme.
>Du sollst auch Reichtum haben<, sagte sie orakelhaft. >Und liebst du Schönheit?<
Ich gab ihr zur Antwort, daß ich großen Gefallen fände an Meisterwerken der Bildhauerkunst und der Architektur. Daraufhin runzelte sie die Stirn, und dann verfiel sie wieder in Schweigen. Mittlerweile waren meine Nerven so gespannt, daß ich am ganzen Leibe zitterte. Ich wußte, irgend etwas Schreckliches bahnte sich an, aber ich war irgendwie völlig hilflos -ich stand wie unter einem Bann.
>Incubu<, sagte sie schließlich, >würdest du gern König sein? Höre, würdest du gern König sein? Schau, Fremder, ich bin gewillt, dich zum König von ganz Zu-Vendis zu machen - und zum Gemahl von Sorais, der Herrin der Nacht. Nein, schweig und hör mir zu. Keinem Mann aus meinem Volke hätte ich so das Geheimnis meines Herzens offenbart, du aber bist ein Ausländer, und daher spreche ich ohne Scham, da ich weiß, was alles ich dir anzubieten habe, und wie schwer es dir gefallen wäre, mich zu fragen. Siehe, eine Krone liegt dir zu Füßen, Incubu, und darüber hinaus eine Frau, die schon viele haben freien wollen. Und nun antworte, Auserwählter, und sanft mögen deine Wort in meinen Ohren klingen.<
>O Sorais<, antwortete ich, >ich flehe dich an, sprich nicht solche Worte< - du mußt wissen, mir blieb keine Zeit mehr, nach wohlgesetzten Worten zu suchen -; >denn dies kann nicht sein! Ich bin mit deiner Schwester Nylephta verlobt, und ich liebe sie und nur sie allein.<
Im nächsten Moment schoß mir durch den Kopf, daß ich da etwas Schreckliches gesagt hatte, und ich blickte sie an, um zu sehen, welches Resultat ich damit heraufbeschworen hatte. Als ich sprach, hatte Sorais ihr Gesicht in den Händen verborgen, und als sie meine Worte gehört hatte, hob sie es langsam. Ich fuhr bestürzt zurück: es war leichenblaß, und ihre Augen loderten. Sie stand vom Bett auf, und ich hörte, wie sie mehrmals schluckte. Das Schlimme bei der ganzen Sache war, daß sie völlig ruhig blieb. Dann wanderten ihre Augen zu einem kleinen Tisch, auf dem ein Dolch lag, und von dort ging ihr Blick wieder zurück zu mir, als ringe sie mit dem Gedanken, mich zu töten; sie nahm jedoch den Dolch nicht vom Tisch. Zum Schluß sagte sie etwas. Es war nur ein einziges Wort:
>Geh!<
Ich ging also. Ich war heilfroh, wieder aus ihrem Gemach heraus zu sein. So, und nun bin ich also wieder hier. Gib mir noch einen Becher Wein, sei so lieb, und dann sag mir bloß, was ich tun soll.«
Ich schüttelte den Kopf; denn die Sache war wirklich sehr ernst. Wie sagt doch der Dichter -
»Selbst die Hölle hat nicht solch Feuer wie der Zorn eines verschmähten Weibes«
und ganz besonders, wenn das Weib eine Königin ist und Sorais heißt. Ich befürchtete in der Tat das Schlimmste, sogar unmittelbare Gefahr auch für unser Leib und Leben.
»Wir müssen sofort Nylephta davon berichten«, schlug ich vor. »Und vielleicht wäre es in diesem Falle besser, ich ginge zu ihr und erzählte ihr alles;
deinen Bericht würde sie wahrscheinlich mit Mißtrauen aufnehmen.
Wer ist heute diensthabender Offizier ihrer Garde?« fuhr ich fort.
»Good.«
»Ausgezeichnet! Dann besteht keine Gefahr für sie. Schau mich nicht so erstaunt an. Ich glaube nicht, daß ihre Schwester davor zurückschrecken würde. Wir müssen wohl Good erzählen, was passiert ist.«
»Ach, ich weiß nicht so recht«, erwiderte Sir Henry. »Es würde ihn fürchterlich treffen. Der arme Bursche! Du weißt doch, wie sehr er sich für Sorais interessiert.«
»Das ist wahr. Und außerdem - vielleicht brauchen wir es ihm wirklich nicht zu erzählen. Er wird die Wahrheit noch früh genug erfahren. Und nun paß gut auf, was ich dir sage; du wirst dich meiner Worte noch erinnern. Sorais wird sich mit Nasta zusammentun, der oben im Norden sitzt und schmollt; schließlich teilen beide nun das gleiche Los. Ich sage dir, es wird einen Bürgerkrieg geben, wie Zu-Vendis ihn seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen hat! Schau, dort!« Aus der Tür, die zu Sorais' Privatgemächern führte, kamen in diesem Moment zwei Boten, die sich schnellen Schrittes entfernten. »Folge mir!« rief ich, nahm mein Fernglas und rannte so schnell es ging die Treppe hoch auf einen Aussichtsturm, der sich direkt über unseren Gemächern befand. Von dem Turm aus konnte ich gut über die Palastmauer schauen. Das erste, was ich sah, war einer der Boten, der in Richtung Tempel lief. Ohne Zweifel trug er eine Botschaft von Sorais an Agon, den Hohepriester, bei sich. Nach dem anderen Boten hielt ich zunächst vergeblich Aus-schau. Im selben Moment jedoch erspähte ich einen Reiter, der in vollem Galopp durch das nördliche Stadttor davonsprengte; es war der andere Bote.
»Aha!« rief ich. »Sorais ist eine Frau, die Mut und Geistesgegenwart besitzt; sie handelt schnell, und sie wird flugs und unbarmherzig zuschlagen! Du hast sie tief gekränkt, mein Sohn, und das Blut wird in Strömen fließen, bis dieser Schandfleck wieder weggewaschen ist, und deines wird dabeisein, sollte es ihr gelingen, deiner habhaft zu werden. Ich laufe jetzt auf der Stelle zu Nylephta. Du bleibst, wo du bist, alter Knabe, und siehst zu, daß du deine Nerven wieder in Ordnung kriegst. Du wirst sie noch brauchen, das versichere ich dir. Wenn nicht, dann habe ich fünfzig Jahre meines Lebens die menschliche Natur umsonst beobachtet und studiert.«
Ich hatte keine Schwierigkeiten, eine Audienz bei der Königin zu bekommen. Sie erwartete Curtis und war nicht gerade darüber erbaut, statt dessen mein Gesicht im Türrahmen zu erblicken.
»Stimmt etwas nicht mit meinem Gebieter, Macu-mazahn? Warum macht nicht er mir seine Aufwartung? Sprich, ist er krank?«
Ich sagte ihr, es ginge ihm gut, und dann kam ich ohne Umschweife zum Thema und erzählte ihr alles vom Anfang bis zum Ende. Sie hätten sehen sollen, wie wütend sie wurde! Sie sah in ihrem Zorn anmutiger denn je aus.
»Wie kannst du es wagen, mir mit einer solchen Geschichte zu kommen!« schrie sie wutentbrannt. »Es ist eine Lüge, zu behaupten, mein Gebieter habe meiner Schwester Sorais seine Liebe zu ihr offenbart!«
»Verzeih, o Königin«, erwiderte ich, »ich sagte, daß Sorais ihm ihre Liebe offenbarte!«
»Versuche Er nicht, mich mit Wortklauberei zu verwirren! Ist es nicht einerlei, wer wem seine Liebe offenbart hat? Der eine gibt, der andere nimmt; die Gabe jedoch bleibt dieselbe. Was tut es da zur Sache, wer der Schuldigere von beiden ist? Sorais! Oh, wie ich sie hasse! Sorais, meine Schwester, eine der Königinnen von Zu-Vendis! Sie wäre niemals so weit gegangen, hätte er sie nicht dazu ermuntert und ihr den Weg gewiesen! Oh, wie recht doch der Dichter hat, wenn er sagt, der Mann sei wie eine Schlange! Niemand kann ihn halten, und ihn zu berühren ist Gift!«
»Eine treffende Bemerkung, o Königin, doch mich deucht, du hast den Dichter nicht richtig gelesen. Nylephta«, fuhr ich fort, »du weißt sehr wohl, daß deine Worte leer und töricht sind, und ebenso weißt du auch, daß jetzt nicht die Zeit für solcherlei Narretei ist.«
»Wie kannst du es wagen!« platzte sie heraus und stampfte mit dem Fuß auf. »Hat dein feiner Herr dich zu mir gesandt, damit du mich auch noch beleidigst? Wer bist du, Fremder, daß du dich erkühnst, so mit der Königin zu sprechen? Wie kannst du es wagen!«
»Nun, du siehst, ich wage es. Und nun hör mit gut zu! Die Zeit, die du mit deinem törichten Zorn vergeudest, kann dich sehr wohl deine Krone und uns alle unser Leben kosten. Schon sind Sorais' berittene Boten unterwegs, die Männer zu den Waffen zu rufen! In spätestens drei Tagen wird Nasta sich drohend erheben wie der Löwe am Abend, und sein Brüllen wird durch den ganzen Norden hallen. Die >Herrin der Nacht< hat eine betörende Stimme, und sie wird nicht vergebens singen. Ihr Banner wird von Berg zu
Berg und von Tal zu Tal getragen werden, und überall, wo es auftaucht, werden Krieger in hellen Scharen herbeiströmen, wie der Staub im Gefolge des Wirbelsturmes. Die halbe Armee wird ihr begeistert zujubeln, und in jeder Stadt und in jedem Flecken dieses Landes werden die Priester ihre Stimme gegen die Fremdlinge erheben und Sorais' Sache zu einem heiligen Feldzug erklären. Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte, o Königin!«
Nylephta war ganz ruhig geworden; ihre eifersüchtige Wut war vollends verflogen. Und mit der für sie charakteristischen Schnelligkeit und Vollständigkeit wechselte sie von der Rolle der reizenden, dickköpfigen Dame in die der Königin und entscheidungsfreudigen Frau. Die Wandlung vollzog sich plötzlich, aber sie war perfekt.
»Deine Worte sind weise, Macumazahn. Verzeih mir meine Dummheit. Oh, was für eine Königin ich sein könnte, wenn ich doch nur kein Herz besäße! Herzlos zu sein - das bedeutet, alles zu unterwerfen. Die Leidenschaft ist wie ein Blitz; sie ist schön, und sie verbindet Himmel und Erde miteinander, aber leider macht sie blind!
Und du glaubst also, daß meine Schwester gegen mich Krieg anfangen will. Nun, so möge sie es tun. Doch soll sie nicht den Sieg über mich davontragen. Auch ich habe Freunde und Gefolgsleute! Und ich sage dir, es sind viele, die laut >Nylephta!< rufen werden, wenn meine Fahne an Türmen und Zinnen hochgeht und wenn heute nacht das Licht meiner Signalfeuer von Felsspitze zu Felsspitze springt und die Botschaft meines Krieges ins Land hinaus trägt. Ich werde ihre Macht zerbrechen und ihre Armeen in alle Winde zerstreuen. Ewige Nacht soll das Los der >Her-rin der Nacht< sein. Gib mir jenes Pergament und die Tinte! So, und nun ruf den wachhabenden Offizier aus dem Vorzimmer! Er ist ein treuer und zuverlässiger Mann.«
Ich tat, wie mir geheißen. Der Mann, ein Veteran und gutmütig aussehender Mann der Garde namens Kara, trat ein und machte eine tiefe Verbeugung.
»Nimm dieses Pergament!« befahl Nylephta. »Es ist deine Vollmacht. Bewache alle Ein- und Ausgänge zu den Gemächern meiner Schwester Sorais, der >Herrin der Nacht< und Königin von Zu-Vendis. Sorge dafür, daß niemand herein- oder herauskommt. Du bürgst mir mit deinem Leben dafür!«
Der Mann schaute sie bestürzt an. Er enthielt sich jedoch eines Kommentars und sagte lediglich: »Der Wille der Königin geschehe.« Dann ging er hinaus. Als nächstes sandte Nylephta einen Boten zu Sir Henry, der auch kurz darauf in das Zimmer trat. Er sah ungewöhnlich bedrückt aus. Ich war schon auf einen erneuten Wutausbruch von Nylephta gefaßt; aber wundersam sind doch die Wege der Frauen - sie verlor nicht ein Wort über Sorais und seine vermeintliche Untreue, sondern begrüßte ihn mit einem freundlichen Nicken und sagte ihm, sie benötige seinen Rat in einer Angelegenheit von höchster Wichtigkeit. Und dennoch - da war so ein seltsamer Blick in ihren Augen, und ihr Verhalten ihm gegenüber schien mir doch ein wenig von unterdrückter Energie gekennzeichnet zu sein. Ich vermutete daher, daß sie die Sache noch nicht vergessen hatte und sie sich für einen späteren Zeitpunkt, an dem die beiden allein waren, aufsparen wollte.
Kurz nachdem Curtis gekommen war, kam der Offizier wieder zurück und meldete, daß Sorais verschwunden sei. Der Vogel war also schon ausgeflogen! Sie hatte unter dem Vorwand, die Nacht in der Meditation vor dem Altar zu verbringen - was bei Damen der höheren Gesellschaft in Zu-Vendis nicht unüblich war -, ihre Gemächer verlassen und war in den Tempel gegangen. Wir tauschten alle miteinander verständnisinnige Blicke aus. Sorais hatte in der Tat keine Zeit verloren.
Dann machten wir uns an die Arbeit.
Wir ließen sofort alle Generäle, denen man vertrauen konnte, aus ihren Quartieren zusammentrommeln. Wir informierten jeden einzelnen von ihnen über die Lage der Dinge, soweit es uns wünschenswert erschien, und entließen sie dann mit der strikten Auflage, so schnell wie möglich alle ihre verfügbaren Kräfte zusammenzuholen. Ähnlich verfuhren wir mit allen den einigermaßen mächtigen Landesfürsten, von denen Nylephta wußte, daß sie sich auf sie verlassen konnte. Einige von ihnen verließen noch am selben Tag die Stadt, um in entlegenen Landesteilen ihre Lehnsmänner und Gefolgsleute zu den Waffen zu rufen. Und noch vor Einbruch der Nacht sandten wir etwa zwanzig Boten mit versiegelten Briefen aus, die alle an die Regenten weit abgelegener Städte und Landstriche gerichtet waren. Wir befahlen den Boten, Tag und Nacht zu reiten, bis die Briefe in die Hände ihrer Adressanten gelangt waren. Desgleichen sandten wir zahlreiche Kundschafter aus. Wir schufteten den ganzen Nachmittag und Abend hindurch, assistiert von mehreren verläßlichen Schreibern. Die Energie und Überlegenheit, mit der Nylephta dabei zu Werke ging, erweckte meine tiefste Hochachtung. Als wir schließlich zurück in unsere Quartiere gingen, war es acht Uhr. Wir wurden sogleich von Alphonse, der im übrigen zutiefst beleidigt war, daß wir ihm durch unser spätes Erscheinen sein ganzes herrliches Dinner vermasselt hatten (er betätigte sich nämlich inzwischen wieder als Koch), davon in Kenntnis gesetzt, daß Good von der Falkenjagd zurückgekommen war und schon seinen Wachtdienst aufgenommen hatte. Und da wir schon den diensthabenden Offizier der äußersten Palastwache beauftragt hatten, die Torwachen zu verdoppeln und somit keinen Grund für unmittelbare Gefahr sahen, entschlossen wir uns, Good jetzt nicht aufzuscheuchen und ihm die ganze Sache zu erzählen. Dies war ohnehin eine der delikaten Aufgaben, die man nur allzu gern auf einen späteren Zeitpunkt hinausschiebt. Wir schlangen also hastig unser Essen hinunter und begaben uns auf unsere Zimmer, um endlich unseren wohlverdienten Schlaf zu bekommen. Vorher jedoch bat Curtis noch den alten Umslopogaas, ein wenig die Umgebung von Nylephtas Privatgemächern im Auge zu behalten. Umslopogaas, der inzwischen überall im Palast gut bekannt war, hatte von Nylephta die Erlaubnis erhalten, alle Wachen im Palast ungehindert zu passieren, wann immer er wollte. Er bediente sich dieses Sonderrechts sehr häufig und streifte mit Vorliebe zu den stillen Stunden der Nacht in dem riesigen Bauwerk herum. Daß er dabei die Nachtstunden bevorzugte, war nicht weiter verwunderlich; ist dies doch ein weit verbreiteter Brauch bei Schwarzen überhaupt. Deshalb war nicht zu befürchten, daß seine Anwesenheit zu nächtlicher Stunde in den Gängen des Palastes Aufsehen erregen würde. Der Zulu nahm kommentarlos seine Axt und machte sich auf den Weg, und wir begaben uns endlich ins Bett.
Ich hatte meinem Empfinden nach höchstens ein paar Minuten geschlafen, als ich mit einem seltsamen Gefühl äußersten Unbehagens aus den Kissen hochschreckte. Ich hatte das Gefühl, als sei jemand im Zimmer und beobachte mich. Zu meiner großen Überraschung graute schon der Morgen. Am Fuße meines Bettes stand niemand anderes als Umslopo-gaas. In dem fahlen Licht sah er besonders dürr und furchterregend aus.
»Wie lange stehst du schon hier?« fragte ich mürrisch. Es ist nämlich nicht angenehm, auf solche Weise geweckt zu werden.
»Vielleicht die Hälfte einer Stunde, Macumazahn. Ich muß dir etwas sagen.«
»Schieß los!« sagte ich. Ich war jetzt hellwach.
»Wie mir geheißen war, ging ich in der letzten Nacht zu dem Orte der Weißen Königin und verbarg mich hinter einem Pfeiler in dem zweiten Vorraum, hinter dem sich die Schlummerstätte der Königin befindet. Bougwan (Good) war allein in dem ersten Vorraum, und vor dem Vorhang dieses Raums stand ein Wachtposten. Ich aber wollte versuchen, ungesehen in den zweiten Vorraum zu kommen, und fürwahr, es gelang mir; ich glitt an beiden vorbei. Ich hatte dort viele Stunden gewartet, als ich plötzlich eine dunkle Gestalt bemerkte, die heimlich in den Raum geschlichen kam, direkt auf mich zu. Es war die Gestalt einer Frau, und in der Hand hielt sie einen Dolch. Hinter jener Gestalt schlich eine weitere Gestalt, die jedoch von der Frau nicht bemerkt wurde.
Es war Bougwan, der ihr auf den Fersen war. Er hatte seine Schuhe ausgezogen, und für einen so fetten Mann schlich er sehr gut. Die Frau kam an mir vorüber, und das Licht der Sterne schien auf ihr Gesicht.«
»Wer war es denn?« fragte ich ungeduldig.
»Das Gesicht war das der >Herrin der Nacht<, und fürwahr, der Name ist gut gewählt.
Ich wartete, und Bougwan schlich ebenfalls an mir vorüber. Dann folgte ich den beiden. Langsam und lautlos schlichen wir zu dritt durch das lange Zimmer. Zuerst die Frau, dann Bougwan, und dann ich; und die Frau sah Bougwan nicht, und Bougwan sah mich nicht. Dann kam die >Herrin der Nacht< an die Vorhänge, die die Schlummerstätte der Weißen Königin verschließen, und streckte ihre Hand aus, um sie zu teilen. Sie schritt hindurch, und desgleichen tat Bougwan, und desgleichen tat ich. Am Ende des Raumes ist das Bett der Königin, und sie lag darauf, in tiefem Schlafe. Ich konnte hören, wie sie atmete, und sehen, wie einer ihrer weißen Arme auf der Decke lag, wie ein Streifen von Schnee auf trockenem Gras. Die >Herrin der Nacht< duckte sich - so, wie ich es jetzt mache, und mit erhobenem Messer kroch sie auf das Bett zu. Sie blickte so starr darauf, daß sie nie auf den Gedanken kam, sich umzuwenden. Als sie ganz dicht bei dem Bette war, berührte Bougwan sie am Arm. Sie holte tief Atem und schnellte herum, und ich sah, wie das Messer blitzte, und ich hörte, wie es zustieß. Es war gut für Bougwan, daß er seine Haut aus Eisen trug, sonst hätte die Klinge ihn durchbohrt. Und da sah er zum ersten Mal, wer die Frau war, und ohne ein Wort fuhr er erschrocken zurück. Er hatte die Sprache verloren. Auch sie war erschrocken und sprach nicht, doch plötzlich legte sie ihren Finger auf ihre Lippe - so, wie ich es jetzt mache - und ging auf den Vorhang zu und durch ihn hindurch, und mit ihr ging Bougwan. So nah ging sie an mir vorbei, daß ihr Kleid mich berührte, und ich war nahe daran, sie zu töten, als sie ging. In dem ersten Vorraum sprach sie mit flüsternder Stimme zu Bougwan, und sie rang die Hände - so, wie ich es jetzt mache - und flehte ihn an. Was sie jedoch sagte, weiß ich nicht. Und so gingen sie weiter in den zweiten Vorraum, sie flehte, und er schüttelte den Kopf und sagte immerzu >nein, nein, nein<. Und es schien mir, als ob er die Wache rufen wollte, als sie plötzlich zu flehen innehielt und ihn mit großen Augen anschaute. Und ich sah, daß er verhext war von ihrer Schönheit. Dann streckte sie die Hand aus, und er küßte sie, worauf ich mich entschloß, zu ihr zu gehen und sie zu ergreifen, denn ich sah, daß Bougwan nun auch eine Frau geworden war und nicht mehr wußte, was gut war und was böse. Doch siehe da! Sie war fort.«
»Fort!« entfuhr es mir.
»Ja, fort, und da stand Bougwan und starrte an die Wand wie einer, der schläft, und dann ging auch er, und ich wartete eine Weile, und dann ging auch ich.«
»Bist du sicher, Umslopogaas«, fragte ich, »daß du heute nacht nicht geträumt hast?«
Anstelle einer Antwort öffnete er die linke Hand und zeigte mir ein etwa drei Zoll langes Bruchstück einer Dolchklinge aus feinstem Stahl.
»Und wenn ich geträumt habe, Macumazahn, dann sieh, was der Traum mir hinterlassen hat. Das Messer zerbrach an Bougwans Busen, und als ich ging, hob ich dies in der Schlummerstätte der Weißen Königin auf.«