Und nun senkt sich der Vorhang für ein paar Stunden, und die Akteure dieses neuen Dramas sind für eine Weile in tiefen Schlummer versunken, ausgenommen vielleicht Nylephta, von der der Leser sich vielleicht, so er poetische Neigungen hat, vorstellen mag, wie sie, umgeben von eifrigen Kammerzofen, geschwätzigen Frauen, Leibwächtern und all den anderen Hofschranzen, die gemeinhin um einen Thron herumschwirren, in ihrem prunkvollen, königlichen Bette liegt und keinen Schlaf finden kann, da sie unablässig an jene Fremden denken muß, die da so plötzlich in ihrem Lande aufgetaucht sind, in dem noch nie zuvor solche Fremden gewesen waren, und wie sie sich, während sie so wachliegt, immer wieder die Frage stellt, wer diese Fremden wohl sind und welche Vergangenheit sie wohl haben, und ob sie, Königin Nylephta, wohl häßlich ist im Vergleich zu den Frauen jenes Landes, in dem diese Fremden geboren sind. Ich hingegen, der ich keine solchen poetischen Neigungen habe, will diese kurze Atempause, welche der Lauf der Ereignisse uns gewährt, dazu nutzen, einiges über dieses Volk, in dessen Mitte uns der Zufall geleitet hatte, zu berichten. Ich brauche wohl nicht besonders hervorzuheben, daß ich das, worüber ich jetzt berichten will, erst im weiteren Verlaufe unseres Aufenthalts erfahren sollte.
Um gleich an Anfang zu beginnen: der Name dieses Landes ist Zu-Vendis. Dieser Name ist entstanden aus Zu, >gelb<, und Vendis, was soviel bedeutet wie >Land< oder >Landschaft<. Warum diese Gegend >das gelbe Land< genannt wird, habe ich niemals genau herauskriegen können. Auch die Einwohner selbst haben nur vage Vermutungen über den Ursprung des Namens. Drei Vermutungen gibt es jedoch, die mir einigermaßen plausibel erscheinen: Die erste besagt, daß der Name seinen Ursprung darin hat, daß das Land über beträchtliche Goldvorkommen verfügt. Zu-Vendis ist in der Tat ein wahres Eldorado; überall kann man Gold finden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt fördert man es in erster Linie aus den reichlich vorhandenen Schwemmablagerungen (von denen wir einige später zu Gesicht bekamen), welche eine Tagesreise von Milosis entfernt sind. Man findet das kostbare Metall dort in Klumpen, die häufig bis zu sieben Pfund schwer sind. Aber es existieren auch noch mehrere Erzgruben, die äußerst ertragreich sind. Darüber hinaus habe ich selbst an vielen Stellen des Landes dicke Adern goldhaltigen Quarzes gesehen, die man abzubauen gar nicht der Mühe wert befunden hatte. In Zu-Vendis kommt Gold weitaus häufiger vor als Silber. Dadurch ist es zu der uns recht seltsam anmutenden Situation gekommen, daß Silber und nicht Gold das Zahlungsmittel des Landes darstellt.
Die zweite, durchaus in Betracht zu ziehende Erklärungsmöglichkeit für den Ursprung des Namens ist die, daß das im übrigen äußerst saftige und üppig wachsende Gras des Landes zu bestimmten Jahreszeiten die goldgelbe Farbe reifen Korns annimmt. Die dritte gründet sich auf eine Tradition, welche besagt, daß die Bevölkerung ursprünglich gelbe Hautfarbe hatte, die jedoch allmählich weiß wurde, nachdem sie über viele Generationen hinweg im Hochland gelebt hatte.
Zu-Vendis hat ungefähr die Größe Frankreichs und ist, grob betrachtet, von ovaler Form. Von den umliegenden Gebieten ist es ringsum durch eine natürliche Grenze riesiger undurchdringlicher Dornenwälder abgeschnitten. Jenseits dieser Wälder sollen sich noch einmal über Hunderte von Meilen hinweg gewaltige Landstriche mit Sümpfen, Wüsten und Gebirgen erstrecken. Das Land liegt sozusagen auf einer riesigen, tafelförmigen Hochebene, die sich etwa im Zentrum des schwarzen Kontinents erhebt, und die vergleichbar ist mit den Tafelbergen des südlichen Afrikas, die aus dem umliegenden Steppenland herausragen. Milosis selbst liegt nach den Angaben meines Aneroidbarometers etwa neuntausend Fuß über dem Meeresspiegel. Der größte Teil des Landes liegt jedoch noch höher; die größte Erhebung des Landes ist etwa in elftausend Fuß über dem Meeresspiegel gelegen. Das Klima ist folglich vergleichsweise kühl; es ähnelt sehr dem Klima Südenglands, nur ist es heller und weniger regnerisch. Das Land ist ungeheuer fruchtbar; alle Getreidearten und Früchte und Bäume gemäßigter Klimazonen gedeihen hier prächtig. In den niedriger gelegenen Regionen wächst sogar eine kräftige, gegen kühle Temperaturen unempfindliche Gattung des Zuckerrohrs. An Bodenschätzen verfügt das Land außer dem Gold noch über Kohle, die teilweise sogar im Tagebau gewonnen werden kann, sowie über reinen Marmor, schwarzen wie weißen. Das gleiche gilt, mit Ausnahme von Silber, für fast alle anderen Metalle. Silber kommt, wie bereits erwähnt, nur in sehr geringen Mengen vor, und zwar in den Bergen des Nordens, wo es unter erheblichen Mühen gefördert wird.
Zu-Vendis verfügt in seinen Grenzen über eine Vielzahl verschiedener Landschaften, darunter zwei Ketten schneebedeckter Gebirge, von denen sich die eine an der Westgrenze jenseits des undurchdringlichen Dornenwaldgürtels befindet und die andere das Land von Norden nach Süden durchzieht. Sie ist nur etwa achtzig Meilen von der Hauptstadt entfernt, und von der Stadt aus kann man ihre höchsten Erhebungen deutlich erkennen. Diese Gebirgskette bildet die Hauptwasserscheide des Landes. Außerdem gibt es drei große Seen - der größte davon, nämlich der, auf dem wir auftauchten, heißt nach der Stadt ebenfalls Milosis und bedeckt eine Fläche von ungefähr zweihundert Quadratmeilen - und darüber hinaus zahlreiche kleinere, von denen einige salzig sind.
Die Bevölkerungsdichte dieses vom Klima so begünstigten Landes ist vergleichsweise hoch; das Land zählt grob geschätzt etwas zehn bis zwölf Millionen Einwohner. Es ist fast ausschließlich Agrarland, und die Bevölkerung zerfällt wie überall in mehrere Klassen. Da ist einmal der Landadel, dann eine beträchtliche Mittelschicht, die sich in erster Linie aus Kaufleuten, Armeeoffizieren etc. zusammensetzt, und schließlich die Mehrheit der Bevölkerung, hauptsächlich wohlhabende Bauern, die in Lehnspacht die Güter der Landedelmänner bewirtschaften. Die Bevölkerung besteht, wie ich schon erwähnte, ausschließlich aus Weißen; einige davon wirken vom Typ her durchaus mitteleuropäisch, wohingegen die Masse der Bevölkerung einen mehr südländischen Einschlag hat, jedoch keinerlei negroide oder sonstwie geartete afrikanische Charakteristiken aufweist. Über ihren Ursprung kann ich keine eindeutige Information geben. Aus ihren schriftlichen Überlieferungen, die teilweise bis ins neunte Jahrhundert zurückdatieren, geht nichts über ihre Abstammung hervor. Einer ihrer frühesten Chronisten spricht zwar im Zusammenhang mit einer uralten Tradition, die zu seiner Zeit existiert haben muß, davon, daß sie wahrscheinlich mit den Leuten von der Küste heraufgekommen sind<, aber das kann alles mögliche bedeuten. Kurz, der Ursprung der Zu-Vendi liegt im Dunkel der Vergangenheit. Woher sie stammen oder welcher Rasse sie sind, weiß keiner. Ihre Architektur und einige ihrer Skulpturen deuten auf ägyptischen oder vielleicht auch assyrischen Einfluß hin; aber es ist historisch klar und deutlich zurückzuverfolgen, daß ihr gegenwärtiger bemerkenswerter Baustil erst innerhalb der vergangenen achthundert Jahre entstanden ist. Außerdem lassen sich keinerlei Spuren ägyptischer Theologie oder Bräuche feststellen. Eher würde man sie aufgrund ihrer äußeren Erscheinung und einiger ihrer Bräuche für jüdische Abkömmlinge halten; aber es ist kaum denkbar, daß sie dann alle Einflüsse der jüdischen Religion so völlig abgelegt hätten.
Vielleicht sind sie eines jener zehn verloren geglaubter Völker, nach deren Spuren man heute auf der ganzen Welt so eifrig forscht. Ich weiß es nicht, und daher muß ich mich darauf beschränken, sie so zu schildern, wie ich sie angetroffen habe, und es weiseren Köpfen als dem meinigen überlassen, sich darüber Gedanken zu machen - wenn sie tatsächlich einmal diesen Bericht in die Hände bekommen sollten, was ich jedoch für höchst unwahrscheinlich halte.
Und nachdem ich dies nun alles niedergeschrieben habe, werde ich schließlich doch noch meine eigene, wiewohl sehr laienhafte und spekulative Theorie über den Ursprung der Zu-Vendi zum Besten geben. Diese Theorie gründet sich auf eine Legende, die ich bei den Arabern an der Ostküste hie und da gehört habe. Dieser Legende nach gab es >vor mehr als zweitausend Jahren< Unruhen in dem Land, das als Babylonien bekannt war. Daraufhin kam eine riesige Menge von Persern bis herunter nach Bushire. Sie fuhren mit Schiffen und Booten aufs offene Meer hinaus und wurden vom Nordost-Monsun an die Ostküste Afrikas getrieben. Hier gerieten - so die Legende -diese >Sonnen- und Feueranbeter< (!) in Konflikt mit den Arabern, die schon damals dort ansässig waren. Schließlich gelang es den Persern, die Sperrlinien der Araber zu durchbrechen. Sie verschwanden im Innern des Landes, und man hörte und sah nie wieder etwas von ihnen. Ich frage nun: Besteht nicht zumindest die Möglichkeit, daß die Zu-Vendi die Abkömmlinge jener >Sonnen- und Feueranbeter< sind, die in grauer Vorzeit die Linien der Araber durchbrachen und dann spurlos verschwanden? Und in der Tat; in ihrem Charakter und ihren Gebräuchen liegt etwas, das sich mit meinen etwas vagen Vorstellungen, die ich von den Persern habe, in etwa deckt. Natürlich haben wir keine Bücher hier, in denen wir die Geschichte jener Zeit nachlesen könnten, aber auch Sir Henry sagt, soweit ihn die Erinnerung nicht trüge, habe es ungefähr im fünften Jahrhundert vor Christi Geburt einen gewaltigen Aufstand in Babylon gegeben, in dessen Folge ein großer Teil der Bevölkerung aus der Stadt vertrieben wurde. Jedenfalls ist es eine historisch dokumentierte Tatsache, daß es mehrere Auswanderungswellen von Persern gegeben hat, die die Gegend um den Persischen Golf verließen und an der Ostküste Afrikas ansässig wurden. Diese Auswanderungswellen hielten bis in das zwölfte Jahrhundert nach Christi Geburt an. Es gibt recht gut erhaltene Gräber von Persern in Kilwa, an der Ostküste, aus deren Daten hervorgeht, daß sie nicht älter als siebenhundert Jahre sind.
Obwohl die Zu-Vendi ein Agrarvolk sind, sind sie erstaunlicherweise äußerst kriegerisch veranlagt. Da ihnen jedoch die geographische Lage ihres Landes nicht erlaubt, andere Länder mit Krieg zu überziehen, bekriegen sie sich untereinander wie die berühmten Katzen von Kilkenny, mit dem Resultat, daß die Bevölkerung niemals so groß wird, daß das Land sie nicht mehr ernähren könnte. Diese kriegerische Haltung erwächst wohl in erster Linie aus den politischen Verhältnissen des Landes: die Monarchie von Zu-Vendis ist, zumindest nominell, eine absolute. Ihre unumschränkte Macht wird lediglich im Zaume gehalten von dem Einfluß der Priesterschaft und durch den gesetzlich nicht verankerten Rat der Landadeligen. Jedoch, wie es in vielen Institutionen dieser Art häufig der Fall ist, reicht der Arm des Hofes nicht unbedingt in jeden Winkel des Landes. Kurz, es herrscht ein Feudalsystem (obwohl völlige Leibeigenschaft oder Sklaverei unbekannt sind), in dem alle großen Landadeligen offiziell der Krone unterstehen, wobei einige jedoch praktisch unabhängig vom Königshof sind. Sie verfügen über die absolute richterliche Gewalt und können nach eigenem Gutdünken Kriege erklären und Frieden mit ihren Nachbarn schließen, gerade so, wie es in ihre Interessenlage paßt. Einige von ihnen haben sich auch dann und wann schon in offener Rebellion gegen ihren königlichen Herrn oder ihre königliche Herrin erhoben und haben aus dem sicheren Schutz ihrer Burgen und ihrer befestigten Städte heraus jahrelang gegen die Regierungstruppen, die so weit entfernt von der Hauptstadt operieren mußten, erfolgreich Widerstand geleistet.
Zu-Vendis hat, ebenso wie England, seine Königsmacher gehabt. Die Tatsache, daß innerhalb der vergangenen tausend Jahre allein acht verschiedene Dynastien einander ablösten, spricht eine deutliche Sprache. Jede dieser Dynastien ging aus einer adeligen Familie hervor, der es irgendwann einmal gelungen war, die Herrschaft nach einer blutigen Fehde an sich zu reißen. Zu der Zeit, als wir in Zu-Vendis auftauchten, befand sich das Land gerade in einer Periode relativer Stabilität. Der letzte König, der Vater von Nylephta und Sorais, war ein außergewöhnlich fähiger und energischer Regent gewesen, der mit starker Hand die Macht der Priester und der Adeligen in Grenzen gehalten hatte. Nach seinem Tode, der ihn erst zwei Jahre vor unserem Eintreffen in Zu-Vendis ereilt hatte, wurden, in Anlehnung an einen Jahrhunderte zurückliegenden Präzedenzfall, die Zwillingsschwestern, seine Töchter, auf den Thron gehoben. Hätte man eine von beiden von der Thronfolge ausgeschlossen, dann wäre unweigerlich nach kurzer Zeit ein blutiger Bürgerkrieg ausgebrochen; aber man hatte überall im Lande das Gefühl, daß diese Lösung nur sehr unbefriedigend war; keiner glaubte daran, daß sie von sehr langem Bestand sein würde. Und tatsächlich hatten auch die zahlreichen Intrigen, die immer wieder von ehrgeizigen Adeligen angezettelt wurden, die eine der beiden Königinnen zur Frau haben wollten, das Land schon mehrmals in Unruhe versetzt, und die allgemeine Auffassung war die, daß es über kurz oder lang darüber zu einem Blutvergießen kommen würde.
Ich möchte nun einiges über die Religion der Zu-Vendis erzählen; diese Religion ist eigentlich nichts anderes als Sonnenverehrung von stark ausgeprägtem, hochentwickeltem Charakter. Dieser Sonnenkult ist der Mittelpunkt des gesamten sozialen Systems von Zu-Vendis. Er wirkt sich in jeder Institution und fast allen Sitten und Gebräuchen des Landes mehr oder weniger stark ausgeprägt aus. Von der Wiege bis zum Grab folgt der Zu-Vendi der Sonne, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Als Kleinkind hält man ihn feierlich in ihr Licht und weiht ihn dem >Symbol des Guten, dem Ausdruck aller Macht und der Hoffnung auf die Ewigkeit<. Diese Zeremonie entspricht unserer Taufe. Schon als kleines Kind lehren die Eltern ihn, daß die Sonne der sichtbare und allmächtige Gott sei, und er betet zu ihr, wenn sie aufgeht, und wenn sie versinkt. Und eines Tages, noch immer im Kleinkindalter, geht er dann, das kleine Händchen fest an den herabhängenden Togazipfel der Mutter geklammert, zum ersten Mal zum Sonnentempel in die nächste Stadt und hört dort, wenn zur Mittagsstunde die hellen Strahlen auf den goldenen Hauptaltar fallen und das Feuer, das auf ihm brennt, überstrahlen, wie die Priester in ihren weißen Roben ihre Stimmen zu feierlichen Lobgesängen erheben, und sieht, wie die Menschen betend auf die Knie fallen, und dann wird er zum ersten Mal Zeuge jenes Spektakels, bei dem unter dem Schall der goldenen Fanfaren das Opfer in den Flammenofen unterhalb des Altars geworfen wird. Und dann, zum Jüngling herangewachsen, kommt er wieder an diesen Ort, wo ihn die Priester zum Manne weihen und ihn segnen, auf daß er seinen Mann im Kriege und bei der Arbeit stehen möge; und vor denselben heiligen Altar führt er eines Tages seine Braut; und ebenfalls an diesem Orte wird, sofern Zwietracht sich erhebt, seine Ehe wieder geschieden.
Und so schreitet er sein ganzes Leben lang weiter in diesen Tempel, bis zu seinem letzten Gang; dann kommt er wieder, bewaffnet zwar noch immer, jedoch als Toter. Sie tragen seinen Leichnam in den Tempel und stellen seine Totenbahre auf die Messingfalltür vor dem Ostaltar, und wenn der letzte Strahl der untergehenden Sonne auf sein bleiches Gesicht fällt, dann werden die Bolzen herausgezogen, und er verschwindet für immer in den tosenden Flammen des Ofens unter dem Altar.
Die Priester der Sonne sind unverheiratet. Ihr Nachwuchs rekrutiert sich aus den Reihen junger Männer, die von ihren Eltern schon frühzeitig ganz dieser Aufgabe geweiht und vom Staat unterstützt werden. Das Recht zur Ernennung in höhere Ämter innerhalb der Priesterschaft liegt in den Händen der Klone; einmal ernannt, können die Priester jedoch nie wieder ihres Amtes enthoben werden. Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, daß sie die eigentlichen Herrscher des Landes sind. Sie bilden eine festgefügte, unerschütterliche Gemeinschaft, in der strikter Gehorsam und absolute Verschwiegenheit herrschen. Erläßt zum Beispiel der Hohepriester in Milosis eine Order, so wird diese auf der Stelle und widerspruchslos von dem Priester einer kleinen Provinzstadt, die vielleicht drei- oder vierhundert Meilen von der Hauptstadt entfernt liegt, ausgeführt. Sie sind gleichzeitig die Richter des Landes, sowohl im zivilen, als auch im strafrechtlichen Bereich. Eine Berufung kann nur beim obersten Lehnsherr des Bezirkes eingereicht werden, und von dort aus wird sie weitergeleitet zum König. Natürlich verfügen die Priester auch über die praktisch uneingeschränkte Rechts-sprechung in religiösen und moralischen Angelegenheiten; desgleichen steht ihnen das Recht der Ex-kommunizierung zu, ein Recht, das, wie auch in Ländern höherer Zivilisation, eine äußerst wirksame Waffe darstellt. Und so üben sie in der Tat fast uneingeschränkte Macht aus. Ich möchte jedoch hier der Gerechtigkeit halber anmerken, daß die Priester, zumindest die der jetzigen Generation, überaus klug in ihren Entscheidungen sind und die Dinge nicht zu weit treiben. Es kommt wirklich nur höchst selten vor, daß sie gegen jemand zum äußersten Mittel greifen. In der Regel neigen sie eher dazu, sich vom Gedanken der Gnade leiten zu lassen, als daß sie das Risiko eingehen, das mächtige und streitbare Volk so sehr zu reizen, daß es eines Tages das Joch ihrer fast unumschränkten Herrschaft zerbrechen könnte.
Eine andere Quelle ihrer gewaltigen Macht liegt in ihrer Monopolstellung im Bereich der Wissenschaft begründet und in ihren beträchtlichen Kenntnissen auf dem Gebiete der Astronomie. Mit diesen Kenntnissen sind sie stets in der Lage, die öffentliche Meinung zu steuern, indem sie zum Beispiel Sonnenfinsternisse oder sogar Kometen exakt voraussagen. In Zu-Vendis können lediglich ein paar Mitglieder der Oberschicht lesen und schreiben; von den Priestern hingegen können das bis auf ein paar Ausnahmen alle. Sie gelten daher in der Öffentlichkeit als gebildete Männer.
Die Gesetze des Landes sind im großen und ganzen mild und gerecht, unterscheiden sich jedoch in verschiedener Hinsicht von den Gesetzen unserer zivilisierten Länder. In England zum Beispiel sind die Gesetze für Verstöße gegen das persönliche Eigentum weit härter als die, die Verstöße gegen Menschen ahnden. So ist es wohl bei jedem Volk, in dem in erster Linie das Geld und der Besitz regieren. Ein Mann, der seine Frau halb totschlägt, oder der seine Kinder quält, kann damit rechnen, in unserem Land weit milder bestraft zu werden, als hätte er ein Paar alte Stiefel geklaut. In Zu-Vendis ist das nicht so; hier zählt in jeder Hinsicht der Mensch mehr als Geld und Besitz. Er ist nicht wie in England ein notwendiges Anhängsel des letzteren. Auf Mord steht die Todesstrafe, ebenso auf Landesverrat. Auch Betrug eines Waisenkindes oder einer Witwe, Gotteslästerung und Religionsfrevel, sowie der Versuch, das Land zu verlassen (was ebenfalls als Sakrileg betrachtet wird), werden mit dem Tode bestraft. Die Methode der Exekution ist in jedem Falle dieselbe, und zwar eine überaus schreckliche: der Delinquent wird bei lebendigem Leibe in einem der Flammenöfen, die sich unter den Altären im Tempel befinden, verbrannt. Für alle anderen Gesetzesverstöße, einschließlich des Müßiggangs, besteht die Strafe in Zwangsarbeit an einem der öffentlichen Gebäude, von denen immer in irgendeinem Teil des Landes eines gerade im Entstehen begriffen ist. Außerdem wird der zur Zwangsarbeit Verurteilte je nach der Schwere des Verbrechens noch zusätzlich in bestimmten Abständen ausgepeitscht.
Das Gesellschaftssystem der Zu-Vendi räumt dem Individuum beträchtliche Freiheit ein, vorausgesetzt, es mißbraucht diese nicht zu Verstößen gegen die Gesetze und die Sitten des Landes. Die Polygamie ist gestattet; die meisten Zu-Vendi haben jedoch aus Kostengründen nur eine Frau. Der Ehemann ist gesetzlich verpflichtet, jeder seiner Frauen einen eigenen Haushalt einzurichten. Die erste Frau ist auch die rechtmäßige Ehefrau, und ihre Kinder sind die Kinder >aus dem Haus des Vaters<. Die Kinder der anderen Ehefrauen sind die Kinder aus dem Hause ihrer jeweiligen Mutter. Dies bedeutet jedoch nicht, daß diese Frauen oder Kinder irgendwie benachteiligt sind. Die Erstfrau hat die Möglichkeit, sobald sie in den Ehestand getreten ist, mit ihrem Mann einen Vertrag abzuschließen, in dem er sich verpflichtet, keine weitere Frau zu ehelichen. Dies kommt jedoch nur in den seltensten Fällen vor, sind es doch gerade die Frauen, die die Polygamie am schärfsten verteidigen; denn diese sorgt nicht nur dafür, daß sie in der Überzahl sind, sondern gibt der Erstfrau auch eine größere Wichtigkeit: sie ist so praktisch das Oberhaupt mehrerer Haushalte. Die Ehe ist in erster Linie ein Zivilkontrakt, in dem verschiedene Bedingungen, so zum Beispiel eine ordentliche Erziehung und Versorgung der Kinder, festgelegt werden. Sie ist auflösbar, vorausgesetzt, beide Vertragsparteien sind damit einverstanden. Der Scheidungsakt wird formal vollzogen mit einer Zeremonie, in der man die einzelnen Schritte des Hochzeitsaktes rückwärts ablaufen läßt.
Die Zu-Vendi sind im großen und ganzen ein sehr freundliches, liebenswürdiges und fröhliches Volk. Sie sind keine großen Kaufleute und machen sich wenig aus Geld; im allgemeinen arbeiten sie gerade soviel, daß sie ein ausreichendes Auskommen haben in der Klasse, in die sie hineingeboren wurden. Sie sind äußerst konservativ und betrachten alle Änderungen mit Unbehagen und Mißtrauen. Ihr gesetzliches Zahlungsmittel ist - das erwähnte ich bereits - Silber, welches man in kleine viereckige Plättchen von unterschiedlichem Gewicht geschnitten hat. Es gibt auch Goldmünzen; sie sind jedoch von geringerem Wert. Ihr Wert ist etwa so hoch wie der unseres Silbers. Man benutzt jedoch Gold, dessen Schönheit man sehr schätzt, für Ornamente und zu vielen anderen dekorativen Zwecken. Der größte Teil des Handels wird jedoch eigentlich in Form von Tauschgeschäften abgewickelt, das heißt, es wird mit Naturalien bezahlt. Das Land lebt, wie schon erwähnt, hauptsächlich von der Agrarwirtschaft, und somit stellt der Handel mit Agrarprodukten natürlich den Hauptanteil des gesamten nationalen Wirtschaftslebens. Der Ackerbau ist hochentwickelt und sehr ertragreich; der größte Teil des verfügbaren Ackerlandes ist kultiviert. Große Aufmerksamkeit läßt man auch der Vieh- und Pferdezucht angedeihen. Die Pferde, die ich dort gesehen habe, übertreffen alles, was es sonst in Afrika oder Europa gibt.
Das Land befindet sich theoretisch im Besitz der Krone, und darunter der großen Landadeligen. Diese wiederum verteilen es an kleinere Junker usw. bis hinunter zum Kleinbauern, der seine vierzig >Reestu< (Morgen) bewirtschaftet und sich nach dem System des Halbprofits den Ertrag mit seinem unmittelbaren Lehnsherrn teilt. Wie ich schon sagte, ist das System ausgesprochen feudal, und wir fanden es höchst interessant, diesem alten Bekannten aus Europa mitten im tiefsten, unbekannten Afrika zu begegnen.
Die Steuern sind sehr hoch. Der Staat zieht ein Drittel des Gesamteinkommens ein, und die Priesterschaft noch einmal fünf Prozent vom Rest. Kommt jedoch andererseits jemand aus irgendeinem Grund unverschuldet in eine Notlage, dann unterstützt der Staat ihn nach Maßgabe der sozialen Klasse, der er zugehört. Ist er jedoch arbeitsscheu, dann wird er zur Arbeit an einem der Regierungsvorhaben herangezogen, und der Staat übernimmt die Versorgung seiner Frauen und Kinder. Der Straßen- und Wohnungsbau ist vollständig in der Hand des Staates. Er läßt ihm äußerste Sorgfalt angedeihen und überläßt den Familien die Wohnungen zu sehr geringen Mieten. Der Staat unterhält auch eine stehende Armee von ungefähr zwanzigtausend Mann Stärke und sorgt für die öffentliche Sicherheit. Als Gegenleistung für ihre fünf Prozent bestreiten die Priester die Instandhaltung der Tempel und die Aufwendungen für den Gottesdienst; außerdem führen sie alle religiösen Zeremonien kostenlos aus. Außerdem unterhalten sie Schulen, in denen das gelehrt wird, was sie für erstrebenswert halten; und das ist nicht sehr viel. Einige der Tempel verfügen über Privateigentum; der Priester als Individuum ist jedoch mittellos.
Und nun komme ich zu einer Frage, die nur sehr schwer zu beantworten ist: Sind die Zu-Vendi ein zivilisiertes oder ein primitives, unkultiviertes Volk? Manchmal neige ich mehr zu dem einen, dann wieder mehr zu dem anderen. Auf eigenen Gebieten der Kunst zum Beispiel sind sie zu höchster Meisterschaft und Vollkommenheit gelangt. Man betrachte nur ihre Gebäude oder ihre Skulpturen. Ich glaube nicht, daß die letzteren in Perfektion und Schönheit irgendwo auf der Welt auch nur annähernd erreicht werden, und was die ersteren betrifft, so fällt mir höchstens die Baukunst der alten Ägypter ein, die vielleicht einem Vergleich standhalten könnte; seitdem jedoch hat es wohl auf der Welt nichts mehr gegeben, was der Architektur der Zu-Vendi gleichkommt. Auf der anderen Seite jedoch sind ihnen viele Techniken, die uns seit Jahrhunderten geläufig sind, völlig unbekannt. So waren sie zum Beispiel nicht in der Lage, Glas herzustellen, bis ihnen Sir Henry, der zufällig etwas davon versteht, zeigte, wie man es macht, indem er Kieselerde und Kalk miteinander vermengte. Ihre Töpferwaren sind ziemlich primitiv. Die Uhrzeit bestimmen sie mit der Wasseruhr. Als sie zum ersten Mal unsere Uhren sahen, waren sie völlig aus dem Häuschen. Unbekannt sind ihnen auch die Dampfkraft, die Elektrizität und das Schießpulver, und zu ihrem - wie ich meine - großen Glück haben sie auch die Buchdruckerkunst noch nicht erfunden. Dadurch bleibt ihnen viel Kummer erspart, denn unser Jahrhundert hat uns meiner Ansicht nach nur allzu deutlich gelehrt, daß das uralte Sprichwort >Je mehr man weiß, desto mehr Sorgen hat man auch< nichts von seiner Gültigkeit verloren hat.
Was ihre Religion anbetrifft, so ist es nichts weiter als eine Naturreligion für phantasiereiche Menschen, die es nicht anders wissen, und von denen man daher nichts anderes erwarten kann, als daß sie sich der Sonne als dem allmächtigen Vater zuwenden und sie als solchen verehren und anbeten. Man kann sie jedoch nicht als erhebend oder geistlich ihm religiösen Sinne bezeichnen. Sie bezeichnen zwar manchmal die Sonne als das >Kleid des Geistes<, aber das ist nur ein sehr vager Begriff; was sie in Wirklichkeit anbeten, ist nichts weiter als der feurige Himmelskörper selbst. Sie bezeichnen ihn auch als >Hoffnung auf die Ewigkeit^ aber auch hier haben sie wieder nur äußerst unklare Vorstellungen, und ich bezweifle, daß sie mit diesem Begriff einen klaren Eindruck verbinden. Einige von ihnen glauben in der Tat an ein Weiterleben nach dem Tode - ich weiß es zum Beispiel von Nylephta, aber das ist nur ein privater Glaube, der aus der Eingebung des Geistes herrührt, und kein wesentlicher Bestandteil ihrer Religion. Insgesamt betrachtet würde ich also nicht sagen, daß ich diesen Sonnenkult als eine Religion ansehe, die auf ein zivilisiertes Volk deuten würde, so prächtig und beeindruckend auch seine Rituale erscheinen und so moralisch und hehr auch die Maximen seiner Priester klingen mögen, von denen viele, wie ich ganz sicher glaube, ihre eigene Meinung zu der ganzen Sache haben. In der Öffentlichkeit sind sie natürlich voll des Lobes über ein System, das sie im Überfluß mit all den guten Dingen versorgt, die unsere Erde zu bieten hat.
Noch zwei Themen möchte ich ansprechen: nämlich die Sprache und die Schrift. Was die erstere betrifft, so hat sie einen sehr weichen Klang und zeichnet sich durch große Vokalfülle und Geschmeidigkeit aus. Sir Henry sagt, sie ähnelte in ihrem Klang ein wenig dem Neugriechischen; sie hat jedoch damit keinerlei Verwandtschaft. Sie ist leicht zu erlernen, da sie recht einfach aufgebaut ist. Das Bemerkenswerteste an ihr ist jedoch die besondere Bedeutung, die der jeweiligen Klangfarbe des Wortes zukommt. Das Wort paßt sich in seiner Betonung gewissermaßen der intendierten Bedeutung an. Lange bevor wir die Sprache beherrschten, waren wir schon häufig in der Lage, die ungefähre Bedeutung eines Satzes anhand der speziellen Tonhöhe und Satzmelodie zu erkennen, die der Sprecher ihm gegeben hatte. Aus diesem Grunde ist die Sprache auch so überaus gut zur poetischen Deklamation geeignet, einer Kunst, die in diesem bemerkenswerten Lande sehr gepflegt wird. Das Zu-Vendi-Alphabet ist anscheinend, wie übrigens jedes andere bekannte Buchstabensystem auch, phöni-zischen Ursprungs und mithin, geht man noch weiter zurück, aus dem ägyptischen Hieroglyphensystem entstanden. So sagt es jedenfalls Sir Henry. Ob dies den Tatsachen entspricht, kann ich nicht beurteilen, da ich auf diesem Gebiete völliger Laie bin. Ich weiß nur, daß ihr Alphabet aus zweiundzwanzig Zeichen besteht; einige davon, insbesondere B, E und O, sind unseren entsprechenden Zeichen nicht unähnlich. Das Ganze wirkt auf mich jedoch sehr umständlich und verworren[11]. Aber da die Zu-Vendi nicht veranlagt sind zum Schreiben von Romanen oder anderen Dingen, außer Geschäftsdokumenten und kurzen Notizen, reicht ihre Schrift für ihre Zwecke völlig aus.