Die Blocks standen angetreten auf dem Appellplatz des Kleinen Lagers. Scharführer Niemann wiegte sich behaglich in den Knien. Er war ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, mit einem schmalen Gesicht, abstehenden, kleinen Uhren und einem fliehenden Kinn. Sein Haar war sandfarben, und er trug eine Brille ohne Ränder. Ohne Uniform hätte man ihn für einen typischen kleinen Büroangestellten halten können.
Das war er auch gewesen, bevor er in die SS eingetreten und ein Mann geworden war.
»Achtung!« Niemann hatte eine hohe, etwas gequetschte Stimme. »Neuer Transport heraustreten, marsch, marsch!«
»Vorsicht!« murmelte 509 zu Sulzbacher.
Die Doppelreihe formte sich vor Niemann. »Kranke und Invalide rechts heraus!« kommandierte er.
Die Reihe bewegte sich; aber niemand trat zur Seite. Die Leute waren mißtrauisch; sie hatten ähnliches schon früher mitgemacht.
»Los! Los! Wer sich zum Arzt und zum Verbinden melden will, rechts heraus!«
Zögernd traten einige Häftlinge zur Seite. Niemann ging zu ihnen hinüber. »Was hast du?« fragte er den ersten.
»Wunde Füße und eine gebrochene Zehe, Herr Scharführer.«
»Und du?«
»Doppelten Leistenbruch, Herr Scharführer.«
Niemann fragte weiter. Dann schickte er zwei Mann zurück. Das war ein Trick, um die Häftlinge zu täuschen und sicher zu machen. Es wirkte. Sofort meldete sich eine Anzahl Neuer. Niemann nickte flüchtig. »Herzkranke vortreten! Leute, die zu schwerer Arbeit untauglich sind, aber noch Strümpfe stopfen und Schuhe reparieren können.«
Wieder meldeten sich einige. Niemann hatte jetzt ungefähr dreißig Mann beisammen und sah, daß er nicht mehr bekommen würde. »Ihr anderen scheint ja tadellos in Schuß zu sein!« bellte er ärgerlich. »Wir wollen das mal feststellen! Rechts um! Laufschritt – marsch, marsch!«
Die Doppelreihe lief um den Appellplatz. Sie lief keuchend an den übrigen Insassen vorbei, die in strammer Haltung dastanden und wußten, daß auch sie in Gefahr waren. Wenn einer von ihnen umfiel, war es möglich, daß Niemann ihn ohne weiteres als Zugabe mitnahm. Niemand wußte außerdem, ob er die Alten nicht noch besonders vornehmen würde.
Die Laufenden kamen zum sechsten Male vorbei. Sie stolperten bereits; aber sie hatten begriffen, daß man sie nicht rennen ließ, um herauszufinden, ob sie zu schwerer Arbeit untauglich seien. Sie liefen um ihr Leben. Ihre Gesichter trieften von Schweiß, und in ihren Augen war die verzweifelte, wissende Todesangst, die kein Tier haben kann; nur der Mensch.
Auch die, die sich gemeldet hatten, wußten jetzt, was vorging. Sie wurden unruhig.
Zwei versuchten sich der Reihe der Laufenden anzuschließen. Niemann sah es.
»Zurück! Marsch, da hinüber!«
Sie hörten nicht auf ihn. Taub vor Angst, rannten sie los. Sie trugen Holzschuhe, die sie sofort verloren. Mit bloßen, blutenden Füßen liefen sie weiter; sie hatten keine Strümpfe am Abend vorher erhalten. Niemann ließ sie nicht aus den Augen. Eine Zeitlang liefen sie mit. Als sich dann in ihren entstellten Gesichtern langsam eine gierige Hoffnung zeigte, entkommen zu sein, ging Niemann ruhig ein paar Schritte vorwärts, und als sie dicht an ihm vorbeistolperten, stellte er ihnen ein Bein.
Sie stürzten und wollten sich erheben. Er warf sie mit zwei Tritten wieder um. Sie versuchten zu kriechen. »Aufstehen!« schrie er mit seinem Quetschtenor. »Marsch, da hinüber!«
Er hatte während dieser Zeit den Rücken zu Baracke 22 gehabt. Das Todeskarussell war im Laufschritt weitergegangen. Vier weitere Leute waren gefallen. Sie lagen am Boden. Zwei waren bewußtlos. Einer trug eine Husarenuniform, die er am Abend vorher erhalten hatte; der andere ein Damenhemd mit billiger Spitze unter einer Art abgeschnittenem Kaftan. Der Kammerkapo hatte die Sachen aus Auschwitz mit Humor unter die Häftlinge verteilt. Es gab noch ein paar Dutzend mehr, die wie zu einem Karneval gekleidet waren.
509 hatte Rosen halbgebückt weiterstolpern und zurückbleiben sehen. Er wußte, daß er in wenigen Sekunden völlig erschöpft sein und stürzen würde. Es geht mich nichts an, dachte er, nichts. Ich will keine Dummheiten machen. Jeder muß allein für sich sorgen. Die Reihe kam wieder nahe an der Baracke vorbei. 509 sah, daß Rosen jetzt der letzte war. Rasch blickte er auf Niemann, der der Baracke immer noch den Rücken zugedreht hatte, und dann rundum. Keiner von den Barackenaltesten achtete auf ihn. Alle blickten zu den beiden hinüber, denen Niemann das Bein gestellt hatte. Handke war sogar mit gerecktem Kopf einen Schritt vorgetreten. 509 ergriff den vorübertaumelnden Rosen am Arm, zog ihn heran und hinter sich durch die Reihe. »Schnell! Durch! In die Baracke! Versteck dich!« Er hörte Rosen hinter sich keuchen und sah aus den Augenwinkeln etwas wie eine Bewegung, und dann hörte er das Keuchen nicht mehr. Niemann hatte nichts gesehen. Er hatte sich immer noch nicht umgedreht. Auch Handke hatte nichts bemerkt. 509 wußte, daß die Tür der Baracke offenstand. Er hoffte, daß Rosen ihn verstanden hatte. Und er hoffte, daß er, wenn er trotzdem erwischt wurde, ihn nicht verraten würde. Er mußte wissen, daß er ohnehin verloren gewesen wäre. Die Neuen waren von Niemann nicht abgezählt worden, und er hatte jetzt eine Chance. 509 fühlte, daß seine Knie zitterten und seine Kehle trocken wurde. Das Blut brauste ihm plötzlich in den Ohren. Vorsichtig blickte er zu Berger hinüber. Berger beobachtete unbewegt den normenden Haufen, in dem mehr und mehr Leute stürzten. Sein angestrengtes Gesicht zeigte, daß er alles gesehen hatte. Dann hörte 509 hinter sich Lebenthal flüstern:»Er ist drin.« Das Zittern seiner Knie wurde stärker. Er mußte sich gegen Bucher lehnen. Die Holzschuhe, die ein Teil der Neuen empfangen hatte, lagen überall um« Kor. Die Leute waren nicht gewohnt, sie zu tragen, und hatten sie verloren. Nur zwei Leute klapperten noch verzweifelt in ihnen weiter. Niemann putzte seine Brille. Sie war angelaufen. Es kam von der Wärme, die er spürte, wenn er die Todesangst sah, während die Häftlinge stürzten, sich wieder aufrafften, stürzten, sich aufrafften und weitertaumelten. Es war eine Wärme im Magen und hinter den Augen. Er hatte sie zum ersten Male gespürt, als er seinen ersten luden getötet hatte. Er hatte es eigentlich gar nicht gewollt; aber dann war es über ihn gekommen. Er war immer ein gedrückter, verschubster Mensch gewesen, und er hatte sich anfangs fast gefürchtet, auf den Juden einzuschlagen. Als er ihn dann aber vor sich am Boden rutschen und um sein Leben betteln sah, hatte er plötzlich gespürt, wie er ein anderer wurde, kraftvoller, mächtiger, er hatte sein Blut gefühlt, der Horizont war weiter geworden, die demolierte, bürgerliche Vierzimmerwohnung des kleinen jüdischen Konfektionärs mit ihren grünen Ripsmöbeln hatte sich in die asiatische Wüste Dschingis Khans verwandelt, der Handlungsgehilfe Niemann war auf einmal Herr über Leben und Tod gewesen, Macht war dagewesen, Allmacht, ein scharfer Rausch, der sich ausbreitete und höher stieg, bis dann der erste Schlag ganz von selbst kam auf den weich nachgebenden Schädel mit dem spärlichen, gefärbten Haar. -»Abteilung halt!« Die Häftlinge glaubten es fast nicht. Sie hatten erwartet, bis zum Tode weiterrennen zu müssen. Baracken, Platz und Menschen wirbelten in einer Sonnenfinsternis vor ihnen. Sie hielten sich aneinander. Niemann setzte seine geputzte Drille wieder auf. Er hatte es plötzlich eilig. »Bringt die Leichen hier herüber.« Sie starrten ihn an. Es waren bis jetzt noch keine Leichen da. »Die Umgefallenen«, verbesserte er sich. »Die, die liegengeblieben sind.« Sie wankten hin und packten die Liegenden an Armen und Beinen. An einer Stelle lag ein ganzes Knäuel von Menschen. Sie waren dort übereinandergestürzt. 509 sah Sulzbacher im Durcheinander. Er stand und trat, gedeckt durch andere vor ihm, einem Mann, der auf dem Boden lag, gegen die Schienbeine und zerrte ihn an den Haaren und an den Ohren. Dann bückte er sich und riß ihn auf die Knie. Der Mann fiel bewußtlos zurück. Sulzbacher stieß ihn wieder, schob ihm die Hände unter die Arme und versuchte, ihn aufzurichten. Es gelang ihm nicht. Er schlug jetzt wie verzweifelt mit den Fäusten auf den Bewußtlosen ein, bis ein Blockältester ihn wegschob. Sulzbacher drängte wieder hinüber. Der Blockälteste gab ihm einen Tritt. Er glaubte, Sulzbacher habe eine Wut auf den Bewußtlosen und wolle sie noch an ihm auslassen. »Du verdammtes Mistvieh!« knurrte er. »Laß ihn doch in Ruhe. Er geht sowieso hops.« Der Kapo Strohschneider kam mit dem flachen Lastwagen, auf dem sonst die Leichen transportiert wurden, durch die Drahtverhaupforte gefahren. Der Motor knatterte wie ein Maschinengewehr. Strohschneider fuhr an den Haufen heran. Die Gefallenen wurden aufgeladen. Einige versuchten noch zu entkommen. Sie waren wieder bei Bewußtsein. Aber Niemann paßte jetzt auf; er ließ keinen mehr fort, auch niemand von denen, die sich freiwillig gemeldet hatten. »Wegtreten, wer nicht hierher gehört!« schrie er. »Die, die sich krank gemeldet haben, den Rest aufladen!« Die Leute stürzten fort, in die Baracken, so rasch sie konnten. Die Bewußtlosen wurden aufgeladen. Dann gab Strohschneider Gas. Er fuhr so langsam, daß die Freiwilligen zu Fuß folgen konnten. Niemann ging nebenher. »Eure Leiden sind jetzt zu Ende«, sagte er mit veränderter, fast freundlicher Stimme zu seinen Opfern. »Wo werden sie hingebracht?« fragte einer von den Neuen in Baracke 22. »Block 46 wahrscheinlich.« »Was passiert da?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte 509. Er wollte nicht sagen, was man im Lager wußte – daß Niemann eine Kanne Benzin und ein paar Injektionsspritzen in einem Räume des Versuchsblocks 46 hatte und daß keiner von den Gefangenen wiederkommen würde. Strohschneider würde sie abends zum Krematorium bringen. »Weshalb hast du den einen noch so geprügelt?« fragte 509 Sulzbacher. Sulzbacher sah ihn an und erwiderte nichts. Er würgte, als müsse er einen Klumpen Watte schlucken, und ging dann fort. »Es war sein Bruder«, sagte Rosen. Sulzbacher erbrach sich, ohne daß etwas anderes aus seinem Munde kam als ein bißchen grünlicher Magensaft.
»Sieh mal an! Immer noch da? Dich haben sie wohl vergessen, was?« Handke stand vor 509 und musterte ihn langsam von oben bis unten. Es war zur Zeit des Abendappells. Die Blocks waren draußen angetreten. »Du solltest doch aufgeschrieben werden. Muß mich mal danach erkundigen.« Er wippte auf seinen Hacken hin und her und starrte 509 mit hellblauen, vorstehenden Augen an. 509 stand sehr still. »Was?« fragte Handke. 509 antwortete nicht. Es wäre Wahnsinn gewesen, den Blockältesten durch irgend etwas zu reizen. Schweigen war immer das beste. Alles, was er hoffen konnte, war, daß Handke die Sache wieder vergessen würde oder sie nicht ernst meinte. Handke grinste. Seine Zähne waren gelb und fleckig. »Was?« wiederholte er. »Die Nummer ist damals aufgeschrieben worden«, sagte Berger ruhig. »So?« Handke wandte sich ihm zu. »Weißt du das genau?« »Ja. Der Scharführer Schulte hat sie notiert. Ich habe es gesehen.« »Im Dunkeln? Dann ist ja alles gut.« Handke wippte noch immer. »Dann kann ich mich ja ruhig erkundigen gehen. Schadet dann wohl nichts, wie?« Niemand antwortete. »Du kannst erst noch futtern«, erklärte Handke behaglich. »Abendessen. Hat keinen Zweck, den Blockführer deinetwegen zu fragen. Werde es gleich an der richtigen Stelle tun, du Satansbraten.« Er sah sich um. »Achtung!« schnauzte er dann. Bolte kam. Er war in Eile, wie immer. Seit zwei Stunden hatte er beim Karten spielen verloren und gerade eine günstige Strähne gekriegt. Gelangweilt blickte er über die Toten hinweg und verschwand so bald wie möglich. Handke Hieb. Er schickte die Essenholer zur Küche und schlenderte dann zum Stacheldrahtverhau hinüber, das die Frauenbaracken vom Kleinen Lager trennte.
Dort blieb er stehen und blickte hinüber.
»Laßt uns in die Baracken gehen«, sagte Berger. »Einer kann draußen bleiben und ihn beobachten.«
»Ich«, erklärte Sulzbacher.
»Sag Bescheid, wenn er weggeht. Sofort!«
Die Veteranen hockten in der Baracke. Es war besser, nicht von Handke gesehen zu werden.
»Was sollen wir machen?« fragte Berger sorgenvoll. »Ob das Schwein es wirklich ernst meint?«
»Vielleicht vergißt er es wieder. Er sieht aus, als hätte er seinen Koller. Wenn wir nur Schnaps hätten, um ihn besoffen zu machen!«
»Schnaps!« Lebenthal spuckte aus. »Unmöglich! Völlig unmöglich!«
»Vielleicht hat er nur einen Witz machen wollen«, sagte 509. Er glaubte es nicht ganz; aber solche Dinge waren im Lager schon oft vorgekommen. Die SS war Meister darin, Leute immer wieder in Angst zu versetzen. Mehr als einer hatte es zum Schluß nicht ausgehalten. Manche waren in den Draht gelaufen; bei anderen hatte schließlich das Herz versagt.
Rosen rückte heran. »Ich habe Geld«, flüsterte er 509 zu. »Nimm es. Ich habe es versteckt und hereingebracht. Hier, vierzig Mark. Gib es ihm. So haben wir es bei uns gemacht.«
Er drängte ihm die Scheine in die Hand. 509 fühlte sie und nahm sie, fast ohne zu merken, daß er sie nahm. »Es wird nichts nützen«, sagte er. »Er wird es nehmen, einstecken und dann trotzdem tun, was er will.«
»Dann versprich ihm mehr.«
»Woher sollen wir mehr nehmen?«
»Lebenthal hat was«, erklärte Berger. »Ist das nicht so, Leo?«
»Ja, ich habe was. Aber wenn wir ihn einmal scharf auf Geld machen, wird er jeden Tag kommen und mehr verlangen, bis wir nichts mehr haben. Dann sind wir bald wieder da, wo wir jetzt sind.
Nur das Geld ist weg.«
Alle schwiegen. Keiner fand Lebenthals Feststellung roh. Sie war sachlich, nichts anderes. Die Frage war einfach, ob es wert war, alle Handelsmöglichkeiten Lebenthals aufzugeben, nur damit 509 ein paar Tage Aufschub bekam. Die Veteranen würden weniger Essen bekommen; vielleicht gerade so viel weniger, daß einige oder alle eingehen würden. Keiner von ihnen würde gezögert haben, alles herzugeben, wenn 509 dadurch wirklich hätte gerettet werden können; aber das schien unwahrscheinlich, wenn Handke es ernst meinte, Lebenthal hatte da recht. Und es war nicht wert, das Leben von einem Dutzend dafür zu riskieren, daß ein einzelner lediglich zwei, drei Tage länger existieren konnte. Das war das ungeschriebene, unbarmherzige Gesetz des Lagers, durch das sie bis jetzt überlebt hatten. Sie kannten es alle; aber sie wollten es in diesem Falle noch nicht wahrhaben. Sie suchten nach einem Ausweg.
»Man müßte das Aas totschlagen«, sagte Bucher schließlich hoffnungslos.
»Womit?« fragte Ahasver. »Er ist zehnmal stärker als wir.«
»Wenn wir alle zusammen mit unseren Eßnäpfen -«
Bucher verstummte. Er wußte, daß es idiotisch war. Ein Dutzend Leute würde aufgehängt werden, wenn es gelänge. »Steht er immer noch da?« fragte Berger.
»Ja. An derselben Stelle.«
»Vielleicht vergißt er es.«
»Dann würde er nicht warten. Er hat gesagt, er will bis nach dem Essen warten.«
Ein totes Schweigen hing in der Dunkelheit. »Du kannst ihm wenigstens die vierzig Mark geben«, sagte Rosen nach einiger Zeit zu 509. »Sie gehören dir allein. Ich gebe sie dir. Ich allein dir. Sie gehen keinen anderen was an.« »Stimmt«, erklärte Lebenthal.
»Das stimmt.« 509 starrte durch die Tür. Er sah die dunkle Figur Handkes gegen den grauen Himmel stehen. Irgendwann war schon einmal etwas so ähnlich gewesen – ein dunkler Kopf vor dem Himmel und eine große Gefahr. Er wußte nicht genau wann. Er blickte wieder zur Tür hinaus und wunderte sich darüber, daß er unentschlossen war.
Ein trüber, undeutlicher Widerstand hatte sich in ihm geformt. Es war ein Widerstand dagegen, zu versuchen, Handke zu bestechen. Er hatte so etwas früher nie gekannt; da war immer nur die reine Angst dagewesen.
»Geh 'rüber«, sagte Rosen. »Gib ihm das Geld und versprich ihm mehr.« 509 zögerte. Er verstand sich selbst nicht. Er wußte zwar, daß eine Bestechung nicht viel Zweck hatte, wenn Handke ihn wirklich verderben wollte.
Er hatte solche Fälle im Lager oft gesehen; man hatte den Leuten abgenommen, was sie hatten, und sie dann erledigt, damit sie nicht reden konnten. Aber ein Tag Leben war ein Tag Leben – und vieles konnte inzwischen passieren.
»Da kommen die Essenholer«, meldete Karel.
»Hör zu«, flüsterte Berger 509 zu. »Versuch es. Gib ihm das Geld. Wenn er dann wiederkommt und mehr will, drohen wir ihm, ihn wegen Bestechung anzuzeigen.
Wir sind ein Dutzend Zeugen. Das ist viel. Wir werden alle erklären daß wir es gesehen haben. Er wird dann nichts riskieren. Es ist das einzige, was wir tun können.«
»Er kommt«, flüsterte Sulzbacher von draußen.
Handke hatte sich umgedreht. Langsam kam er zur Sektion D hinüber. »Wo bist du, Satansbraten?« fragte er.
509 trat vor. Es hatte keinen Zweck, versteckt zu bleiben. »Hier.«
»Gut. Ich gehe jetzt. Nimm Abschied und mach dein Testament. Sie holen dich dann. Mit Pauken und Trompeten.«
Er grinste. Das mit dem Testament hielt er für einen großartigen Witz. Eben« so die Pauken und Trompeten. Berger stieß 509 an. 509 tat einen Schritt vor. »Kann ich einen Augenblick mit Ihnen sprechen?«
»Du mit mir? Blödsinn!«
Handke ging dem Ausgang zu. 509 folgte ihm. »Ich habe Geld bei mir«, sagte er gegen den Rücken Handkes.
»Geld? So? Wieviel?« Handke ging weiter. Er drehte sich nicht um.
»Zwanzig Mark.« 509 hatte vierzig sagen wollen; aber der sonderbare Widerstand in ihm verhinderte es. Er spürte ihn wie eine Art Trotz; er bot die Hälfte für sein Leben.
»Zwanzig Mark und zwei Pfennige! Mensch, schieb ab.«
Handke ging schneller. Es gelang 509, neben ihn zu kommen »Zwanzig Mark ist besser als nichts.«
»Scheiße.«
Es hatte keinen Zweck mehr, jetzt vierzig zu bieten. 509 hatte das Gefühl, einen entscheidenden Fehler gemacht zu haben. Er hätte alles bieten sollen. Sein Magen fiel plötzlich in einen Abgrund.
Der Widerstand, den er vorher gespürt hatte, war fort. »Ich habe noch mehr Geld«, sagte er rasch.
»Sieh mal an!« Handke blieb stehen. »Ein Kapitalist! Ein Verreck-Kapitalist! Wieviel hast du denn noch?« 509 holte Atem. »Fünftausend Schweizer Franken.«
»Was?«
»Fünftausend Schweizer Franken. Sie liegen in einem Bankfach in Zürich.«
Handke lachte. »Und das soll ich dir Jammerlappen glauben?«
»Ich war nicht immer ein Jammerlappen.«
Handke starrte 509 eine Weile an. »Ich verschreibe Ihnen die Hälfte des Geldes«, sagte 509 hastig. »Eine einfache Überschreibung genügt, und es gehört Ihnen. Zweitausendfünfhundert Schweizer Franken.« Er blickte in das harte, ausdruckslose Gesicht vor sich. »Der Krieg ist bald zu Ende. Geld in der Schweiz ist dann gut.« Er wartete. Handke antwortete noch immer nicht.
»Wenn der Krieg verloren ist«, fügte 509 langsam hinzu.
Handke hob den Kopf. »So«, sagte er leise. »Darauf rechnest du also schon, was? Hast dir alles fein ausgedacht, wie? Das werden wir dir aber mal gründlich versalzen! Hast dich selber 'reingelegt – jetzt hat dich die Politische Abteilung auch noch -, verbotener Devisenbesitz im Ausland! Kommtnoch zu dem anderen dazu! Mensch, deinen Kopf möchte ich nicht haben.«
»Zweitausendfünfhundert Franken haben und nicht haben ist nicht dasselbe -«
»Für dich auch nicht. Scher dich weg!« brüllte Handke plötzlich und stieß 509 so heftig vor die Brust, daß er stürzte.
Langsam richtete 509 sich auf. Berger kam heran. Handke war im Dunkeln verschwunden. 509 wußte, daß Nachlaufen keinen Zweck mehr hatte; Handke war auch schon zu weit fort. »Was ist passiert?« fragte Berger eilig.
»Er hat es nicht genommen.«
Berger antwortete nicht. Er blickte 509 an. 509 sah, daß Berger einen Knüppel in der Hand hielt.
»Ich habe ihm noch viel mehr angeboten«, sagte er. »Er wollte nicht.« Er blickte verstört um sich.
»Ich muß irgend etwas falsch gemacht haben. Ich weiß nicht was.«
»Was kann er nur gegen dich haben?«
»Er konnte mich nie leiden.« 509 strich sich über die Stirn. »Es ist jetzt auch egal. Ich habe ihm sogar Geld in der Schweiz angeboten. Franken. Zweitausendfünfhundert. Er wollte nicht.«
Sie kamen zur Baracke. Sie brauchten nichts zu sagen; die anderen wußten schon, was los war.
Alle standen, wo sie vorher gestanden hatten; keiner rückt ab – aber es war, als habe sich um 509 bereits ein freier Platz gebildet, ein unsichtbarer, unüberschreitbarer Ring, der ihn isolierte: die Einsamkeit des Todes. »Verflucht!« sagte Rosen.
509 sah ihn an. Er hatte ihn morgens gerettet. Es war sonderbar, daß er es hatte tun können und daß er jetzt schon irgendwo war, von wo er keine Hand mehr ausstrecken konnte. »Gib mir die Uhr«, sagte er zu Lebenthal.
»Komm in die Baracke«, sagte Berger. »Wir müssen überlegen -«
»Nein. Jetzt kann man nur noch warten. Gib mir die Uhr. Und laßt mich allein -«
Er saß allein. Die Zeiger der Uhr schimmerten grünlich in der Finsternis Dreißig Minuten Zeit, dachte er. Zehn Minuten bis zu den Verwaltungsgebäuden; zehn Minuten für die Meldung und die Befehle; zehn Minuten zurück Ein Halbkreis des großen Zeigers – das war sein Leben jetzt.
Es war vielleicht mehr, dachte er plötzlich. Wenn Handke die Meldung wegen des Schweizer Geldes machte, würde die Politische Abteilung eingreifen. Sie würde versuchen, das Geld zu bekommen, und ihn so lange leben lassen, bis sie es hatte. Er hatte nicht daran gedacht, als er es Handke gesagt hatte – nur an die Habgier des Blockältesten. Es war eine Chance. Aber es war nicht sicher, ob Handke das Geld melden würde. Vielleicht meldete er, daß Weber 509 sehen wollte.
Bucher kam leise durch das Dunkel. »Hier ist noch eine Zigarette«, sagte er zögernd.
»Berger will, daß du hereinkommst und sie rauchst.«
Zigarette. Richtig, die Veteranen hatten noch eine. Eine von denen, die Lewinsky gebracht hatte, nach den Tagen im Bunker. Der Bunker – jetzt wußte er, wer die dunkle Figur gegen den Himmel gewesen war, an die Handke ihn erinnert hatte, und wo er sie gesehen hatte. Es war Weber gewesen. Weber, von dem alles ausgegangen war.
»Komm«, sagte Bucher.
509 schüttelte den Kopf. Die Zigarette. Die Henkersmahlzeit. Die Henkerszigarette.
Wie lange rauchte man daran? Fünf Minuten? Zehn, wenn man langsam rauchte? Ein Drittel seiner Zeit. Zuviel. Er mußte anderes tun. Aber was? Es war nichts zu tun. Sein Mund war plötzlich trocken vor Gier nach dem Tabak. Er wollte nicht. Wenn er rauchte, gab er zu, daß er verloren war. »Geh weg!« flüsterte er wütend. »Geh weg mit deiner Scheißzigarette!« Er erinnerte sich an eine ähnliche Gier. Dieses Mal brauchte er nicht lange zu suchen. Neubauers Zigarre war es gewesen, damals, als Weber ihn und Bücher, verprügelt hatte, Weber, wieder. Wie immer. Wie vor Jahren – Er wollte nicht an Weber denken. Jetzt nicht. Er sah auf die Uhr. Fünf Minuten waren vergangen. Er blickte auf den Himmel. Die Nacht war feucht und sehr milde. Es war eine Nacht, in der alles wuchs. Eine Nacht der Wurzeln und Knospen. Frühling. Der erste Frühling mit Hoffnung. Es war eine zerfetzte, verzweifelte Hoffnung gewesen, nur der Schatten einer Hoffnung, ein sonderbares, schwaches Echo aus gestorbenen Jahren, aber schon das war riesig gewesen und hatte schwindlig gemacht und alles verändert. Er hätte Handke nicht sagen sollen, daß der Krieg verloren war, dachte etwas in ihm. Zu spät. Er hatte es getan. Der Himmel schien dunkler zu werden, staubiger, verkohlter, niedriger, ein endloser Deckel, der sich voll Drohung senkte. 509 atmete mühsam. Er wollte wegkriechen, den Kopf in eine Ecke stecken, ihn in Erde verbergen, retten, das Herz herausreißen, es verstecken, damit es weiterschlagen würde, wenn – Vierzehn Minuten. Ein Murmeln hinter ihm, eintönig, singend, fremdartig. Ahasver, dachte er. Ahasver, der betet. Er hörte es, und es schien Stunden zu dauern, ehe er sich erinnerte, was es war. Es war dasselbe Murmeln und Singen, das er oft gehört hatte – das Gebet für die Toten, Kaddisch. Ahasver sagte bereits Kaddisch über ihn. »Ich bin noch nicht tot, Alter«, sagte er nach rückwärts. »Noch lange nicht. Hör auf mit dem Beten -« Jemand antwortete. Es war Bucher. »Er betet nicht«, sagte er. 509 hörte es nicht mehr. Er fühlte plötzlich, wie es kam. Er hatte viele Ängste in seinem Leben kennengelernt, er kannte die graue, molluskenhafte Angst der endlosen Gefangenschaft, er kannte die scharfe, zerreißende Angst kurz vor der Folter, er kannte die tiefe, huschende Furcht vor der eigenen Verzweiflung – er kannte sie alle, und er hatte sie bestanden, er kannte sie, aber er wußte auch um die andere, die letzte, und er wußte, daß sie jetzt da war: die Angst der Ängste, die große Angst vor dem Tode. Er hatte sie seit Jahren nicht mehr gehabt, und er hatte geglaubt, sie würde nie wiederkommen, er könne sie nicht mehr haben, sie sei aufgesogen worden vom Elend, von der steten Todesnähe und von der letzten Gleichgültigkeit. Nicht einmal, als er mit Bucher zur Schreibstube ging, hatte er sie gefühlt – aber jetzt spürte er ihre Eistropfen in seinen Wirbeln, und er wußte, daß es so war, weil er wieder Hoffnung gehabt hatte, er spürte sie, und sie war Eis und Leere und Zerfallen und lautloser Schrei. Er hielt die Hände auf den Boden gestemmt und starrte geradeaus. Das war kein Himmel mehr, dieses saugende, tödliche Grauen dort über ihm! Wo war das Leben darunter? Wo war der süße Laut des Wachsens? Wo waren die Knospen? Wo das Echo, das sanfte Echo der Hoffnung? Flackernd, erlöschend in bitteren Agonien, zischte der letzte, armselige Funke in den Därmen, und bleiern erstarrte die Welt in Sturz und Furcht. Das Murmeln. Wo war das Murmeln geblieben? Da war auch kein Murmeln mehr. 509 hob sehr langsam die Hand. Er zögerte, bevor er sie öffnete, als hielte sie einen Diamanten, der in Kohle verwandelt sein könnte. Er ließ die Finger los und wartete noch einige Atemzüge, bevor er hinsah auf die beiden bleichen Striche, die sein Schicksal umgrenzten. Fünfunddreißig Minuten. Fünfunddreißig! Fünf Minuten mehr als die dreißig, auf die er gerechnet hatte. Fünf mehr; fünf entsetzlich kostbare, wichtige Minuten. Aber es war möglich, daß es fünf Minuten länger gedauert hatte, die Meldung bei der Politischen Abteilung anzubringen – oder Handke konnte sich mehr Zeit genommen haben. Sieben Minuten mehr. 509 saß still. Er atmete, und er fühlte wieder, daß er atmete.
Noch immer war nichts zu hören. Keine Schritte, kein Geklirr, keine Rufe. Der Himmel war wieder da und wich zurück. Er war nicht mehr nur noch schwarzes Pressen und Grabgewölk. Wind sickerte hindurch.
Zwanzig Minuten. Dreißig. Jemand hinter ihm seufzte. Der hellere Himmel. Ferner.
Das Echo wieder, ein fernster Herzschlag, die schmale Trommel des Pulses, und mehr: das Echo im Echo, Hände, die wieder Hände waren, der Funke, nicht erloschen – glimmend wieder, und: stärker als vorher. Um ein weniges stärker. Um etwas, das durch die Angst dazu gekommen war.
Kraftlos ließ die linke Hand die Uhr fallen.
»Vielleicht -« flüsterte Lebenthal hinter 509 und schwieg, erschreckt und abergläubisch.
Zeit war plötzlich nichts mehr. Sie zerfloß. Zerfloß nach allen Seiten. Zeitwasser, irgendwohin verspülend, Hügel hinunter. Es war keine Überraschung, als Berger die Uhr aufnahm und sagte:»Eine Stunde zehn Minuten. Heute passiert nichts mehr.
Vielleicht nie, 509. Vielleicht hat er es sich überlegt.«
»Ja«, sagte Rosen.
509 wendete sich um. »Leo, kommen die Mädchen nicht heute abend?«
Lebenthal starrte ihn an. »Daran denkst du jetzt?«
»Ja.«
An was sonst, dachte 509. An alles, was mich wegnimmt von dieser Angst, die die Knochen zu Gelatine schmilzt. »Wir haben Geld«, sagte er. »Ich habe Handke nur zwanzig Mark angeboten.«
»Du hast ihm nur zwanzig Mark angeboten?« fragte Lebenthal ungläubig.
»Ja. Zwanzig oder vierzig war egal. Wenn er will, nimmt er es, fertig, und es ist gleich, ob es zwanzig oder vierzig sind.«
»Und wenn er morgen kommt?«
»Wenn er kommt, kriegt er zwanzig Mark. Wenn er mich gemeldet hat, kommt die SS.
Dann brauche ich das Geld überhaupt nicht.«
»Er hat dich nicht gemeldet«, sagte Rosen. »Sicher nicht. Er wird das Geld nehmen.«
Lebenthal hatte sich gefaßt. »Behalte dein Geld«, erklärte er. »Ich habe genug für heute abend.«
Er sah, daß 509 eine Gebärde machte. »Ich will es nicht haben«, sagte er heftig. »Ich habe genug.
Laß mich in Ruhe.« 509 stand langsam auf. Er hatte, als er saß, das Gefühl gehabt, er könne nie wieder aufstehen und seine Knochen seien wirklich zu Gelatine geworden. Er bewegte sich, seine Arme, seine Beine. Berger folgte ihm. Sie schwiegen eine Zeitlang. »Ephraim«, sagte 509 dann.
»Glaubst du, daß wir je die Angst wieder loswerden können?«
»War es so schlimm?«
»So schlimm wie nur möglich. Schlimmer als sonst.«
»Es war schlimmer, weil du mehr am Leben bist«, sagte Berger.
»Meinst du?«
»Ja. Wir alle haben uns verändert.«
»Vielleicht. Aber werden wir die Angst je in unserem Leben loswerden?«
»Das weiß ich nicht. Diese ja. Es war eine vernünftige Angst. Eine mit Grund. Die andere, die ständige, die KZ-Angst – das weiß ich nicht. Es ist auch egal. Wir müssen einstweilen nur an morgen denken. An morgen und Handke.«
»Daran will ich gerade nicht denken«, sagte 509.