14 Der Sonnenblumentempel

Meine Uhr zeigte halb neun, als ich am Morgen nach unserer Ankunft in Milosis aufwachte. Ich hatte fast zwölf Stunden geschlafen, und ich fühlte mich in der Tat besser. Ein gesunder, langer Schlaf kann schon einiges bewirken. Nur zwölf Stunden, und man fühlt sich wie neugeboren, besonders, wenn man vorher tage- und nächtelange Strapazen durchgemacht hat.

Ich setzte mich aufrecht in mein seidenbezogenes Bett - noch nie hatte ich in einem derartigen Bett gelegen - und das erste, was ich sah, war Goods Monokel, das aus den Tiefen seines seidenbezogenen Bettes zu mir herüberstarrte. Sein Monokel war das einzige, was von ihm zu sehen war, aber ich wußte sofort, daß er wach war und bereits darauf wartete, daß ich ebenfalls aufwachte.

»Hör mal, Quatermain«, legte er gleich wieder los, »hast du ihre Haut gesehen? Sie ist so glatt wie der Rücken einer elfenbeinernen Haarbürste.«

»Nun hör mal gut zu, Good«, sagte ich protestierend, als sich mit einem Rauschen der Vorhang öffnete. Im Rahmen stand ein Bediensteter, der uns durch Handzeichen zu verstehen gab, daß er uns ins Bad führen wollte. Hocherfreut stimmten wir zu, und dann geleitete er uns in einen prachtvollen Raum aus Marmor, in dessen Mitte sich ein eingelassenes Bek-ken mit fließendem, kristallklarem Wasser befand. Voller Freude sprangen wir hinein und taten uns in dem klaren Wasser gütlich. Als wir gebadet hatten, gingen wir wieder in unser Gemach und kleideten uns an. Danach gingen wir wieder in den zentralen Saal, in dem wir am Abend zuvor schon gespeist hatte und fanden den Frühstückstisch bereits fertig gedeckt vor. Herrliche Köstlichkeiten hatte man da für uns aufgetragen, und ich bin außerstande, all die verschiedenen Gerichte zu beschreiben! Nach dem Frühstück bummelten wir ein wenig in den umliegenden Gemächern umher und bewunderten die kostbaren Wandbehänge und Teppiche und mehrere herrliche Statuen, die überall die Räume zierten, und fragten uns, was uns wohl als nächstes an Überraschungen erwarten würde. Zu diesem Zeitpunkt befanden wir uns bereits in einem solchen Zustand völliger Verblüffung, daß uns in der Tat kaum noch etwas hätte aus der Fassung bringen können. Wir waren wirklich auf so ziemlich alles gefaßt, nach all dem, was wir in dieser kurzen Zeit schon in Milosis erlebt, und gesehen hatten. Während wir noch alle möglichen Mutmaßungen anstellten, erschien unser Freund, der Hauptmann der Leibgarde, auf dem Plan und machte uns unter zahlreichen Ehrfurchtsbezeugungen klar, daß wir ihm folgen sollten, was wir auch mit recht gemischten Gefühlen und einigem Herzklopfen taten. Wir glaubten, daß nun die Stunde gekommen wäre, in der wir mit unserem alten Freund Agon, dem Hohepriester, die Rechnung wegen der verdammten Flußpferde begleichen mußten. Uns blieb jedenfalls keine Wahl; ändern konnten wir ohnehin nichts daran, und ich persönlich tröstete mich vorerst mit dem Gedanken, daß die königlichen Schwestern uns ihren Schutz zugesagt hatten, wußte ich doch nur zu gut, daß Frauen, die ihren Willen durchsetzen wollen, im allgemeinen auch einen Weg dazu finden. Wir machten uns also schicksalsergeben auf den Weg. Nachdem wir etwa eine Minute durch einen Flur und einen Außenhof gegangen waren, erreichten wir die großen zweiflügeligen Außentore des Palastes, hinter denen die breite Allee beginnt, die bergan mitten durch das Herz von Milosis und schließlich zum Sonnentempel führt, der etwa eine Meile vom Palast entfernt ist, von wo aus sie den Abhang auf der Rückseite des Tempels nimmt und geradewegs zur Stadtmauer von Milosis verläuft.

Diese gewaltigen, massiven Torflügel stellen ein außerordentlich kunstvolles Meisterwerk aus Metall dar. Zwischen den beiden Toren - eines befindet sich am Eingang der inneren Mauer, das andere an dem der äußeren - verläuft ein fünfundvierzig Fuß breiter Graben. Dieser Graben ist mit Wasser gefüllt und wird von einer Zugbrücke überspannt. Wenn diese hochgezogen ist, dann ist der Palast so gut wie uneinnehmbar, es sei denn, man beschösse ihn mit Belagerungskanonen.

Als wir an das Tor traten, wurde jeweils ein Flügel der beiden gewaltigen Tore geöffnet, und als wir über die Zugbrücke ins Freie gelangt waren, bot sich unseren Augen der eindrucksvolle Anblick einer der schönsten Straßen der Welt - wenn nicht der schönsten überhaupt. Sie mißt in der Breite hundert Fuß. An beiden Seiten stehen in langen Reihen wunderschöne einstöckige Wohnhäuser aus rotem Granit -nicht, wie es bei uns in Europa üblich ist, dicht an dicht aneinandergezwängt, sondern jeweils auf einem eigenen, abgegrenzten Grundstück, mit jeweils gleichem Abstand zueinander. Diese Häuser, alle im glei-chen Stil gebaut, beherbergen die Stadtwohnungen der Adeligen des Hofes. Sie flankierten zu beiden Seiten in ununterbrochener Reihe die Prachtstraße, bis das Auge angehalten wurde von dem überwältigenden Anblick des Sonnentempels, der wie eine Krone am Ende der Straße auf der Anhöhe ruhte.

Während wir noch geblendet von dem prächtigen Anblick in der Toreinfahrt standen, kamen mit einem Male vier Wagen herangebraust, jeder von zwei Schimmeln gezogen. Diese Wagen waren aus Holz und hatten zwei Räder. Das Gewicht der kräftigen Deichsel ruhte auf Ledergurten, die einen Teil des Geschirrs bildeten. Die Räder, die nur vier Speichen hatten, waren mit Eisen bereift und bar jeder Federung. Im Vorderteil des Wagens, direkt über der Deichsel, befand sich ein kleiner Sitz für den Fahrer. Der Sitz war mit einem niedrigen Geländer umgeben, damit der Fahrer in Kurven oder auf unwegsamer Strecke nicht heruntergeschleudert wurde. Im Innern des Wagens befanden sich drei flache Sitze, jeweils einer an den Seiten, und der dritte mit dem Rücken zu den Pferden. Diesem Sitz gegenüber befand sich die Tür. Das ganze Gefährt war leicht, aber stabil gebaut und dank seiner anmutigen Form trotz seiner Primitivität gar nicht einmal so unansehnlich, wie man meinen könnte.

Was jedoch diese Wagen zu wünschen übrigließen, das machten die Pferde mehr als wett. Es waren einfach herrliche Tiere, nicht sehr groß, aber von starkem Wuchs und vollendeten Proportionen. Sie hatten einen kleinen Kopf, bemerkenswert große, runde Hufe und machten den Eindruck hervorragender Zucht und großer Schnelligkeit und Ausdauer. Ich habe mir schon sehr häufig die Frage gestellt, woher diese Rasse, die eine ganze Reihe besonderer Eigenarten aufweist, wohl stammen mag, aber ihre Herkunft liegt wie die ihrer Besitzer im Dunkeln. Ebenso wie die Menschen waren auch die Pferde schon immer dagewesen.

Der vordere und der hintere Wagen waren mit Gardisten besetzt. Zu diesen beiden wurden wir nun geführt. Alphonse und ich stiegen in den zweiten, Sir Henry, Good und Umslopogaas in den dritten. Kaum hatten wir Platz genommen, als sie auch schon losfuhren. Und ab ging die Post, daß sich mir die Nak-kenhaare sträubten! Bei den Zu-Vendi ist es nicht üblich, Pferde traben zu lassen, weder als Kutschpferde noch als Reittiere; es sei denn, die Strecke, die man zurücklegen will, ist nur sehr kurz. Ansonsten prescht man in vollem Galopp dahin. Wie gesagt -wir saßen also kaum, als der Fahrer auch schon die Zügel schießen ließ, und die Pferde mit einem mächtigen Satz nach vorne sprangen. Sogleich jagten wir mit einer solch irrsinnigen Geschwindigkeit dahin, daß es mir fast den Atem verschlug und ich einen Moment lang bevor ich mich an das Tempo gewöhnt hatte, fürchtete, der Wagen würde umkippen. Alphonse saß mit schreckensbleichem Gesicht auf seinem Sitz und klammerte sich verzweifelt am Rand fest, im sicheren Glauben, jede Minute sei seine letzte. Kurz darauf kam er auf die Idee, mich zu fragen, wohin die Fahrt ginge, und ich antwortete ihm, wir sollten, soweit ich wüßte, auf dem Flammenaltar geopfert werden. Sie hätten sein Gesicht sehen sollen, als er sich an den Rand des Gefährtes krallte und in blankem Entsetzen losschrie, als steckte er schon am Spieß!

Aber der wilde Kutscher beugte sich nur weiter nach vorn über seine dahinfliegenden Rösser und rief etwas; und der Wind, der an uns vorüberpfiff, trug den Klang von Alphonses Jammergeschrei rasch davon.

Und dann lag er vor uns, in all seinem wunderbaren Glanz und seiner berauschenden Pracht und Anmut - der Tempel der Sonne, der Stolz von Zu-Vendis, der für jenes Volk das ist, was für die Juden der Tempel des Salomo, oder besser der des Herodes war. In den Bau dieses erhebenden Werkes waren der Reichtum, das Können und die Arbeitskraft ganzer Generationen geflossen; erst fünfzig Jahre zuvor war der Tempel endgültig vollendet worden. Alles, was das Land zu bieten hatte, war in dieses Werk eingegangen, und das Ergebnis war in der Tat eine große Entschädigung aller Mühen und Anstrengungen, nicht so sehr, was die Größe betraf - es gibt größere Tempel auf der Welt -, sondern in erster Linie, was die perfekten Proportionen, die Kostbarkeit und die Schönheit der verbauten Materialien und die überragende Ausführung des Gebäudes betraf. Der Tempel (der für sich allein auf einer Gartenfläche von etwa acht Morgen Ausdehnung auf dem Gipfel der Anhöhe steht, umgeben von den Wohnstätten der Priester), hat die Form einer Sonnenblume. Den Mittelpunkt bildet eine Halle mit einem Kuppeldach, von der aus zwölf Höfe, die die Form eines Blütenblattes haben, strahlenförmig abgehen. Jeder dieser Höfe ist einem der zwölf Monate gewidmet. Sie dienen als Aufbewahrungsort für die Statuen, die man zu Ehren berühmter Verstorbener geschaffen hatte. Die Länge des Kreisbogens unterhalb der Kuppel beträgt dreihundert Fuß, die Höhe der Kuppel beträgt vierhundert Fuß. Die Strahlen sind einhundertfünfzig Fuß lang, und in der Höhe messen sie vom Boden bis zum Dach dreihundert Fuß, so daß sie exakt wie die Blütenblätter einer Sonnenblume in den kuppelbedachten Saal einmünden. So beträgt die Entfernung vom Hauptaltar in der Mitte des Saales bis zur äußersten Spitze jedes einzelnen Blütenblattes exakt dreihundert Fuß (das entspricht genau der Länge des Kreisbogens um den Kuppelsaal), oder, in der Totale gemessen, also vom äußersten Punkt eines Blattes bis zum äußersten Punkt des ihm gegenüberliegenden Blattes, genau sechshundert Fuß.

Das Gebäude besteht aus purem, geschliffenem weißen Marmor, der sich in einem großartigen Kontrast von dem roten Granit der Stadt abhebt, über der es glitzernd prangt wie ein herrschaftliches Diadem auf der Stirn einer geheimnisvoll düsteren Königin. Die Oberfläche der Kuppel und die Dächer der zwölf blütenblattförmigen Höfe sind mit hauchdünnem Blattgold überzogen. Und auf der äußersten Spitze jedes einzelnen Hofdaches steht eine goldene Statue mit ausgebreiteten Flügeln und einer Fanfare in der Hand, die die Figur eines Engels darstellt, der im Begriff ist, sich in die Lüfte zu erheben. Ich muß es wirklich dem Leser überlassen, sich eine Vorstellung zu machen von dem zauberhaften Glanz, der von diesen Dächern ausgeht, wenn sie von den Strahlen der Sonne gebadet werden. Es ist fürwahr, wie wenn tausend Feuer auf einem Berg aus poliertem Marmor aufleuchteten; die Sonnenstrahlen werden so stark reflektiert, daß man das Aufblitzen der Dächer noch klar und deutlich vom Gipfel eines der Berge der hundert Meilen entfernten Gebirgskette wahrnehmen kann.

Es ist einfach ein traumhafter Anblick - diese goldene Blume, die da erwächst aus den kalten weißen Marmorwällen. Ich bezweifle, daß die Welt desgleichen noch einmal zu bieten hat. Die großartige Wirkung dieses genialen Zusammenspiels von künstlerischer Form, goldenem Licht und edlem Marmelstein wird noch verstärkt durch einen hundertfünfzig Fuß breiten Gürtel rings um den Tempel, der bepflanzt ist mit einer einheimischen Sonnenblumenart; zu dem Zeitpunkt, als wir den Tempel zum ersten Mal sahen, standen diese Blumen gerade in voller Blüte und bildeten einen goldenen Teppich rings um die weiße Tempelmauer.

Der Haupteingang dieses herrlichen Gebäudes befindet sich zwischen den zwei nach Norden ausgerichteten Strahlen oder blattförmigen Höfen. Zuerst kommt ein großes Tor aus Bronze, und dahinter liegen Türen aus massivem Marmor. Sie sind wunderschön verziert mit allegorischen Motiven und mit Blattgold überzogen. Wenn man diese durchschritten hat, trennt einen vom Inneren nur noch die mächtige Außenwand aus Marmor, die eine Stärke von sage und schreibe fünfundzwanzig Fuß aufweist (die Zu-Vendi bauten in der Tat für die Ewigkeit). Danach kommt noch eine Tür, ebenfalls aus weißem Marmor, die man in die Wand eingelassen hat, um von innen her den Eindruck eines sichtbaren Spaltes in der fugenlosen Innenwand aus Marmor zu vermeiden. Und dann steht man in der kreisförmigen Halle, direkt unter der gewaltigen Kuppel. Geht man weiter auf den Hauptaltar zu, dann offenbart sich dem Auge ein solch schöner Anblick, wie er die Vorstellungskraft des Menschen schier übersteigen muß. Man befindet sich genau in der Mitte der heiligen Stätte, und hoch über einem wölbt sich die weiße Marmorkuppel (die Innenhaut besteht ebenso wie die äußere aus poliertem, weißem Marmor), die in ihrer anmutig; geschwungenen Form an die St. Pauls Kathedrale in London erinnert, nur daß der Kreiswinkel ein wenig kleiner ist. Und aus einer luftschachtähnlichen Öffnung genau im Apex der Kuppel flutet das goldene Licht der Sonne herein und ergießt sich über den golden schimmernden Altar. Auf der Ost- und Westseite der Halle stehen ebenfalls Altäre, deren Lichtstrahlen mit dem weihevollen Dämmerlicht um die Vorherrschaft ringen. In alle Richtungen öffnen sich weiß, mystisch und wunderbar die strahlenförmigen Höfe; und durch jeden von ihnen bohrt sich ein einzelner Pfeil weißen Lichtes, der die erhabene Stille in fahlen Schimmer taucht und die Monumente der Toten mit blassem Schein der völligen Düsternis abringt.

Überwältigt von diesem ehrfurchtseinflößenden Anblick, dessen kalter und dennoch in den Bann ziehender Liebreiz die Nerven erzittern läßt wie der Blick aus dem Auge der Göttin der Schönheit selbst, wendet man sich ab und wird sogleich erneut in den Bann gezogen von dem goldenen Hauptaltar, in dessen Mitte, bei Tageslicht dem Auge des Betrachters verborgen, eine ewige Flamme brennt, über der sich sanft eine Krone fahlblauen Rauches erhebt. Der Altar besteht aus goldüberzogenem Marmor. Er ist rund wie die Sonne; der Kreisbogen mißt sechsunddreißig Fuß; die Höhe des Altars beträgt vier Fuß. Am Fuße des Altars befinden sich ebenfalls zwölf Blütenblätter; sie sind aus purem Blattgold und mit Scharnieren versehen. Des Nachts und tagsüber (mit Ausnahme einer Stunde) bilden diese Blütenblätter einen geschlossenen Kelch über dem Altar, genau wie die Blütenblätter, die sich bei stürmischem Wetter um das Haupt der Wasserrose schließen. Wenn jedoch zur Mittagsstunde die Strahlen der Sonne durch den Luftschacht oben hereinfallen und auf die goldene Blume treffen, dann öffnet sich der Kelch und enthüllt das in ihm schlummernde Geheimnis, nur, um sich sofort wieder zu verschließen, sobald der letzte Strahl sich verloren hat.

Aber das ist noch nicht alles. Auf der Nord- und der Südseite der heiligen Stätte stehen, halbkreisförmig angeordnet und in gleichem Abstand zueinander aufgestellt, zehn goldene Engel, oder vielmehr Frauenfiguren mit weit ausgebreiteten Schwingen; sie sind hervorragend geformt, und selbst der Faltenwurf ihrer Gewänder ist bis ins kleinste Detail perfekt gestaltet. Diese Engelsfiguren, die leicht überlebensgroß sind, stehen mit gebeugten Häuptern in andächtiger Pose da, die Gesichter halb in den Schatten der Schwingen getaucht. Sie sind in der Tat von eindrucksvoller Schönheit und bewegender Anmut.

Dieser Altar weist noch eine weitere Einzelheit auf, die einer kurzen Beschreibung bedarf: nämlich der Fußboden direkt vor dem Altar, und zwar auf der Ostseite desselben; er besteht nicht, wie sonst überall in dem Bauwerk, aus reinem weißem Marmor, sondern aus solidem Messing. Ähnliche Bodenplatten befinden sich auch vor den anderen beiden Altären.

Die Altäre auf der West-, beziehungsweise Ostseite der Halle, die die Form eines Halbkreises haben und dicht vor der Wand des Gebäudes stehen, sind weit weniger beeindruckend als der Hauptaltar; sie sind auch nicht von goldenen Blütenkelchen umschlossen wie jener. Jedoch sind auch sie ganz aus Gold, und auch auf jedem von ihnen brennt die heilige Flamme, und je zwei Engelsfiguren aus Gold stehen zu ihrer Seite. Je zwei goldene Strahlen gehen von ihnen aus und ziehen sich über die Wand hinter ihnen schräg nach oben.

An der Stelle, wo man den dritten Strahl vermuten sollte, also genau zwischen den beiden anderen, befindet sich eine Öffnung in der Wand, die auf der Außenseite recht breit ist, innen jedoch nur noch ein schmaler Schlitz, etwa wie eine sich nach innen allmählich verjüngende Schießscharte. Durch den Schlitz auf der Ostseite der Halle fallen des Morgens die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne quer durch die Halle und treffen, während die Sonne nach Westen wandert, auf den goldenen Blütenkelch des Hauptaltars, bis sie schließlich auch auf den Altar zur Westseite fallen. Desgleichen ruhen zur Abenddämmerung die letzten, durch den Schlitz auf der Westseite hereinfallenden Strahlen der untergehenden Sonne noch eine Weile auf dem Ostaltar, bevor sie schließlich in der Dunkelheit versinken. Dies symbolisiert das Versprechen der Morgen- an die Abenddämmerung, und das der Abend- an die Morgensonne.

Mit Ausnahme dieser drei Altäre und der um sie herumgruppierten Engelsfiguren ist der gesamte Raum unter der gewaltigen weißen Kuppel bar jeglichen weitem Schmucks, was erheblich zu seiner Erhabenheit und Größe beiträgt.

Dies also ist die kurze Beschreibung dieses großartigen, wunderbaren Bauwerkes, und ich wünschte mir von Herzen, ich besäße die Fähigkeit, seinem Glanze, der meiner Meinung nach zum großen Teil seiner verblüffenden Einfachheit zu verdanken ist, mit dem ach so unzulänglichen Mittel meiner Feder gerecht zu werden. Aber ich kann es nicht, und so ist es sinnlos, noch mehr Worte darüber zu verlieren. Und wenn ich dieses geniale Meisterwerk vergleiche mit einigen der flitterhaften, wertlosen Gebäude und dem unecht glänzendem Talmi, der in unseren Tagen so häufig von europäischen Kirchenarchitekten hervorgebracht wird, dann habe ich das Gefühl, daß auch die hochzivilisierte Kunst noch etwas von den Meisterwerken der Zu-Vendi lernen kann. Ich kann nur sagen, daß mir, als meine Augen sich zum ersten Mal an das düstere Licht jenes großartigen Bauwerkes, an seine weiße, anmutig geschwungene Schönheit, die so perfekt und erregend ist wie die einer nackten Göttin, gewöhnt hatten, spontan der Ausruf über die Lippen kam: »Sogar einen Hund würden hier religiöse Gefühle überkommen.« Das mag zwar banal oder vulgär klingen, aber vielleicht verdeutlicht es meine Meinung weit besser als irgendwelche geschliffenen Äußerungen.

Vor den Toren des Tempels wurde unsere Gruppe von einer Abteilung Wachsoldaten empfangen, die offensichtlich der Befehlsgewalt eines Priesters unterstand. Die Soldaten führten uns in einen der >Blüten-höfe< (so nennen die Priester die >Strahlen<) und ließen uns dort erst einmal eine halbe Stunde lang warten. Sofort hielten wir Kriegsrat ab; und da uns klar war, daß äußerste Gefahr für unser Leib und Leben drohte, beschlossen wir, für den Fall, daß man uns ans Leder wollte, dieses so teuer wie möglich zu verkaufen - Umslopogaas kündigte seinen festen Entschluß an, daß er dem Hohepriester Agon das ehrwürdige Haupt mit Inkosi-kaas spalten wollte. Von der Stelle aus, an der wir uns befanden, konnten wir deutlich sehen, daß eine riesige Menschenmenge in den Tempel strömte, offenbar in Erwartung eines außergewöhnlichen Spektakels, und ich konnte mich nicht ganz von dem Gedanken lösen, daß dieses Spektakel etwas mit uns zu tun hatte. An dieser Stelle möchte ich noch zur Erläuterung der Situation hinzufügen, daß jeden Tag, wenn das Sonnenlicht auf den Hauptaltar fällt, unter dem Schall der Fanfaren der Sonne ein Brandopfer dargeboten wird, welches aus dem Kadaver eines Schafes oder eines Ochsen besteht, gelegentlich auch aus Früchten oder Getreide. Dieses Ereignis findet gegen Mittag statt; natürlich nicht immer genau um zwölf Uhr, aber da Zu-Vendis nicht weit vom Äquator entfernt liegt - trotz dieser Lage hat es aufgrund seiner Höhe ein so angenehm gemäßigtes Klima -, fallen die Sonnenstrahlen fast immer gegen Mittag auf den Altar. An jenem Tage sollte das Opfer um acht Minuten nach zwölf stattfinden.

Um Punkt zwölf Uhr erschien ein Priester, gab ein Handzeichen, und der Hauptmann der Garde bedeutete uns, daß wir nun nach vorn gehen sollten. Wir versuchten, dabei soviel äußere Gelassenheit an den Tag zu legen, wie nur eben möglich. Eine Ausnahme bildete natürlich wieder einmal der unglückselige Alphonse, dessen Zähne auf der Stelle laut zu klappern begannen. Ein paar Sekunden später waren wir aus dem Hof heraus und traten ins Innere der Halle. Dort wartete schon eine riesige Menschenmenge neugierig darauf, einen Blick auf die geheimnisvollen Fremden zu erhaschen, die das Sakrileg begangen hatten, die ersten Fremden, die - soweit die Menge wußte - seit Menschengedenken ihren Fuß auf Zu-Vendis gesetzt hatten.

Bei unserem Erscheinen ging sofort ein aufgeregtes Getuschel und Gemurmel durch die riesige Menschenmenge, die sich ringsum bis dicht an die Wand der Halle drängte, das sich auf schaurige Art und Weise in der riesigen Kuppel brach und wie ein Echo zurückhallte, und wir sahen, daß auf dem Meer von Gesichtern eine Röte der Erregung erschien, die aussah wie der rosa Schimmer der untergehenden Sonne auf einer langgestreckten weißen Wolkenbank. Es war ein unheimlicher, alles andere als beruhigender Anblick.

Wir schritten weiter durch eine Gasse, die sich zwischen den Leibern bildete, bis wir schließlich auf dem Messingboden auf der Ostseite des Altars standen, den letzteren direkt vor Augen. Eine Fläche im Umkreis von vielleicht dreißig Fuß um die Engelsfiguren herum war mit Seilen abgesperrt, und die Menge drängte sich dicht hinter der Absperrung. Vor den Seilen standen in einem Kreis mehrere Priester in weißen Roben mit ihren goldenen Kettengürteln und hielten lange, goldene Fanfaren in den Händen; und unmittelbar vor uns stand unser alter Freund Agon, der Hohepriester, mit seiner eigentümlichen Kappe auf dem Kopf. Er war der einzige in der riesigen Menge, der eine Kopfbedeckung trug. Wir stellten uns auf die Messingplatte, ohne zu ahnen, was für eine nette Überraschung uns darunter erwartete; ich glaubte indessen, ein seltsames Zischen wahrzunehmen, das ganz offensichtlich vom Boden herkam, und für das ich keine Erklärung fand. In den folgenden Minuten passierte überhaupt nichts, und ich ließ meinen Blick durch die Runde schweifen, um zu sehen, ob ich irgendwo die beiden Königinnen Nylephta und Sorais entdecken konnte; aber sie waren nirgends zu sehen. Zu unserer Rechten jedoch befand sich eine freie Stelle, und ich vermutete, daß sie für die Königinnen reserviert war.

Wir warteten. Kurze Zeit später erscholl von irgendwoher der Klang einer Fanfare - vermutlich aus der Kuppel -, und erneut ging ein aufgeregtes Raunen durch die Menge. Und dann schritten wir durch eine lange Gasse, die zu dem freien Platz rechts von uns führte, Seite an Seite die beiden Königinnen. Hinter ihnen kamen ein paar Adelige des Hofes, darunter auch der große Fürst Nasta, und dann folgte eine Leibwache, bestehend aus etwa fünfzig Soldaten. Der Anblick der letzteren ließ mich erleichtert aufatmen. Bald hatten sie alle auf dem freien Platz ihre Position eingenommen; die beiden Königinnen in vorderster Reihe, links und rechts neben ihnen die Höflinge, und dahinter in einem doppelten Halbkreis die Gardisten.

Wieder herrschte für einen Augenblick absolute Stille. Ich sah, wie Nylephta plötzlich aufblickte und versuchte, meinen Blick auf sich zu ziehen; sie schien mir mit ihrem Blick irgend etwas mitteilen zu wollen, und ich folgte mit meinen Augen so unauffällig wie möglich den ihrigen. Ihr Blick wanderte langsam hinunter an die Stelle, wo sich die Bodenplatte aus Messing befand, auf deren äußerster Kante wir standen. Dann machte sie mit dem Kopf eine leichte, kaum merkliche Seitwärtsbewegung. Ich verstand nicht sogleich, was sie damit sagen wollte, und sie wiederholte die Bewegung. Diesmal glaubte ich, daß sie uns sagen wollte, daß wir von der Bodenplatte zurücktreten sollten. Ein weiterer Blick, und ich war ganz sicher - die Messingplatte bedeutete Gefahr für uns! Sir Henry stand rechts von mir, Umslopogaas links. Ohne meinen Blick, der geradeaus auf den Altar gerichtet war, abzuwenden, flüsterte ich leise und unauffällig zuerst auf Zulu und dann auf englisch, daß sie langsam, Zoll für Zoll, zurücktreten sollten, bis ihre Schuhe den festen Marmorboden erreicht hätten, der sich unmittelbar an die Kante der Messingplatte anschloß. Sir Henry flüsterte die Nachricht Good zu, und dieser gab sie an Alphonse weiter, und dann schoben wir uns langsam, unendlich langsam, zurück; wir gingen dabei in der Tat so behutsam vor, daß niemand, abgesehen von Nylephta und Sorais, die aus den Augenwinkeln unser Zurückweichen verfolgten, auch nur das geringste mitbekam. Als wir weit genug waren, schaute ich wieder Nylephta an, und ich sah, daß sie mit einem kaum merklichen Nik-ken ihrer Befriedigung Ausdruck gab. Agon hatte die ganze Zeit über tief versunken den Altar angestarrt; vermutlich befand er sich in einem Zustand kontemplativer Ekstase, und ich hatte meinen Blick auf sein Kreuz geheftet, ebenfalls in einem - wiewohl ganz anders gearteten - Zustand der Ekstase. Plötzlich warf er seine langen Arme hoch, und mit feierlicher, bebender Stimme verfiel er in eine Art liturgischen Gesang. Der Bequemlichkeit halber möchte ich hier eine grobe, aber wirklich sehr grobe Übersetzung dieses Gesanges beifügen, obwohl ich natürlich zu dem Zeitpunkt die Bedeutung des Inhaltes überhaupt noch nicht verstand. Es war ein Bittgesang an die Sonne, der ungefähr wie folgt lautete:

Es herrscht Stille über der Erde und über den Wassern!

Fürwahr, die Stille brütet über den Wassern wie der Vogel in seinem Nest;

Die Stille schlummert auch auf dem Busen der tiefen Finsternis. Nur hoch oben im All spricht Stern mit Stern.

Die Erde ist ohnmächtig und schwach vor Sehnsucht und naß von den Tränen ihres Verlangens;

Die sternenumgürtete Nacht umarmt sie, aber sie kann ihr keinen Trost spenden.

Sie liegt gehüllt in die Tücher des Nebels wie der Leichnam im Totengewand.

Und sie streckt ihre blasse Hand gen Osten.

Und siehe! Weit hinten im Osten erhebt sich der Hauch eines Lichtes;

Die Erde erblicket das Licht und erhebt sich. Sie schaut über den Rand ihrer hohlen Hand hinweg.

Und dann erheben sich Deine mächtigen Engel von Deiner Heiligen Stätte, o Sonne,

Sie werfen ihre flammenden Speere in den Leib der Dunkelheit und machen ihn schrumpfen.

Sie erstürmen den Himmel und stürzen die bleichen Sterne von ihrem Thron;

Ja, sie schleudern die unbeständigen Sterne zurück in den Schoß ihrer Mutter, der Nacht;

Sie lassen den Mond erblassen, so daß sein Gesicht matt

und bleich wird wie das Antlitz eines sterbenden Menschen,

Und siehe da! Du erscheinst in all deiner Pracht, o Sonne!

Oh, Du Schöne, die Du gehüllet bist in ein Gewand aus Feuer!

Der unendliche Himmel ist Deine Straße; Du rollst über sie hin wie ein Triumphwagen.

Die Erde ist Deine Braut; Du küssest sie, und sie gebiert Dir ihre Kinder;

Ja, Du bist der allmächtige Vater und der Spender allen Lebens, o Sonne!

Die kleinen Kinder strecken ihre Hände nach Dir aus und wachsen auf in dem Glanze Deines Lichts;

Die Greise kriechen hervor, Deine Strahlen zu spüren, und sie erinnern sich ihrer einstigen Stärke, so Deine Strahlen sie küssen;

Nur die Toten vergessen Dich, o Sonne!

Und wenn Du ergrimmt bist, hältst Du Dein Antlitz verborgen; Und Du ziehst einen dicken Vorhang aus Schatten vor Deinen Leib.

Dann erkaltet die Erde, und der Himmel verzagt;

Und sie erzittern; und der Klang ihres Zitterns ist der Hall des Donners;

Sie weinen, und ihre Tränen sind der Regen;

Sie seufzen, und die wütenden Winde sind der Klang ihrer Seufzer.

Und die Blumen sterben, und die Frucht auf dem Felde erschlafft und erbleicht;

Und die Greise und Kinder gehen wieder in die Hütten zurück, Wenn Du Dein Licht verbirgst, o Sonne!

Sag an, wer bist Du, o Glanz ohnegleichen -Wer trug Dich in die Höhen des Himmels, o Du flammender Zorn?

Wo war Dein Anfang, und wann wird der Tag sein, da Du vergehst?

Du bist das Kleid des lebendigen Geistes[12].

Du wirst nicht vergehen, wenn Deine Kinder schon vergessen sind;

Nein Du wirst niemals enden, denn Du bist die Ewigkeit!

Du thronest dort oben in deinem goldenen Haus und missest die Jahrhunderte.

O Vater allen Lebens! O Sonne, die die Finsternis vertreibt!

An dieser Stelle unterbrach Agon seinen feierlichen Gesang, der, auch wenn er sich nur noch sehr arm und dünn ausmacht, nachdem ich ihn durch die Mühle meiner Übersetzung gedreht habe, im Original wirklich wunderschön und äußerst beeindruckend ist. Und dann, nach einem kurzen Moment der Stille, hob er den Blick zu der Öffnung in der Kuppel des Tempels und rief -

O Sonne, steig herab auf Deinen Altar!

Während er noch sprach, geschah etwas Wunderbares: Von der Höhe der Kuppel blitzte ein herrlicher Strahl goldenen Lichtes herab und zerschnitt das düstere Zwielicht in der Halle wie ein Flammenschwert. Es fiel direkt auf die Sitze des goldenen Blütenkelches über dem Altar, und wie von Geisterhand bewegt öffnete sich die herrliche Blume, und die goldenen Blätter sanken ringsum auf den Boden um den Altar, in dessen Mitte die ewige Flamme loderte. Im selben Moment bliesen die Priester einen hallenden Fanfarenstoß, und aus tausend Mündern zugleich erklang ein Ausruf der Lobpreisung, der sich in dem Kuppeldach brach und von den Marmorwänden zurückhallte. Und nun schien das Licht der Sonne voll auf die emporzüngelnde heilige Flamme; sie flackerte, sank in sich zusammen und verschwand in der Tiefe des Altars, aus der sie sich erhoben hatte. Als sie gänzlich versunken war, hallte erneut der Ton der Fanfaren durch die Halle, und wieder erhob der greise Priester die Hände und rief -

Wir bringen Dir Dein Opfer dar, o Sonne!

Ich blickte aus den Augenwinkeln hinüber zu Nyle-phta; ihr Blick war auf die Messingplatte geheftet.

»Aufgepaßt!« rief ich. Gleichzeitig sah ich, wie Agon sich nach vorn beugte und etwas an dem Altar berührte. Im selben Moment trat ein roter Schimmer auf das weiße Meer von Gesichtern um uns herum, dann wurden die Gesichter wieder ganz bleich, und die Menge hielt den Atem an. Nylephta beugte sich vor und schlug unwillkürlich die Hände vors Gesicht. Sorais neigte den Kopf zur Seite und sprach im Flü-sterton mit dem Hauptmann der königlichen Leibgarde. Und da glitt direkt vor unseren Augen mit einem quietschenden Geräusch die Bodenplatte aus Messing zur Seite und gab den Blick frei auf einen glatten Marmorschacht, der in einen wütend brausenden Ofen direkt unter dem Altar mündete. Dieser Ofen war so groß und seine hell lodernden Flammen waren so heiß, daß sie glatt den Achtersteven eines Kriegsschiffes zerschmolzen hätten!

Mit einem Schrei des Entsetzens sprangen wir zurück. Alphonse war vor Schreck so gelähmt, daß er beinahe in die Glut hinabgestürzt wäre, hätte Sir Henry ihn nicht in letzter Sekunde, als er schon über dem Abgrund taumelte und zu verschwinden drohte, mit starker Hand gepackt und zurückgerissen.

Sogleich erhob sich ein beängstigender Tumult, und wir vier stellten uns Rücken an Rücken, um unsere Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Alphonse raste wie ein Wilder um uns herum und versuchte verzweifelt, zwischen unsere Beine zu kriechen und sich dort zu verstecken. Wir hatten alle unsere Revolver dabei. Man hatte uns zwar höflich, aber bestimmt, unsere Gewehre abgenommen, als wir den Palast verließen, aber diese Leute wußten natürlich nicht, was ein Revolver war, und hatten ihnen deshalb auch keine weitere Aufmerksamkeit gewidmet. Umslopogaas hatte seine Axt behalten, die ihm abzunehmen man nicht der Mühe wert befunden hatte, und nun wirbelte er sie über seinem Kopf und stieß seinen markerschütternden Zulu-Kriegsschrei aus, der mit donnerndem Echo an den Wänden der Halle entlangrollte und trotzig und herausfordernd in die Ohren der Priester drang. Sekunden später hatten die Priester, die sich um ihre Beute betrogen sahen, ihre unter den weißen Roben verborgenen Schwerter gezückt und drangen wütend auf uns ein wie Jagdhunde auf ein gestelltes Wild. Nun gab es kein langes Überlegen mehr; vielleicht war es sinnlos, sich zur Wehr zu setzen, aber es gab nur zwei Alternativen: kämpfen oder sterben. Ich jagte dem ersten von ihnen, der auf uns zugeschossen kam - es war ein kräftiger, hochaufgeschossener Bursche -, eine Revolverkugel in den Leib; er wankte, und dann fiel er in die Öffnung des Schachtes. Er glitt unter entsetzlichem Brüllen die glatten Marmorwände hinab und verschwand in dem tosenden Feuerschlund, wie es eigentlich uns zugedacht gewesen war.

Ob es nun seine entsetzten Schreie waren, oder der für sie schrecklich laute Knall des Revolverschusses und seine verheerende Wirkung - jedenfalls blieben die anderen Priester konsterniert und unentschlossen stehen; und bevor sie noch einen neuen Angriff gegen uns starten konnten, rief Sorais etwas, und wir waren plötzlich gemeinsam mit den beiden Königinnen und einem Teil der Hofadeligen von einem Wall bewaffneter Männer umringt. Dies geschah in Sekundenschnelle; die Priester zögerten noch immer, und die Masse schwankte unentschlossen hin und her wie eine Herde verstörter Schafe und machte keinerlei Anstalten, sich auf die Seite der einen oder der anderen Partei zu schlagen.

Der letzte verzweifelte Schrei des brennenden Priesters war verhallt, das Feuer hatte ihm ein Ende gemacht, und eine Grabesstille senkte sich über den Schauplatz.

Dann drehte sich der Hohepriester mit teuflisch verzerrtem Gesicht den Königinnen zu und schrie: »Laßt das Opfer geschehen! Verhindert nicht, daß diese Fremden, die wahrlich genug Sünde begangen haben, ihrer gerechten Strafe zugeführt werden! Wollt ihr, Königinnen, den Mantel des Schutzes über Missetäter werfen? Sind nicht die Tiere, die der Sonne geweiht waren, tot? Und starb nicht soeben erst, vor unseren Augen, ein Priester der Sonne, hingeschlachtet von der Zauberkraft dieser Fremdlinge, die zu uns kamen wie der Sturm vom Himmel; woher, wissen wir nicht, auch wer sie sind, wissen wir nicht? Hütet auch, o Königinnen, euch der großen Majestät Gottes zu widersetzen, angesichts seines Altars! Es gibt eine Macht, die größer ist denn eure; es gibt eine Gerechtigkeit, die höher ist denn eure Gerechtigkeit! Hütet euch, eure gottlose Hand gegen sie zu erheben! Laßt das Opfer geschehen, o Königinnen!«

Dann antwortete ihm Sorais mit ihrer tiefen, ruhigen Stimme, bei deren Klang ich nie ganz den Verdacht loswerden konnte, daß ein leiser Unterton von Spott in ihr mitschwang, wie ernst auch immer das Thema war: »O Agon, du hast gemäß deinem Wunsche gesprochen, und, fürwahr, du hast die Wahrheit gesagt. Aber du bist es, der ruchlos und frevelhaft seine Hand gegen die Gerechtigkeit deines Gottes erhebt! Vergiß nicht, daß das mittägliche Opfer geschehen ist: Die Sonne hat einen ihrer Priester als Opfer angenommen!«

Das war eine ganz neue Idee, und sie brachte die Sache in eine ganz andere Richtung; die Menge tat unter lautem Applaus ihre Zustimmung dazu kund.

»Vergißt du, wer diese Männer sind? Es sind Fremde, die man auf dem Busen eines Sees dahingleitend vorfand. Wer brachte sie dorthin? Wie kamen sie auf den See? Woher willst du wissen, ob nicht auch sie Diener der Sonne sind? Ist dies die Gastfreundschaft, die unsere Nation nach deinem Willen gegenüber Fremden an den Tag legen soll, die das Schicksal auf solch wundersame Weise zu uns brachte? Ist das deine Art von Gastfreundschaft, sie in die Flammen zu stoßen? Schande über dich, tausendmal Schande über dich! Was aber ist wahre Gastfreundschaft? Den Fremden bei sich aufzunehmen und ihm Schutz zu gewähren. Seine Wunden zu verbinden, ihm ein Kissen für das müde Haupt zu geben und Speise, damit er seinen Hunger stillen kann. Aber dein Kissen ist der Flammenofen, und deine Speise ist der heiße Wohlgeschmack der Glut! Schande über dich!«

Sie machte eine Pause, um zu sehen, welche Wirkung ihre Rede bei der Menge hinterließ, und als sie sah, daß ihre Worte gut ankamen, ließ sie ihren Tonfall sofort von einem protestierenden in einen gebieterischen umschlagen.

»Ho! Platz da!« rief sie. »Platz gemacht, sage ich! Gebt den Weg frei für die Königinnen und für die, über die die Königinnen ihren >Kaf< geworfen haben[13]

»Und wenn ich mich weigere, Königin?« zischte Agon mit gepreßter Stimme durch die Zähne.

»Dann werde ich mir mit meiner Leibwache einen Weg bahnen!« lautete die stolze Antwort. »Jawohl, auch hier, angesichts des Allerheiligsten, und wenn es sein muß, durch die Leiber deiner Priester!«

Agons Gesicht wurde in ohnmächtiger Wut aschfahl. Er starrte in die Menge, als wollte er sie beschwören, aber er mußte in diesem Moment erkennen, daß die Sympathien bei der Gegenseite waren. Die Zu-Vendi sind von ihrer Mentalität her ein neugieriges und umgängliches Volk, und so sehr sie es auch als eine Ungeheuerlichkeit ansahen, daß wir die heiligen Flußpferde erschossen hatten; der Gedanke, daß die ersten echten Fremden, die jemals in ihr Land gekommen waren, in einen Flammenofen geworfen und verbrannt werden sollten, behagte ihnen überhaupt nicht; denn waren sie erst einmal tot, dann war ein für allemal die Chance vertan, etwas von ihnen zu lernen und über sie zu klatschen. Agon spürte diese Stimmung und zögerte; und da erhob zum erstenmal Nylephta ihre sanfte, melodische Stimme.

»Bedenke, Agon«, sagte sie, »diese Männer können sehr wohl, wie meine königliche Schwester schon sagte, Diener der Sonne sein. Aber sie können nicht für sich selbst sprechen, da ihre Zungen gebunden sind. Warte erst einmal solange, bis sie unsere Sprache gelernt haben. Man darf niemanden verurteilen, ohne ihn vorher gehört zu haben. Wenn diese Männer erst sich selbst verteidigen können, dann wird der Zeitpunkt gekommen sein, sie auf die Probe zu stellen.«

Hiermit hatte Nylephta dem Priester eine goldene Brücke gebaut, über die er sich ohne Gesichtsverlust vorerst aus der Affäre ziehen konnte, so wenig sie ihm auch paßte; jedenfalls ergriff der rachsüchtige Alte den dargebotenen Strohhalm mit beiden Händen.

»So sei es denn, o Königinnen«, antwortete er.

»Mögen diese Männer in Frieden ziehen, und wenn sie unsere Sprache gelernt haben, dann sollen sie sprechen. Und ich, jawohl - ich, werde in Ehrfurcht vor dem Altar auf die Knie fallen, auf daß nicht wegen des Sakrilegs die Pest über unser Land komme.«

Diese Worte wurden von der Menge mit beifälligem Gemurmel aufgenommen, und ein paar Minuten später verließen wir schon den Tempel, umringt von den Soldaten der königlichen Leibgarde.

Erst viel später jedoch sollten wir erfahren, was sich eigentlich alles im einzelnen hinter den Kulissen abgespielt hatte, und wie knapp wir dem grausamen Griff der Priesterschaft entrungen worden waren, der gegenüber selbst die Königinnen praktisch keine Macht hatten.

Hätten nicht die Königinnen alles in ihrer Macht Stehende unternommen, uns zu beschützen, dann wären wir schon getötet worden, bevor wir überhaupt den Fuß über die Schwelle des Tempels gesetzt hätten. Der heimtückische Versuch, uns bei lebendigem Leibe in den Flammenofen zu stürzen, war der letzte in der Reihe mehrerer gescheiterter Attentatsversuche gewesen, mit dem die Priester sich uns vom Halse hatten schaffen wollen.

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