11 Die finster blickende Stadt

Eine Stunde oder länger hatte ich dagesessen und gewartet (Umslopogaas hatte sich mittlerweile ebenfalls schlafen gelegt), als sich schließlich der Osten grau färbte und riesige Nebelschwaden über das Wasser schwebten, wie Geister aus längst vergangenen Zeiten. Es waren die Dämpfe, die sich aus dem Wasser erhoben, um die herannahende Sonne zu begrüßen. Das Grau verwandelte sich in ein blasses Gelb, und das blasse Gelb wurde zu einem leuchtenden Rot. Als nächstes sprangen herrliche Balken von Licht am östlichen Horizont empor, und zwischen ihnen schossen die leuchtenden Pfeile, jene strahlenden Boten des heranrückenden Tages hervor, die den Dunst verscheuchten und die Berge mit ihrem süßen Kuß zum Leben erweckten. Weiter und weiter flogen sie, von Berg zu Berg, von Längengrad zu Längengrad. Im nächsten Moment schwangen die goldenen Tore weit auf, und die Sonne selbst trat hervor wie die Braut aus ihrem Gemache, mit Glanz und Pracht und dem Aufblitzen von Millionen von goldenen Speeren, und sie umarmte die Nacht und deckte sie mit ihrem Glanze zu. Es war Tag!

Aber noch konnte ich nichts erkennen außer dem wunderbaren blauen Himmel über uns, denn über dem Wasser lagen dichte Nebelbänke, als hätte man die gesamte Oberfläche des Sees mit dicker Watte bedeckt. Nach und nach saugte jedoch die Sonne den Nebel auf, und bald konnte ich erkennen, daß wir auf einer prächtig blauen Wasserfläche schwammen, deren Ufer ich nicht sehen konnte. Etwa acht bis zehn Meilen hinter uns erstreckte sich jedoch, soweit das Auge reichte, eine lange Kette steiler Felswände, die gleichsam die Stützmauer des Sees bildeten. Ohne Zweifel trat in irgendeiner Spalte zwischen diesen Felsen der unterirdische Fluß ans Tageslicht und floß in den See. Es zeugte nur von der außergewöhnlichen Stärke der Strömung des geheimnisvollen Flusses, daß unser Kanu selbst jetzt noch, da wir schon meilenweit von der Felswand entfernt waren, darauf reagierte und langsam vorwärts trieb. Und kurz darauf fand Umslopogaas, der inzwischen aufgewacht war, noch einen weiteren Hinweis auf die Stärke der Strömung des Flusses - und zwar einen, der alles andere als angenehm war. Er sah einen weißlich schimmernden Gegenstand auf dem Wasser treiben und lenkte meine Aufmerksamkeit mit einer Handbewegung darauf. Mit ein paar Paddelschlägen brachten wir das Kanu in die Nähe des Gegenstandes. Zu unserem Schrecken stellten wir fest, daß es sich um die Leiche eines Mannes handelte, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Wasser trieb. Das war an sich schon schlimm genug, aber stellt euch mein Entsetzen vor, als ich, nachdem Umslopogaas die Leiche umgedreht hatte, in dem eingefallenen Gesicht die Züge von niemand anderem als unserem armen Diener wiedererkannte, der zwei Tage vorher in dem Strudel des unterirdischen Flusses versunken war. Mir lief ein Schauder über den Rücken! Ich hatte gedacht, wir hätten ihn für immer und ewig aus den Augen verloren, und - siehe da! Mitgerissen von der Strömung, hatte er die schreckliche Reise gemeinsam mit uns gemacht, und gemeinsam mit uns hatte er auch das Ziel erreicht! Er war grausam zugerichtet; sein Äußeres deutete darauf hin, daß er mit seinem Körper die Stichflamme berührt hatte - ein Arm war völlig zusammengeschrumpft, und sein ganzes Haar war weggebrannt. Sein Gesicht war eingefallen, aber dennoch hatte es den Ausdruck panischen Entsetzens bewahrt, den ich zuletzt auf seinem lebendigen Gesicht gesehen hatte, kurz bevor der arme Kerl unterging. Der Anblick erschütterte mich zutiefst, müde und ausgelaugt wie ich war nach allem, was wir durchgemacht hatten, und ich war heilfroh, als plötzlich der Leichnam zu versinken begann, gerade so, als habe er eine Mission zu erfüllen gehabt, und nun, da er sie erfüllt hatte, ging er unter. Der wahre Grund für das plötzliche Absinken der Leiche war natürlich der, daß das Gas, nun, da er auf dem Rücken schwamm, aus dem offenen Mund entweichen konnte. Da sank er nun hinunter in die transparenten Fluten - Klafter um Klafter konnten wir seinen Weg in die Tiefe verfolgen, bis schließlich nur noch eine lange Reihe von Luftblasen nach oben stieg, die letztes Zeugnis darüber ablegten, wohin er gegangen war. Schließlich waren auch die Blasen verschwunden, und das war das Ende unseres armen Dieners. Umslopogaas schaute gedankenvoll dem Toten nach.

»Warum folgte er uns?« fragte er. »Es ist gewiß ein böses Omen für dich und mich, Macumazahn.« Dann lachte er.

Ich warf ihm einen wütenden Blick zu; denn ich hasse solche obskuren Andeutungen. Wenn jemand solche abergläubischen Ideen hat, dann sollte er sie meiner Meinung nach gefälligst für sich behalten. Ich kann Menschen nicht ausstehen, die einem mit ihren verdrießlichen Vorahnungen auf die Nerven gehen, oder die, wenn sie geträumt haben, daß man als Verbrecher gehängt wurde, oder sonst etwas Scheußliches, einem das gleich in aller Ausführlichkeit beim Frühstück auf die Nase binden müssen, selbst wenn sie dazu früher als sonst aufstehen müssen.

Nun wachten auch die anderen auf und stellten voller Freude fest, daß wir aus dem schrecklichen Fluß heraus waren und wieder offenen blauen Himmel über uns hatten. Als nächstes redeten alle wirr durcheinander und äußerten alle möglichen Vorschläge, was wir als erstes tun sollten. Das Ergebnis war, daß wir, hungrig, wie wir waren (das einzige, was wir noch hatten, waren ein paar dünne Streifen Biltong, das ist eine Art getrocknetes Wildbret - unsere ganzen übrigen Vorräte hatten wir ja jenen furchterregenden Süßwasserkrebsen zum Fraß überlassen müssen), erst einmal beschlossen, irgendwo an Land zu gehen. Doch nun tauchte eine neue Schwierigkeit auf. Wir wußten ja überhaupt nicht, wo das nächste Ufer war. Abgesehen von den Klippen, durch die der unterirdische Fluß in den See trat, konnten wir nichts als eine ausgedehnte, glänzende Fläche blauschimmernden Wassers sehen. Aber nachdem wir festgestellt hatten, daß die großen Schwärme von Wasservögeln immer von der linken Seite her kamen, schlußfolgerten wir, daß sich dort irgendwo das Ufer befinden mußte. Folglich steuerten wir das Kanu in die Richtung, aus der die Vögel kamen, und paddelten mit frischem Mut voran. Nach einer Weile kam eine steife Brise auf, die zum Glück genau in die Richtung blies, die wir eingeschlagen hatten. Mit Hilfe der Stange und einer Decke machten wir uns ein behelfsmäßiges Segel, das uns bald munter vorantrug. Nachdem wir dies besorgt hatten, vertilgten wir den Rest unseres Biltong, spülten es mit einem kräftigen Schluck des köstlichen Seewassers herunter, zündeten unsere Pfeifen an und harrten der Dinge, die da kommen sollten.

Als wir eine Stunde so dahingesegelt waren, rief Good, der die ganze Zeit über den Horizont mit dem Fernglas beobachtete: »Land in Sicht!« Voller Freude blickten wir nach vorn. Good machte uns darauf aufmerksam, daß wir uns, wie die veränderte Farbe des Wassers verriet, der Mündung eines Flusses näherten. Ein paar Minuten später erblickten wir in der Ferne eine große goldene Kuppel, ähnlich der von St. Paul's Cathedral, die aus dem Morgendunst herausragte, und während wir noch darüber rätselten, was in aller Welt das sein konnte, meldete Good eine weitere, noch viel wichtigere Entdeckung, nämlich, daß sich ein kleines Segelschiff auf uns zubewegte. Diese Nachricht, von deren Richtigkeit wir uns bald darauf mit unseren eigenen Augen überzeugen konnten, brachte uns mächtig in Unruhe. Daß die Eingeborenen dieses unbekannten Sees die Kunst des Segelns beherrschten, ließ darauf schließen, daß sie einen gewissen Grad der Zivilisation erreicht hatten. Einige Minuten später hatte uns der Insasse oder die Insassen des Bootes offenbar entdeckt. Einen Moment lang schien er unentschieden zu sein, doch dann kreuzte das Boot mit hoher Geschwindigkeit in unsere Richtung. Nach zehn Minuten war es nur noch etwa hundert Yards von uns entfernt, und wir konnten es uns näher betrachten. Es war ein hübsches kleines Boot - kein aus einem Baumstamm gehöhltes Kanu, sondern eher nach europäischer Art gebaut; also aus Holzplanken. Es trug ein für seine Größe ungeheuer großes Segel. Doch schon bald wurde unsere Aufmerksamkeit von dem Boot auf seine Insassen gelenkt. Es waren ein Mann und eine Frau. Sie waren fast so weiß wie wir.

Wir starrten uns gegenseitig verblüfft an. Wir mußten uns geirrt haben. Aber nein, es gab nichts daran zu rütteln: es handelte sich um Weiße. Sie waren nicht blond, aber die beiden Leute in dem Boot waren eindeutig der weißen Rasse zuzuordnen, die sich in wesentlichen Merkmalen von der schwarzen unterscheidet. Sie hatten ungefähr das Äußere von Spaniern oder Italienern. Es war eine ganz eindeutige Tatsache. So war es also doch wahr! Und wir hatten, gelenkt von einer Macht, die nicht die unsrige war, auf unerklärliche, geheimnisvolle Weise dieses mysteriöse Volk entdeckt. Ich hätte vor Freude laut aufjauchzen können ob der Wunderbarkeit dieses Momentes. Wir schüttelten uns gegenseitig die Hände und beglückwünschten uns für den unerwarteten und so plötzlich eingetretenen Erfolg unserer abenteuerlichen Suche. Mein ganzes Leben lang hatte ich Gerüchte gehört von einem weißen Volk, das im Hochland im Innern dieses riesigen Kontinents existieren sollte, und immer hatte ich davon geträumt, dieses Gerücht einmal zu beweisen. Und nun sah ich mit eigenen Augen, daß das Gerücht der Wahrheit entsprach. Ich war verblüfft und sprachlos und vor Freude ganz benommen. Hier bewies der Spruch jenes alten Römers, den Sir Henry so gern zitierte, fürwahr seine Gültigkeit. >Ex Africa semper aliquid novi<, was, wie Sir Henry sagt, bedeutet, daß aus Afrika immer etwas Neues kommt.

Der Mann in dem Boot war von guter, wenn auch nicht besonders feiner Physiognomie. Er hatte glattes schwarzes Haar, regelmäßige Züge und besaß ein intelligentes Gesicht. Er trug ein braunes Hemd aus Tuch, vergleichbar etwa einem ärmellosen Flanellhemd, und einen unverwechselbaren Rock aus dem gleichen Material. Die Beine und Füße waren nackt. Um den rechten Arm und das linke Bein trug er dicke Ringe aus einem gelblich glänzenden Metall; vermutlich Gold. Die Frau hatte ein reizendes Gesicht, wild und scheu zugleich. Sie hatte große, dunkle Augen und braunes, lockiges Haar. Ihr Kleid bestand aus demselben Material wie das des Mannes und bestand, wie wir später entdeckten, aus einem leinenen Unterkleid, das ihr bis zum Knie ging, und dann aus einem einzigen langen Streifen Tuch, ungefähr vier Fuß breit und fünfzehn Fuß lang, der in anmutigen Falten um den ganzen Körper geschlungen war und ganz zum Schluß so über die Schulter geworfen wurde, daß sein Ende, das je nach der sozialen Stellung des Trägers blau, purpurn, oder von irgendeiner anderen Farbe war, über die Schulter frei nach vorn fiel. Der rechte Arm und die rechte Brust blieben jedoch unbedeckt. Ein passenderes, anmutigeres Kleid kann man sich, besonders, wenn wie in diesem Fall die Trägerin jung und hübsch war, kaum vorstellen. Good (der ein Auge für so etwas hat) war sichtlich zutiefst davon beeindruckt, und ich muß gestehen, daß ich es ebenfalls war. Ein ebenso schlichtes wie raffiniertes Kleidungsstück.

So erstaunt wir über die Erscheinung des Mannes und der Frau waren, sie waren es, wie wir deutlich erkennen konnten, jedenfalls nicht minder über unser plötzliches Auftauchen. Was den Mann betraf, so schien er von Furcht und Erstaunen gleichermaßen überwältigt zu sein. Er umkreiste eine ganze Weile unser Kanu, wagte jedoch nicht, näher heranzukommen. Schließlich kam er jedoch auf Rufweite heran und rief uns etwas zu in einer Sprache, die sanft und melodisch klang, von der wir aber leider nicht ein Wort verstehen konnten. Wir antworteten auf englisch, französisch, lateinisch, griechisch, deutsch, zulu, niederländisch, sisutu, kukuana und in ein paar anderen Eingeborenendialekten, die mir geläufig sind, aber unser Besucher verstand offenbar keine dieser Sprachen. Im Gegenteil; sie schienen ihn beträchtlich zu verwirren. Was die Frau betraf, so war sie voll und ganz damit beschäftigt, uns aufmerksam zu beobachten. Good gab das Kompliment zurück, indem er sie mit forschendem Blick durch sein Monokel anstarrte, was sie eher zu belustigen schien, als daß es ihr Angst einjagte. Schließlich wendete der Mann, der offensichtlich nicht wußte, was er mit uns anfangen sollte, plötzlich das Boot und steuerte in Richtung Ufer. Sein kleines Boot flog vor dem Wind wie eine Schwalbe. Als es bei dem Wendemanöver dicht vor unserem Bug vorbeisegelte, wandte sich der Mann für einen Augenblick um, um nach dem Segel zu sehen. Good ergriff prompt die Gelegenheit beim Schopfe und warf der jungen Dame eine Kußhand hinüber. Ich war entsetzt, einmal aus Gründen des Anstands, und zum zweiten, weil ich befürchtete, daß sie es als Beleidigung auffassen könnte. Aber zu meiner großen Erleichterung tat sie das nicht. Im Gegen-teil; sie warf einen kurzen Blick über die Schulter, und als sie sah, daß ihr Mann oder ihr Bruder, oder wer auch immer er sein mochte, anderweitig beschäftigt war, warf sie ihm prompt eine Kußhand zurück.

»Aha!« sagte ich. »Es sieht ganz so aus, als ob wir nun doch eine Sprache gefunden hätten, die das Volk dieses Landes versteht.«

»Wenn das so ist«, frozzelte Sir Henry, »dann haben wir ja in Good einen unschätzbar wertvollen Dolmetscher.«

Ich runzelte die Stirn, denn ich billigte Goods Frivolitäten ganz und gar nicht. Das weiß er auch, und ich lenkte die Unterhaltung wieder auf ernstere Themen. »Es ist völlig klar«, sagte ich, »daß der Mann in Kürze mit einer ganzen Schar seiner Gefährten zurückkommen wird. Wir sollten uns Gedanken darüber machen, wie wir sie empfangen wollen.«

»Ich glaube, die Frage lautet eher: Wie werden sie uns empfangen?« wandte Sir Henry ein.

Was Good anbetraf, so sagte er überhaupt nichts dazu. Statt dessen zog er einen kleinen, quadratischen Blechkoffer hervor, der uns schon während unserer ganzen Wanderung, unter einem Haufen Gepäck verborgen, begleitet hatte. Wir hatten uns schon oft mit Good wegen dieses Blechkoffers herumgezankt, insbesondere, weil er ziemlich sperrig war und uns ständig beim Transport unseres Gepäcks behindert hatte. Er hatte nie eine klare Antwort über den Inhalt dieses Koffers gegeben. Er hatte jedoch immer darauf bestanden, ihn mitzunehmen, wobei er jedesmal geheimnisvoll angedeutet hatte, daß er sich eines Tages noch als äußerst nützlich erweisen könne.

»Was in aller Welt tust du da, Good?« fragte Sir Henry.

»Was ich da tue? Ich ziehe mich natürlich um! Ihr glaubt doch nicht im Ernst, daß ich mich bei einem neuentdeckten Volk in diesen Klamotten vorstelle, oder?« Er deutete mit einer Geste auf seine schmutzigen, abgewetzten Kleider, die indessen, wie alle Kleidungsstücke von Good, äußerst ordentlich und an zerrissenen Stellen peinlich sauber geflickt waren.

Wir sagten nichts weiter, sondern verfolgten statt dessen sein Vorgehen mit atemlosem Interesse. Als erstes beauftragte er Alphonse, der in solchen Dingen äußerst kompetent war, sein Haar und seinen Bart nach der neuesten Mode zurechtzustutzen. Ich glaube, wenn er heißes Wasser und ein Stück Seife zur Hand gehabt hätte, dann hätte er gar den letzteren abrasiert; aber leider war das nicht der Fall. Als dies geschehen war, schlug er uns allen Ernstes vor, das Segel des Kanus zu reffen und ein Bad zu nehmen. Das taten wir auch, zum großen Erstaunen und Entsetzen von Alphonse, der die Hände über dem Kopf zusammenschlug und feststellte, daß die Engländer schon verrückte Leute wären. Umslopogaas, der wie die meisten Zulus von hoher Herkunft und guter Erziehung äußerst reinlich war, was seine Person anbetraf, hatte indessen keine Lust, im See herumzuschwimmen, und betrachtete das ganze Theater mit milder Belustigung. Erfrischt von dem kühlen Naß kletterten wir wieder in das Kanu und setzten uns zum Trocknen in die Sonne. Während Good seinen Blechkoffer öffnete und zu unser aller Verblüffung als erstes ein sauberes, blütenweißes Hemd hervorholte. Es sah ganz so aus, als käme es frisch aus einer Lon-doner Dampfreinigung. Als nächstes tauchten mehrere Kleidungsstücke auf. Sie waren zuerst in braunes, dann in weißes, und schließlich in Silberpapier eingewickelt. Wir beobachteten das Auspacken mit größtem Interesse und atemloser Spannung. Mit größter Sorgfalt öffnete Good eine Hülle nach der anderen und ließ die Pracht, die sich in ihrem Innern verbarg, offen zutage treten. Dann faltete er sorgsam jeden einzelnen Bogen Papier wieder zusammen und legte ihn zurück in den Koffer. Und was glaubt Ihr, verehrter Leser, was da vor uns lag? Vor uns in dem Kanu lag in ihrer ganzen majestätischen Pracht, im Glanze ihrer goldenen Schulterstücke, Tressen, Borten und Knöpfe - die Paradeuniform eines Fregattenkapitäns der Royal Navy, komplett mit Galadegen, Dreispitz, Lackstiefeln und allem Drum und Dran! Uns verschlug es buchstäblich den Atem!

»Was?« riefen Sir Henry und ich fast gleichzeitig. »Was? Willst du das etwa anziehen?«

»Natürlich«, antwortete Good gefaßt; »wie ihr wissen solltet, hängt ungeheuer viel vom ersten Eindruck ab. Besonders ...«, fuhr er fort, »wenn, wie ich feststelle, Damen in der Nähe sind. Wenigstens einer von uns sollte ordentlich gekleidet sein.«

Wir wußten nichts weiter zu sagen; wir waren ganz einfach sprachlos, besonders, wenn wir daran dachten, auf welch gerissene Weise Good während all der Monate den Inhalt dieses Koffers vor uns verheimlicht hatte. Wir schlugen ihm lediglich vor, er solle sein Kettenhemd unter der Uniform anziehen. Er erwiderte, daß er befürchtete, das Hemd würde dem guten Sitz seines Mantels, den er sorgfältig in der Sonne ausgebreitet hatte, um die Kniffe und Eselsohren herauszukriegen, abträglich sein, stimmte jedoch schließlich dieser Vorsichtsmaßnahme zu. Das Lustigste an der ganzen Sache war jedoch, Umslopogaas' Verblüffung und Alphonses Entzücken über Goods unglaubliches Verwandlungskunststück zu beobachten. Als er schließlich in voller Pracht dastand, sogar mit den Orden auf der Brust, und sich in den stillen Wassern des Sees betrachtete, so wie einst der junge Mann in jener alten Geschichte, dessen Name mir entfallen ist, aber von dem ich weiß, daß er sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte, da konnte der alte Zulu seine Gefühle nicht länger im Zaum halten.

»O Bougwan!« rief er. »O Bougwan! Ich hielt dich immer für einen häßlichen kleinen Mann - und fett, fett wie eine Kuh vor der Kalbung; und nun siehst du aus wie ein blauer Eichelhäher, wenn er stolz seinen Schwanz spreizt. O Bougwan, meine Augen sind geblendet, wenn ich dich anschaue.«

Good liebte diese Anspielungen auf seine Fettleibigkeit ganz und gar nicht; ich muß der Wahrheit halber auch hinzufügen, daß sie nicht mehr allzu berechtigt waren; denn die harten Anstrengungen der letzten Monate hatten seinen Leibesumfang bestimmt um drei Zoll verringert. Aber ansonsten fühlte er sich durch Umslopogaas' offensichtliche Bewunderung äußerst geschmeichelt. Alphonse war in höchstes Entzücken geraten.

»Ah! Monsieur 'at das 'errliche Aussehen von ... von eine Krieger. Das werden die Demoiselles sagen, wenn wir an Land gehen. Monsieur ist vollkommen; er erinnert misch sehr an meine 'eroische Groß...«

An dieser Stelle unterbrachen wir seinen Redefluß.

Als wir den Glanz betrachteten, den Good da so unerwartet enthüllt hatte, wurden wir mit einem Mal von dem eifersüchtigen Gedanken beseelt, es ihm gleichzutun, und wir machten uns daran, uns ebenfalls so gut es ging herzurichten. Das einzige jedoch, was wir tun konnten, war, uns mit unseren Jagdanzügen aufzuputzen, von denen wir jeder einen besaßen. Unsere Panzerhemden behielten wir darunter an. Was meine Erscheinung; anbetrifft, so hätten auch alle feinen Kleider der Welt nichts daran ändern können, daß sie schäbig und unbedeutend wirkte. Sir Henry hingegen hinterließ in seinem fast neuen Tweedanzug, seinen Gamaschen und Stiefeln einen hervorragenden Eindruck. Alphonse putzte sich ebenfalls mächtig heraus und zwirbelte seine enormen Bartspitzen besonders hoch. Selbst der alte Umslopogaas, der im allgemeinen kein Freund eitler Selbstbespiegelung war, schloß sich dem allgemeinen Trend an und polierte mit etwas Werg und dem Öl aus der Lampe solange an seinem Kopfring herum, bis er glänzte wie Goods Lackstiefel. Dann zog er das Panzerhemd an, das Sir Henry ihm geschenkt hatte, sowie seinen >Moocha<, und schließlich komplettierte er seine Erscheinung noch, indem er Inkosi-kaas gründlich reinigte.

Mittlerweile hatten wir uns schon ein ganzes Stück dem Land, beziehungsweise der Mündung eines großen Flusses genähert (das Segel hatten wir, gleich nachdem wir unser Bad beendet hatten, wieder gesetzt). Kurz darauf sahen wir - inzwischen waren ungefähr anderthalb Stunden vergangen, seit das kleine Boot uns verlassen hatte -, wie vom Fluß oder Hafen her eine große Anzahl von Booten auftauchte.

Die größten von ihnen hatten wohl an die zwölf Tonnen. Eines von ihnen wurde von vierundzwanzig Rudern vorwärtsbewegt; fast alle anderen waren Segelboote. Wir spähten durch das Glas und erkannten sogleich, daß das Ruderboot ein offizielles Schiff war; die Mannschaft trug eine Art Uniform. Vorn auf dem Halbdeck stand ein alter, ehrwürdig aussehender Mann mit einem langen weißen Bart und einem Schwert im Gürtel. Offensichtlich war er der Befehlshaber des Schiffes. Die anderen Boote waren anscheinend voll mit Leuten, die die Neugier herausgetrieben hatte. Sie segelten oder ruderten, so schnell sie konnten, auf uns zu.

»Was sollen wir wetten?« fragte ich. »Werden sie uns freundlich empfangen, oder werden sie kurzen Prozeß mit uns machen?«

Keiner wußte eine Antwort auf diese Frage. Das kriegerische Aussehen des Alten und sein Schwert machten uns ein wenig nervös.

In diesem Augenblick erspähte Good eine Herde Flußpferde auf dem Wasser, ungefähr zweihundert Yards von uns entfernt. Er schlug vor, es wäre nicht das Schlechteste, den Eingeborenen mit unserer Macht Respekt einzuflößen, indem wir einige der Tiere erschossen. Wir waren sofort von dieser Idee eingenommen (was sich noch als großer Fehler erweisen sollte) und holten unsere großkalibrigen Gewehre hervor, für die wir noch ein paar Patronen hatten. Die Herde bestand aus vier Tieren; einem großen Bullen, einer Kuh und zwei Kälbern, von denen eines schon fast zwei Drittel der Größe eines ausgewachsenen Tieres hatte. Schnell hatten wir sie erreicht. Ihre einzige Reaktion auf unser plötzliches Erscheinen bestand darin, daß sie sich unter die Wasseroberfläche sinken ließen und ein paar Yards weiter gleich wieder auftauchten. Ihre unglaubliche Arglosigkeit kam mir in der Tat ungewöhnlich vor. Als die herankommenden Boote etwa noch einen Abstand von etwa fünfhundert Yards hatten, eröffnete Sir Henry den Reigen, indem er auf das größere der beiden Kälber feuerte. Die schwere Kugel traf es genau zwischen den Augen, durchdrang den Schädel und tötete es auf der Stelle. Als es unterging, zog es eine breite Blutspur hinter sich her. Dann feuerten Good und ich fast gleichzeitig unsere Kugeln ab; ich auf die Kuh, und Good auf den alten Bullen. Mein Schuß traf das Tier, verletzte es aber nicht tödlich. Mit einem gewaltigen Platschen tauchte das Flußpferd unter und kam sogleich mit wütendem Grunzen wieder hoch. Mit der Kugel aus dem zweiten Lauf gab ich ihm den Rest. Das Wasser färbte sich blutigrot, und dann versank das mächtige Tier. Good, der ein erbärmlicher Schütze ist, verfehlte den Kopf des Bullen; die Kugel streifte ihn lediglich. Nachdem ich meinen zweiten Schuß abgefeuert hatte, blickte ich auf. Den Reaktionen nach zu urteilen, schienen die Menschen, mit denen wir hier in Berührung gekommen waren, noch nie Feuerwaffen gesehen zu haben: die Verwirrung, die unsere Schüsse und ihre Wirkung auf die Tiere auslösten, war ungeheuer. Einige der Leute in den Booten stießen laute Entsetzensschreie aus; andere wendeten und machten, daß sie so schnell wie möglich wieder davonkamen. Auch der alte Mann mit dem Schwert machte ein entsetztes und verwirrtes Gesicht und ließ sein großes Ruderboot auf der Stelle anhalten. Es blieb uns indessen nur wenig Zeit zum Schauen; denn just in dem Moment tauchte der alte Bulle, durch die Verletzung, die er durch den Streifschuß erlitten hatte, aufs äußerste gereizt, wieder aus dem Wasser auf, etwa vierzig Yards von unserem Boot entfernt, und glotzte uns wutschnaubend an. Wir schossen alle drei auf ihn und erwischten ihn an verschiedenen Stellen. Schwer getroffen ging er wieder unter. Bei den Zuschauern schien jetzt doch die Neugier über die Angst zu siegen; denn einige segelten dicht an uns heran; unter ihnen befanden sich auch der Mann und die Frau, die wir als erste etwa zwei Stunden zuvor gesehen hatten. Sie kamen am dichtesten heran und waren bald fast auf gleicher Höhe mit uns. In dem Moment tauchte das riesige Tier, knapp zehn Yards von ihrem Boot entfernt, erneut auf, und mit wütendem Gebrüll und weit aufgerissenem Maul griff es das Boot an. Die Frau stieß einen spitzen Schrei des Entsetzens aus, und der Mann versuchte noch, mit dem Boot auszuweichen; jedoch ohne Erfolg. In der nächsten Sekunde sah ich, wie der riesige rote Schlund mit den glänzenden Stoßzähnen sich mit einem knirschenden Geräusch über dem einen Ende des zerbrechlichen Gefährtes schloß, buchstäblich eine Ecke davon abbiß und das Boot umwarf. Das Fahrzeug kenterte auf der Stelle, und seine Insassen flogen in hohem Bogen ins Wasser. Gleich darauf, ohne daß wir auch nur eine Sekunde Zeit gehabt hätten, etwas zur Rettung der beiden zu unternehmen, war das bis aufs Blut gereizte Tier schon wieder zur Stelle und griff mit weit aufgerissenem Maul das arme Mädchen an, das verzweifelt in den Fluten um sich schlug. Schon waren die mahlenden Kiefer der Bestie im Begriff, sich über dem armen Mädchen zu schließen, da hatte ich mein Gewehr auch schon hochgerissen und feuerte knapp über den Kopf des Mädchens hinweg mitten in den Schlund des Flußpferdes. Es kippte nach hinten weg und begann, laut schnaubend und rote Blutfontänen aus seinen Nasenlöchern pustend, sich im Wasser um seine eigene Achse zu drehen. Bevor es sich jedoch noch einmal erholen konnte, hatte ich ihm auch schon die Kugel aus dem zweiten Lauf seitlich in den Hals gejagt, und das gab ihm endgültig den Rest. Es hörte sofort auf sich zu drehen und sank auf der Stelle.



Unsere nächste Anstrengung galt der Rettung des Mädchens. Der Mann war inzwischen fortgeschwommen und in ein anderes Boot geklettert. Diesmal jedoch hatten wir sofort Glück; es gelang uns (unter dem Geschrei der Schaulustigen), das Mädchen, das völlig erschöpft und verängstigt, aber ansonsten unverletzt war, schnell ins Kanu zu ziehen.

In der Zwischenzeit hatten sich die Boote in respektvoller Entfernung versammelt, und wir sahen, wie ihre Insassen, die offenbar völlig verwirrt und verängstigt waren, beratschlagten, was sie nun tun sollten. Ohne ihnen Zeit für irgendwelche Entschlüsse zu lassen, die, so fürchteten wir, möglicherweise zu unseren Ungunsten ausgefallen wären, griffen wir nach unseren Paddeln und hielten auf sie zu. Good stellte sich aufrecht in den Bug des Kanus, schwenkte höflich seinen Dreispitz in sämtlichen Richtungen und ließ sein ohnehin freundlich wirkendes Gesicht in einem offenen und aufgeweckten Lächeln erstrahlen.

Die meisten Boote wichen zurück, als wir näherkamen. Einige jedoch blieben da, wo sie waren, während das große Ruderboot uns entgegenkamt um uns in Empfang zu nehmen. Kurz darauf war es längsseits von uns, und ich konnte deutlich sehen, daß unsere äußere Erscheinung - besonders die von Good und Umslopogaas, bei dem ehrwürdigen Kapitän Erstaunen erweckte, gepaart mit ein wenig Furcht. Er war nach der gleichen Mode gekleidet wie der Mann, den wir zuerst gesehen hatten, nur daß sein Hemd nicht aus braunem Tuch war, sondern aus schneeweißem Leinenstoff, der purpurfarben gesäumt war. Der Rock jedoch war der gleiche; ebenso die dicken Goldringe um den Arm und den linken Unterschenkel. Die Ruderer trugen lediglich einen Rock, ansonsten waren sie bis zur Hüfte nackt. Good zog vor dem alten Mann den Dreispitz mit einer besonders tiefen Verbeugung und fragte ihn in makellosem Englisch nach seinem Befinden. Wie als ob er damit antworten wolle, legte der Mann Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand quer über die Lippen und hielt sie einen Moment lang so. Wir vermuteten, daß das seine Art zu grüßen war. Dann rief auch er etwas zu uns herüber, in derselben melodisch klingenden Sprache, die schon den ersten Mann ausgezeichnet hatte. Wir mußten ihm jedoch leider zu verstehen geben, daß wir kein Wort verstanden. Das taten wir, indem wir den Kopf schüttelten und die Achseln zuckten. Das letztere tat Alphonse so perfekt, als sei es ihm angeboren, und dabei auf eine so höfliche Weise, daß niemand es als Beleidigung hätte auffassen können. Als wir uns so gegenüberstanden und im Moment niemand so recht weiterzuwissen schien, dachte ich mir, da mein Hunger inzwischen kaum noch auszuhalten war, daß es nichts schaden könne, wenn ich die Aufmerksamkeit der Männer auf diese Tatsache lenkte.

Gesagt, getan; ich öffnete also den Mund, zeigte mit dem Finger in Richtung Hafen; gleichzeitig warf einer von der Besatzung seines Bootes uns eine Leine herüber und gab uns ein Zeichen, sie festzumachen, was wir auch sofort taten. Das Ruderboot nahm uns ins Schlepptau und glitt mit hoher Geschwindigkeit auf die Flußmündung zu. Die anderen Boote folgten uns. Ungefähr zwanzig Minuten danach erreichten wir die Hafeneinfahrt, in der es nur so wimmelte von Booten, die alle voll besetzt waren mit Leuten, die extra herausgekommen waren, um uns zu sehen. Wir machten die Beobachtung, daß alle von heller Hautfarbe waren, obwohl manche hellhäutiger schienen als andere. Die Haut einiger Frauen war in der Tat von blendendem Weiß; der dunkelste Teint, den wir entdecken konnten, war ungefähr der eines ziemlich dunkelhäutigen Spaniers. Kurz darauf machte der breite Strom einen Bogen, und im selben Moment entfuhr uns allen gleichzeitig ein Ausruf höchsten Erstaunens und Entzückens, als wir zum ersten Mal die Stadt vor uns liegen sahen, die wir bald kennenlernen sollten als Milosis oder die >Finster blickende Stadt< (von mi, was Stadt bedeutet, und losis, was soviel heißt wie Stirnrunzeln oder finsterer Blick).

Etwa fünfhundert Yards hinter dem Flußufer ragte ein steiler Felsen aus Granit auf, dessen Höhe wohl zweihundert Fuß betrug. Früher hatte er sicherlich einmal selbst das Flußufer gebildet - den Streifen Land, auf dem sich jetzt Docks und Fahrdämme befanden, hatte man wohl trockengelegt, indem man den Fluß eingedeicht und sein Bett vertieft hatte.

Auf dem Vorsprung dieses Felsens stand ein großes Gebäude, das aus demselben Granit wie der Fel-sen errichtet war. Es bestand aus drei rechtwinklig zueinanderstehenden Flügeln. Die vierte Seite war offen, abgesehen von einer Art Brustwehr, an deren Fuß sich eine kleine Tür befand. Wie wir später erfuhren, war dieser imposante Bau der Palast der Königin, oder richtiger, der Königinnen.

Hinter dem Palast erstreckte sich auf einem sanft ansteigenden Hügel die Stadt, in deren Hintergrund sich ein prunkvoll leuchtendes Gebäude aus weißem Marmor erhob, dessen Krone die goldene Kuppel bildete, die wir vorher schon von weitem gesehen hatten. Die gesamte Stadt war, mit Ausnahme dieses einen Gebäudes, ganz aus rotem Granit errichtet; sie war in regelmäßigen Rechtecken angeordnet, zwischen denen sich herrliche Straßen hinzogen. Soweit wir erkennen konnten, waren die Häuser alle einstök-kig und freistehend. Sie waren ausnahmslos von Gärten umgeben, die das vom monotonen Anblick des roten Granits ermüdete Auge erquickten. Von der Rückenseite des Palastes ausgehend zog sich eine Straße von außerordentlicher Breite etwa anderthalb Meilen bergan. Sie mündete in einen offenen Platz, der das weiß leuchtende Gebäude, das den Hügel krönte, umgab. Aber direkt vor uns lag das, was die eigentliche Pracht und Herrlichkeit von Milosis ausmachte - der große Treppenaufgang des Palastes, dessen kühner Glanz uns fast den Atem raubte. Der geneigte Leser möge sich, wenn er dazu in der Lage ist, eine herrliche Treppe vorstellen, fünfundsechzig Fuß von Balustrade zu Balustrade, bestehend aus zwei gigantischen Fluchten, von denen jede hundertfünfundzwanzig Stufen hat, je acht Zoll hoch und drei Fuß breit, zwischen denen sich ein Ruheplatz von sechzig Fuß Länge befindet. Er möge sich weiter vorstellen, daß diese ungeheure Konstruktion, die sich von der Palastmauer auf dem oberen Rand des Felsens bis hinunter zu einem Wasserweg oder Kanal, den man eigens dazu an ihrem Fuße gegraben hatte, erstreckte, auf einem einzigen gewaltigen Bogen aus Granit ruht, dessen Schlußstein der Ruheplatz zwischen den beiden Fluchten bildet; das heißt, der die beiden Fluchten verbindende Platz liegt genau auf der höchsten Krümmung des Granitbogens! Aus diesem Bogen wuchs ein freischwebender Stützbogen, oder besser etwas, das von der Form her einem freischwebenden Bogen ähnlich war, wie es nie zuvor jemand von uns irgendwo auf der Welt gesehen hatte, und dessen Schönheit und Großartigkeit alles, was wir uns überhaupt je hatten vorstellen können, weit in den Schatten stellte. Dreihundert Fuß von einem Ende zum anderen, und nicht weniger als fünfhundertfünfzig, wenn man entlang der Krümmung maß, schwang sich dieser halbkreisförmige Bogen in die Höhe; die Brücke, die er trug, berührte er nur auf einer Fläche von fünfzig Fuß. Das eine Ende ruhte, wie schon erwähnt, auf dem Hauptbogen, und das andere Ende war in den soliden Granit der Felswand eingebettet.

Dieser Treppenaufgang war mit seinen Stützbogen in der Tat ein Meisterwerk der Architektur, auf das jeder Mensch auf der Welt stolz gewesen wäre; zum einen aufgrund seiner unerhörten Größe, zum andern aufgrund seiner alles übertreffenden Schönheit. Viermal war das Werk, mit dem irgendwann in grauer Vorzeit begonnen worden war, gescheitert - das erfuhren wir später -, und man hatte es über drei Jahrhunderte hinweg halb vollendet so stehen lassen, bis schließlich ein jugendfrischer Baumeister namens Rademas die Stirn hatte zu behaupten, er würde das Werk erfolgreich vollenden. Er setzte für diese ungeheure Aufgabe sein Leben als Pfand ein: wenn er scheiterte, dann sollte er von eben jenem Felsen, den mit seinem Bauwerk zu erstürmen er sich so keck erkühnt hatte, hinabgeschleudert werden; sollte er jedoch das Werk erfolgreich zu Ende führen, dann sollte er zum Lohn die Hand der Königstochter erhalten. Er sollte fünf Jahre Zeit haben, die Arbeit auszuführen; Arbeitskräfte und Baumaterial wurden ihm in unbegrenzter Höhe zur Verfügung gestellt. Dreimal fiel sein Bogen in sich zusammen; schließlich, als er sah, daß sein Scheitern unvermeidlich war, beschloß er, am Morgen nach dem dritten Zusammenbruch seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. In jener Nacht erschien ihm jedoch im Traum eine wunderschöne Frau, die seine Stirn berührte. Und plötzlich hatte er vor seinen Augen die Vision des vollendeten Werkes, und durch das Mauerwerk hindurch sah er gleichzeitig wie er all die Schwierigkeiten, die mit dem Bau des freischwebenden Bogens, der bisher seinem Genius hohngesprochen hatte, verbunden waren, mit einem Schlag lösen konnte. Er erwachte und begab sich sofort mit neuem Mut ans Werk; diesmal jedoch nach einem neuen, anderen Plan, und - siehe da! - er schaffte es, und als der letzte Tag des fünften Jahres angebrochen war, führte er die Prinzessin als Braut über die Treppe in den Palast. Und als der König gestorben war, wurde er als Gemahl der Königin zum König gekrönt und begründete die Zu-Vendi-Dynastie, die noch heute besteht, und die bis zum heutigen Tage >das Herrscherhaus der Trep-pe< genannt wird. Dies ist einmal mehr der Beweis dafür, daß Ausdauer im Verein mit Talent das natürliche Sprungbrett für Größe und Ruhm ist. Und um seinen Triumph bis ans Ende aller Tage unvergeßlich zu machen, errichtete er ein Standbild, das ihn selbst darstellt, wie er im Traum von der schönen Frau an der Stirn berührt wird, und er ließ es in der großen Halle des Palastes aufstellen, wo es bis zum heutigen Tage zu sehen ist.

Das also war die große Treppe von Milosis mit der dahinter liegenden Stadt. Kein Wunder, daß sie >die finster blickende Stadt< genannt wurde; schienen doch jene mächtigen Bauwerke aus solidem roten Granit stirnrunzelnd in ihrem düsteren Glanz auf unsere vergängliche Kleinheit herabzublicken. Das war sogar der Fall, wenn die Sonne schien; aber wenn sich erst die finsteren Wolken des Sturmes über ihrer gebieterischen Stirn zusammenballten, dann sah Milosis eher aus wie die Wohnstätte des Übernatürlichen oder wie die phantastische Ausgeburt eines Dichterhirns, als das, was sie in Wirklichkeit ist - eine vergängliche Stadt, von dem geduldigen Genius von Generationen aus der roten Stille der Berge gemeißelt.

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